Pestmarie

 

 

 

Band 57

 

Pestmarie

 

von Ernst Vlcek, Geoffrey Marks und Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor.

Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Um seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren.

Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte.

Zwar plante Asmodi I. noch, seinen Geist in einen anderen Körper zu retten, doch der Versuch schlug fehl. Vor Kurzem erinnerte sich Dorian außerdem weiterer Ereignisse aus Ferdinand Dunkels Leben. Doch obgleich er Dunkels Tod miterlebte, blieb das eigentliche Todeserlebnis aus. Dies kann nur bedeuten, dass ein Teil von Ferdinands Leben noch nicht aufgearbeitet ist. Als Dorian vom Verschwinden seiner Geliebten Coco Zamis in Wien erfährt, beginnt er zu ahnen, dass die früheren Ereignisse für die Gegenwart weitaus bedrohlicher sind, als er zunächst dachte ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Der schwarze Augustin

 

 

Der schwarze Augustin

 

1. Kapitel

 

Etwas durchzuckte seinen Geist wie ein Blitz. Anders konnte er es nicht erklären, dass er plötzlich wieder erwachte. Er fühlte sich wie nach einem sehr, sehr langen Schlaf. Noch etwas schwindelig, doch gleichzeitig ausgeruht. Und was das Wichtigste war: Er konnte wieder denken. Er erinnerte sich sofort wieder, so als sei nicht eine Sekunde vergangen. In Wahrheit waren es Jahrhunderte, so viel wusste er. Niemand hatte es ihm gesagt. Das Wissen um den Zeitraum, in dem er hier gelegen hatte, war einfach da.

Er versuchte, sich zu bewegen, aber es misslang. Für einen kurzen Moment kam Panik in ihm auf. Was war, wenn er keinen Muskel rühren konnte? Wenn sein Bewusstsein für immer verdammt war, in einem reglosen Körper zu hausen?

Er wollte schreien, doch auch das gelang nicht. Seine Angst wuchs. Dann machte sich die Wut in ihm breit. Sollte er nur erweckt worden sein, um hier zu verfaulen?

Er versuchte, die Augen zu öffnen. Doch dies war ebenso unmöglich wie alles andere. Dafür gelang es ihm, seine Umgebung mit anderen Sinnen wahrzunehmen.

Genauso, wie er um die Zeitspanne wusste, die er hier gelegen hatte, schälten sich nach und nach vor seinem inneren Auge die Umrisse der Dinge und Körper ab, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden.

Die wichtigste Erkenntnis war: Ich bin nicht allein!

Es gab Dutzende, Hunderte wie ihn. Er spürte den Abglanz ihrer vergangenen Leben, ihrer Freuden und Leiden. Hauptsächlich aber ihrer Schmerzen und das unmittelbare Grauen, bevor sie der Tod ereilt hatte.

Aber anders als bei ihm reichten diese Emotionen nicht aus, ihre Körper wiederzuerwecken. Bei ihm kam noch etwas anderes dazu. Eine solch tief gehende Emotion, dass sie selbst jetzt noch alles andere Denken übertünchte.

Hass!

Nach und nach ertasteten seine Sinne die Umgebung. Der Tod war hier unmittelbar. Der süße Duft der Verwesung schien noch immer in der stickigen Luft zu schweben, als sei kein einziger Tag vergangen.

Seit damals.

Hier unten gab es keinen Tag. Nur ewige Nacht. Dennoch konnte er sie sehen, die zahllosen Gebeine seiner Leidensgenossen, die blanken Schädel, halb zerfallenen Knochen und zu Staub gewordenen Träume.

Der Raum, in dem er lag, war einer von unendlich vielen anderen, halb zugeschüttet mit Erde und Geröll. Seine eigenen Knochen lagen verstreut über anderen Gebeinen, und über diesen lagerten weitere Schichten von Skeletten.

Es dauerte lange, eine schiere Ewigkeit, bis er jeden einzelnen seiner Knochen geortet hatte und dank der neuen Kraft, über die er verfügte, über diesen bestimmen konnte. So gewann er nach und nach neben seinem Bewusstsein auch das Gefühl für eine gewisse Körperlichkeit zurück.

Zunächst war es sein Schädel, den er spürte, dann die Schulterblätter, die Rippen, der restliche Rumpf. Die Beine, Füße, Arme und Hände lagen weiter von ihm entfernt, als er geglaubt hatte. Im Laufe der Jahrhunderte waren sie durch Erosion und Erdbewegungen immer weiter von ihm weggerutscht.

Es vergingen einige Tage, wertvolle Tage, bis er seine Kräfte so weit einsetzen konnte, dass er sich seine Extremitäten wieder zu eigen machen konnte. Er besaß Bewusstsein. Er besaß ein Skelett. Nun begann der schwierigere Teil. Er musste sich seines Körpers erinnern. Wie hatte er damals ausgesehen?

Und noch schwieriger: Wie sollte er das Aussehen zurückerlangen?

In Gedanken triumphierte er, als er spürte, dass es viel einfacher war, als er befürchtet hatte: Sobald ihm ein Detail seiner einstigen Erscheinung bewusst wurde, wurde es gleichzeitig Wirklichkeit.

Stets hatte er auf reichlich Essen und Trinken wert gelegt. Er war kein Vielfraß gewesen, aber auch kein Feinschmecker, und erst recht kein Kostverächter. Insofern hatte er immer dafür gesorgt, dass er auf angenehmste Weise satt geworden war. Sicherlich hatte er zu Lebzeiten ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen gehabt.

Kaum hatte er sich diesen Zustand vergegenwärtigt, spürte er, wie seine blanken Knochen von Fleisch umhüllt wurden. Fleisch, das sich allmählich zu einer menschlichen Gestalt formte und auch seinem Gesicht ein unverwechselbares Aussehen gab. Es war rosig und hatte im Laufe der Lebensjahre den typischen Schelmenausdruck angenommen, dem sein Besitzer so manchen Vorteil verdankte. Wer gab nicht gern dem Narren ein Geldstück oder einen Laib Brot? Und welche Frau konnte ernsthaft böse sein, wenn er ihr mit frechen Sprüchen den Hof machte? Und welcher gehörnte Ehemann, der sich doch lieber vom Narren zum Affen machen ließ als vom Nachbarn.

Es lebte sich wohl als Schelm. Es hatte sich wohl gelebt.

Instinktiv wusste er auch dies: dass die Welt eine andere geworden war. Für Schelme wie ihn gab es keinen Platz mehr darin. Aber es sollte ihn nicht hindern, diesen Platz zu beanspruchen. Nicht für lange. Vielleicht nur für einen, bestenfalls zwei, drei grandiose Auftritte.

Oh, wie er beseelt wurde von diesem Hass!

Nackt, wie er war, konnte er sich nicht unter die Menschen trauen. Das war selbst ihm klar. Er erinnerte sich des schwarzen Gewands – und es war plötzlich da, als wäre es nicht schon vor Jahrhunderten verfault. Fehlte nur noch der Gürtel. Kaum gedacht spürte er, wie der breite Gurt seine Leibesmitte bändigte. Und der Spitzhut, der ihn seit jeher begleitet hatte! Voilà, da war er schon! Fast kam er sich wie ein Zauberkünstler vor.

Nun fehlte nur noch, dass er sich erhob und aus diesem Loch nach oben schaufelte. Aber dies war das Einzige, was ihm noch immer nicht gelang: Er konnte nicht aufstehen. Er war wie gelähmt. Irgendetwas schien noch zu fehlen.

Irgendetwas …

Und dann hörte er die Stimmen.

»… sollten diese Gänge besser ein für alle Mal verschließen. Sie führen kilometerweit unterirdisch von der Michaelkirche in alle Richtungen. Bis hierher haben sich bislang höchstens ein paar verrückte Heimatforscher getraut. Wir sollten zurückgehen …«

Er spürte, dass es zwei Menschen waren. Ein Mann und eine Frau. Sein Geist fuhr in ihre Gedanken, und er wusste augenblicklich fast alles über sie.

Der Mann war Kaplan. Er war ängstlich und noch sehr jung. Er fühlte sich nicht wohl hier. Aber er hatte die Pläne studiert und kannte sich aus.

Sie dagegen war gierig. Gierig auf das Neue, auf den Thrill! Er kannte diesen Begriff nicht, aber er spukte als solcher in ihrem Kopf herum. Sie war Geschichtsstudentin. Noch sehr jung. Und in gewisser Weise unerfahren, wie er nicht ohne Amüsement feststellte. Sie war noch Jungfrau.

Vielleicht machte dies ihre besondere sexuelle Anziehungskraft aus. Den Kaplan jedenfalls hatte sie verhext. Er starrte die ganze Zeit abwechselnd mit ängstlichem Blick über die Haufen von Gebeinen und mit gierigen Augen auf ihre Bluse, die sich üppig wölbte.

»Unsinn!«, sagte die Frau mit scharfer Stimme. Obwohl sie so jung war, schien sie genau zu wissen, was sie wollte. »Sie haben mir versprochen, mir Bereiche zu zeigen, die mir völlig fremd sind.«

Der Kaplan wandte sich ihr zu.

Schweiß stand ihm auf der Stirn. Unverwandt stierte er auf ihre Brüste.

»Ich zeige dir in der Tat etwas, was du noch nicht kennst«, sagte er mit heiserer Stimme. Er fasste sie um die Hüfte und drängte sie gegen eine Mauer. Sie schrie auf, stieß ihn zurück.

»Was ist denn in Sie gefahren, Victor!«, herrschte sie ihn an. »Möchten Sie, dass ich dem Pfarrer davon erzähle?«

Er wurde bleich, stammelte. »Nein, aber ich dachte … dachte, Sie …«

Sie grinste spöttisch. »Wettert nicht gerade Ihre Kirche gegen jeglichen Sex vor der Ehe, Victor? Aber schön, Sie haben Ihre Karten offen auf den Tisch gelegt. Und ich zeige Ihnen meine: Führen Sie mich zu der Katakombe, die bislang noch nicht kartografiert wurde, damit ich meine Diplomarbeit schreiben kann, und ich werde mich erkenntlich zeigen.«

Der Kaplan grinste und schnaufte. »Kommen Sie, Catherina«, sagte er eifrig. »Es sind nur noch wenige Schritte. Vorsicht! Stolpern Sie nicht über die Knochen. Damals hat man die Pesttoten einfach in die Gruben gekarrt und Erde darüber geschüttet.« Er kicherte. »Vielleicht müssen wir sogar ein bisschen graben …«

Die beiden hatten sich entsprechend ausgerüstet. Sie trugen Helme, die mit Stirnlichtern versehen waren. Am Gürtel der Studentin hing ein Klappspaten.

»Mensch, riecht es hier muffig«, rümpfte Catherina die Nase. »Als ob hier gerade eben erst eine Leiche verscharrt worden wäre.«

Auch der Kaplan sog geräuschvoll die Luft ein. »In der Tat. Komisch, ich war schon mehrmals hier unten. So gestunken hat es an dieser Stelle noch nie!«

Allein die Nähe der beiden schenkte ihm neue Kräfte. Endlich konnte er die Augen öffnen. Was er sah, war nicht sehr erhellend. Um ihn herum herrschte nach wie vor fast völlige Dunkelheit. Er lag in einer riesigen unterirdischen Gruft, um ihn herum das Geröll anderer Gerippe. Aus der Nachbargruft drang schwacher Lichtschein. Außerdem waren die Stimmen der beiden Eindringlinge zu vernehmen. Wahrscheinlich untersuchten sie die morschen Gebeine.

Langsam erhob er sich. Es klappte erstaunlich gut.

Sein Hunger wuchs. Ungeduldig wischte er ein paar Knochen zur Seite, die ihn behinderten.

»Haben Sie das gehört?«, fragte die Frau aus der anderen Gruft.

»Vielleicht Ratten«, antwortete der Kaplan. »Hier unten wimmelt es von ihnen.«

»Sehen Sie nach!«

»Ich?« Die Stimme des Kaplans klang plötzlich nicht mehr so sicher.

»Wer sonst, Sie haben mich heruntergeführt!«

In diesem Moment zeigte er sich ihnen. Die Frau schrie auf. Sie ließ Block und Stift fallen und wollte davonlaufen. Er packte sie von hinten an den Haaren und schlug ihren Kopf gegen den blanken Fels. Dann riss er ihr den Hals auf. Blut spritzte wie eine Fontäne hervor. Mit einem Gurgeln ging die Frau zu Boden.

Er kämpfte gegen den Drang an, seine Lippen auf das hervorsprudelnde Blut zu pressen und es aufzufangen. Rasch wirbelte er herum. Der Kaplan stand wie erstarrt mit dem Rücken zur Wand und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.

»Nein, bitte nicht! Bitte nicht!« Er ging in die Knie.

Dann hatte der Unheimliche ihn erreicht. Mit einem Schlag zertrümmerte er dem Kaplan das Gesicht. Dann nahm er dessen Kopf in beide Hände und drehte ihn mit einer raschen Bewegung seitwärts, bis das Genick brach. Mit einem Seufzer hauchte das Opfer sein Leben aus. Die Kreatur drehte sich um. Die Frau war noch am Leben. Sie röchelte und spuckte Blut.

Langsam näherte er sich ihr, um sein Leben mit ihrem zu stärken.

Doch zuvor würde sie noch leiden müssen.

Stellvertretend für die Frau, die ihm den Tod beschert hatte.

Damals, vor so langer Zeit …

 

Wie ein Stein sackte die Boeing 751 in ein Luftloch. Unwillkürlich umklammerte Arnold Brechter die Armlehnen seines Sitzes und schloss die Augen. Doch das Gefühl, im freien Fall in endlose Tiefe zu stürzen, verstärkte sich dadurch nur noch, und so riss Brechter die Augen entsetzt wieder auf.

Ein Ruck ging durch das Flugzeug, als die Maschine sich wieder fing. Brechter schluckte und keuchte; sein Herz raste und zog sich mehrmals vor Panik krampfhaft zusammen, um dann holpernd seinen Rhythmus wieder aufzunehmen. Schweißperlen standen dem Geschäftsmann auf der Stirn. Gehetzt schaute er aus dem kleinen Fenster.

Unter der Boeing 751 erstreckten sich die südlichen Ausläufer der Ostalpen, über die die Maschine in südwestlicher Richtung hinwegflog. Wie die Rücken schlafender Ungeheuer durchbrachen die grauen, schroffen Felsen die Grünflächen. Der Anblick rief Übelkeit in Brechter hervor. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was geschehen würde, sollte das Flugzeug abstürzen und der Pilot versuchen, zwischen den schroffen Felsen notzulanden.

Gequält warf Brechter den Kopf herum – und blickte direkt in das Gesicht des etwa sechs Jahre alten Jungen, der neben ihm saß und ihn spöttisch angrinste. Der Knabe hatte ein Engelsgesicht, das in einem krassen Gegensatz zu seinem sarkastisch verzogenen Mund stand. Die pechschwarzen, bläulich schimmernden Haare ließen seine Haut bleich und durchscheinend aussehen. Die dunklen Augen kamen Brechter wie zwei schwarze Löcher vor, in denen etwas Beängstigendes lauerte.

Ein Frösteln überkam Brechter, und er fragte sich, wie lange dieser Junge ihn schon beobachtete.

»Was starrst du mich so an?«, blaffte er mit rauer Stimme.

»Ist Ihnen nicht gut, mein Herr?«, erkundigte sich der Junge höflich, doch der spöttische Zug um seine Mundwinkel blieb. Er hatte eine klare, glockenhelle Stimme. »Sie sehen nicht gut aus.«

Brechter quälte sich ein Lächeln ab. Plötzlich schämte er sich, weil er zu dem Jungen so grob gewesen war. Ihm war aufgefallen, dass die beiden Stewardessen sich ganz besonders um diesen Jungen bemühten. Aus diesem Grund vermutete Brechter, dass der Knabe ohne seine Eltern und ohne die Begleitung eines Erwachsenen reiste. Angst schien dieser Bursche deswegen aber nicht zu empfinden. Ganz im Gegenteil, er wirkte selbstsicher und frech und betrachtete Brechter mit demselben Interesse, mit dem ein Insektenforscher seine Objekte studiert.

Tief atmete der Geschäftsmann durch. Was war nur mit ihm los? Vielleicht war es das schlechte Gewissen, das seine Gedanken verwirrte. Ein angenehmes Schaudern überkam ihn, als er an die vergangene Nacht zurückdachte, die er mit der Sekretärin seines Chefs verbracht hatte.

Die aufregenden Stunden, die er in den Armen dieser Frau erlebt hatte, waren es wert gewesen, Susi anzulügen. Er hatte seiner Frau erzählt, er könne seinen Urlaub wegen eines dringenden Auftrages erst einen Tag später als geplant antreten. Wie immer hatte Susi keine Fragen gestellt.

Die Naivität seiner Ehefrau nötigte Brechter mittlerweile nur noch ein müdes, mitleidiges Lächeln ab. Sie zeigte keinerlei Interesse mehr an ihm, beschäftigte sich nur noch mit ihrer gemeinsamen Tochter, mit der sie gestern, ohne einen Einwand zu erheben, nach Italien geflogen war und in dem Hotel eingecheckt hatte, das er für zwei Wochen gebucht hatte. »Du kannst ja nachkommen, sobald du Zeit hast«, hatte sie ihm telefonisch mitgeteilt. Brechter nahm es hin, genauso wie er es hinnahm, dass die beiden ihn nachher am Flughafen in Rom abholen würden. Brechter würde erst seine Frau und dann seine Tochter in den Arm nehmen und küssen. Er würde den umsorgenden Ehemann spielen; eine Rolle, die ihm nach der vergangenen Nacht wesentlich leichter von der Hand gehen würde als gewöhnlich, da war er sich sicher.

Erneut durchflog die Boeing ein Luftloch. Brechters Magen schlug einen Purzelbaum. Es fühlte sich an, als würde ihm das schlechte Bordessen im Rückwärtsgang die Speiseröhre emporkriechen. Hastig presste er die Hand vor den Mund. Sein verstohlener Blick fiel auf die Spucktüte, die säuberlich zusammengefaltet im Netz der Rückenlehne des vor ihm liegenden Sitzes steckte. Aber dann dachte er wieder an den Jungen, der ihn beobachtete. Er wollte sich keine Blöße geben.

Mit einer unwirschen Geste gab er dem Kind zu verstehen, dass er aufstehen wollte. Das spöttische Grinsen vertiefte sich noch, als der Junge die Beine anzog und ihn passieren ließ.

Ungestüm stolperte Brechter auf den Mittelgang und strebte mit vorgehaltener Hand zur Toilette. Doch kaum hatte er ein paar Schritte zurückgelegt, da verebbte die Übelkeit plötzlich wieder. Auch seine Flugangst schien sich in nichts aufgelöst zu haben.

Benommen blieb Brechter stehen, hielt sich keuchend an einer Kopfstütze fest.

Auf dem Sitz, neben dem er zum Stehen gekommen war, bemerkte er eine faszinierende junge Frau. Sie hatte pechschwarzes, langes Haar und ein exotisch anmutendes Gesicht mit hochstehenden Wangenknochen. Ihre grünen Augen waren auf ihren Begleiter gerichtet. Er sah der Frau entfernt ähnlich; vielleicht handelte es sich um ihren Bruder.

Als die Frau zu Brechter aufsah, grinste er anzüglich, woraufhin er einen frostigen Blick erntete. Brechter gab sich einen Ruck und setzte seinen Weg fort. Er verspürte kein Verlangen, auf seinen Platz zurückzukehren, wo dieser seltsame Junge auf ihn wartete. Der Gedanke war albern, trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, dass dieser Knabe für sein Unwohlsein verantwortlich war.

Brechter schlenderte auf die Toilettenkabinen zu, deren Türen hinter einem Vorhang verborgen waren. Er schlüpfte in eine der Kabinen, setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Schließlich holte er einen Flachmann aus der Innentasche seines Jacketts und nahm einen tiefen Schluck. Er rülpste laut und rieb sich den Magen. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Innern aus, und er hoffte, dass er das Unwohlsein jetzt ein für alle Mal überwunden hatte.

Da wurde die Klinke plötzlich niedergedrückt, und die Toilettentür schwang auf.

Brechter versteifte sich; er war sich sicher, die Tür verriegelt zu haben. »Hauen Sie ab, Mann. Hier ist be…«

Brechter verstummte. Der Knabe war in der Türöffnung aufgetaucht. Anstatt sich peinlich berührt zurückzuziehen, trat er ein und drückte die Tür hinter sich ins Schloss.

»Was soll das, Bürschchen?«, fragte Brechter heiser und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Verpiss dich, aber schnell!«

»Ich muss aber doch einem dringenden Bedürfnis nachkommen«, sagte der Junge mit Unschuldsmiene. »Ich muss meinen Hunger stillen!«

Brechter blinzelte verwirrt. Der Junge war ja völlig verrückt! Er wollte ihn aus der Kabine stoßen, aber da verharrten seine Arme plötzlich reglos in der Luft. Brechter versteinerte. Die Augen und das Haar des Jungen zerflossen! Schwärze hüllte erst den Kopf und dann den ganzen Körper ein. Im nächsten Moment zerfiel der Junge in dicke, unförmige Klumpen von nachtschwarzer Farbe. Mit einem nassen schmatzenden Geräusch plumpsten die Brocken auf den Boden. Einer von ihnen fiel Brechter direkt in den Schoß.

»Was …?«

Erst jetzt löste sich die Erstarrung, die von dem Geschäftsmann Besitz ergriffen hatte. Brechter wollte aufschreien, aber der pechschwarze Klumpen auf seinen Oberschenkeln hatte auf einmal die Gestalt eines Gnoms angenommen. Der Zwerg schnellte hoch und drang mit dem Kopf voran in Brechters Mund.

Brechters Schrei wurde erstickt. Er sprang auf, wollte das Geschöpf packen. Doch an seinen Händen hingen bereits zwei weitere Gnome, andere krochen seine Beine empor. Voller Panik riss Brechter die Augen auf. Er taumelte zurück, stieß gegen die Toilette, und stürzte rücklings gegen die Wand. Noch während er auf die Toilette zurücksank, kletterten die nachtschwarzen Gnome behände seinen Körper empor. Verzweifelt rang er nach Atem. Doch der Zwerg, der mit dem Kopf in seinem Mund steckte, verschloss wie ein Korken die Atemwege.

Brechter warf sich herum, schlug mit den Armen und trat mit den Beinen. Mit dem Kopf knallte er gegen die Wände und das Fenster hinter ihm. Die Gnome bedeckten nun seinen ganzen Körper. Ihre Gestalt zerfloss, und die pechschwarze Substanz, aus der ihre Körper bestanden, vereinigte sich zu einer Hülle, die sich wie eine zweite Haut eng um Brechters wild zuckenden Leib schloss.

Als Letztes bedeckte der schwarze Schleim das Gesicht des Mannes. Seine Augen drohten vor Panik und Todesangst aus den Höhlen zu quellen; doch dann wurden auch sie von dem schwarzen Schleim überzogen.

Ein Zittern durchlief den Körper des Mannes – dann sank Brechter leblos zusammen.

Noch während der Oberkörper nach vorn sackte und Brechter langsam von der Toilette kippte, schrumpfte er. Seine Konturen zerflossen, wie bei einer Wachsfigur, die eingeschmolzen wurde. Als Brechter auf den Kabinenboden fiel, war von ihm nur noch ein unförmiger Klumpen geblieben, der sich rasch zersetzte. Schließlich blieb nur die nachtschwarze Masse zurück, die sich über den ganzen Boden verteilte.

Als würde der Junge langsam aus einem schwarzen, öligen Tümpel emportauchen, schoben sich erst der Kopf, dann die Schultern und schließlich der Oberkörper aus der Masse empor. Während sich der Bursche zu seiner vollen Größe aufrichtete, schrumpfte gleichzeitig die nass schimmernde Masse, aus der er emporwuchs.

Zuletzt formten sich die Füße und Schuhe aus den Resten der schwarzen Substanz.

Der Junge schüttelte sich behaglich und grinste böse. Dann betätigte er die Klospülung und verließ die Kabine. Seelenruhig kehrte er an seinen Platz zurück, nahm ein Comic-Heft und begann darin zu blättern.

 

 

2. Kapitel

 

Coco Zamis fröstelte. Ihr war, als hätte sie ein kalter Hauch gestreift. Als sie den Kopf drehte, sah sie, wie sich der Junge, der gerade an ihr vorbeigelaufen war, auf seinen Sitz fallen ließ. Sie beobachtete, wie er ein Comic-Heft zur Hand nahm. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Jungen, das spürte sie deutlich.

»Was ist mit dir, Coco?«, fragte Georg neben ihr. Er blickte sie stirnrunzelnd an. »Du wirkst so abwesend. Mir kommt es schon die ganze Zeit so vor, als würdest du dich überhaupt nicht über unser Wiedersehen freuen.«

»Das stimmt doch gar nicht«, gab sie seufzend zurück. »Es ist nur … Es kommt alles etwas plötzlich, verstehst du? Ich habe dich für tot gehalten, Georg. Und nun sitzt du hier neben mir und bist quicklebendig.«

Georg machte ein mürrisches Gesicht. »Du bist eine Hexe, Coco. Als ehemaliges Mitglied der Schwarzen Familie solltest du doch wissen, dass das Leben viele Überraschungen bietet.«

»Das ist keine Erklärung, Georg!«

»Mit Magie ist so einiges möglich, wie du wissen solltest«, erwiderte er ausweichend.

»Und warum hast du dann in all den Jahren nie ein Lebenszeichen von dir gegeben?«

»Weil es zu gefährlich gewesen wäre. Du weißt selbst, unter welchen Umständen unsere Familie ausgelöscht wurde. Wenn Olivaro oder einer seiner Nachfolger erfahren hätten, dass ich noch lebe … Es wäre einfach zu gefährlich gewesen, mich bei dir zu melden. Außerdem …«

»Was außerdem?«

»Ich wusste nicht, ob ich dir trauen konnte. Immerhin hast du die Seiten gewechselt und die Schwarze Familie verlassen.«

Das war typisch Georg. Statt einen Fehler offen zuzugeben, machte er ihr lieber Vorwürfe. In dieser Hinsicht war er ein perfektes Ebenbild seines Vaters.

»Es gab Zeiten, da waren Dorian und ich getrennt«, erwiderte Coco. »Spätestens da hättest du dich melden können.«

»Ich wollte es aber nicht«, erwiderte er barsch. »Das musst du eben akzeptieren.«

»Ach ja? Und wieso willst du es jetzt?«

»Weil es um die Ehre unserer Familie geht! Die Leichen unserer Familienangehörigen wurden gestohlen, ihr Andenken entehrt. Dagegen müssen wir etwas unternehmen.«

»Ich muss überhaupt nichts«, zischte Coco zurück – und ärgerte sich sogleich über sich selbst. Sie würde es zwar nie offen zugeben, aber Georgs Auftauchen in Wien hatte sie vollständig aus der Bahn geworfen. Sie benahm sich wie ein kleines Kind. Sie hatte nicht einmal die Horvaths benachrichtigt, dass sie sich Hals über Kopf entschieden hatte, die Stadt zu verlassen! Geschweige denn, dass sie ihre Sachen abgeholt hatte, die noch in der Wohnung von Hermann und Emma Horvath lagen.

Aber war es überhaupt ihre Entscheidung gewesen …?

Georg fasste sie hart am Unterarm. »Ist es dir etwa egal, was aus den Leichen unserer Familie wird?«, fragte er mit scharfem Unterton in der Stimme. »Ist es dir völlig gleichgültig, was diese Diebe mit den sterblichen Überresten anfangen werden?«

»Dann wäre ich ja wohl kaum nach Wien gekommen«, gab sie schnippisch zurück.

Er nickte zufrieden und lockerte seinen Griff. »Na also. Dann sind wir uns ja einig.«

»Aber was hat das Ganze mit dem Schloss von Onkel Ingvar in den Abruzzen zu tun?«

Er zuckte die Achseln. »Du hast es doch selbst gelesen – in dem Brief, den Vater uns hinterlassen hat.«

Sie hatte ihm von dem Brief erzählt – und von der Schatulle, die sie von Lucinda Kranich erhalten hatte. Darin sollte sich das Vermächtnis der Zamis-Sippe befinden. Coco hatte jedoch keine Zeit gehabt, die Dokumente in Augenschein zu nehmen, von denen sie vermutete, dass sie noch immer in ihrem Zimmer in der Wohnung der Horvaths befanden. In dem Brief, den sie wegen des magielosen Zustands nur unvollständig hatte entziffern können, hatte ihr Vater das Castello della Malizia in den Abruzzen erwähnt. Dort, im Schloss seines Bruders Ingvar Zamis, sollte sich das wahre Vermächtnis der Zamis-Sippe befinden.

»Mir ist aber noch immer nicht ganz klar, wie das Vermächtnis uns zu den Leichen führen soll«, nahm Coco den Faden wieder auf.

»Vertrau mir einfach, Coco. Es gilt, einen mächtigen, magischen Gegenstand zu finden. Sind wir erst in seinem Besitz, wird er uns den Weg zu den sterblichen Überresten unserer Familie weisen!«

Coco stieß erneut einen leisen Seufzer aus. Ihre Gefühle für Georg waren widersprüchlich. Einerseits hatte sie ihm stets vertraute, andererseits kam sein Auftauchen so überraschend …

»Ich werde es dir erklären, sobald wir da sind«, unterbrach er ihre Gedanken. »Jetzt lass mich schlafen. Ich bin schrecklich müde.«

Er drehte den Kopf weg und schloss die Augen. Kurz darauf verlangsamte sich seine Atmung. Coco wusste nicht, ob er sich bloß schlafend stellte. Es war ihr auch egal. Er hatte ihr mitgeteilt, dass er jetzt nichts weiter preisgeben würde, und dabei würde es bleiben. Dazu kannte sie ihn gut genug. Georg war ein waschechter Dämon, wenngleich auch nicht so verschlagen und hinterhältig wie die meisten Mitglieder der Schwarzen Familie. Die Loyalität der eigenen Sippe gegenüber hatte für ihn immer an erster Stelle gestanden, und er hatte Coco nie so abfällig behandelt wie ihre anderen Geschwister. Nur aus diesem Grund war sie jetzt überhaupt seinem Vorschlag, sofort nach Italien in die Abruzzen aufzubrechen, gefolgt.

Cocos Aufmerksamkeit wurde auf eine Stewardess gelenkt, die sich gerade zu dem Jungen hinabbeugte und auf ihn einredete. Sie wirkte ziemlich aufgebracht, bemühte sich aber trotzdem, mit gesenkter Stimme zu sprechen.

»Nein, Fräulein«, gab der Knabe mit heller, klarer Stimme zurück. »Das war ich nicht – ehrlich! Ich bin doch kein Baby mehr!«

Die Stewardess öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Doch plötzlich versteifte sie sich. Taumelnd wich sie von der Sitzreihe zurück, in der der Junge saß. Dann stakste sie davon, einen seltsam leeren, entrückten Ausdruck in den Augen. Coco krauste die Stirn. Die Stewardess machte auf sie den Eindruck, als wäre sie hypnotisiert oder auf andere Weise magisch beeinflusst worden. Mit mechanisch wirkenden Bewegungen schritt sie den Mittelgang entlang und verschwand hinter den Vorhängen, die die Eingänge zu den Toilettenkabinen verbargen.

Einer inneren Eingebung folgend, stand Coco auf und folgte der Stewardess. Als sie kurz darauf den Vorhang erreichte und hindurchschlüpfte, sah sie, dass eine der Toilettentüren nur angelehnt war. Jemand hantierte in der Toilette herum. Es war die Stewardess, wie Coco an der Uniform erkennen konnte. Coco öffnete die Tür. Peinlich berührt blieb sie stehen. Die Stewardess hatte sich vor die Toilettenschüssel gekniet und wischte den Boden, der von schwarzen Schlieren bedeckt war. Auch die Wände waren besudelt. Es stank durchdringend nach Kot.

Unwillig blickte die Stewardess zu Coco auf. »Suchen Sie sich bitte eine andere Kabine.« Sie erhob sich und knallte Coco die Tür vor der Nase zu.

Aber Coco musste ja gar nicht auf die Toilette. Sie war sich nun gar nicht mehr so sicher, ob die Stewardess tatsächlich hypnotisiert worden war oder nur deshalb so abwesend dreingeschaut hatte, weil ihr in der Toilettenkabine eine höchst unangenehme Arbeit bevorgestanden hatte. Als Coco an ihren Platz zurückkehrte, musste sie feststellen, dass Georg immer noch schlief.

Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und blätterte gelangweilt in einem Modemagazin. Nach einer Weile ließen sich die beiden Stewardessen wieder in dem Mittelgang blicken. Doch diesmal schoben sie kein Wägelchen vor sich her, um Getränke oder Süßigkeiten an die Fluggäste zu verteilen. Langsam schritten die beiden jungen Frauen die Sitzreihen ab und sahen sich unter den Gästen aufmerksam um. Was auch immer sie suchten – sie schienen es nicht zu finden. Schließlich begaben sie sich zu der Sitzreihe, in der der Junge saß. Mit gedämpfter Stimme redeten sie auf das Kind ein.

»Woher soll ich das denn wissen?«, wehrte der Knabe die beiden Frauen ab. »Als ich Herrn Brechter zuletzt sah, war ihm schlecht. Er ist von seinem Platz aufgesprungen und stürzte davon. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen.«

Die Stewardessen blickten sich ratlos an und kehrten in den Servicebereich zurück. Coco glaubte zu wissen, von welchem Mann die Rede war. Der Kerl war ihr vorhin aufgefallen, als er neben ihrem Sitz stehen geblieben war. Er hatte ihr einen widerlich anzüglichen Blick zugeworfen. Ihr fiel auf, dass sie den Mann seitdem nicht wiedergesehen hatte, aber sie dachte sich nichts dabei und blätterte weiter in dem Magazin.

 

Jemand rüttelte an ihrer Schulter.

Es war Georg. »Wir haben Rom gleich erreicht. Die Maschine wird jeden Augenblick zur Landung ansetzen. Du solltest dich anschnallen, Schwesterherz.«

Tatsächlich, die Anschnallzeichen leuchteten. Nachdem sie den Gurt angelegt hatte, blickte sie auf die Uhr. Offenbar hatte sie mehrere Stunden geschlafen! Und noch immer wollte es ihr nicht recht gelingen, die Benommenheit abzuschütteln. Müde blinzelnd verfolgte sie das Geschehen um sich herum. Auch die anderen Passagiere legten nach und nach die Sicherheitsgurte an, und die Stewardessen schritten die Sitzreihen ab.

Neugierig reckte Coco den Hals, um zu sehen, ob der vermisste Herr inzwischen auf seinen Platz zurückgekehrt war. Doch der Sitz neben dem Jungen war immer noch leer.

Als eine der Stewardessen an Coco vorüberschritt, hielt sie sie am Arm zurück.

»Ist Herr Brechter noch immer nicht aufgetaucht?«, erkundigte sie sich.

Die Stewardess lächelte verunsichert. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie ausweichend. »Vermutlich handelt es sich bloß um ein Missverständnis.«

Die Frau beeilte sich, ihren Kontrollgang fortzusetzen und verschwand schließlich.

Georg sah auf seine Armbanduhr. »Bis zur Abenddämmerung sind es noch ein paar Stunden. Wenn wir die Einreiseformalitäten rasch hinter uns bringen, können wir die Abruzzen noch vor der Abenddämmerung erreichen.«

Sie fragte sich, warum er sich so viel Gedanken um die Passkontrolle machte. Ein einfacher hypnotisierender Blick würde ausreichen, um die Zöllner zu bannen.

Georg schüttelte den Kopf, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Mit der Anwendung von Magie halten wir uns zurück. Je weniger Aufmerksamkeit wir erregen, desto besser.«

Coco sah ihren Bruder von der Seite an. »Glaubst du etwa, dass wir verfolgt werden?«

»Irgendjemand hat schließlich die Leichen gestohlen«, erwiderte Georg gedehnt, »und dieser Jemand hat bestimmt kein Interesse daran, dass wir herausfinden, warum.«

In diesem Moment setzte die Boeing zur Landung an. Routiniert brachte der Pilot die Maschine zu Boden. Als das Flugzeug zum Stillstand kam, leuchtete über den Sitzen ein Symbol auf, das den Passagieren bedeutete, dass sie die Gurte öffnen durften. Der Pilot wünschte den Reisenden einen angenehmen Aufenthalt in Rom und verabschiedete sich. Arnold Brechter wurde über den Lautsprecher gebeten, sich vor dem Verlassen der Maschine bei einer Stewardess zu melden.

Da Coco und Georg kaum Gepäck mit sich führten, waren sie unter den Ersten, die den Zoll passierten. Es war spätabends und der Trubel des Tages war am Flughafen vorbei. Die Zöllner nahmen die Pässe jetzt genauer in Augenschein. Georgs Pass erregte dabei ihr besonderes Interesse. Sie fingen an, Cocos Bruder zu befragen, und trafen Anstalten, ihn in einen Verhörraum abzuführen.

Da riss Coco der Geduldsfaden. Die Warnung ihres Bruders missachtend, hypnotisierte sie die beiden Männer.

»Wolltest du dich von den Beamten tatsächlich abführen lassen?«, fragte sie entgeistert, als sie endlich in die Wandelhalle traten.

Georg machte ein grimmiges Gesicht. »In der Abgeschiedenheit des Verhörraumes hätte ich den Männern in aller Ruhe meinen Willen aufgezwungen – ohne dabei Verdacht zu erregen. Dein vorschnelles Handeln war leichtsinnig, Coco.«

Aufmerksam sah sich die ehemalige Hexe in der überfüllten Wandelhalle des Flughafens Rom-Fiumicino um. Ob sie in diesem Moment tatsächlich beobachtet wurden, konnte sie jedoch beim besten Willen nicht sagen. Das Gewimmel in der Halle war unüberschaubar.

Da fiel Cocos Blick auf eine junge Frau, die zusammen mit einem blonden Mädchen neben dem Ausgang stand, den sie und Georg soeben passiert hatten. Zwei Polizisten redeten auf die Frau ein.

»Ich verstehe das nicht!«, sagte die Frau mit seltsam unbeteiligter Stimme und drückte das Mädchen an sich. »Mein Mann kann doch nicht spurlos verschwunden sein.«

»Unsere Kollegen sind dabei, die Sache aufzuklären, Signora Brechter. Die Passagiere werden genauestens überprüft. Wir werden Ihren Mann sicherlich finden.«

Georg nahm Coco beim Arm und zog sie auf einen Schalter zu. »Du wirst uns jetzt einen Wagen mieten«, bestimmte er und schob sie vor den Tresen.

Sie waren die letzten Kunden. Der Mietwagenstand wurde gerade geschlossen, aber Coco gelang es dank ihrer Hypnosekünste doch noch, einen Wagen zu ergattern. Sie fuhren in die Stadt und übernachteten in dem nächstbesten Hotel, das sie fanden. Es war nicht besonders gut ausgestattet, aber sauber. Georg buchte zwei Einzelzimmer. Er bezahlte im Voraus und versuchte auch sonst, keinen Verdacht zu erregen. Coco wunderte sich über sein Benehmen, sagte aber nichts.

Sie fiel wie tot ins Bett und schlief die ganze Nacht durch.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf.

Der Wagen, den Coco gemietet hatte, war ein knallroter, sportlicher Fiat, den Georg ruhig durch den chaotischen Morgenverkehr von Rom führte. Georg hatte sich hinter das Steuer gesetzt; weder von dem ständigen Gehupe noch von der rabiaten Fahrweise der Italiener ließ er sich aus der Ruhe bringen. Graue Wolken hingen über der Stadt. Es musste vor Kurzem geregnet haben, doch der aufgeheizte Asphalt ließ das Regenwasser rasch wieder verdampfen, sodass ein fahler, tropischer Dunstschleier zwischen den Häusern hing.

Nur kurz spielte Coco mit dem Gedanken, in London anzurufen, um Dorian und Trevor Sullivan über ihr Verschwinden zu informieren. Trevor wusste, dass sie nach Wien aufgebrochen war. Vielleicht war Dorian ihr sogar nach Wien gefolgt und suchte sie dort jetzt überall.

Aber bevor sie den Gedanken weiterverfolgte, hatte sie ihn auch schon wieder vergessen. …

Sie erreichten die Stadtautobahn und folgten der Autostrada della Montagne Richtung Osten.

 

Fluchend drückte ich die Zigarette im Aschenbecher aus.

Mein Schädel dröhnte. Auf dem Tisch vor dem Hotelbett standen zwei leere Flaschen Bourbon. Ich musste gestern Abend ganz schön gebechert haben. Das Warten auf den Flug in die Abruzzen, der erst heute Abend ging, hatte mich rasend gemacht. Ich hatte die Maschine am gestrigen Abend, die Coco genommen hatte, nur um eine Stunde verpasst!

Den Hinweis darauf hatte ich von einem Freak erhalten. Nach dem Ende des magielosen Zustands, das ich mehr durch Glück als durch Verstand herbeigeführt hatte, hatten sie sich versöhnlich gezeigt. Das war auch verdammt noch mal angebracht gewesen, da ihr Anführer Mojo Grünbaum immerhin mit dem schwarzen Grimoire verschwunden war, das ich ihm zu treuen Händen übergeben hatte. Ich hatte keinen Anlass zu glauben, dass er mein Vertrauen missbraucht hatte. Im Gegenteil, wahrscheinlich befand er sich in großen Schwierigkeiten, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen, da ich mich um Coco kümmern musste. Mojo und das Grimoire mussten warten!

Die Freaks hatten mir verraten, dass Coco am Abflugterminal von Wien-Schwechat gesehen worden war, wo sie sich mit einem fremden Mann unterhielt. Aus dem Gespräch hatten die Freaks erlauscht, dass sie in die Abruzzen wollte – zum Castello della Malizia, in dem ihr Onkel Ingvar einst mit seiner Familie gelebt hatte.

Was wollte Coco dort? Ich wusste es nicht, aber ich vermutete, dass die Lösung in der Silberschatulle zu finden war, die Coco bei ihrem überstürzten Aufbruch in der Wohnung der Horvaths zurückgelassen hatte. Ich hatte sie an mich genommen, konnte sie jedoch nicht öffnen, da sie durch ein magisches Schloss geschützt wurde, das Cocos Vater Michael Zamis installiert hatte. Auf dem Grundstück der Zamis-Villa war es mir gelungen, das Schloss kurzzeitig zu knacken, doch seither war jeder Versuch einer Wiederholung gescheitert.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Ich hatte noch zwei Stunden Zeit, bevor ich zum Flughafen aufbrechen musste. Ich checkte aus, bezahlte das Zimmer und verließ das Hotel. Ich wollte die Zeit nicht auf dem Flughafen vertrödeln. Dort würde ich mir bloß vorkommen wie ein Tiger im Käfig. Stattdessen deponierte ich meinen Koffer in einem Schließfach am Bahnhof und schlenderte durch die Wiener Innenstadt, in der Hoffnung, dass meine Nervosität allmählich nachlassen würde.

Ich hatte kaum darauf geachtet, wohin meine Schritte mich führten, doch plötzlich stand ich vor dem Rauchfangkehrerkeller, der zu den bekanntesten Kellerlokalen Alt-Wiens zählte. Zuerst war ich irritiert, weil ich es mit einem Lokal ähnlichen Namens verwechselte. Damals, als ich Norbert Helnwein kennengelernt hatte, hatte er mich in den Weißen Rauchfangkehrer geführt. Der Okkult-Experte hatte mir bei einem vorzüglichen Essen die genaue Bedeutung des Namens erklärt, aber ich hatte ihn vergessen. Das war nun schon viele Jahre her, und Norbert Helnwein war längst tot, gestorben durch den Biss eines Vampirs.

Mein Magen meldete sich. Da ich ohnehin nichts Besseres zu tun hatte, stieg ich die steilen Stufen in den Keller hinab. Wohltuende Kühle und Stille empfing mich. Prompt überkam mich das Gefühl, in eine andere Zeit versetzt worden zu sein. Das urige Gewölbe hatte sicherlich Jahrhunderte auf dem Buckel. Kerzen verbreiteten ein eher gespenstisches Licht. Außer mir befand sich nur noch ein einziger Kellner in dem Raum und verscheuchte die Fliegen.

Als er mich sah, kam er sogleich herbeigeeilt.

»Der Keller hat noch geschlossen, der Herr. Wir öffnen erst in einer halben Stunde.«

»Dann warte ich eben so lange«, brummte ich. Ich hatte keine Lust, weiter dort draußen meine Zeit totzuschlagen. Ich würde hier warten, etwas essen und mir dann ein Taxi zum Flughafen bestellen. Ohne den Kellner weiter zu beachten, nahm ich an dem erstbesten Tisch Platz und bestellte ein Bier.

Ich studierte die Speisekarte, wobei ich schon wusste, was ich bestellen würde. Natürlich musste es ein Wiener Schnitzel sein. Wieder musste ich an Helnwein denken. Er hatte damals behauptet, dass seine Wiener Schnitzel besser schmeckten als in sämtlichen Lokalen. Bislang hatte er recht behalten. Aber es war immer wieder einen Versuch wert, es zu testen.

Allmählich wurde mein Mund trocken. Anscheinend hatte ich den Dickkopf des Kellners unterschätzt. Wahrscheinlich würde er mich warten lassen, bis das Restaurant offiziell öffnete.

Da hörte ich, wie Schritte die Treppe herabkamen. Na also, wer sagte es denn! Doch es war weder der Ober noch mein Bier. Stattdessen betrat ein weiterer Gast den Gewölbekeller. Es handelte sich um einen beleibten Mann mit einem rundlichen vertrauenseinflößenden Gesicht, dessen Oberlippe und Kinn ein altertümlich wirkender Bart zierte. Genauso altertümlich kam mir seine Kleidung vor, aber das hatte in Wien nichts zu bedeuten. Die Stadt war von Touristen überlaufen, die genau diese Art von Kasperltheater suchten. Gleich draußen vor dem Stephansdom hatte ich lauter als Mozart verkleidete Gestalten gesehen, die irgendwelche Werbebroschüren verteilten.

Ich fragte mich, was der Neuankömmling zu verkaufen hatte. Vielleicht war er ja auch Schauspieler. Mit seinem Wams und den gebauschten Hosen, die in kniehohen Stiefeln steckten, wirkte er wie ein Komparse aus einem Kostümfilm. Der Spitzhut verstärkte diesen Eindruck noch. Alles an ihm wirkte schwarz – bis auf das rosige Gesicht.

Plötzlich kam mir ein Einfall: Sicherlich hatte seine Erscheinung etwas mit dem Rauchfangkehrer zu tun.

Unter normalen Umständen hätte es mich sogar interessiert, mehr zu erfahren, aber ich hatte andere Sorgen. Daher nickte ich ihm nur kurz zu und starrte danach demonstrativ wieder auf die Tischplatte vor mir. Er nahm ein paar Tische von mir entfernt Platz. Nach einer Minute des Schweigens hob ich den Kopf und bemerkte, dass er mich anstarrte.

»Verzeihen Sie mir meine Aufdringlichkeit«, sagte er lächelnd. »Aber ich frage mich die ganze Zeit, ob Sie vielleicht der Kellner sind und ich Sie ansprechen darf. Ich habe Durst wie ein Bär!«

»Das habe ich auch. Allerdings hat das Lokal noch geschlossen. Ich fürchte, wir müssen uns noch etwas gedulden.«

Sein so gutmütiges Gesicht verzog sich vor Zorn. »Das gibt's doch nicht! Das nenne ich eine ausgemachte Schweinerei, wie man uns hier behandelt! Warten Sie einen Moment, ich bringe die Sache in Ordnung!«

Er sprang geradezu von seinem Stuhl und rannte die Treppe wieder hinauf. Oben hörte ich ihn lauthals nach dem Ober schreien. Mir war es egal, was er trieb. Wenn ich dafür umso eher mein Bier serviert bekam, sollte es mir recht sein.

Eine ganze Weile tat sich gar nichts, doch dann hörte ich abermals jemanden die Treppe herabkommen. Es war der in Schwarz gekleidete Gast von vorhin. In jeder Hand hielt er einen bis zum Rand gefüllten Krug mit Bier. Die Schaumkrone zeugte davon, dass es frisch gezapft worden war.

»Verzeihen Sie, dass es etwas länger gedauert hat«, sagte er freundlich lächelnd, »aber ich musste den unhöflichen Kerl erst überreden.«

»Wie haben Sie das angestellt?«

»Mit Geschick, mein Herr. Mit Geschick.«

»Also haben Sie die Sache selbst in die Hand genommen«, mutmaßte ich.

Der Mann wurde mir sympathisch. Er setzte sich zu mir an den Tisch, reichte mir einen Krug und stieß mit mir an.

»Auf uns!«

»Auf Sie!«, ergänzte ich. »Immerhin habe ich es Ihnen zu verdanken, dass ich nicht verdursten muss.«

»Ich heiße übrigens Albert«, sagte er, »Albert Augustin.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Kennen wir uns?«

»Das ist sehr unwahrscheinlich«, erwiderte er fröhlich. »Ich war lange nicht in der Stadt.«

Ich überlegte. Der Name Albert Augustin sagte mir nichts – und doch, irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob ich ihn kennen müsste. »Ich heiße Dorian Hunter«, stellte ich mich vor.

»Engländer? Dafür sprechen Sie erstaunlich gut Deutsch.« Er musterte mich eindringlich. »Es ist merkwürdig, aber jetzt kommt es auch mir so vor, als ob wir uns schon einmal gesehen hätten.«

»Bestimmt nicht. An Ihre eindrucksvolle Gestalt würde ich mich erinnern.«

Ich sah, dass er sich geschmeichelt fühlte, und nahm einen tiefen Schluck.

»Glauben Sie an Seelenwanderung, Herr Hunter?«

»Nein«, log ich.

»Aber was geschieht mit unserer Seele, wenn wir sterben?«

»Ich weiß nicht. Ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht.«

Ich hatte weiß Gott keine Lust, ihm von meinem besonderen Schicksal zu erzählen – dass ausgerechnet ich ganz besondere Erfahrungen mit diesem Thema gemacht hatte. Seit fünfhundert Jahren wechselte meine Seele von einem Körper in den anderen. Immer noch litt ich unter dem Pakt, den ich als Baron Nicolas de Conde 1484 mit Asmodi I. geschlossen hatte und der mir die Unsterblichkeit bescherte. Dieser Pakt hatte sich längst als Fluch erwiesen, und so sah ich es als meine Aufgabe an, die Dämonen zu bekämpfen, wo immer ich auf sie traf.

»Sie lügen«, sagte er mir auf den Kopf zu. »Jeden interessiert es, was nach dem Tod geschieht.«

»Es geschieht gar nichts«, brummte ich. »Vor dem Tod kommt das Sterben. Darüber mache ich mir mehr Gedanken.«

»Weil Sie Angst davor haben?«

»Wohl kaum. Hinterher wird's halb so schlimm gewesen sein.«

Er lachte. »Sie haben einen wunderbaren Sinn für Humor, mein Freund.«

Mir gefiel es nicht, dass er mich als seinen Freund bezeichnet hatte. Wir kannten uns schließlich überhaupt nicht. Aber ich widersprach nicht, denn in diesem Augenblick nahm sein Gesicht einen verträumten Ausdruck an.

»Verzeihen Sie, Herr Hunter, ich dachte gerade an eine frühere Freundin, in die ich sehr verliebt war …«

Anscheinend war Albert Augustin sehr flatterhaft, was seine Gedanken betraf. Ich beschloss, ihm nicht weiter zu folgen. Er wurde mir lästig. Ich hatte meine eigenen Sorgen und wollte mich nicht noch mit denen eines Fremden belasten. Doch Augustin fuhr fort:

»Sie fragen sich sicherlich, was der Tod mit dem Gedanken an eine schöne Frau zu tun hat. Nein, es ist nicht, wie Sie glauben … Verzeihen Sie, dass ich Sie überhaupt damit behellige. Wobei ich mich die ganze Zeit frage, ob Sie der sind, für den ich Sie halte.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Mein Herz sagt, dass Sie derjenige sind, den ich suche. Aber Sie sehen anders aus. Und Sie haben einen anderen Namen. Daher meine Frage, ob Sie an Seelenwanderung glauben. Schauen Sie mich an! Können Sie sich vorstellen, dass ich kein Wesen aus Fleisch und Blut bin?«

Jetzt war ich alarmiert. Dieser Augustin war keineswegs so harmlos, wie er mir zunächst erschienen war! Er wusste irgendetwas über mich und meine Vergangenheit – nur aus diesem Grund hatte er mich überhaupt auf das Thema angesprochen. Andererseits hatte ich in meinem Leben oft genug mit Dämonen zu tun gehabt, um sie auf den ersten Blick zu erkennen. Nein, Augustin war kein Mitglied der Schwarzen Familie. Er war ein Mensch, wenn auch ein äußerst seltsamer. Woher kannte er mich? Waren wir uns doch schon einmal begegnet? Vielleicht in einem anderen Leben?

Er reichte mir seine Hand. »Schlagen Sie ein!«

»Wollen Sie schon gehen?«

»Tun Sie es einfach, Herr Hunter.«

Ich zögerte, aber dann kam ich der Aufforderung nach. Ich wollte keinen zusätzlichen Verdacht erregen. Während ich seine Hand ergriff, blieb ich wachsam. Er machte jedoch keine Anstalten, mich anzugreifen.

»Ihre Hand ist kalt«, sagte ich. Eiskalt sogar. Es war kein angenehmes Gefühl. Rasch zog ich meine Hand zurück.

»Sagen Sie es mir!«, verlangte er. »Bin ich ein Mensch?«

»Natürlich, machen Sie sich keine Sorgen«, antworte ich. Konnte es sein, dass ich es mit einem Verrückten zu tun hatte? Doch auch dies erschien mir eine zu einfache Lösung. Ich hätte mir zu gern eingeredet, dass seine Anwesenheit ein Zufall war. Doch allmählich begriff ich, dass er aus einem ganz bestimmten Grund hier sein musste.

»Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen, Herr Hunter. Endet das Menschsein mit dem Tod?«