Magda Trott
 
EISERNES
WOLLEN

 

1

In den gewaltigen Hallen des Leipziger Hauptbahnhofes fluteten die Menschenmassen hastig hin und her. Über die Treppen strömten immer neue Scharen, sich mit denen vermengend, die unten bereits harrten, die aus diesem Gebäude nicht scheiden konnten, ehe sie nicht noch einen bewundernden Blick auf den kühnen Betonbogen des Querbahnsteiges oder auf die Schönheit der Empfangshalle geworfen hatten. Viele Hunderte von Menschen und doch kein gemeinsames Band, jeder einzelne mit sich selbst beschäftigt, hastend, ausspähend, fragend, suchend, und endlich findend.

Das junge Mädchen, das mit einer eleganten Handtasche soeben den Wartesaal betrat, blieb zögernd an der breiten Tür stehen und ließ die großen braunen Augen suchend über die zahlreichen besetzten Tische schweifen. Endlich wandte sie sich wieder rückwärts und verließ durch die Haupthalle den Bahnhof.

Ein Gefühl der Unsicherheit überkam sie, als sie hier das Leben des Bahnhofsplatzes erblickte. Niemals hatte sie von Leipzig ein solch modern großstädtisches Gepräge erwartet. Ein sinnbetörendes Geräusch schallte zu ihr her, Straßenbahnen, Kraftomnibusse, Pferdedroschken und Automobile jagten an ihr vorüber, und doch war alles in so musterhafter Ordnung, daß ein Gefühl der Unruhe kaum aufkommen konnte. Wie herrlich mußte es hier im Sommer sein. Die auf dem Bahnhofsplatz angebrachten Anlagen ließen auch jetzt trotz des zeitigen Frühjahrs bereits die sorgsame Hand des Gärtners erkennen. Die zahlreichen immergrünen Tannen verliehen dem gewaltigen Terrain, das sich vor ihren Augen ausbreitete, ein recht freundliches Gepräge. Dem Fremden, der zum ersten Male Leipzig von hier aus erblickte, mußte ein freundliches Bild ins Herz fallen.

Staunend blickte Gabriele von Auern empor. Imposante Großstadthäuser, elegante Hotels, allen voran aber der Prachtbau der Handelsbörse umrahmten den Platz. Hier hätte sie noch lange staunend stehen können, um dies weltstädtische Bild in sich aufzunehmen, aber die Zeit drängte. Wenn sie sich nicht beeilte, traf sie den Bruder vielleicht nicht mehr daheim.

Sie zog ihre kleine, goldene Taschenuhr. Der Zeiger wies auf wenige Minuten nach acht. Ein ganzer Tag lag noch vor ihr. Joachim sollte ihr die Schönheiten der Pleißestadt zeigen, dann erst wollte sie weiter.

Ein leiser Schatten ging über das ebenmäßig schön geschnittene Antlitz des jungen Mädchens. Rasch strich sie sich mit der behandschuhten Hand über die Stirn und schüttelte den Kopf, als wollte sie trübe Gedanken verjagen. Nicht jetzt an das denken, was ihr bevorstand. Bruder Joachim würde ihr neuen Mut einflößen.

Warum war er nicht gekommen? Hatte er ihr Telegramm nicht rechtzeitig erhalten? Hatte sie ihn vielleicht gar in diesem übergroßen Menschengewühl übersehen? Leicht möglich. Sie wußte nicht einmal genau, wie der Bruder jetzt aussah. Drei lange Jahre hatte sie ihn nicht wieder gesehen. Nur sein Bild – und Bilder lügen.

Zögernd machte sie einige Schritte vorwärts. Und plötzlich überkam sie ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit. Die Tränen stiegen ihr würgend in die Kehle. Allein und verlassen stand sie hier in dieser fremden Stadt, in der sie keinen Menschen kannte, keinen außer dem Bruder, der ihr eigentlich auch ein Fremder war.

Fremd und verlassen – so war sie im ganzen Leben gewesen. Ihr Elternhaus war ihr kaum bekannt, an den Vater band sie nichts, die Mutter – eine Mutter hatte sie nie gekost, nie gestreichelt. Die Mutter war längst tot. Und ihre beiden Brüder?

Die Briefe, die sie in all den Jahren ihres Fernseins von Erhard erhalten hatte, sprachen nichts von brüderlicher Zuneigung. Wie konnte das auch möglich sein?

Man kannte sich kaum. Der Stiefbruder war Gabriele schon von frühester Kinderzeit an fremd geblieben. Das kleine Mädchen fürchtete sich vor dem finsteren Gesellen, der schon groß gewesen war, als sie noch das Laufen lernte. Fünfzehn Jahre Altersunterschied sind auch zu groß, um eine zärtliche Brücke zu schmieden. So blieb ihr nur der leibliche Bruder, Joachim. Man hatte die Geschwister sehr bald getrennt. Man hatte Gabriele in die Pension geschickt und dort war sie geblieben. Nur sehr, sehr selten durfte sie heim, das waren aber nur kurze Wochen, und in diesen Wochen wich die Scheu nicht von ihr, die sie vor dem Vater, vor dem großen Bruder und all den vielen anderen Bewohnern des Schlosses hatte. Auch Joachim war meist nie daheim, wenn sie auf dem Schloß weilte. Er besuchte auswärts ein Gymnasium, jetzt studierte er hier in Leipzig Jura.

Aber nun hielt sie nichts mehr in dem fernen Wiesbaden, in dem Töchterpensionat des Fräulein Fiebiger. Wenn man sie daheim nicht wollte, so würde sie sich ihr Recht erkämpfen. Kinder gehören ins Elternhaus und nicht immer und immer wieder in die Fremde.

Vor wenigen Wochen hatte sie ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Mit achtzehn Jahren sollte ihre Bildung noch nicht abgeschlossen sein? Andere junge Mädchen wurden bereits viel früher zu Festen und Geselligkeiten geführt, und sie blieb Jahr für Jahr in dem Töchterpensionat, nur weil man sie daheim nicht haben wollte. Warum? Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, sie forderte ihr Recht, das Recht der Tochter an der Heimat, am Elternhaus.

Es würde vielleicht nicht ohne Kampf abgehen. Einerlei. Die Heimat war des Kampfes wert. Zu ihr zog es sie mit fieberhaftem Verlangen, mit brennender Sehnsucht. Noch einen Tag, dann war sie daheim.

Aber jetzt fort mit den Gedanken. Erst Bruder Joachim sprechen. Ob sie den Weg zu Fuß zurücklegte? Gefährte waren teuer und ihr Geld knapp. Außerdem mußte es ein Genuß sein, durch diese prächtige Stadt zu wandern. Die Handtasche war zwar reichlich schwer, sie selbst des Tragens ungewohnt. In Wiesbaden hatte man die Komtesse Auern stets höflich bedient. Das war vorbei. Sie hatte ohne Wissen und Wollen der Vorsteherin, entgegen den ausdrücklichen Wünschen des Vaters die Pension verlassen.

Schüchtern wandte sie sich an einen der Polizeibeamten, der vor der Bahnhofshalle Aufstellung genommen hatte und fragte ihn nach der Windmühlenstraße. Freundlich bedeutete ihr der Wachtmeister, daß der Weg recht weit sei. Er nannte ihr die elektrischen Bahnen, mit denen sie das Ziel erreichen könne, aber als Gabriele an den Haltestellen das große Gedränge sah, zog sie es doch vor, lieber eine Droschke zu wählen. Reichte ihr das Geld zur Weiterfahrt in die Heimat nicht, so würde Bruder Joachim gern aushelfen.

Die Fahrt zeigte ihr Leipzig mit seinen vielen Schönheiten. Als man über den Augustusplatz fuhr, fragte sie interessiert den Rosselenker nach den großartigen Gebäuden, die ihr ins Auge fielen. Welch gewaltigen Eindruck rief das Repräsentationsgebäude der Universität mit der herrlichen Fassade der Paulinerkirche hervor, wie bewunderte sie das neue Theater, das Hauptpostgebäude, das städtische Museum für die bildenden Künste, vor dem der Mendebrunnen stand, und alles das war malerisch umrahmt von den Schwanenteichanlagen hinter dem Theater.

Der Kutscher, der die bewundernden Ausrufe des jungen Mädchens mit stolzem Lächeln vernahm, machte sich ein Vergnügen daraus, der jungen Dame auch noch weitere Erklärungen zu geben. Er fuhr über den »Ring« zum alten Rathaus und erst nach längerer Zeit hatte man die Windmühlenstraße erreicht.

Erregt lohnte die Komtesse den braven Rosselenker ab, dann stieg sie mit klopfendem Herzen die Treppe empor. Es war kein elegantes Haus, das sich der Bruder zum Quartier ausgewählt hatte, im Gegenteil, schon die gewundene Treppe machte einen unfreundlichen und auch nicht sehr sauberen Eindruck.

Im zweiten Stockwerk las sie den Namen: Jaspar. Über dem Schild die große Visitenkarte: Joachim, Graf von Auern und Eberndorf, stud. jur.

Hier also wohnte der Bruder. Ob er daheim war? Wartete er vielleicht noch auf dem Bahnhof? Vor dem schrillen Klang der Glocke zuckte sie zusammen. Es dauerte nicht lange, so öffnete man ihr. Eine Frau, noch mit der Morgentoilette beschäftigt, steckte den unfrisierten Kopf heraus.

Gabriele nannte ihren Namen und fragte, ob der Bruder daheim sei. Die Öffnende wich nicht zur Seite. Sie schaute mit neugierigem Blick auf die elegante Fremde und dann bemerkte Gabriele ein etwas spöttisches Lachen um diese dicken Lippen.

»Ich habe telegraphiert, daß ich durch Leipzig reise. Ich glaubte, mein Bruder würde mich an der Bahn erwarten. Ist mein Telegramm nicht eingetroffen?«

Unwillkürlich flossen ihr die Worte in leicht befehlendem Ton von den Lippen. Das dreiste Anstarren der Frau ärgerte sie. Frau Jaspar machte endlich Platz.

»Ja, ein Telegramm ist gekommen. Der Herr Graf schlafen aber noch.«

»Er schläft noch? So hat er das Telegramm noch nicht erhalten? Sie konnten es noch nicht aushändigen?«

»Ich hab es ihm ins Zimmer gelegt, aber der Herr Graf sind erst heute früh heimgekommen. Da hat er es wohl nicht gesehen.«

Wieder dieses dreiste Lachen, das Gabriele das Blut ins Gesicht trieb.

»Einerlei. Bitte, wecken Sie ihn. Wo darf ich warten?«

Frau Jaspar trat langsam zur Seite. Schlurfend ging sie voran und öffnete eine Tür. Mit raschem Blick schaute sich Gabriele um. Es war eines jener möblierten Zimmer, ohne jede Individualität seines Bewohners, ein sogenanntes Arbeitszimmer mit Diwan und Schreibtisch.

»Bitte, sagen Sie meinem Bruder, er möchte sich etwas beeilen.«

Gabriele trat zum Fenster, als Zeichen, daß sie sich mit der Wirtin ihres Bruders in kein weiteres Gespräch einlassen wolle. Diese nicht sehr sauber aussehende Frau mißfiel ihr auf den ersten Blick. Warum wohnte Joachim hier? Konnte er kein besseres Quartier finden? Für einen Grafen von Auern und Eberndorf war das gewiß kein passendes Unterkommen. Wenn das der stolze Vater wüßte, der immer auf seinen tönenden Namen pochte.

Wartend ließ sie sich auf einen der roten Polstersessel nieder. Aber Joachim schien sich Zeit zu nehmen. Gabriele wurde immer unruhiger. Sie stand auf und betrachtete sich das Zimmer näher. Auf dem Schreibtisch lagen eine ganze Menge ungerahmter Bilder bunt durcheinander. Damm in wenig dezenten Toiletten, junge Mädchen mit unsympathischen, sogar dummdreisten Zügen.

Gabriele warf die Bilder auf den Tisch zurück. Waren das die Bekannten ihres Bruders? Ein peinliches Gefühl lief ihr am Rücken herab.

Wohl noch eine halbe Stunde mußte sie warten, ehe sich endlich die Tür öffnete und der Ersehnte erschien. Gabrieles Arme öffneten sich weit – sanken aber in der nächsten Sekunde schlaff am Körper herab.

»Guten Morgen, Gabriele!«

Unter Anstrengung wurden die drei Worte hervorgestoßen. Seine Hand hielt sich am Rahmen fest.

Gabriele starrte auf den Bruder. Kaum, daß sie ihn wiedererkannt hätte. Diese wässrigen, kleinen Augen, diese schlaffen Gesichtszüge waren ihr weltenfremd. Auch diese lallende Sprache kannte sie nicht. Immer weiter zurückweichend blickte sie auf den Bruder. Der lachte jetzt laut.

»Willkommen. Was willst du denn hier in der Nacht?«

Der Sessel, in den er sich warf, krachte unter ihm. Gabriele aber hörte nur das blöde Lachen, sah nur diese verschwommenen Züge, sie hätte weinen können. Deswegen machte sie den Umweg über Leipzig, deswegen suchte sie den Bruder auf? Rat und Hilfe wollte sie bei ihm haben und fand einen, der kaum fähig war, die Zunge zu gebrauchen.

Was sollte sie hier? Wie sollte sie zu diesem Manne sprechen, der noch vom Geiste des Alkohols besessen war. Ihre Herzensnot, ihre Sehnsucht hatte sie hergetrieben, beim Bruder wollte sie sich den sinkenden Mut neu auffrischen lassen – ein schluchzendes Lachen kam aus ihrer Brust.

»Findet man dich immer so?«

Das Haupt war dem Studenten bereits wieder auf die Brust gesunken. Mit weit von sich gestreckten Beinen lehnte er – ein Bild des Jammers – im Sessel. Jetzt fuhr er zusammen, als er die Frage hörte und hob den Kopf.

»Ah – entschuldige, Gabriele. Wie – was – wie sagtest du?«

Sie schloß die Lippen fest. Sie wollte hier nicht weinen. Und wußte doch, daß jeder Ton, der jetzt noch aus ihrer Kehle dringen würde, in Tränenfluten erstickte. Sie wandte sich ab. Sie konnte den Bruder nicht sehen. Nicht so sehen. War das derselbe, den sie vor drei Jahren daheim geschaut? Der so stolz und siegessicher die bunte Mütze des Primaners zur Schau trug? Dessen unschuldsvolles Knabengesicht ihr so oft vor den Sinnen stand, wenn sie sich nach Liebe und Schutz sehnte? An diesen Bruder hatte sie ihre Sehnsuchtsklagen gerichtet? Ihm hatte sie vertraut? Ihm hatte sie gesprochen von dem tiefen seelischen Leid, das an ihr nagte? Ihn wollte sie heute um Hilfe anflehen?

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Von Zeit zu Zeit raffte sich Joachim zusammen und fragte in seinem lallenden schweren Tonfall: »Was sagtest du?«

Das schnitt wie mit Messern in ihr Herz. Endlich erhob sie sich. »Höre, was ich dir sage: Ich habe mit dir zu reden. Aber in dem Zustande, in dem du dich jetzt befindest, ist das unmöglich. Ich komme heute nachmittag wieder. Um vier. Bis dahin schlaf dich aus. Um vier, hörst du? Ich muß mit dir reden. Jetzt leb wohl.«

Er erhob sich und schwankte bedenklich hin und her. Gabriele aber gab ihm nicht die Hand. Sie stellte ihre Reisetasche in die Zimmerecke und ging mit gesenktem Haupt davon.

Draußen im Flur traf sie mit der Wirtin zusammen. »Wollen das gnädige Fräulein schon wieder gehen?«

Ihre Stimme wurde fest. »Um vier Uhr spreche ich noch einmal vor. Da mein Bruder gestern eine festliche Veranstaltung hatte, ist er noch etwas müde. Auf Wiedersehen.«

»Eine festliche Veranstaltung!« lachte es höhnend hinter ihr. Gabriele wandte sich nicht mehr um. Sie eilte davon. Auf dem Treppenabsatz machte sie Halt. Nur für einen Augenblick. Es galt, das Würgen ihrer Kehle zu beruhigen. Nur nicht schreien, nur jetzt nicht schreien.

Vor die Augen der einsamen Wanderin war ein Schleier gefallen, der die Schönheiten Leipzigs nicht mehr in früherer Pracht erstrahlen ließ. Wohl bewunderte sie die Kunstschätze der Gemäldegalerie und des Museums, aber es fehlte ihr die innere Freudigkeit, um die Eindrücke voll und ganz aufnehmen zu können. Immer wieder stand ihr das Bild des zusammengesunkenen Bruders vor dem Blick. Mit wirrem Haar, in derangierter Toilette hatte er vor ihr gesessen, kaum fähig, sich auf den Füßen zu halten.

Das war ihre Familie. Ein Vater, der zwischen sich und die einzige Tochter ein ganzes Reich legte, nur um nicht zu oft den lästigen Besuch zu haben, ein finsterer, mürrischer Stiefbruder, der die Heranwachsende nicht beachtete, und einer, der sich nachts herumtrieb und dem Alkohol huldigte.

Gabriele biß die Zähne aufeinander. Welch ein Leben stand ihr bevor. Wäre es nicht doch besser gewesen, weiter im Pensionat des Fräulein Fiebiger zu bleiben? Wie lange? Einmal mußte man sie doch heim holen. Warum verschloß man ihr das Elternhaus? Wer trug die Schuld? Bruder Erhard? Der finstere Mann mit der tiefen Falte auf der Stirn?

Ein quälender Hunger überfiel sie. Sollte sie es wagen, in eines jener bescheidenen Restaurationen einzutreten, um sich hier eine Mahlzeit geben zu lassen? Würde das Geld zur Weiterfahrt reichen? Es erschien ihr jetzt beinahe unmöglich, Bruder Joachim um eine Summe zu bitten.

Schmachvoll! Sie, die einzige Tochter des begüterten und geachteten Grafen von Auern und Eberndorf, dermaleinst die Erbin von Hunderttausenden, lief in einer fremden Stadt herum und hatte kaum genug, um ihren Hunger zu stillen. Man hatte sie in der Pension mit Taschengeld stets knapp gehalten. Was sie brauchte, was sie für sich begehrte, wurde ihr gekauft, aber bares Geld erhielt sie nur in ganz geringer Menge. Es hatte vier Monate gedauert, ehe sie sich so viel zusammengespart hatte, um die heimliche Heimreise antreten zu können. Und hätte ihr Norma von Brinkenau nicht ausgeholfen, sie hätte es nicht ermöglichen können.

Norma von Brinkenau, die gute, die aufrichtige, wackere Freundin. Der einzige Sonnenstrahl, der ihr liebeleeres Leben vergoldete. Das harte Schicksal hatte es ein einziges Mal gut gemeint, als es ihr diese blendende Erscheinung in den Weg führte. Nur wenige Stunden hatte es gedauert, da war auch schon die Freundschaft geschlossen. Ein sehnsüchtiges Lächeln glitt um Gabrieles Lippen. Wenn sie jetzt die Getreue bei sich hätte, wie viel leichter wäre ihr das Leben erschienen, wie viel mehr Mut hätte sie zur Heimreise gehabt.

In einem bescheidenen Automatenrestaurant stillte sie ein wenig ihren Hunger. Mit einer Tasse starken Kaffees erfrischte sie sich. Dann noch ein Spaziergang durch den Johanna- und den König-Albert-Park. Endlich zeigte die Uhr kurz vor vier.

Mit schwerem Herzen fragte sie sich nach der Windmühlenstraße zurecht.

Joachim erwartete sie bereits. Er war tadellos elegant gekleidet und seine jugendliche, schlanke Gestalt kam dadurch trefflich zur Geltung. Die Spuren der durchwachten und durchtrunkenen Nacht waren notdürftig getilgt, und wenn auch noch eine gewisse Müdigkeit und Schlappheit aus Augen und Gesichtslinien sprachen, so war doch dem Antlitz der unschöne Zug, den der Alkohol zeichnet, genommen. Joachim von Auern galt bei den Mädchen als schöner, eleganter Mensch, mit dem es sich trefflich amüsieren ließ.

Er war darum nicht unbegehrt, er nahm, was sich ihm bot.

Erst am späten Nachmittag hatte er das Telegramm der Schwester in seinem Zimmer gefunden. Kein Wunder. Heut morgen, als er schwankenden Schrittes heimgekommen war, hatte er keine Lust mehr, eingegangene Briefschaften zu öffnen. Das alles hatte Zeit. Ein leichtes Gefühl der Peinlichkeit überkam ihn aber doch, als er jetzt Gabriele vor sich sah und ihren forschenden Blick auffing. Um so mehr bemühte er sich, den ungünstigen Eindruck zu verwischen und den galanten Bruder zu spielen.

»Zu fatal, daß du gerade heute kamst. Hättest gestern abend kommen sollen. Hättest dann gleich Gelegenheit gehabt, ein ganz famoses Fest mitzumachen. Haben gestern die neue Fahne unserer Verbindung begossen. Eingeweiht, noch besser eingeweicht. Das hat natürlich ’n bißchen lange gedauert. Aber Fahnenweihe ist ja nur einmal.«

Die heftige Entrüstung, die Gabriele in den wenigen Stunden ihres Hierseins gegen den Bruder hegte, ebbte allmählich zurück. Nun ja, er war betrunken gewesen. Aber er sagte doch selbst, daß das Fest der Fahnenweihe etwas Besonderes gewesen sei. Warum sollte er nicht mittun mit den Bundesbrüdern? Warum sollte er dem fröhlichen Treiben fern bleiben? Sie bemühte sich redlich, alles in milderem Licht zu sehen. Joachim war jung; auch er kannte keine glückliche, strahlende Kindheit. Er fand in Vater und Bruder keine Vertrauten, keinen, denen er Mitteilung machen konnte von dem, was sein Herz bewegte. War es da zu verwundern, daß er sich Freuden, nach denen die Jugend schrie, suchte, wo er sie gerade fand? Und wenn er nicht in den Bahnen blieb, die ihm sein Name vorzeichnete, wer trug die Schuld daran? Der Vater und der Bruder, die ihn von der Schwelle wiesen, die er zu übertreten das Recht hatte.

Als dann Joachim in seiner fröhlichen Weise von dem Leipziger Leben erzählte, schwand in Gabriele jeder Groll gegen dies junge, lebenslustige Blut. Sie konnte sogar in sein frohes Lachen einstimmen, sie lehnte nicht ab, als er ihr von dem famosen Kognak anbot, der im Schreibtisch stand. Man stieß mit den kleinen Gläsern an und trank auf die Zukunft.

Erst viel später erfuhr Joachim den eigentlichen Zweck dieser Reise. In höchster Bestürzung schaute er auf die Schwester.

»Du bist also sozusagen deiner Pensionsmama ausgerissen?«

»Ja. Ich ertrug es nicht länger. Ich wäre gestorben vor Sehnsucht nach dem Schloß unserer Väter, nach den grünen Wäldern.«

»Die gibt’s doch in Wiesbaden auch.«

»Aber das ist ja nicht meine Heimat. Lange genug bin ich fern geblieben. Warum? Warum? Seit Jahren frage ich mich und finde keine Antwort. Was haben wir dem Vater getan? Warum hat nur Erhard ein Recht, im Elternhause zu leben? Warum jagt man uns davon?«

»Wenn man uns nicht will, nun gut, ich dränge mich nicht auf.«

»Aber ich!« entgegnete Gabriele mit wilder Heftigkeit. »Ich will mein Elternhaus haben. Was soll ich in der Fremde? Ich habe Vater und Geschwister und weiß nichts davon. Wenn er es nicht selber weiß, so werde ich ihn mahnen, was es heißt, Vater zu sein.«

»Ob man dich willkommen heißen wird?«

»Das ist mir ganz einerlei. Ich habe ein Recht aufs Elternhaus, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich habe nichts verbrochen, das mir die Tür zuschließt. Ich habe lange genug diese Verbannung ertragen. Jetzt ist’s genug. Ich bin kein Stück Holz, das man hin und herschiebt. Ich gehöre in das Schloß derer von Auern und Eberndorf, ich will doch sehen, ob der eigene Vater es wagen wird, die Tochter hinauszuweisen.«

»Er ist uns nie ein Vater gewesen. Oder hast du jemals Beweise seiner Liebe empfangen?«

Gabriele lachte schrill auf, während ihr die Tränen über das erregte Gesicht rannen. »Beweise der Liebe? Weiß ich denn überhaupt, was Liebe ist? Die Mutter hab ich nicht gekannt. Vor dem Vater hab ich mich stets nur gefürchtet. Und der Bruder? Hat der wohl ein liebes Wort für mich gehabt?«

»Der Bruder!« wiederholte Joachim und grenzenlose Verachtung lag in den beiden kleinen Worten. Gabriele hob erstaunt den Kopf.

»Ist Erhard sehr schlimm?«

Joachim zuckte höhnend die Achseln. »Schlimm? Ich weiß nicht, wie ihn die Welt beurteilt. Aber nach außen hin wird er sich schon sichern. Ich kenne ihn besser. Ich weiß sehr wohl, wer uns aus dem Hause fortstößt, wer es nicht duldet, daß wir heimkommen. Ich weiß, wer es ist, der emsig hinter unserem Rücken arbeitet. Freilich, es geht ja ums Ganze.«

»Was meinst du damit?«

»Hast du dich noch nie gefragt, warum Erhard daheim bleiben darf? Warum mußten wir schon von klein auf weg? Er war fünfzehn Jahre alt, da kamst du zur Welt. Zwei Jahre vorher zog ich in Auern ein. Das hat schon dem Jüngling nicht gepaßt. Er wollte nicht teilen. Unsere Güter sind prächtiger Besitz. Sie machen den zum Millionär, der sie in Händen hat. Sie geben ihm Stellung, Ehre und Ansehen. Alles das hätte Erhard ganz allein gehört, wenn wir nicht zur Welt gekommen wären.«

»So ist es Habsucht?«

»Gibt es einen anderen Grund? Was haben wir dem Vater getan? Konnte der siebenjährige Knabe irgend ein Verbrechen auf sich laden, das ihm das Elternhaus verschloß? Oder was hast du verbrochen, daß man die Sechsjährige in eine weitentfernte Pension schickte? Nicht einmal zu den Ferien ließ man uns regelmäßig heim kommen. Erhard wird schon dafür gesorgt haben, daß er uns das Herz des Vaters entwendet.«

»Aber er selbst genießt auch die Liebe des Vaters nicht.«

»So scheint es. Ich glaube nicht daran. Der Vater ist finster und verschlossen, Erhard ist sein Ebenbild. Ich kann nicht beurteilen, wie die beiden miteinander stehen.«

Gabriele senkte den Kopf. »O Joachim, ich erinnere mich noch so deutlich an meinen letzten Aufenthalt in Auern, ich sehe den Vater noch vor mir. Ich lebe die furchtbare Szene zwischen ihm und Erhard noch einmal durch. Da fielen harte Worte, die nichts von Vaterliebe, nichts von Kindesvertrauen sprachen.«

»Erhard verdient nichts anderes.«

»Wenn er allein der Schuldige ist, dann ist es gut, daß ich heimkomme. Denn dann wird es mir gelingen, das Herz des Vaters zurückzugewinnen. Er wird nicht taub sein gegen meine herzlichen Worte. Er wird sich meiner Liebe nicht verschließen können. Ich bring ihm doch mein volles Herz entgegen. Ich will um ihn werben, ich werde ihn gewinnen. Das Wort Vater ist nicht nur ein hohler Klang, das ist innerstes Gefühl.«

»Gefühl? Kann ein Stein Gefühl haben?«

»Ich werde ihn gewinnen! Gib acht. Ich werde die Eisrinde schmelzen, die sein Herz umgibt. Ich will ihn an die Mutter erinnern, die uns das Leben gab. Hat er sie nicht geliebt? Zehn Jahre lang hat er um seine erste Frau getrauert. Dann fand er unsere Mutter. Ach, daß sie so früh von ihm gehen mußte.«

»Leider. Es stünde besser um uns. Wir hätten das Elternhaus nicht verloren.«

»Erhard hat auch keine Mutter. Und doch blieb ihm die Heimat.«

»Die Heimat und das Geld. Seine Mutter besaß großen Reichtum. Er erbte von ihr das Gut Wengern. Nun will er auch Auern und Eberndorf an sich bringen.«

»Du bist vielleicht ungerecht, Joachim!«

Der Student sprang auf. Grenzenlose Erregung flammte aus seinem Blick. »Warum mußte ich studieren? Hab ich nicht tausendfach den Vater gebeten: laß auch mich Landwirt werden. Ich durfte es nicht. Warum?

Erhard wollte, ich sollte eine gute, gediegene und abgeschlossene Bildung haben. Nun will man mich zum Diplomaten machen. Aber wartet nur. Ich zahle es euch noch heim, was ihr an mir sündigt. Mit dem Tode des Vaters hört das schändliche Spiel auf.«

»Um Gottes willen, Joachim. Wie kannst du so reden. Der Vater ist gesund, rüstig.«

»Kann ich Sohnesgefühle für diesen Mann aufbringen? Er hat mir das Leben gegeben, weiter nichts. Soll ich ihm darum Dank wissen? Ich hasse ihn, ihn und den Bruder, der immer weiter dafür sorgt, daß nur ja niemals diese aufgerissene Kluft überbrückt wird.«

Gabriele verschlang angstvoll die Hände ineinander. »Ich hoffe dennoch, daß es mir gelingen wird, seine Liebe zu erringen.«

»Glück auf den Weg. Du wirst froh sein, wenn du dieser Heimat wieder den Rücken kehren kannst. Die Hölle ist’s. Und Erhard ist der Teufel.«

»So will ich dem Vater die Augen öffnen. Um so besser, wenn er sich mit seinem ältesten Sohne nicht versteht. Dann wird auch sein Herz nach Liebe schreien, nach Kindesliebe, und ich werde einen gut vorbereiteten Boden finden. Nein, nein. Joachim, deine Worte nehmen mir den Mut nicht. Ganz im Gegenteil. Ich ersehne jetzt den Augenblick, da ich über die Schwelle meiner Geburtsstätte trete. Ich freue mich auf dies Wiedersehen. Auf den Wald, auf das trauliche Zimmer der Mutter, auf die tosenden Hände des Vaters …«

Mit rauhem Auflachen unterbrach der Bruder die Schwärmende. »Die kosenden Hände. Eiserne Fäuste sind’s.«

»Auch Eisen kann schmelzen in der Glut der Liebe, der Kindesliebe.«

»Wozu soll ich dir das Herz beschweren. Vorerst bleibst du noch einige Tage hier bei mir. Du hast ja Zeit. Man ersehnt dich daheim wahrhaftig nicht.«

»Nein, Joachim. Heut abend führt mich der Zug davon. Morgen früh will ich in Auern sein.«

2

Auf den ausgedehnten Feldern des Auernschen Besitzes herrschte geschäftiges Leben. Der Winter hatte in diesem Jahre zeitiger denn je Abschied genommen, die Sonne strahlte so freundlich und hell vom Himmel, daß man es gar nicht glauben wollte, daß der April erst vor wenigen Tagen seinen Einzug gehalten hatte. Die warmen Strahlen hatten sogar die Vögel munter gemacht, mit hellem Gezwitscher schwirrten sie über den Köpfen der zahlreichen Arbeiter hin und her. Gleichmäßig und von sicherer Hand geführt zogen die Pflüge Furche auf Furche, dort schaukelten die Eggen über die Felder, kurzum frühlingsmäßiges Leben, wohin auch das Auge schaute.

Ein schnaubendes Gewieher ließ all die Fleißigen einen Augenblick von der Arbeit aufsehen. Auf dem schmalen Feldrain, der mitten durch zwei bereits bestellte Felder führte, kam ein Reiter in schnellstem Trab.

»Der junge Graf«, ging es murmelnd von Mund zu Mund. Die Mützen der Knechte flogen von den Köpfen, die jüngeren Mägde knicksten. Nur ein kurzes, hartes »Guten Morgen«, kam als Antwort zurück, dann flog das Pferd, von den Sporen seines Herrn angetrieben, weiter.

Manches Auge sah ihm nach. Welch eine prächtige Figur, gertenschlank und geschmeidig, wie er im Sattel saß, jeder Zoll ein Herr und Gebieter. Er ritt wohl hinüber nach Wengern. Drei große, herrliche Güter umfaßte der Besitz, der einst vom alten Grafen auf Graf Erhard übergehen würde: Auern, Eberndorf und Wengern; das letztere allerdings war bereits Eigentum des Reiters, das war das Erbteil der früh verstorbenen Mutter. Drei Güter, für einen Herrn fast zu groß. Da war eine stramme Zucht nötig, um alles in Ordnung zu halten.

Aber stramme Zucht herrschte auch, sehr stramme Zucht. Da wagte niemand, auch nur ein aufrührerisches Wort zu sprechen. Es war auch nicht nötig. Man bekam, was man brauchte. Man wurde gerecht behandelt, man stand sich vielleicht besser als anderswo, aber es fehlte doch überall das Frohe, das der Arbeit, die man liebt, erst die eigentliche Weihe gibt.

Das Frohe! Wo sollte hier der Frohsinn herkommen? Im Herrenhaus, diesem prächtigen, schloßartigen Gebäude, kannte man den Frohsinn, die Freude und das Glück nicht. Wer sollte hier lachen? Etwa Graf Bodo? Der Mann, der zweimal sein Glück in der Ehe versucht und doch nie gefunden hatte? Der ein junges, schönes Weib glückstrahlend ins Haus trug, ein Weib, das ihm nach einjähriger Ehe einen Sohn gebar. Damals, ja damals hatte man allerdings im Schloß Auern gejubelt. Aber das hatte sich bitter gerächt. Der Sohn kostete der Mutter das Leben. Auf das unschuldige Kind, das mit seinen blauen Augen ahnungslos in die Welt schaute, entlud sich der Haß und der Groll des Vaters, der sein geliebtes Weib dadurch verloren hatte. Das Kind wurde aus seiner Nähe entfernt. Freudlos, liebeleer wuchs es auf. Nur selten bekam es den Vater zu Gesicht, auch dann nur, wenn er zu strafen hatte. Da konnte die liebliche Blume der Kindesliebe im Herzen Erhards keine Wurzel schlagen. Seinem Kinderleben fehlte die Sonne und so wuchs ein Pflänzlein empor, lichtlos, herzensdürr, von heimlichem Verlangen nach etwas Ungekanntem erfaßt, und doch hart an Schale, rauh und unzugänglich. Keine Blüte entfaltete sich in diesem lichtlosen Dasein und je älter der Knabe wurde, um so ungestümer war sein Sehnen, um so tiefer verbarg er sich vor sich selbst.

Er wartete auf das Glück, von dem er gehört. Er jubelte, als man dem Zehnjährigen mitteilte, er werde eine Mutter bekommen. Eine Mutter. Erhard wagte das süße Wort kaum vor sich hinzuflüstern: Eine Mutter. Eine Mutter, die man mit beiden Armen umfassen konnte, zu der man vielleicht von dem flüstern durfte, was das Herz so sehr bewegte. Eine Mutter!

Er suchte die Nähe des Vaters, um von ihm etwas von dem heißen Glück zu erfahren, das ihm bevorstand. Aber der Vater wies den Knaben kurz von sich.

Was schadete das. Bald war die Mutter da. Er gab ihr in Gedanken die süßesten Kosenamen. Mit brennenden Wangen schlief er am Abend ein, der letzte Gedanke galt der Mutter; mit sehnsuchtsvollem Blick erhob er sich am Morgen, den Namen der Mutter stammelnd.

Sie kam. Eine lockende, blendende Schönheit, in den Mantel lachender Jugend eingehüllt. Mit dem Blick der Siegerin nahm sie Besitz von all den Schätzen, die ihr Graf Bodo zu Boden legte – sie nahm es lachend, tändelnd.

Totenblaß, ohne ein Wort hervorzubringen, stand Erhard in der Ecke des Zimmers und starrte das holdselige Wunder an, die Mutter war da. Er hörte die silberhellen Worte von ihren roten Lippen, er hätte so gerne seine Arme um ihren Hals gelegt, aber er wagte es nicht. Der Vater sah so finster zu ihm hernieder. Später, wenn er mit der Mutter allein sein würde …

All seine Sehnsuchtsträume, sein erwartungsvolles Glück brach in tausend Scherben. Diese Mutter gehörte ihm nicht. Die gehörte nur dem Vater. Für ihn, den Hungernden, fiel nicht ein einziger Brosame der Liebe ab. Mitunter schien es, als hätte man ihn ganz vergessen. Mit dem Hauslehrer nahm er die Mahlzeiten ein, mit ihm machte er seine Spaziergänge; den Vater, die Mutter, sah er mitunter tagelang nicht.

Wenige Wochen genügten, um all das Gold, was hier im Herzen in heißer Glut zu einem flüssigen Strom geschmolzen war, wieder zu verhärten. Noch viel schlimmer, es mit einer Schlacke von Bitterkeit und Groll zu überziehen, die immer stärker wurde, je weniger der Knabe von der neuen Mutter beachtet wurde. Als dann nach zwei Jahren abermals ein Knäblein in der Wiege schrie, als Erhard mit neidvollem Herzen den zärtlichen Worten lauschte, die die Eltern an dieses kleine Wesen verschwendeten, da öffneten sich die finsteren Abgründe seines Herzens, die das lichtleere Dasein geschaffen. Immer fester faßte der entsetzliche Gedanke in ihm Fuß, diesen Knaben, der ihm alles an Elternliebe fortstahl, zu töten.

Der Plan kam nicht zur Ausführung. Graf Bodo sah das Tischmesser in der Hand des Knaben, mit dem er sich an die Wiege schlich. Er schlug es dem Sohne aus der Hand. Mit loderndem Blick, den ganzen Körper trotzig emporgerichtet, gestand Erhard, was er im Sinne hatte. Gestand es mit wilder Offenheit.

Schon am nächsten Tage reiste er aus dem Elternhause. Man gab ihn in Pension. Er durfte fürs erste nicht heim. Aber er erfuhr dennoch, was sich inzwischen im Elternhause zutrug. Der kleine Joachim bekam eine Schwester. Dann – dann – es war alles zu rätselhaft für das Kind. Die schöne Mutter verreiste kurz nach der Geburt des Mädchens. Sie kam nicht wieder. Irgendwo sollte sie gestorben sein.

Mit siebzehn Jahren machte er sein Abiturium, besuchte dann noch die landwirtschaftliche Hochschule und kehrte als Fünfundzwanzigjähriger zum ersten Male wieder ins Elternhaus zurück. Kalt und fremd standen sich Vater und Sohn gegenüber. Deutliche Abwehr in den Mienen.

Mit dürren Worten übertrug ihm Graf Bodo die Aufsicht über die Güter. Übergab ihm Wengern als eigensten Besitz, als Erbteil der Mutter.

Die Geschwister waren fern. Nur selten kamen sie für kurze Wochen in die Heimat. Sie froren, froren in all der kalten Atmosphäre.

Wieder waren die Jahre dahingegangen. Graf Erhard zählte heute dreiunddreißig Jahre. Die Jahre, die im Schatten und in Einsamkeit dahinfließen, wiegen doppelt schwer und zeichnen Linien, die von den Sonnenkindern nicht gelesen werden können.

Und diese Linien waren auch in die Züge des Reiters gemeißelt, in das sonst so schöne Aristokratengesicht. Der Blick der grauen Augen war streng und kalt, und von Gefühllosigkeit sprachen auch die Lippen, die fest geschlossen waren.

Alles an dem Manne Härte. Nicht ein einziger weicher Zug, nicht ein einziges Fünkchen Liebe und Zärtlichkeit in dem harten Blick.

Dennoch klagte keiner über die harte Hand des jungen Grafen. Sie schien nicht so hart wie die des alten Grafen. Wie hatte man früher gestöhnt, in jener Zeit, da die zweite Frau so plötzlich in der Fremde gestorben. Die Nachricht hatte aus Graf Bodo einen Sklavenhalter gemacht. Erst allmählich ebbte das wieder zurück. Aber noch heute fürchtete man den Mann mit der dunklen Gewitterwolke auf der Stirn, mit den stechenden Augen, aus denen zu jeder Sekunde Blitze hervorleuchten konnten, man zitterte vor ihm und wählte mit allen Anliegen den Umweg über den »kalten« Grafen!

Erhard von Auern kannte den Beinamen, den man ihm weit und breit gegeben hatte. Er zuckte nur gleichgültig die Schultern. Was kümmerten ihn die Menschen? Er brauchte sie nicht. Der Sehnsuchtsschrei seines Innern nach Liebe war längst, längst verklungen. Wen sollte er auch lieben? Etwa den Vater? Oder die Geschwister, die er während seines Lebens nur wenige Wochen gesehen? Oder die Gutsnachbarn?

Der Vater hatte ihm neulich mit trockenen Worten bedeutet, daß es für einen Auern Zeit sei, zu heiraten. Das stolze Geschlecht derer von Auern und Eberndorf durfte nicht erlöschen, durfte auch durch keine Nebenlinie weiter fortgepflanzt werden. Dazu war er, Erhard, der Erbe da.

Gut! Er würde heiraten. Es gab genug Ebenbürtige, die liebeverlangend ihre Augen auf ihn richteten. Eine von ihnen nahm er. Wahrscheinlich Baronin Henriette Stosch, deren Besitz lag dem seinen am nächsten. Es lohnte um einer Frau willen keinen weiten Weg.

Was er von seiner Frau brauchte, das brachte sie mit. Eine gute Figur, tadellose Manieren, man nannte Henriette sogar schön. Man sprach auch von ihrer Klugheit, ihrem guten, edlen Herzen. Das war mehr als genug.