Yvonne Wundersee lebt mit ihrem Mann und den zwei Söhnen am Rande der schönen schwäbischen Alb. Das könnte ja so idyllisch sein, aber ihr war dieses Leben einfach zu langweilig. Sie hatte es satt nur in ihren zwei Jobs und der Hausarbeit gefangen zu sein. So erschuf sie aufregende Fantasiewelten mit Protagonisten, die sich den unglaublichsten Gefahren stellen müssen, um dem tristen Alltag zu entfliehen. Gern lässt die Autorin Leserinnen und Leser an ihren Geschichten teilhaben.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2021 Yvonne Wundersee
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9 783754 359266
Coverdesign:
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Lektorat und Korrektorat: Susanne Mang
„Komm Stefano! Spiel mit mir.“ Heidi rannte über die Wiese. Ihre kleinen Beine hopsten über die Grasnaben und sie lachte ausgelassen. Blonde Zöpfe mit roten Schleifen flatterten im Wind. Ihre Wangen waren sanft gerötet.
„Wart nur ich krieg dich schon zu fassen, du verrückte kleine Waldelfe.“
„Ich bin eine Elfe!“, jauchzte Heidi laut. Sie sprang hoch und streckte die Arme in die Luft. „Ich kann fliegen. Siehst du Stefano. Ich fliege bis hoch in die Wolken.“
Heidi rannte in den Wald und ich folgte ihr. Ich war so glücklich. Heidi war die beste kleine Schwester der ganzen Welt. Auch wenn sie mich manchmal nervte und nie auf mich hörte, war sie doch toll. Ich war nicht mehr allein.
Wir lebten in einer sehr einsamen Gegend und bis zur Geburt von Heidi gab es nur meine Eltern und mich. Wir arbeiteten auf den Feldern, versorgten die Tiere und Mutter und ich stellten Töpferwaren her, die wir zweimal im Jahr in Parissa verkauften. Diese Tage waren meine Abenteuer. Ich stellte mir vor, dass ich ein reicher Kaufmann sei, der mit seinem Gefolge in die große Stadt einreiste. Ich träumte davon, dass der König persönlich bei mir Waren kaufte und mich für mein handwerkliches Geschick lobte. Diese Zeit verging in Parissa immer wie im Flug. Und eines Tages, als wir uns auf unserem Wagen, zwischen Kannen, Tellern und Schüsseln zur Nacht niederließen, erzählte mir meine Mutter, dass ich nun bald ein großer Bruder sein würde. Ich staunte und umarmte sie herzlich. In dieser Nacht träumte ich davon ein großer Bruder zu sein, aber niemand hätte mir glaubhaft machen können, wie wundervoll das Leben mit Heidi werden würde. Jetzt war sie schon vier Jahre alt und ich war mit meinen 11 Jahren ihr Held. In den wenigen Zeiten ohne Arbeit streiften wir gemeinsam durch die Gegend und erkundeten Wälder und Berge. Sie liebte jedes Tier und untersuchte alle Pflanzen ganz genau. Ich musste ihr allerlei Fragen beantworten und oft schwindelte ich mir auch etwas zusammen, nur, um nicht zugeben zu müssen, dass mir die Antwort unbekannt war.
Heute rannte sie tiefer in den Wald, als jemals zuvor. Atemlos blieb sie plötzlich stehen. Eine Höhle ragte vor uns auf. Doch anders, als in den anderen Höhlen, glitzerten in dieser hier unzählige Kristalle an den Wänden. Sie reflektierten das Licht in den Tunnel und erhellten ihn. Alles an diesem Ort wirkte einladend und märchenhaft.
„Siehst du das Stefano? Ist das nicht wunderschön? Es leuchtet.“ Heidi schaute mit weit aufgerissenen Augen in den Tunnel. Bevor ich antworten konnte, rannte sie bereits wieder los. „Genau der richtige Ort für eine Elfenprinzessin, wie mich“, jauchzte sie und bevor ich sie zurückhalten konnte, verschwand sie in der Höhle. Ich rannte ihr nach. Obwohl sie klein war, rannte sie flink und wendig wie ein Wiesel. Ich hatte Mühe sie einzuholen. Dieser Ort bescherte mir eine Gänsehaut, aber die Abenteuerlust war größer als die Angst. Ich wollte wissen, was sich am Ende des Tunnels befand. Also folgte ich Heidi und ließ mich von ihrer Vorfreude anstecken.
Wir erreichten eine große Grotte. Sie war nach oben hin offen und Sonnenstrahlen drangen ungehindert hinein. Was für eine Pracht meine Augen hier erblickten. Auch Heidi schaute sich neugierig um. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie leicht.
„Hast du jemals etwas so Schönes gesehen?“ Ihre Stimme klang atemlos und ehrfürchtig. Sie hallte an den unzähligen riesigen Kristallen und an den Höhlenwänden wider, verstärkte und verzerrte sich. Wir gingen gemeinsam einige Meter in die Grotte hinein. Unsere Schritte wurden von einem weichen Moosteppich gedämpft. Er war saftig grün und unsere Füße sanken tief darin ein. In der Mitte der Grotte stand ein Wasserbecken, flankiert von vier riesigen Statuen. Ihre Gesichter schauten freundlich auf uns herab. Das Wasserbecken wurde von einer Quelle gespeist. Mit fröhlichem Plätschern traf das Wasser auf die Oberfläche. Tropfen spritzten über den Rand und wurden sofort vom Moos verschluckt. Wer hatte dieses Kunstwerk nur erschaffen? In diesem Moment hörte ich ein Rauschen, das in seiner Lautstärke immer weiter anschwoll. Heidi trat einen Schritt zurück und versteckte sich hinter mir, ohne meine Hand loszulassen. Auch ich bekam es mit der Angst zu tun, wollte aber vor Heidi meine Schwäche nicht zugeben. Schließlich war ich doch ihr großer Bruder, ihr Held.
Zwischen zwei Kristallen flimmerte plötzlich die Luft. Sie warf Wellen, als wäre sie aus Wasser. Nun erkannte ich auch, dass das Rauschen von diesen zwei Kristallen ausging. Es pulsierte jetzt auch in meinen Ohren, aber was ich dann zu sehen bekam, ließ alle Farbe aus meinem Gesicht weichen. Aus den Wellen kam eine Kreatur, wie ich sie selbst in meinen schlimmsten Alpträumen noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie war riesig. Ihre Pranken waren mit schwarzen Klauen bewehrt und so groß wie Hinkelsteine. Ihr Körper war grün und an Brust und Rücken grau behaart. Die Augen des Monsters suchten die Höhle ab und blieben auf uns hängen. Ein bösartiges Lächeln trat auf das Gesicht des Ungeheuers. Es entblößte scharfe gelbe Zähne.
Ich war vor Angst wie gelähmt. Mein Gehirn konnte keinen klaren Gedanken fassen. Nur ein Wort kreiste durch meinen Kopf. Es wirbelte und schnitt durch meine Gehirnwindungen, weil mein Geist es nicht wahrhaben wollte: Troll.
Er machte einen Satz auf uns zu und Heidi schrie ohrenbetäubend auf. Sie drückte sich an mich, aber was konnte ich tun? Meine Beine waren wie Pudding und mir blieb nur die Augen zusammenzupressen, als mich schon ein gewaltiger Schlag traf. Ich flog durch die Luft, prallte hart an eine der Statuen und fiel dann auf den Boden. Mein Blick war verschwommen, aber ich nahm wahr, wie das Portal noch einmal geöffnet wurde. Hindurch kamen viele Gestalten, die sich auf das Monster stürzten. Der Troll brüllte und tobte, dann war es wieder ruhig in der Grotte. Das Rauschen verstummte und um mich herum wurde alles dunkel.
Ich weiß nicht wie lange ich zu Füßen der Statue gelegen hatte, aber als ich erwachte, war es finster. Ich tastete an meinen Kopf, der in einem wilden Stakkato schmerzhaft pulsierte. Meine Finger ertasteten etwas Feuchtes, Klebriges.
„Heidi?“ Ich flüsterte ihren Namen, denn jeder laute Ton, hätte meinen Kopf zerbersten lassen.
Ich bekam keine Antwort. War sie schon nach Hause gelaufen? Vielleicht würden Mama und Papa bald kommen und mich holen. Tränen traten in meine Augen. Ich wollte nach Hause zu meiner Mutter. Sie würde die Wunde versorgen und bald wären die Schmerzen vergessen. Sie würde mir einen Kuss geben und mich ins Bett stecken.
Ich wartete lange. Langsam ging mir auf, dass niemand kommen würde, um mir zu helfen. Ich wollte nach Hause, also rappelte ich mich auf. Auf Händen und Knien erfasste mich ein unerträglicher Schwindel. Ich musste würgen und erbrach Galle und Magensaft. Wie lange hatte ich nichts mehr gegessen? Wie lange lag ich schon an diesem Ort?
Mühsam stand ich auf. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg in die Grotte. Sie wurden von den Kristallen reflektiert und erhellten meine Umgebung. Was ich aber keine zwei Meter vor mir sah, zerstörte meine Welt, brach mein Herz und verbrannte das Kind in mir innerhalb weniger Augenblicke.
Blonde Zöpfe, die sich rot verfärbt hatten. Ein, im Schreck erstarrter, aufgerissener Mund und ängstliche, aber blicklose Augen. Vor mir lag Heidi. Sie durfte nicht tot sein. Nicht meine Heidi. Mit wenigen Schritten war ich bei ihr, riss ihren kleinen Körper in meine Arme und schüttelte sie. Ihr Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel herab. In ihrem Nacken kratzte bei jeder Bewegung Knochen über Knochen. Es dauerte eine Weile, bis das Offensichtliche mein Gehirn erreichte. Dieses Ding aus der Anderswelt hatte meine kleine Schwester getötet. Mit nur einem Hieb seiner unsäglichen Klaue hatte es das liebste und schönste aus dieser Welt getilgt.
Mein Herz erfror zu Eis.
Ich nahm Heidi auf meine selbst noch kindlichen Arme. Es kostete mich alle Kraft aufzustehen, aber ich würde sie hier, an diesem widernatürlichen Ort nicht zurücklassen.
Es dauerte Stunden, bis ich endlich an unserem kleinen Hof ankam. Meine Mutter sah mich zuerst und rannte klagend auf mich zu. Sie riss mir Heidi aus den tauben Armen. Sie nahm nicht wahr, wie ich vor ihr zusammenbrach. Zu groß war der Schmerz über den Verlust ihrer Tochter. Dann versank die Welt um mich wieder in Schwärze.
Als ich wieder erwachte, befand ich mich in einem kargen Raum. Neben mir kniete ein Mönch. Er hatte die Kapuze seiner Kutte tief ins Gesicht gezogen. Seine Hände hielten ein hölzernes Kreuz und er betete.
„Wo bin ich?“ Meine Stimme war kratzig und meine Kehle brannte. Ich brauchte dringend etwas Wasser. Der Mönch erhob sich und ging zu einem Sims auf dem ein Tonkrug und ein Becher stand. Mit dem Rücken zu mir sagte er: „Du bist im Kloster. Dein Vater hat dich hergebracht.“
„Aber warum sollte er das tun? Meine Mutter braucht mich doch. Meine kleine Schwester hat ein tödliches Unheil ereilt. Ich muss jetzt bei meiner Mutter sein und ihr Trost spenden.“ Ich schwang meine Beine von der Pritsche und stand auf. Der Schwindel war immer noch da, aber ich konnte ihn unterdrücken. Der Mönch war sofort bei mir und hielt mich an den Schultern fest. Ich wehrte mich, versuchte, seinem Griff zu entkommen. Ich musste zu meiner Familie.
„Stefano!“ Ich hörte den Mönch nicht, schlug und trat um mich.
„Deine Mutter hat den Freitod gewählt. Stefano, hörst du mich. Deine Mutter ist nicht mehr am Leben!“ Die Worte des Geistlichen drangen langsam in mein Bewusstsein, aber als sie es taten, zog es mir die Füße weg. Ich krabbelte über den kalten Steinboden und bekam kaum Luft.
„Dein Vater hat dich hergebracht, weil er sich nicht mehr um dich kümmern kann. Stefano, wir und Gott sind jetzt für dich da.“
In diesem Moment, ausgestreckt auf dem Boden, schwor ich mir, dass die Anderswelt und seine abscheulichen Kreaturen nie wieder eine Familie zerstören würden. Ich würde alles tun, um alles Übernatürliche zu vernichten. Es sollte nicht mal mehr eine Erinnerung in den Köpfen der Menschen bleiben.
Durchgekaut und ausgespuckt. So fühlte ich mich, als ich hart in die Finsternis fiel. Kalter Steinboden empfing mich. Der Aufprall raubte mir den Atem. Ich lag flach auf meinem Rücken und stöhnte. Unter Schmerzen drehte ich meinen Kopf und sah mich um.
Ich lag Mitten im Thronsaal der Allianz, aber das hier war kein prachtvoller Palast. Ich war in einer Ruine gelandet. Der aufgewirbelte Staub sank langsam um mich herum zu Boden. Ich musste husten und hielt mir meine schmerzende Rippe. Nackte, graue Steinwände umgaben mich. In den Fensterbögen fehlten die Scheiben. Einzelne Scherben hingen wie Reißzähne in den letzten Streben. Löcher in der Wand ließen den kalten Wind durch den Raum fegen. Mich fröstelte und mir tat alles weh. Mühsam rappelte ich mich auf die Beine. Was war hier passiert. Ich war nicht zu Hause. Das hoffte ich zumindest. Keine Menschenseele war hier. Dieser Ort wurde schon vor langer Zeit verlassen. In der dicken Staubschicht erkannte ich nur die Fußspuren kleiner Tiere und eine Schleifspur. Dichte Spinnennetze hingen in den Ecken und von den Holzbalken über mir. Sollte ich einmal einen Horrorfilm drehen wollen, hier wäre die perfekte Atmosphäre dafür. Ich bekam eine Gänsehaut. In jeder dunklen Ecke sah ich Gefahren und Angreifer. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Definitiv hatte der Spiegel mich nicht zurückgebracht. Das Wiedersehen mit Granny konnte ich vergessen und auch ein Besuch bei Amelie war ausgeschlossen. Das hieß aber auch, dass mir keine Zeit blieb mich auszuruhen. Ich stürzte von meinem Abenteuer auf dem Mars direkt in die nächste Aufgabe. Als ich an meinem Körper heruntersah, machte sich allerdings Skepsis in mir breit, ob ich das durchhalten konnte. Meine Kleider hingen wie Lumpen an mir und Blut sickerte durch den Stoff. Ich war wirklich nicht in Bestform. Es machte mir auch Angst, wenn ich daran dachte, dass es noch sechs weitere Dimensionen gab, in denen ich den Opal mit dem Seelenstück von Satan finden musste. So wie es jetzt aussah, wurde ich von einer Dimension in die nächste geschmissen, ohne dass mir eine Pause vergönnt war.
Einmal konnte ich siegen, aber das war nur ein kleiner Schritt in meiner Aufgabe. Nur ein Misserfolg, nur eine verlorene Dimension und jede bereits getätigte Anstrengung wäre umsonst gewesen. Die Zukunft von sieben Welten hing allein an mir. Ja, und jetzt war ich auch noch allein hier gestrandet. Mein bisheriger Begleiter Mathias wollte wohl lieber bei seiner Hoheit Elisabeth, der Kuh, bleiben. Warum spielte er mir nur Liebe und Bewunderung vor, wenn er mich dann doch für mein anderes Ich wegwarf? Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn loszuwerden. Ich wollte jetzt nicht über Mathias nachdenken. Es tat immer noch zu weh und ich hatte jetzt wirklich andere Probleme.
Meine Rippen ächzten und etwas stimmte mit meinem Kopf nicht. Immer wieder verschwamm mein Blick und ich hatte Schwierigkeiten, mich zu fokussieren.
Plötzlich hörte ich Schritte. Sie näherten sich schnell. Schon wurde die schiefe Tür quietschend geöffnet. Ich versuchte zu flüchten, aber meine Beine gaben unter mir nach. Unfähig wieder aufzustehen, kroch ich über den Boden. Mit der Panik verstärkte sich auch der Schwindel. Als etwas mich an der Schulter berührte, drehte ich erschrocken den Kopf zur Seite. Ein Fehler, nun pulsierte es hinter meinen Augen. Mein Puls schlug dröhnend in meinen Ohren. Verschwommene schwarze Umrisse kamen auf mich zu und griffen nach mir. Ich riss den Mund auf, um zu schreien, aber kein Ton kam über meine Lippen. Mein Sichtfeld wurde immer kleiner. Weiße Punkte tanzten vor meinen Augen und ein Pfeifen schrillte in meinem Kopf. Das war zu viel für mich und ich sank zurück in die Bewusstlosigkeit.
Lange Tentakel griffen nach mir. Ich schlug nach ihnen und sie zerfielen zu Rauch und Staub. Satans Stimme wirbelte um mich herum. Er lachte und verhöhnte mich und im Hintergrund sangen die Stimmen. Sie zogen an mir und befahlen mir, ihnen zu folgen, mitzukommen an den Ort, an dem der Schmerz vorbei wäre. Schweiß rann mir vor Anstrengung über den Rücken, aber ich durfte nicht aufgeben zu kämpfen. Es war so heiß! Ich verbrannte und immer, wenn ich dachte, dass ich es nicht mehr aushalten konnte, spürte ich eine kühle Berührung an meiner Stirn, die die Qual für kurze Zeit linderte. Zeit, in denen ich Kraft für den nächsten Kampf sammeln konnte. Manchmal hörte ich eine liebe Stimme. Sie drang wie durch einen Nebel zu mir durch. Sie ermutigte mich, nicht aufzugeben, und sang leise Lieder für mich. Sanfte Hände hoben meinen Kopf an und flößten mir Wasser ein. Es benetzte meine wunde Kehle und kühlte meinen Leib. Jemand versorgte meine Wunden. Ich wusste aber nicht wer mir half und schaffte es nicht, durch den Nebel meiner Bewusstlosigkeit an die Oberfläche durchzustoßen. So sehr ich es auch versuchte, die Tentakel zogen mich immer wieder zurück. Wie lange würde ich noch kämpfen können, bevor ich meinen letzten Rest an Kraft verlor? Wären die liebevollen Hände nicht, ich hätte längst aufgegeben. So waren es die Tentakel, die immer dünner wurden, und der Nebel lichtete sich mehr und mehr. Meine Bemühungen der Bewusstlosigkeit zu entkommen, zeigten immer größere Wirkung. Mit einem letzten Aufbäumen schaffte ich es an die Oberfläche. Laut keuchend durchbrach ich die Barriere und setzte mich auf.
Meine Augen brannten und ich blinzelte gegen das Tageslicht an. Nach einer Weile erkannte ich meine Umgebung. Wie war ich nur hierhergekommen? Ich saß in einer windschiefen Kate auf einem alten Strohsack. Motten durchfressene Schaffelle hielten mich warm. Alles roch nach Schimmel und Nässe. Die Holzhütte war so klein, dass aufrechtes Stehen unmöglich war. Die Wände bestanden aus morschen Holzbrettern und überall drang Tageslicht durch die Löcher herein. Sie waren so groß, dass ich meine ganze Hand hindurch ins Freie strecken konnte. Eisiger Wind pfiff herein. Außer dem Strohsack gab es nur einen Schemel und einen Kessel, der über einer offenen Feuerstelle hing. Das Feuer prasselte und irgendetwas blubberte im Topf. Ich war allein und sah an mir hinunter. Meine Wunden waren sorgfältig mit Moos und Blättern verbunden. Ich war sauber und fühlte mich gut. Mir war nicht schwindelig und die vielen Blutergüsse verblassten bereits. Neben mir auf dem Boden stand das kleine Fläschchen mit meinem Tonikum. Mara, meine Freundin vom Mars gab es mir, damit die Stimme des Opals mich nicht in den Wahnsinn trieb. Ein Tropfen schaffte es, dass ich mich wieder konzentrieren konnte und die Stimmen mir nur noch leise den Weg zu Satans verstecktem Seelensplitter zeigten. Jemand musste es mir gegeben haben. Ich konnte mich vage daran erinnern, dass vor meinem Zusammenbruch der Opal bereits nach mir schrie. Ich nahm die kleine Flasche und steckte sie in die Tasche des braunen Leinenkleides, dass ich immer noch trug. Jemand hatte mir aber ein neues Unterkleid angezogen, bestimmt weil die Ärmel so kaputt und blutverschmiert gewesen waren. Mein Umhang lag neben mir auf dem Lehmboden.
Wie lange war ich schon hier? Die Zeit stand mir im Nacken. Ich hatte nur noch etwas mehr als drei Monate Zeit, um die restlichen sechs Opale zu finden und den Seelenteil von Satan daraus zu lösen. Ich konnte es mir nicht leisten auf der faulen Haut zu liegen. Ich war schon im Begriff aufzustehen, als ich Stimmen von draußen hörte. Gerade wollte ich mich zu erkennen geben, als ich bemerkte, dass sie keineswegs freundlich waren. Die Menschen schrien wild durcheinander. Ich hörte immer wieder das Wort Hexe. Metall schlug rhythmisch und laut gegeneinander. Dann knackte und knisterte es plötzlich über mir. Sie steckten die Hütte in Brand. Panik erfasste mich. Was war hier los? Ohne lange darüber nachzudenken, griff ich mir meine Sachen und hieb anschließend meine Füße hart gegen die Rückseite der Hütte. Schon prasselte brennendes Stroh auf mich nieder. Nicht mehr lange und von der Kate wäre nichts mehr übrig. Das morsche Holz war der beste Zunder.
In letzter Minute gab das Holz unter meinen Füßen nach. Vorsichtig spähte ich nach draußen, aber aufgrund des massiven Rauchs konnte ich nichts erkennen. Doch mir blieb auch keine Wahl, wenn ich nicht verbrennen wollte. Ich musste hier raus, und zwar schnell.
Ich wickelte meinen dicken braunen Wollumhang um mich und zog mir die Kapuze über den Kopf. Dann krabbelte ich durch das Loch ins Freie. Tief gebückt rannte ich auf die ersten Sträucher zu und legte mich dahinter in Deckung. Niemand nahm von mir Notiz. Nun konnte ich auch sehen, was hier vor sich ging. Viele Menschen mit Heugabeln und Sensen bewaffnet, zerrten an einer alten, in Lumpen gehüllten Frau. Sie wehrte sich nicht, sah nur panisch auf die Flammen. Das Feuer hatte sich nun durch die gesamte Hütte gefressen. Wäre ich nicht rechtzeitig erwacht, der Tod wäre mir sicher gewesen. Die Menschen zogen die Frau näher zum Feuer und dann erkannte ich ihr Gesicht. Ein Keuchen entfuhr mir und ich presste die Hand vor meinen Mund. Das war meine Granny. "Die Hexe soll brennen!" "Verbrennt sie!", skandierten die Angreifer. Das konnte ich nicht zulassen. Sie wollten diese liebevolle Frau tatsächlich in die Flammen werfen. Ihr Haus sollte ihr Scheiterhaufen werden. Zum Kampf bereit, wollte ich mich auf sie stürzen, als sich jemand auf mich warf und mich sein Gewicht am Boden hielt. Ich zappelte und versuchte zu schreien. Doch eine Hand presste sich auf meinen Mund. "Halt die Klappe, du dummes Ding. Margret weiß, was sie tut. Du machst den ganzen Plan kaputt!" Diese Stimme kannte ich. Durch meine Panik konnte ich sie aber nicht sofort einordnen. Ich sah weiterhin auf die grausame Szene. Diese Granny wurde von dem Mob in hohem Bogen in die Flammen geworfen. Kein Laut kam über ihre Lippen. Die Menschen jubelten und kreischten. Sie tanzten vor den Flammen und nahmen sich gegenseitig in die Arme. Ich sank in mir zusammen. Meine Augen füllten sich mit Tränen und mein Magen verknotete sich. In was für eine Welt war ich hier geraten? Ich wollte nach Hause. Jetzt! Sofort! Diese Ungeheuer verbrannten eine alte Frau und freuten sich darüber. Ich hatte ihr nicht helfen können. Hilflos musste ich hier liegen und zusehen, wie meine Granny in die Flammen fiel. Natürlich wusste mein Kopf, dass diese Frau nicht meine wirkliche Granny sein konnte, aber mein Herz fühlte etwas anderes. Ich legte mein Gesicht auf den nassen Waldboden und ließ meinen Tränen freien Lauf. Der Mann, der mich hielt, unternahm nichts. Er lag weiterhin auf mir und drückte seine Hand auf meinen Mund. "Es wird alles gut Elisabeth. Warte es einfach ab", flüsterte er mir ins Ohr. Aber ich wollte davon nichts hören. Wie konnte jemand jetzt noch sagen, dass alles gut werden konnte? Dieser Mann musste verrückt sein.
Ich hörte, wie sich die Menschen langsam entfernten. Die Stimmen wurden bald vom Wald verschluckt und auch das Prasseln des Feuers wurde leiser. Die Flammen bekamen mit der kleinen Kate auch nicht sehr viel Nahrung. Wahrscheinlich konnte ich die Überreste der Leiche noch bergen und beerdigen. Ich würde auch mit bloßen Händen ein Grab ausheben. Ich konnte nicht damit leben sie den wilden Tieren zu überlassen. Endlich gaben die Hände mich frei. Nichts hielt mich mehr. Ich stieß das Gewicht von mir und rannte, so schnell mich meine Füße trugen. Die letzten Flammen trat ich beherzt nieder. Glühendes Holz warf ich zur Seite. Meine Hände trugen Verbrennungen davon, aber ich arbeitete mich wie im Wahn durch die Überreste. Wo war sie nur? Sie musste doch hier irgendwo liegen. Tränen hinterließen weiße Spuren in meinem mit Ruß bedeckten Gesicht. Das Schluchzen schüttelte mich immer wieder, aber ich ließ nicht nach. Dann spürte ich eine Hand auf meinem Arm. "Elisabeth, du solltest etwas zur Seite gehen." Ich drehte mich um und sah einen in Felle gehüllten Dr. Schreiber. Er sah mich mit schief gelegtem Kopf an und lächelte. Schon wieder dieses unpassende Lächeln. Das war zu viel. Ich packte ihn am Kragen und zischte ihm zu: "Sie pietätloses Schwein. Margret wurde gerade bei lebendigem Leibe verbrannt und sie lachen? Was soll diese sadistische Nummer? Sie haben keinen Finger krumm gemacht, um sie zu retten. Im Gegenteil. Sie haben auch verhindert, dass ich etwas unternehmen konnte. Dafür sollte ich ihnen in den Arsch treten." Ich war so wütend, dass mein Kopf wahrscheinlich kurz vor dem Platzen stand.
Ein plötzliches Krachen und Knacken hinter mir, ließ mich zusammenzucken. Mein Kopf drehte sich langsam in die Richtung des Geräuschs. Die rauchenden Bretter bewegten sich. Sie fielen zur Seite und etwas kam unter ihnen hervor. Ich ließ Schreiber los und machte mich kampfbereit. Was war das schon wieder? Hatte mich Satan jetzt schon wieder im Visier? Würde er die Leiche von Granny auf mich hetzen? Schweiß stand auf meiner Stirn. Konnte ich Granny wirklich vernichten?
Schreiber stürmte an mir vorbei und schob mich dabei unsanft zur Seite. Er lief direkt auf das Bündel aus Stoff zu, dass sich immer mehr aus den Überresten grub. Er legte seine Arme um die Gestalt und half ihr auf. Gleich würde Satans Geschöpf ihn vernichten. Ich kniff die Augen zu. Ich wollte nicht sehen, wie auch er starb. "Elisabeth, möchtest du mir nicht auch hier heraushelfen?" Ich riss die Augen wieder auf, als ich die Stimme von meiner Großmutter erkannte. Geschockt starrte ich auf Granny, die nun auf mich zu wankte. Ich löste mich aus der Starre und half ihr aus der zerstörten Kate. Wir gingen zu einer großen Eiche und dort setzte sie sich auf eine hoch herausragende Wurzel und lehnte sich an den Stamm. Verwirrt nahm ich ihr Gesicht in meine Hände. "Wie hast du das gemacht? Bist du wirklich eine Hexe?" Jetzt lachte Granny leise und schüttelte den Kopf. "Aber nein, mein Kind, vor der Feuerstelle gab es einen kleinen Keller. Dort lagerte ich meine wenigen Vorräte. Diesmal hat der Keller eben mich frisch gehalten." Sie streichelte meine Wange. "Ich bin so froh, dass du rechtzeitig rausgekommen bist. Ich habe Albert geschickt, um dich zu holen."
"Sie war schon draußen, als ich zur Hütte kam. Ich hatte meine liebe Mühe, sie zu bändigen. Sie ist ganz anders als unser Mädchen. Diese hier wollte dich doch tatsächlich befreien", sagte Dr. Schreiber mit hochgezogenen Augenbrauen.
Granny schaute mich erstaunt an. "Na sowas, es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen und schön dich bei guter Gesundheit zu sehen. Aber leider trennen sich unsere Wege hier schon wieder. Albert und ich bleiben hier. Wir verstecken uns in der Ruine. Der Spiegel muss unter allen Umständen beschützt werden. Wir sind der Rest der Allianz. Mehr ist leider nicht übriggeblieben. Unsere Elisabeth ist mit ihrer Mutter im Verlies und Luk hält sich mit Amelie versteckt. Keiner weiß wo sie sich zur Zeit befinden." Granny schüttelte traurig den Kopf. „Es wird sehr schwer für dich werden, hier siegreich wieder raus zu kommen. Besonders nicht mit diesem Haar.“ Sie strich mir liebevoll über die rotblonden Locken.
"Das hört sich ja an, als wäre ich im Mittelalter zur Zeit der Inquisition gelandet", sagte ich irritiert.
"Was soll das denn sein?" Dr. Schreiber mischte sich in unser Gespräch ein. "Die Kurzfassung: Die Inquisition war in meiner Dimension die Zeit in der die Kirche, also die Religion, allmächtig war. Sie suchten und vernichteten alles, was in ihren Augen widernatürlich zu sein schien. Das machten sich böse und neidische Menschen sehr gern zu Nutze. Sie denunzierten den Nachbarn, der den größeren Acker hatte, die Frau, die den besseren Ehemann abbekommen sollte oder die Bäuerin, die größere Kartoffeln erntete. Diese wurden der Hexerei beschuldigt und gefoltert, bis sie gestanden mit Satan im Bunde zu sein. Dann wurden sie meist durch Verbrennen auf einem Scheiterhaufen getötet. Heilkundige Frauen und Hebammen waren sehr gefährdet. Außerdem wurden Frauen mit roten Haaren Hexenkräfte zugeschrieben. Diese Zeiten sind in meiner Dimension, aber seit ungefähr 400 Jahren vorbei."
Dr. Schreiber und Granny hörten aufmerksam zu und schauten sich dann an. Leise sagte Dr. Schreiber: "Bei uns beginnt diese Zeit gerade. Der neue König wurde vom Kirchenobersten auf den Thron gesetzt. Unser König ist sehr jung. Das macht ihn ängstlich und wankelmütig. Die Kirche hat ihn im Griff. Er würde sich nie gegen sie zur Wehr setzen." Granny legte ihm die Hand auf die Schulter. "Deshalb haben sie auch den Rest der Allianz zerschlagen. Sie verfrachteten alle, derer sie habhaft werden konnten in die Hauptstadt. Dort sitzen sie jetzt seit vier Monaten im Verlies. Keiner weiß, wie es ihnen geht, aber die Dorfbewohner flüstern, dass in wenigen Tagen die Scheiterhaufen vor der Hauptstadt entzündet werden sollen. Ich habe die große Befürchtung, dass meine Lieben dort die Attraktion werden sollen." Granny begann leise zu weinen und Dr. Schreiber nahm sie in die Arme.
„Ungefähr eine Tagesreise von hier ist die Burg LaSalle. Die Leute dort sind Freunde der Allianz. Dort kannst du erst einmal Zuflucht finden und vielleicht fällt dir ja in der Tat etwas ein, wie du das Unmögliche möglich machen kannst. Wir bleiben in der Ruine, um den Spiegel zu beschützen, denn ohne ihn ist unsere Welt ganz sicher verloren.“ Granny nahm mich in die Arme und drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange. "Du bist so viel stärker als unsere Elisabeth. Ich hoffe so sehr, dass das reicht."
"Nun geh schon. Immer nach Süd-West, dann bist du morgen Mittag bei der Burg LaSalle. Sag den Bewohnern liebe Grüße von uns." Dr. Schreiber klopfte mir auf die Schulter, zog einen Dolch aus seinem Umhang und drückte mir das Heft in die Hand. Dann nahm er Granny bei der Hand und sie gingen gemeinsam zur Ruine.
Ich blieb noch eine Weile unschlüssig stehen und betrachtete meine Umgebung. Überall sah ich ursprünglichen Mischwald. Die Bäume standen sehr dicht und auch das Unterholz wurde in dieser Dimension nicht entfernt. Die meisten Blätter waren schon als Laubteppich zu Boden gefallen und die wenigen, die sich gegen das Sterben zur Wehr setzten, waren braun und welk. Nur die Nadelbäume strahlten in ihrem satten Grün. Die Sonne stand hoch am Himmel, spendete aber kaum Wärme. Ein trister Herbsttag, aber der Himmel war wolkenlos und mit etwas Glück würde es nicht regnen, bis ich mein Ziel erreichte. Allein konnte ich diese Mission auf keinen Fall ausführen. Ich hoffte sehr auf die Unterstützung der Burgherren, denn wieder einmal wartete eine Rettungsaktion auf mich. Diese würde aber ungleich schwerer werden, da Elisabeth hier nicht die Herrscherin, sondern die Gefangene war. Außerdem war Amelie verschollen. Selbst wenn ich es schaffte mein Ebenbild zu befreien und wir den Opal fanden, wussten wir noch nicht, wo wir ihn hinbringen sollten. Fragen über Fragen, die mich dem Ziel nicht näherbrachten. Ich machte mich auf den Weg. Das war ein Anfang. Immer Schritt für Schritt.
Mühsam stieg ich über die verwitterten Überreste des Waldes. Doch bald fand ich einen Wildpfad. Rehe und andere Tiere hatten hier eine Schneise in den Wald geschlagen, die meinen Marsch sehr viel erträglicher machte. An einem kleinen Bach stillte ich meinen Durst und nahm mir die Zeit, einen neuen provisorischen Bogen zu bauen. Pfeile spitzte ich mit dem Dolch an und steckte sie in einen Köcher aus Baumrinde und Blättern. Um jetzt etwas zu Essen zu bekommen, band ich den Dolch an einen langen, geraden Stock. Ich zog mir Schuhe und Strümpfe aus und stellte mich ins Wasser. Es war eiskalt, doch ich blieb tapfer stehen und wartete mit erhobenem Speer. Lange musste ich nicht ausharren, bis eine dicke Forelle an mir vorbei schwamm. Die Lichtbrechung mit einbeziehend, stieß ich zu und traf sie gekonnt. Innerlich dankte ich meinem Kampfsporttrainer, der mir mit dem Erlernten in seinen Survivaltrainings wieder einmal den Arsch rettete. Die Sonne ging allmählich unter und ich beschloss, hier zu rasten. Unter einem umgestürzten Baum, der mit Moos und Winden überwuchert war, fand ich einen geschützten Unterstand. Ich machte mir ein kleines Feuer und steckte die ausgenommene Forelle auf einen Stock und hielt sie über die Flammen. Nach kurzer Zeit war sie fertig und schmeckte köstlich. Ich löschte das Feuer, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Satt und zufrieden kroch ich tiefer unter den Baum und wickelte mich fest in meinen Umhang. Es würde eine sehr kalte Nacht werden. Den Dolch behielt ich fest in der Hand. Man konnte ja nie wissen, wie hungrig die Wölfe hier waren. Kurz vor dem Einschlafen erinnerte ich mich an unser böses Erwachen auf dem Mars. Als tausende Käfer uns fast dazu gebracht hatten, uns die Haut vom Körper zu kratzen. Aber hier waren wir auf der Erde und außer ein paar Waldameisen würde schon nichts Krabbelndes über mich herfallen.
Ich wachte auf. In der Finsternis um mich herum, konnte ich nichts erkennen. Was hatte mich geweckt? Da! Knacken und Rascheln im Unterholz schüttelten die letzte Müdigkeit von mir. In meinem Kopf stiegen Bilder von hungrigen Wölfen auf. Für sie wäre ich ein willkommener Snack. Da brach schon wieder ein Zweig. Ich umklammerte mein Messer und traute mich kaum zu atmen. Auch wenn mir klar war, dass mir dieses Vorgehen keinen Vorteil bringen würde, denn den Angstschweiß, der aus jeder meiner Poren drängte, würden sie auf jeden Fall riechen können.
Statt des erwarteten Knurrens, hörte ich aber Stimmen. Die Knie wurden mir vor Erleichterung weich. Mit Menschen konnte ich umgehen. "Das war ja eine tolle Idee von dir nachts weiter zu gehen. Ich brech mir noch die Beine."
"Stell dich nicht so an. Wir müssen nur am Bach entlang, dann kommen wir wieder ins Dorf. Ich will so schnell wie möglich nach Hause. Mich graut vor den Kreaturen, die hier hausen sollen. Da kann ich doch sowieso kein Auge zu tun."
"Lass uns doch wenigstens eine Rast machen. Der Karren war schwer und meine Knochen haben ganz schön unter dem Weg zum Sklavenmarkt gelitten. Drei Tage musste ich das Ungetüm durch den Wald bis zur Küste zerren und dann den ganzen Weg auch wieder zurück. Du mit deinen dünnen Armen, warst ja nicht wirklich eine Hilfe."
"Na schön. Du hast ja Recht. Der Kerl aus der Ruine dieser Allianzspinner war ganz schön schwer. Ich hoffe, Gustav bekommt einen guten Preis für ihn. Das Dorf kann jeden Heller gebrauchen."
"Ich frage mich immer noch, wo der hergekommen ist. Ich habe ihn nicht rein gehen sehen. Vielleicht hätten wir ihn doch lieber verbrennen sollen. Der war mir unheimlich und dann auch noch die tiefe Narbe im Gesicht. Wie ein Dämon aus der Hölle hat er ausgesehen."
„Die vielen schwarzen Striche auf seiner Haut ließen sich nicht runter waschen. Das war bestimmt ein Zeichen der Hölle. Gut, dass wir ihn los sind.“
Ich lauschte der Unterhaltung und riss bei den letzten Worten die Augen erschrocken auf. Die sprachen von Mathias. War er doch nicht bei Elisabeth geblieben? Er hatte es ihr versprochen. Andererseits sagte er auch mir viele nette und schöne Dinge, nur um sie später gemeinsam mit meinem Herzen zu zertreten. Er war der geborene Lügner. Was bedeutete es aber, dass der Opal ihn auch in diese Dimension gezogen hatte. Er musste eine ganze Weile vor mir hier gelandet sein, denn er war schon weg, als der Spiegel mich ausspuckte. Von ihm mussten die Schleifspuren im Staub gewesen sein. Die Entführung musste direkt nach seiner Ankunft stattgefunden haben, aber warum?
Wie wollten sie denn mit Mathias Geld verdienen? Ich atmete sehr leise, um nur nicht aufzufallen, und lauschte angespannt. Ich durfte nichts von ihrer Unterhaltung verpassen.
So langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, die durch das fahle Licht des Mondes unterbrochen wurde. Der kleine Bach reflektierte die geringe Helligkeit, sodass ich die zwei Männer vor mir gut erkennen konnte. Ich blieb aber in meinem Versteck vollständig von den Schatten verborgen.
Die Männer setzten sich auf einen umgefallenen Baumstamm. Der Dickere holte einen Trinkschlauch hervor und nahm einen kräftigen Zug, dann reichte er ihn an den anderen weiter. „Hast du gehört, wie der geflucht hat, als er auf dem Karren zu sich gekommen ist?“
„Natürlich, wer nicht? Der Kerl war ja laut genug. Im Umkreis von fünf Meilen war der bestimmt noch zu hören.“
„Bis du ihm den Knebel in den Mund gesteckt hast. Da hat er dich nur noch böse angestarrt.“
„Ich wäre aber auch sauer, wenn ich gebunden, wie ein guter Schinken, auf dem Weg zum Sklavenmarkt erwachte.“
Der Dicke kicherte und stieß den anderen an. „Das war schon ein Abenteuer, was?“
„Klar und magisch war der Kerl bestimmt nicht, sonst hätt er sich ja befreit und uns mit seiner Kraft getötet. Ich habe noch nie von der magischen Kraft des Schimpfens gehört“, sagte der Schmalere lachend.
„Dann hast du aber meine Frau noch nicht gehört. Wenn die sauer ist, dann kann die schimpfen, dass es dir Beine macht, sag ich dir.“ Beide lachten laut auf und schlugen sich auf die Schenkel.
Ich lag still in meinem Versteck und die Gedanken rasten in meinem Kopf. Sie sprachen tatsächlich von Mathias. Eigentlich geschah es ihm ja ganz recht. Sollte er sich doch selbst aus dieser beschissenen Lage befreien. Sollte er doch als Sklave verkauft werden. Trotzig schob ich die Unterlippe nach vorn. Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Mein Kopf wusste, dass ich ihm diesen Verrat nie verzeihen würde. Mein Herz sah das aber ganz anders. Es wollte unbedingt zu ihm. Ihn vor jeglicher Gefahr schützen und einfach in seiner sicheren Umgebung Frieden finden. So stritten Kopf und Herz miteinander, während Tränen aus meinen Augenwinkeln liefen und ich mich zu einer kleinen Kugel zusammenrollte. Ich nahm nicht wahr, wie die zwei Dorfbewohner sich wieder auf den Weg machten. Meine Gefühle und Gedanken nahmen mich zu sehr gefangen. Ich sah sein Gesicht mit dem fiesen Grinsen vor mir. Ein Grinsen aus dem jegliche Wärme gewichen war. Ich erlebte den Stich im Herzen aufs Neue, während mein Geist mir die Bilder zeigte, wie er ihr sanft die Stirn küsste.
Mein Herz ließ mich seine Lippen spüren, erinnerte mich an das Prickeln, dass seine Küsse auf meiner Haut hinterließen. Ich fühlte wieder die Wärme und Sicherheit seiner Hand, die meine umschloss. Ich wusste, dass mir in seiner Nähe nichts passieren konnte. Mein Herz zeigte mir seine Augen, die sich aus Furcht um meine Sicherheit verdunkelten, wenn wir wieder einmal in eine aussichtslose Situation geraten waren. Wie hatte er das alles nur spielen können? Ich war so verwirrt. Das Einzige, was mir helfen konnte, war ihn zu fragen. Die Antwort konnte mich vernichten, aber die Ungewissheit tat es auch. Liebe ließ sich nicht so schnell abstellen und ich war unwiderruflich und bis über beide Ohren in Mathias verliebt… und so siegte das Herz über den Verstand.
An Schlaf war nun nicht mehr zu denken, denn der Entschluss war gefasst. Ich würde zum Sklavenmarkt gehen und mir meine Antworten besorgen. Bestimmt würde es für mich gefährlich werden, aber das nahm ich in Kauf. Es war immer noch tiefste Nacht, als ich meinen Umhang fest um mich wickelte, meinen Bogen schulterte und mich auf den Weg Richtung Nord-West machte. Die moosbewachsenen Bäume zeigten mir den Weg.
Als am dritten Tag meiner Reise die Sonne aufging, erreichte ich eine kleine Schotterstraße. Diese würde mir das Vorankommen wesentlich leichter machen. Wenigstens besaß ich in dieser Dimension gutes Schuhwerk. Auch das Wetter meinte es bis jetzt noch gut mit mir. Nach und nach stahlen sich sogar einige Sonnenstrahlen durch das dichte, bunt gefärbte Blattwerk. Es war einfach wunderschön hier. Die Vögel sangen in den Bäumen und es roch nach Sonne und Wald. Ich begann ein kleines Lied vor mich hin zu summen. Am Wegrand fand ich einige Beerensträucher. Hungrig sammelte ich mir dort ein kleines Frühstück, als plötzlich das Getrappel von Pferdehufen hinter mir ertönte. Schnell sprang ich ins Gebüsch und verbarg mich, so gut es ging. Einige Soldaten ritten, angeführt von einem großen, hageren Geistlichen, an mir vorbei. Wer mochte dieser Mann sein und warum hatte ein Priester Soldaten bei sich? Er trug einen purpurfarbenen Talar, dessen goldgewirkte Stickereien in der Sonne funkelten. An seinen Händen glitzerten unzählige Ringe mit riesigen Edelsteinen. Dass er seine Hand noch heben konnte, war wirklich ein kleines Wunder. Die Dinger mussten doch furchtbar schwer sein, genauso wie das Pektorale um seinen Hals. Die Smaragde funkelten mit dem Gold, in welches sie eingelassen waren, um die Wette. Er trug sein schwarzes Haar, das mit einigen grauen Strähnen durchwirkt war, kurz geschnitten. Die lange gerade Nase und die buschigen Augenbrauen, gaben ihm eine fast aristokratische Ausstrahlung. Hier ritt jemand an mir vorbei, der es gewohnt war Befehle zu geben. Vor diesem Mann musste ich auf der Hut sein. Das sagte mir mein Gefühl und es hatte mich bisher selten betrogen. Als die Berittenen aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, folgte ich dem Geräusch der Hufe unauffällig. Sie trabten langsam dahin, sodass ich keine Mühe hatte, mit ihnen Schritt zu halten. Als die Nacht anbrach, rastete die Gruppe auf einer Lichtung etwas abseits der Straße. Die Soldaten beeilten sich, ein Zelt für den Geistlichen aufzustellen. Ich setzte mich hinter einen dicken Baum und lauschte, während ich die Reste meines erlegten Hasen vom Vorabend genüsslich verspeiste.
„Kardinal, sollen wir etwas jagen, um ihnen ein Mahl zu bereiten, oder möchtet ihr heute mit Brot, Käse und Rauchfleisch vorliebnehmen?“ Ein Soldat salutierte vor dem Geistlichen. Ich hörte aus meinem sicheren Versteck, wie er seine Hacken aneinanderschlug. Die Stimme, die antwortete, troff vor Sarkasmus. „Bin ich ein Bauer, Soldat?“
„Aber nein, Eminenz, natürlich nicht“, stammelte der Uniformierte.
„Sehe ich so aus, als wenn ich mir an diesen kalten Speisen den Magen verderben will?“
„Nein, Kardinal.“
„Warum fragst du mich dann so impertinent?“
„Es tut mir leid, Eminenz. Natürlich werde ich alles veranlassen. Ihr werdet an eurem Mahl nichts zu beanstanden finden.“ Ich hörte die Angst in der Stimme des Soldaten und seine eiligen Schritte, als er sich entfernte.
Was war dieser Kardinal denn nur für ein überheblicher Typ? Mit dem wollte ich wirklich nichts zu tun haben. Ich würde mich aus dem Staub machen, sobald das Lager im Nachtmodus war. Aber ich war so müde. Nur einen Augenblick schloss ich die Augen. Nur noch ganz kurz ausruhen. Doch als ich sie wieder öffnete, stand die Sonne hoch am Himmel und die Soldaten bauten die Zelte schon wieder ab. Ich wollte mich gerade erheben, als ein junger Offizier auf mich aufmerksam wurde.
„Da ist jemand!“, schrie er seinen Kameraden zu.
Nun setzte der Fluchtmodus ein. Ich rannte los, so schnell meine Füße mich trugen. Hinter mir hörte ich das Scheppern der leichten Rüstungen. Sie folgten mir. So ein Mist! Wie hatte ich nur so lange schlafen können? Diese Unbedachtheit brachte mich nun in ernste Schwierigkeiten. Der Kardinal würde ein rothaariges Mädchen, das allein im Wald umher streifte sicherlich nicht mit netten Worten weiterziehen lassen. Ich befürchtete Inhalt eines kleinen Freudenfeuers zu werden. Als ich einen gut verzweigten Baum erreichte, kletterte ich ohne zu bremsen hinauf. Ich schürfte meine Hände an der rauen Rinde auf und ein Fingernagel riss schmerzhaft ein, aber ich ließ mich nicht aufhalten. Leider war die Baumkrone nicht sehr dicht bewachsen. Der Herbst hatte in diesem Baum sehr gewütet.
Ich drückte mich eng an den Stamm und hoffte, dass niemand nach oben schauen würde. Ich sah die Soldaten unter mir vorbei stürmen und atmete tief durch, bis ein Pfeil, neben mir in den Stamm einschlug. Fast hätte er meinen Arm getroffen. Ein einzelner Soldat stand unten und schaute zu mir hinauf. Von seinen Kameraden war nichts zu sehen. „Komm sofort da runter. Der nächste Pfeil findet sein Ziel“, rief er zu mir hinauf. So ein Mist! Da blieb mir wohl nichts anderes übrig, als seinem Befehl Folge zu leisten. Schnell kletterte ich hinunter und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Unten angekommen sah ich den Soldaten das erste Mal genauer an und erstarrte.
„Mick, bist du das?“, flüsterte ich erschrocken. Meine Augen mussten so groß wie Untertassen sein.
„Kennen wir uns?“, fragte er irritiert und nahm mich genauer in Augenschein. Wahrscheinlich hatte dieser Mick hier noch nie Kontakt mit Elisabeth gehabt. In meinem Kopf ratterte es. Wie konnte ich meine Erfahrungen mit dem lieben und umgänglichen Mick aus der Marsdimension hier nutzen?
„Wie geht es Jog und deinen lieben Eltern? Ich habe sie so lange nicht mehr gesehen. Coru hat mir gar nicht gesagt, dass du jetzt Soldat bist.“
Micks Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Er überlegte fieberhaft, wo er mich einordnen sollte.
„Ich kann mich nicht an dich erinnern“, murmelte er grübelnd, „aber meinen Eltern geht es gut. Jog hat es in die Palastwache geschafft. Er ist sehr stolz darauf. Darf ich fragen, wie dein Name ist?“
„Ich bin‘s, Elisabeth, damals haben meine Eltern mir noch wöchentlich das Haar gefärbt. Du verstehst sicher warum.“ Ich ließ meine roten Strähnen durch die Finger gleiten. „Meine Eltern sind vor Kurzem gestorben. Ich bin hier ganz allein. Bitte hilf mir Mick, wenn der Kardinal mich zu Gesicht bekommt, wird er mich als Hexe verbrennen. Aber ich bin keine Hexe. Ich habe noch nie gezaubert. Bitte Mick.“ Ich flehte ihn an und setzte meinen hilflosesten Blick auf. Ich konnte nicht gegen ihn kämpfen, denn das Letzte, was ich wollte, war Mick weh zu tun. Auch wenn dieser hier nicht wirklich mein Freund war, unterschieden sie sich doch kaum. „Setz deine Kapuze auf und lauf. Ich werde meinen Eltern einen Gruß von dir sagen.“ Er zog mir die Kapuze über den Kopf und schaute mir noch einmal tief in die Augen.
„Es ist zu schade, dass ich mich nicht an dich erinnere, Mädchen.“ Dann schubste er mich zwischen die Bäume und ich rannte. Rannte weiter und weiter, bis meine Lunge brannte und meine Beine zitterten. Völlig entkräftet blieb ich irgendwann stehen und rutschte an einem kleinen Felsen nach unten. Mühsam rang ich nach Atem. Verfolgten sie mich noch? Hatte ich sie abgehängt?
Der liebe gute Mick. Auch in dieser Dimension war er einfach nur unglaublich liebenswürdig. Ich hoffte inständig, dass er nicht bestraft werden würde. Langsam kam ich zur Ruhe und schaute mich um. Vor mir lag eine riesige Wiese, auf der hunderte Metallkäfige standen. Menschen waren darin gefangen. In der Mitte des Platzes war ein Podest aufgebaut und dahinter standen Zelte. Einige Meter entfernt sah ich eine Kaimauer und einen langen Steg. Ruderboote warteten dort auf die Rückkehr ihrer Besitzer.