+++ Der Klassiker „Bambi“ und die Fortsetzung „Bambis Kinder“ in
der ungekürzten Gesamtausgabe! +++
Felix Salten (1869–1945) war ein österreichisch-ungarischer Autor,
der mit seiner Geschichte von „Bambi“ (1923) weltberühmt wurde –
vor allem, nachdem Walt Disney die Geschichte 1942 als
Zeichentrickfilm auf die Leinwand gebracht hatte. Etwas weniger
bekannt ist, dass Salten jahrelang an seiner – ebenso spannenden
und lesenswerten – Fortsetzung „Bambis Kinder“ schrieb und diese
1940 veröffentlichte.
„Bambi“ ist die wunderschöne Geschichte über das Rehkitz Bambi, das
bei einer Treibjagd seine Mutter verliert und fortan auf sich
allein gestellt ist, verzaubert noch heute nicht nur Kinder,
sondern auch erwachsene Leserinnen und Leser. Ein Buch voller
Lebensweisheit, Tragik und Freude.
In der Fortsetzung „Bambis Kinder“ haben die inzwischen erwachsenen
Bambi und Faline Nachwuchs: der eher schüchterne Geno und die
abenteuerlustige und bisweilen ungestüme Gurri. Während Geno manch
Wandlung durchläuft und zuversichtlicher durch die Welt läuft,
droht Gurri fast übermütig in allzu viele Abenteuer zu stürzen. Die
Eltern erleben mit ihren Kleinen also viele Abenteuer – und der
mittlerweile lebenserfahrene Vater Bambi ist, wie schon sein Vater
vor ihm, der Prinz des Waldes. Und wie schon im ersten Teil droht
vor allem durch die jagenden Menschen manch große Gefahr …
Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Felix
Saltens „Bambi“ und dessen Fortsetzung „Bambis Kinder“ im
ungekürzten Original-Wortlaut der deutschen Erstveröffentlichung
von 1923 beziehungsweise 1940.
Er kam mitten im Dickicht zur Welt, in einer jener kleinen,
verborgenen Stuben des Waldes, die scheinbar nach allen Seiten
offenstehen, die aber doch von allen Seiten umschirmt sind.
Es war denn auch nur wenig Platz da, knapp genug für ihn und seine
Mutter.
Hier stand er nun, schwankte bedenklich auf seinen dünnen Beinen,
blickte mit trüben Augen, die nichts sahen, blöd vor sich hin, ließ
den Kopf hängen, zitterte sehr und war noch ganz betäubt.
»Was für ein schönes Kind!« rief die Elster.
Sie war herbeigeflogen, angelockt durch das röchelnde Stöhnen, das
die Wehen der Mutter entpreßt hatten. Nun saß die Elster auf einem
Ast in der Nähe. »Was für ein schönes Kind!« rief sie jetzt. Sie
bekam keine Antwort und sprach eifrig weiter. »Wie erstaunlich, daß
es gleich stehen und gehen kann! Wie interessant! Ich habe das noch
nie in meinem Leben gesehen. Nun freilich, ich bin ja noch jung,
erst seit einem Jahr aus dem Nest, wie Sie vielleicht wissen
werden. Aber ich finde es wunderbar. So ein Kind ... kommt in
dieser Sekunde zur Welt und kann gleich auf den Beinen stehen. Ich
finde es vornehm. Ich finde überhaupt, daß alles bei euch Rehen
sehr vornehm ist. Kann es auch gleich laufen ...?«
»Gewiß«, entgegnete die Mutter leise. »Aber Sie müssen
entschuldigen, wenn ich jetzt nicht imstande bin, ein Gespräch zu
führen. Ich habe jetzt sehr viel zu tun ... außerdem fühle ich
mich noch ein wenig matt.«
»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«, sagte die Elster, »viel
Zeit habe ich ja auch nicht. Aber so etwas sieht man nicht alle
Tage. Ich bitte Sie, wie umständlich und wie mühsam geht es bei uns
zu in diesen Dingen! Da können sich die Kinder nicht rühren, wenn
sie aus dem Ei sind, liegen hilflos im Nest und brauchen eine
Pflege, eine Pflege, sage ich Ihnen, von der machen Sie sich
natürlich keinen Begriff. Was für eine Arbeit hat man, sie zu
füttern, was für eine Angst, sie zu bewachen! Ich bitte Sie, denken
Sie einmal darüber nach, wie anstrengend das ist, für die Kinder
Futter holen und zugleich aufpassen müssen, daß ihnen nichts
geschieht; sie können sich ja nicht helfen, wenn man nicht dabei
ist. Geben Sie mir nicht recht? Und wie lange muß man warten, bis
sie sich rühren können, wie lange dauert das, bis sie Federn
kriegen und nach etwas Anständigem aussehen!«
»Verzeihen Sie«, erwiderte die Mutter, »ich habe nicht
zugehört.«
Die Elster flog davon. »Dumme Person«, dachte sie für sich,
»vornehm, aber dumm!«
Die Mutter bemerkte es kaum. Sie fuhr fort, das Neugeborene eifrig
zu waschen. Sie wusch es mit ihrer Zunge und das war alles in
einem, Körperpflege, wärmende Massage und Liebkosung.
Das Kleine taumelte ein wenig. Unter dem Streicheln und Schubsen,
von dem es überall leise berührt wurde, knickte es ein bißchen
zusammen und hielt still. Sein rotes Röckchen, das noch ein wenig
zerzaust war, hatte feine, weiße Sprenkel, und in seinem duseligen
Kindergesicht war noch ein Ausdruck wie von tiefem Schlaf.
Ringsumher wuchsen Haselstauden, Hartriegel, Schlehdornbüsche und
junger Holunder. Hohe Ahornbäume, Buchen und Eichen bauten ein
grünes Dach über der Dickung, und dem festen, dunkelbraunen Boden
entsprossen Farnwedel, Walderbsen und Salbei. Ganz niedrig
schmiegten sich die Blätter von Veilchen, die schon geblüht hatten,
und von Erdbeeren, die eben zu blühen begannen, an die Erde. Durch
das dichte Laubwerk drang das Licht der Frühsonne als ein goldenes
Gespinst. Der ganze Wald erschallte von vielerlei Stimmen, war von
ihnen durchdrungen wie von einer fröhlichen Erregung. Der Pirol
jauchzte unablässig, die Tauben gurrten ohne Aufhören, die Amseln
pfiffen, die Finken schlugen, die Meisen zirpten. Dazwischen riß
zänkisch der Schrei, den die Häher ausstießen, lachte das Schakern
der Elstern, brach metallisch das berstende Gocken der Fasanen.
Manchmal drang das gellend kurze Aufjubeln eines Spechtes durch
alle die Stimmen. Falkenruf schrillte hell und dringend über den
Baumwipfeln, und andauernd ließ sich der heisere Chor der Krähen
vernehmen.
Das Kleine verstand keinen einzigen von den vielen Gesängen und
Zurufen, kein Wort von den Gesprächen. Es hörte noch gar nicht
darauf. Es nahm auch noch keinen einzigen von all den Gerüchen
wahr, die der Wald atmete. Es hörte nur das leise Knistern, das
über sein Röckchen hinlief, während es gewaschen, gewärmt und
geküßt wurde, und es roch nichts als den nahen Leib der Mutter. Eng
schmiegte es sich in diese wohlig dunstende Nähe, suchte hungrig
daran herum und fand den Quell des Lebens.
Während es trank, fuhr die Mutter fort, das Kleine zu liebkosen.
»Bambi«, flüsterte sie.
Dabei hob sie jeden Augenblick das Haupt, ließ die Lauscher spielen
und sog den Wind ein.
Dann küßte sie wieder ihr Kind, beruhigt und glücklich. »Bambi«,
wiederholte sie, »mein kleiner Bambi.«
*
Jetzt im Frühsommer standen die Bäume still unter dem blauen
Himmel, hielten die Arme ausgebreitet und empfingen die
niederströmende Kraft der Sonne. An den Hecken und Sträuchern im
Dickicht gingen Blüten auf, weiße, rote oder gelbe Sterne. An
manchen wieder begannen schon die Fruchtknospen sichtbar zu werden,
zahllos, saßen an den feinen Spitzen der Äste, zart und fest und
entschlossen, und sahen aus wie kleine, geballte Fäuste. Aus dem
Boden kamen die bunten Sterne vieler und vielfältiger Blumen, so
daß die Erde am dämmernden Grunde des Waldes in einer stillen,
inbrünstigen Farbenheiterkeit sprühte. Es roch überall nach
frischem Laub, nach Blüten, nach feuchter Scholle und nach grünem
Holz. Wenn der Morgen anbrach, und wenn die Sonne unterging, klang
der ganze Wald von tausend Stimmen, und vom Morgen bis zum Abend
sangen die Bienen, summten die Wespen, brausten die Hummeln durch
die duftende Stille.
Das waren die Tage, in denen Bambi seine erste Kindheit
verlebte.
Er ging hinter seiner Mutter auf einem schmalen Streifen, der
mitten durch das Gebüsch lief. Wie angenehm war es, hier zu gehen!
Das dichte Laubwerk streichelte ihm sanft die Flanken, bog sich
gelind zur Seite. Der Weg schien überall zehnfach versperrt und
verrammelt, dennoch kam man in der größten Bequemlichkeit vorwärts.
Überall gab es solche Straßen, sie liefen kreuz und quer durch den
ganzen Wald. Die Mutter kannte sie alle, und wenn Bambi manchmal
vor einem Gestrüpp wie vor einer undurchdringlichen grünen Mauer
stand, die Mutter fand immer ohne Zögern und Suchen die Stelle, wo
der Weg gebahnt war.
Bambi fragte. Er liebte es, seine Mutter zu fragen. Es war das
schönste für ihn, immerfort zu fragen und dann zu hören, was die
Mutter zur Antwort gab. Bambi staunte gar nicht, daß ihm beständig
und mühelos Fragen über Fragen einfielen. Er fand das vollkommen
natürlich; es entzückte ihn nur sehr. Es entzückte ihn auch,
neugierig zu warten, bis die Antwort kam. Mochte sie nun ausfallen,
wie sie wollte, er war immer damit zufrieden. Manchmal verstand er
sie freilich nicht, aber auch das war schön, weil er immer weiter
fragen konnte, wenn er wollte. Manchmal fragte er nicht weiter, und
das war wieder schön, weil er dann damit beschäftigt war, sich das,
was er nicht verstanden hatte, auf seine eigene Weise auszumalen.
Manchmal fühlte er sehr deutlich, daß seine Mutter ihm keine ganze
Antwort bot, ihm absichtlich nicht alles sagte, was sie wußte. Und
das war erst recht schön. Denn da blieb noch eine so besondere
Neugier in ihm zurück, eine Ahnung, die ihn geheimnisvoll und
beglückend durchzuckte, ein Erwarten, bei dem ihm bang und heiter
in einem Sinne wurde, so sehr, daß er schwieg.
Jetzt fragte er: »Wem gehört diese Straße, Mutter?«
Die Mutter antwortete: »Uns.«
Bambi fragte weiter: »Dir und mir?«
»Ja.«
»Uns beiden?«
»Ja.«
»Uns beiden allein?«
»Nein«, sagte die Mutter, »uns Rehen ...«
»Was sind das, Rehe?« fragte Bambi und lachte.
Die Mutter sah sich nach ihm um und lachte auch: »Du bist ein Reh,
und ich bin ein Reh. Das sind Rehe. Verstehst du das?«
Bambi sprang in die Höhe vor Lachen. »Ja, ich verstehe das. Ich bin
ein kleines Reh, und du bist ein großes Reh. Nicht wahr?«
Die Mutter nickte ihm zu. »Nun, siehst du.«
Bambi wurde wieder ernst: »Gibt es noch andere Rehe als dich und
mich?«
»Gewiß«, sagte die Mutter. »Viele.«
»Wo sind sie?« rief Bambi.
»Hier, überall.«
»Aber ... ich sehe sie nicht.«
»Du wirst sie schon sehen.«
»Wann?« Bambi blieb stehen vor lauter Neugier.
»Bald.« Die Mutter ging ruhig weiter.
Bambi folgte ihr. Er schwieg, denn er grübelte darüber nach, was
das wohl bedeuten möge: »Bald.« Er kam zu dem Ergebnis, »bald« sei
gewiß nicht »gleich«. Aber er wurde sich nicht einig darüber, in
welcher Zeit dieses »bald« aufhöre, »bald« zu sein, und anfange,
»lange« zu werden. Plötzlich fragte er: »Wer hat diese Straße
gemacht?«
»Wir«, gab die Mutter zurück.
Bambi tat erstaunt: »Wir? Du und ich?«
Die Mutter sagte: »Nun, wir ... wir Rehe.«
Bambi fragte: »Welche?«
»Wir alle«, fertigte ihn die Mutter ab.
Sie gingen weiter. Bambi war vergnügt und hatte Lust, vom Wege
abzuspringen, aber er hielt sich brav bei der Mutter. Vor ihnen
raschelte es dicht am Boden. In heftiger Bewegung fuhr etwas daher,
das die Farnwedel und Lattichblatter verdeckten. Ein fadendünnes
Stimmchen pfiff erbärmlich auf, dann war es still. Nur die Blätter
und Grashalme bebten an der Stelle noch ruckweise nach. Ein Iltis
hatte eine Maus gejagt. Nun kam er vorbeigehuscht, duckte sich
seitwärts und machte sich an seine Mahlzeit.
»Was war das?« fragte Bambi erregt.
»Nichts«, beschwichtigte die Mutter.
»Aber ...« Bambi zitterte, »aber ... ich hab's doch
gesehen.«
»Nun ja«, sagte die Mutter, »erschrick nicht. Der Iltis hat die
Maus getötet.«
Aber Bambi war furchtbar erschrocken. Ein unbekanntes, großes
Entsetzen umklammerte sein Herz. Es dauerte lange, bis er wieder
sprechen konnte. Dann fragte er: »Warum hat er die Maus
getötet?«
»Weil ...« Die Mutter zögerte. » ... gehen wir
schneller«, sagte sie dann, als sei ihr etwas eingefallen, und als
habe sie die Frage vergessen. Sie begann zu trollen. Bambi hüpfte
hinter ihr drein.
Eine lange Pause verstrich; sie schritten wieder ruhig dahin.
Endlich fragte Bambi beklommen: »Werden wir auch einmal eine Maus
töten?«
»Nein«, erwiderte die Mutter.
»Nie?« fragte Bambi.
»Niemals«, war die Antwort.
»Warum nicht?« fragte Bambi erleichtert.
»Weil wir niemanden töten«,sagte die Mutter einfach.
Bambi wurde wieder heiter.
Von einer jungen Esche, die nahe an ihrem Wege stand, drang ein
lautes Kreischen nieder. Die Mutter ging weiter, ohne darauf zu
achten. Bambi aber blieb neugierig stehen. Zwei Häher zankten sich
da oben in den Zweigen um ein Nest, das sie geplündert
hatten.
»Machen Sie, daß Sie weiterkommen, Sie Halunke!« rief der
eine.
»Regen Sie sich doch nicht auf, Sie Narr«, antwortete der andere,
»ich habe keine Angst vor Ihnen.«
Der erste tobte: »Suchen Sie sich Ihre Nester selber, Sie Dieb! Ich
schlage Ihnen den Schädel ein.« Er war außer sich. »So eine
Gemeinheit!« keifte er, »so eine Gemeinheit!«
Der andere hatte Bambi bemerkt, flatterte ein paar Zweige herunter
und schnarrte ihn an: »Was hast du hier zu gaffen, du Fratz! Pack
dich!«
Eingeschüchtert sprang Bambi davon, erreichte dann seine Mutter,
ging wieder hinter ihr drein, sittsam und verschreckt, und glaubte,
daß sie sein Zurückbleiben gar nicht bemerkt habe.
Nach einer Weile fragte er: »Mutter ... was ist das, eine
Gemeinheit?«
Die Mutter sagte: »Ich weiß es nicht.«
Bambi überlegte. Dann fing er wieder an: »Mutter, warum sind die
beiden so böse zueinander gewesen?«
Die Mutter antwortete: »Sie haben sich wegen des Essens
gezankt.«
Bambi fragte: »Werden wir uns auch einmal wegen des Essens
zanken?«
»Nein«, sagte die Mutter.
Bambi fragte: »Warum nicht?«
Die Mutter entgegnete: »Es ist genug da für uns alle.«
Bambi wollte noch etwas wissen: »Mutter ...?«
»Was denn?«
»Werden wir auch einmal böse zueinander sein?«
»Nein, mein Kind«, sagte die Mutter, »bei uns gibt es das
nicht.«
Sie gingen weiter. Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen,
strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu
Ende, die Straße war zu Ende. Nur ein paar Schritte noch, und sie
kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete.
Bambi wollte vorwärtsspringen, doch die Mutter blieb stehen.
»Was ist das?« rief er ungeduldig und schon ganz bezaubert.
»Die Wiese«, antwortete die Mutter.
»Was ist das, die Wiese?« drängte Bambi.
Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Das wirst du schon selber
sehen.« Sie war ernst geworden und aufmerksam. Regungslos stand
sie, hielt das Haupt hoch, lauschte angespannt, prüfte mit tiefen
Atemzügen den Wind und sah ganz streng aus.
»Es ist gut«, sagte sie endlich, »wir können hinaus.« Bambi sprang
los, aber sie sperrte ihm den Weg. »Du wartest, bis ich dich rufe.«
Im Augenblick stand Bambi gehorsam still. »So ist es recht«, lobte
die Mutter. »Und nun merke genau, was ich dir sage.« Bambi hörte,
wie erregt die Mutter sprach, und geriet in große Spannung. »Es ist
nicht so einfach, auf die Wiese zu gehen«, fuhr die Mutter fort,
»es ist eine schwere und gefährliche Sache. Frag' nicht, warum. Du
wirst das schon später noch lernen. Für jetzt befolge genau, was
ich dir sage. Willst du?«
»Ja«, versprach Bambi.
»Nun gut. Ich gehe also vorerst allein hinaus. Bleibe hier stehen
und warte. Und schau' immer auf mich. Behalte mich unaufhörlich im
Auge. Wenn du siehst, daß ich wieder zurücklaufe, hier herein, dann
machst du kehrt und rennst davon, so schnell du kannst. Ich hole
dich schon ein.« Sie schwieg, schien zu überlegen und fuhr dann
eindringlich fort: »Jedenfalls laufe, laufe, was du kannst.
Laufe ... auch wenn etwas geschehen sollte ... auch wenn
du siehst, daß ich ... daß ich zu Boden stürze ... achte
nicht auf mich, verstehst du? ... Was immer du siehst oder
hörst ... nur fort, augenblicklich und so schnell wie
möglich ...! Versprichst du mir das?«
»Ja«, sagte Bambi leise.
»Wenn ich dich aber rufe«, sprach die Mutter weiter, »kannst du
kommen. Draußen auf der Wiese darfst du spielen. Es ist schön
draußen, und es wird dir gefallen. Nur ... du mußt mir auch
das versprechen ... beim ersten Ruf von mir mußt du an meiner
Seite sein. Unbedingt! Hörst du?«
»Ja«, sagte Bambi noch leiser. Die Mutter sprach so ernst.
Sie redete weiter: »Da draußen ... wenn ich rufe ... da
darf es kein Umhergaffen geben und kein Fragen, sondern wie der
Wind hinter mir drein! Merk' dir das. Ohne Besinnen, ohne
Zögern ... sofort, wenn ich zu laufen anfange, heißt es auf
und davon und nicht stillstehen, bis wir wieder hier drinnen sind.
Wirst du das nicht vergessen?«
»Nein«, sagte Bambi beklommen.
»So will ich jetzt gehen«, meinte die Mutter und schien nun etwas
ruhiger.
Sie trat hinaus. Bambi, der kein Auge von ihr ließ, sah, wie sie
mit langsam hohen Schritten vorwärts ging. Voll Erwartung, voll
Furcht und Neugier stand er da. Er sah, wie die Mutter nach allen
Seiten lauschte, er sah sie zusammenfahren und fuhr selbst
zusammen, bereit, ins Dickicht zurück zu springen. Da wurde die
Mutter wieder ruhig, und als eine Minute verging, wurde sie
fröhlich. Sie duckte den Hals, streckte ihn lange vor, schaute
vergnügt herüber und rief: »Komm!«
Bambi sprang hinaus. Eine ungeheure Freude ergriff ihn so
zauberhaft stark, daß er sein Bangen im Nu vergaß. Er hatte im
Dickicht nur die grünen Baumwipfel über sich gesehen, und darüber
nur manchmal, nur in kleinen Durchblicken, verstreute blaue
Sprenkel. Jetzt sah er das ganze Himmelsblau hoch und weit, und das
beglückte ihn, ohne daß er wußte, weshalb. Von der Sonne hatte er
im Walde nur einzelne, breite Strahlen gekannt oder das zarte
Gerinnsel von Licht, das golden durch die Zweige spielt. Jetzt
stand er plötzlich in der heißen blendenden Macht, deren
unbedingtes Herrschen auf ihn eindrang, stand mitten in dem
Glutsegen, der ihm die Augen schloß und das Herz öffnete. Bambi war
berauscht; er war vollständig außer sich, er war einfach toll.
Unbeholfen sprang er in die Höhe, dreimal, viermal, fünfmal auf dem
Fleck, auf dem er stand. Er konnte nicht anders; er mußte. Es riß
ihn, in die Höhe zu springen. Seine jungen Glieder spannten sich so
kräftig, sein Atem ging so tief und leicht, und er trank mit dem
Atem, trank mit allem Duft der Wiese so viel übermütige Heiterkeit,
daß er eben springen mußte. Bambi war ein Kind. Wäre er ein
Menschenkind gewesen, so hätte er gejauchzt. Aber er war ein junges
Reh, und Rehe können nicht jauchzen, wenigstens nicht auf jene Art,
in der die Menschenkinder es tun. Er jauchzte also auf seine Weise.
Mit den Beinen, mit dem ganzen Körper, der sich in die Luft
schleuderte. Seine Mutter stand dabei und freute sich. Sie sah, daß
Bambi toll war. Sie sah, daß er sich in die Höhe warf, unbeholfen
wieder auf demselben Fleck niederfiel, verdutzt und berauscht vor
sich hin starrte und sich im nächsten Augenblick wieder in die Höhe
warf, wieder und wieder. Sie begriff, daß Bambi nur die schmalen
Rehstraßen des Waldes kannte, in den kurzen Tagen seines Daseins
nur an die Beengtheit des Dickichts gewöhnt war, und daß er sich
deshalb nicht vom Fleck rührte, weil er es noch nicht verstand, auf
der offenen Wiese frei umher zu laufen. Sie duckte sich in die
ausgestreckten Vorderläufe, lachte Bambi eine Sekunde an, war mit
einem Schneller weg und sauste im Kreise umher, daß die hohen
Grashalme nur so rauschten. Bambi erschrak und blieb regungslos.
War das nun ein Zeichen, daß er zurück ins Dickicht sollte? Kümmere
dich nicht um mich, hatte die Mutter gesagt, was du auch siehst und
hörst; nur fort, so schnell wie möglich! Er wollte kehrtmachen und
flüchten, wie es befohlen war. Da kam die Mutter plötzlich
angaloppiert; in einem wunderbaren Rauschen fuhr sie daher, ruckte
zwei Schritte vor ihm zusammen, duckte sich wie das erstemal,
lachte ihn an und rief: »Fang mich doch!« Und im Hui stob sie
davon. Bambi war verblüfft. Was sollte das heißen? Was war denn auf
einmal mit der Mutter? Aber da kam sie schon wieder, so rasend
schnell, daß man schwindlig werden konnte, stieß ihn mit der Nase
in die Flanke, sagte eilig: »Fang mich doch!« und fegte davon.
Bambi stürzte ihr nach. Ein paar Schritte. Aber gleich wurden die
Schritte zu leichten Sprüngen. Es trug ihn, er glaubte zu fliegen;
es trug ihn von selbst. Raum war da unter seinen Schritten, Raum
unter seinen Sprüngen, Raum, Raum. Bambi geriet außer sich. Das
Gras rauschte ihm herrlich in die Ohren. Es war köstlich weich,
seidig zart, wie es an ihm vorbeistrich. Er jagte im Bogen, warf
sich herum und pfeilte in einem neuen Kreis, warf sich wieder herum
und flitzte weiter. Die Mutter stand schon eine Weile still, holte
Atem und wendete sich nur immer nach der Seite, wo Bambi
vorüberflog. Bambi raste.
Plötzlich ging's nicht mehr. Er hielt inne, kam mit zierlich
gehobenen Läufen zur Mutter und sah sie glückselig an. Dann
spazierten sie wohlgelaunt nebeneinander. Seit er hier draußen war,
hatte Bambi den Himmel, die Sonne und die grüne Weite nur mit dem
Körper gesehen, nur mit einem geblendeten, trunkenen Blick den
Himmel; mit dem wohlig durchwärmten Rücken und den stärkenden
Atemzügen die Sonne. Nun erst genoß er mit Augen, die Schritt vor
Schritt von neuen Wundern überrumpelt wurden, die Pracht der Wiese.
Da war kein Fleckchen Boden sichtbar wie drinnen im Walde. Da
drängte sich Halm bei Halm um jedes Pünktchen Platz, schmiegte sich
und schwoll in üppiger Pracht, bog sich unter jedem Tritt sanft zur
Seite und richtete sich gleich wieder versöhnt empor. Der weite
grüne Plan war besternt mit weißen Margeriten, mit den violetten
und rot angelaufenen dicken Köpfen des blühenden Klees und mit den
prunkvoll leuchtenden Goldknäufen, die der Löwenzahn in die Höhe
hielt.
»Sieh nur, Mutter«, rief Bambi, »da fliegt eine Blume davon.«
»Das ist keine Blume«, sagte die Mutter, »das ist ein
Schmetterling.«
Bambi sah entzückt dem Falter nach, der sich unendlich zart von
einem Halm gelöst hatte und in taumelndem Flug dahinschwebte. Jetzt
sah Bambi, daß viele solcher Schmetterlinge in der Luft über die
Wiese hinflogen, scheinbar eilig und doch langsam, auf und nieder
taumelnd, ein Spiel, das ihn begeisterte. Es sah wirklich aus, als
ob es wandernde Blumen wären, lustige Blumen, die auf ihrem Stengel
nicht stillhalten wollten und sich aufgemacht hatten, um ein wenig
zu tanzen. Oder Blumen, die mit der Sonne herniederkamen, noch
keinen Platz hatten und wählerisch umhersuchten, sich herabsenkten,
verschwanden, als seien sie schon irgendwo untergekommen, aber
gleich wieder emporstiegen, bald nur ein wenig, bald höher, um
weiter zu suchen, immer weiter, weil die besten Plätze eben schon
besetzt waren.
Bambi blickte ihnen allen nach. Er hätte so gerne einen von ihnen
in der Nähe gesehen, hätte so gerne einen einzelnen genauer ins
Auge gefaßt, aber das gelang ihm nicht. Sie glitten unaufhörlich
ineinander. Er wurde ganz wirr davon.
Wie er dann wieder vor sich zu Boden sah, ergötzte ihn all das
tausendfache, behende Leben, das da unter seinen Schritten aufstob.
Das sprang und sprühte nach allen Seiten, kam als ein Tumult und
Gewimmel zum Vorschein und versank in der nächsten Sekunde wieder
in den grünen Grund; aus dem es aufgestiegen war.
»Was ist das, Mutter?« fragte er.
»Das sind die Kleinen«, antwortete die Mutter.
»Sieh nur«, rief Bambi, »hier springt ein Stückchen Gras.
Nein ... wie hoch es springt!«
»Das ist kein Gras«, erklärte die Mutter, »das ist ein gutes
Heupferdchen.«
»Warum springt es so?« fragte Bambi.
»Weil wir da gehen«, antwortete die Mutter, » ... es fürchtet
sich.«
»Oh!« Bambi wandte sich zu dem Heupferdchen, das mitten auf dem
weißen Teller einer Margerite saß.
»Oh«, sagte Bambi höflich, »Sie brauchen sich nicht zu fürchten,
wir tun Ihnen gewiß nichts.«
»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte das Heupferdchen mit einer
rasselnden Stimme. »Ich bin nur im ersten Augenblick erschrocken,
denn ich sprach gerade mit meiner Frau.«
»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Bambi bescheiden. »Wir haben Sie
gestört.«
»Das macht nichts«, rasselte das Heupferdchen. »Weil Sie es sind,
macht es nichts. Aber man weiß ja nie, wer es ist, der kommt, und
man muß sich in acht nehmen.«
»Ich bin nämlich heute zum erstenmal in meinem Leben auf der
Wiese«, erzählte Bambi. »Die Mutter hat mir ...«
Das Heupferdchen stand mit bockig vorgeducktem Kopf da, machte ein
ernstes Gesicht und murrte: »Das interessiert mich nicht. Ich habe
gar keine Zeit, mit Ihnen zu schwatzen, ich muß jetzt meine Frau
suchen. Hopp!« Und weg war es.
»Hopp«, sagte Bambi verdutzt und bestaunte den hohen Sprung, mit
dem es verschwand.
Bambi lief zur Mutter: »Du ... ich habe mit ihm
gesprochen!«
»Mit wem?« fragte die Mutter.
»Nun, mit dem Heupferdchen«, erzählte Bambi, »ich habe mit ihm
gesprochen. Es war so freundlich mit mir. Und es gefällt mir so
gut. Es ist so wunderbar grün, und am Ende ist es so durchsichtig,
wie kein Blatt es sein kann, auch das feinste nicht.«
»Das sind die Flügel.«
»So?« Bambi sprach weiter. »Und es hat solch ein ernstes Gesicht,
voll Nachdenklichkeit. Aber trotzdem ist es freundlich zu mir
gewesen. Und wie es springen kann! Das muß fabelhaft schwer sein.
Hopp! sagt es und springt so hoch, daß du es nicht mehr sehen
kannst.«
Sie gingen weiter. Die Unterredung mit dem Heupferdchen hatte Bambi
erregt und ein wenig ermüdet, denn es war doch das erstemal, daß er
mit jemandem Fremden sprach. Er fühlte Hunger und drängte sich an
seine Mutter, um sich zu erfrischen. Als er dann wieder ruhig
dastand und eine kurze Weile vor sich hin träumte, in der kleinen,
süßen Trunkenheit, die ihn jedesmal umfing, nachdem er sich von
seiner Mutter gesättigt hatte, gewahrte er in dem Gewirr der
Grashalme eine helle Blume, die sich bewegte. Bambi sah schärfer
hin. Nein, das war keine Blume, das war ja ein Schmetterling. Bambi
schlich näher.
Der Schmetterling hing träge an einem Halme und bewegte leise seine
Flügel.
»Bitte, bleiben Sie sitzen!« rief ihn Bambi an.
»Warum soll ich denn sitzen bleiben? Ich bin doch ein
Schmetterling«, antwortete der Falter erstaunt.
»Ach, bleiben Sie nur ein ganz kleines bißchen sitzen!«, bat Bambi,
»ich habe mir schon lange gewünscht, Sie in der Nähe zu sehen.
Seien Sie doch so gut.«
»Meinetwegen«, sagte der Weißling, »aber nicht lange.«
Bambi stand vor ihm. »Wie schön Sie sind«, rief er entzückt, »wie
wunderschön! Wie eine Blume!«
»Was?« Der Schmetterling klappte mit den Flügeln. »Wie eine Blume?
Nun, in meinen Kreisen herrscht allgemein die Ansicht, daß wir
schöner sind als die Blumen.«
Bambi war verwirrt. »Gewiß«, stotterte er, »viel schöner ...
verzeihen Sie ... ich wollte nur sagen ...«
»Es ist mir ziemlich gleichgültig, was Sie sagen wollten«,
entgegnete der Schmetterling. Er bog affektiert seinen schmalen
Leib und spielte eitel mit den zarten Fühlern.
Bambi betrachtete ihn hingerissen. »Wie zierlich Sie sind«, sagte
er, »wie fein und zierlich! Und was für eine Pracht, diese weißen
Schwingen!«
Der Schmetterling legte die Flügel breit auseinander, dann stellte
er sie hoch, daß sie ganz beisammen waren und einem steilen Segel
glichen.
»Oh«, rief Bambi, »ich verstehe jetzt, daß Sie schöner sind als die
Blumen. Außerdem können Sie ja fliegen, und das können die Blumen
nicht. Weil sie festgewachsen sind; daran liegt es.«
Der Schmetterling erhob sich. »Genug«, sagte er. »Ich kann
fliegen!« So leicht erhob er sich, daß es gar nicht zu merken und
nicht zu begreifen war. Seine weißen Flügel bewegten sich sanft,
voll Anmut, da schwebte er schon in der sonnigen Luft. »Nur Ihnen
zuliebe bin ich so lange sitzen geblieben«, sagte er und gaukelte
vor Bambi auf und nieder, »aber jetzt fliege ich fort.«
Das war die Wiese.
*
Tief im Dickicht gab es ein Plätzchen, das Bambis Mutter gehörte.
Es lag nur ein paar Schritte abseits von der schmalen Straße der
Rehe, die hier den Wald durchlief, aber es war kaum zu finden, wenn
man den kleinen Einschlupf im dichten Buschwerk nicht kannte.
Eine ganze enge Kammer war es, so eng, daß nur die Mutter und Bambi
darin ein wenig Raum hatten, und so niedrig, daß Bambis Mutter,
wenn sie stand, das Haupt schon mitten in den Zweigen barg.
Haselstrauch, Stechginster und Hartriegel wuchsen hier ineinander
und fingen das wenige Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel kam, so
daß es niemals bis zum Boden dringen konnte. Hier in dieser Kammer
war Bambi zur Welt gekommen und hier war seine und seiner Mutter
Wohnung.
Die Mutter lag jetzt an die Erde gedrückt und schlief. Auch Bambi
hatte ein wenig geschlummert. Nun war er plötzlich ganz munter
geworden. Er stand auf und blickte umher.
Hier innen dämmerten die Schatten, daß es beinahe dunkelte. Man
hörte den Wald leise rauschen. Hin und wieder zirpten die Meisen,
hier und da klang das helle Auflachen eines Spechtes oder der
freudlose Ruf einer Krähe. Sonst war alles still, weit und breit.
Nur die Luft kochte in der Hitze des Mittags, und das konnte man
vernehmen, wenn man aufmerksam lauschte.
Hier innen war es dunstig zum Verschmachten.
Bambi sah zur Mutter nieder: »Schläfst du?«
Nein, die Mutter schlief nicht. Sie war sofort erwacht, als Bambi
sich erhoben hatte.
»Was tun wir jetzt?« fragte Bambi.
»Nichts«, antwortete die Mutter, »wir bleiben, wo wir sind. Leg'
dich schön hin und schlafe.«
Aber Bambi hatte keine Lust zu schlafen. »Komm«, bat er, »komm auf
die Wiese.«
Die Mutter hob das Haupt: »Auf die Wiese? Jetzt ... auf die
Wiese ...?« Sie sprach so erstaunt und so voll Schrecken, daß
Bambi ganz ängstlich wurde.
»Kann man denn jetzt nicht auf die Wiese?« fragte er
schüchtern.
»Nein«, gab die Mutter zur Antwort, und es klang sehr entschieden.
»Nein, das ist jetzt nicht möglich.«
»Warum?« Bambi merkte, daß hier etwas Unheimliches im Spiele sei.
Er wurde noch ängstlicher, zugleich aber reizte es ihn, alles zu
erfahren. »Warum kann man jetzt nicht auf die Wiese?«
»Du wirst das später alles kennenlernen, wenn du etwas älter
bist ...«, beschwichtigte die Mutter.
Bambi drängte: »Sag' mir's doch lieber jetzt.«
»Später«, wiederholte die Mutter. »Jetzt bist du noch ein kleines
Kind«, fuhr sie zärtlich fort, »und mit Kindern redet man nicht von
solchen Dingen.« Sie war ganz ernst geworden. »Jetzt ... auf
die Wiese ... ich mag nicht einmal daran denken. Am hellichten
Tag ...!«
»Aber«, wendete Bambi ein, »als wir auf die Wiese gingen, war es ja
auch heller Tag.«
»Das ist etwas anderes«, erklärte die Mutter, »es war am frühen
Morgen.«
»Darf man nur am frühen Morgen hin?« Bambi war zu neugierig.
Die Mutter hatte Geduld. »Nur am frühen Morgen oder am späten
Abend ... oder des Nachts ...«
»Und nie bei Tag? Niemals ...?«
Die Mutter zögerte. »Doch«, sagte sie endlich, »manche mal ...
einige von uns gehen manchmal auch bei Tag hinaus. Aber das sind
besondere Umstände ... ich kann dir das nicht so
erklären ... du bist noch zu klein ... manche
gehen ... aber sie sind dabei in der größten
Gefahr ...«
»Wieso sind sie in Gefahr?« Bambi war nun ganz voll Spannung.
Die Mutter jedoch wollte nicht recht mit der Sprache heraus. »Sie
sind eben in Gefahr ... du hörst ja, mein Kind, daß du diese
Dinge jetzt noch nicht begreifen kannst ...«
Bambi dachte, daß er alles begreifen könne, nur nicht, warum ihm
die Mutter keine genaue Auskunft geben wollte. Aber er
schwieg.
»Wir müssen so leben«, sprach die Mutter weiter, »wir alle. Wenn
wir auch den Tag lieben ... und wir lieben den Tag, besonders
in unserer Kindheit ... wir müssen doch so leben, daß wir uns
bei Tag stillhalten. Erst vom Abend bis zum Morgen dürfen wir
umhergehen. Verstehst du das?«
»Ja.«
»Nun, mein Kind, deshalb müssen wir jetzt hier bleiben, wo wir
sind. Hier sind wir sicher. So! Und nun leg' dich wieder hin und
schlafe.«
Doch Bambi wollte sich jetzt nicht hinlegen. »Warum sind wir hier
sicher?« fragte er.
»Weil alle Sträucher uns bewachen, weil die Zweige an den Büschen
knistern, weil das dürre Reisig am Boden knackt und uns warnt, weil
das welke Laub vom vorigen Jahre auf der Erde liegt und raschelt,
um uns ein Zeichen zu geben ... weil der Häher da ist und die
Elster ebenso, die Wache halten, und weil wir dadurch schon von
weitem wissen, wenn jemand kommt ...«
»Was ist das«, erkundigte sich Bambi, »das Laub vom vorigen
Jahre?«
»Komm, setze dich zu mir«, sagte die Mutter, »ich will es dir
erzählen.« Da setzte sich Bambi willig hin, schmiegte sich dicht an
die Mutter, und sie erzählte ihm, daß die Bäume nicht immer grün
bleiben, daß die Sonne und die schöne Wärme verschwinden. Dann wird
es kalt, die Blätter werden gelb vor Frost, braun und rot, und sie
fallen langsam ab, so daß die Bäume wie die Sträucher die kahlen
Äste zum Himmel strecken und vollständig verarmt aussehen. Die
welken Blätter aber liegen am Boden, und wenn ein Fuß sie berührt,
so rascheln sie: Es kommt jemand! Oh, sie sind gut, diese dürren
Blätter vom vorigen Jahre. Sie leisten treffliche Dienste, so
eifrig und so wachsam wie sie sind. Jetzt noch, mitten im Sommer,
halten sich viele von ihnen unter dem jungen Bodenwuchs versteckt
und warnen schon von weitem vor jeder Gefahr.
Bambi drückte sich eng an die Mutter. Er vergaß die Wiese. Es war
so behaglich, hier zu sitzen und zuzuhören, wenn die Mutter
erzählte.
Als dann die Mutter schwieg, dachte er nach. Er fand es zu lieb von
den guten, alten Blättern, daß sie so fleißig aufpaßten, obwohl sie
doch welk und erfroren waren und schon so viel durchgemacht hatten.
Er überlegte, was das wohl eigentlich sein könnte, die Gefahr, von
der die Mutter immer redete. Aber das viele Nachdenken strengte ihn
an; es war still ringsumher, man hörte nur, wie die Luft kochte vor
Hitze. Und er schlief ein.
*
Als er eines Abends mit seiner Mutter wieder hinaus auf die Wiese
trat, glaubte er, daß er nun alles kenne, was es da zu sehen und zu
hören gab. Allein es zeigte sich, daß er im Leben doch nicht so gut
Bescheid wußte, wie er gemeint hatte.
Zunächst war es ja wie beim erstenmal. Bambi durfte mit der Mutter
Fangen spielen. Er fuhr im Kreise umher, und der weite Raum, der
hohe Himmel, die freie Luft erfüllten ihn wieder mit einem Rausch,
daß er ganz rasend wurde. Nach einer Weile merkte er, daß die
Mutter stillstand. Er hielt mitten in einem Bogen inne, so
plötzlich, daß seine vier Beine weit auseinander grätschten. Um
sich einen anständigeren Halt zu geben, tat er einen hohen
Luftsprung, und nun stand er richtig. Die Mutter drüben schien mit
jemandem zu sprechen, aber es ließ sich im hohen Grase nicht
ausnehmen, wer das sei. Neugierig trollte Bambi näher. Da bewegten
sich im Gewirr der Halme dicht vor der Mutter zwei lange Ohren.
Graubraun waren sie und mit schwarzen Streifen hübsch gezeichnet.
Bambi stutzte, aber die Mutter sagte: »Komm nur her, das ist unser
Freund Hase ... komm nur ruhig her und laß dich
anschauen.«
Bambi ging sogleich ganz heran. Da saß nun der Hase und war sehr
honett anzuschauen. Seine langen Löffelohren stiegen mächtig hoch
empor und fielen dann wieder ganz schlapp herunter, wie von einer
plötzlichen Schwäche angewandelt. Bambi wurde ein bißchen
bedenklich, als er den Schnauzbart erblickte, der dem Hasen so
stramm und gerade nach allen Seiten den Mund umstarrte. Aber er
bemerkte, daß der Hase ein sehr sanftes Gesicht hatte, überaus
gutmütige Züge, und daß er aus seinen großen, runden Augen
bescheidene Blicke auf die Welt richtete. Er sah wirklich aus wie
ein Freund, der Hase. Bambis flüchtige Bedenken verschwanden
sofort. Merkwürdigerweise verlor sich sogar der Respekt, den er
anfänglich empfunden hatte, alsbald vollständig.
»Guten Abend, junger Herr«, grüßte der Hase mit ausgesuchter
Höflichkeit.
Bambi nickte nur »guten Abend«. Er wußte nicht, warum, aber er
nickte nur. Sehr freundlich, sehr artig, doch ein wenig
herablassend. Er konnte nicht anders. Vielleicht war es ihm
angeboren.
»Was für ein hübscher junger Prinz!« sagte der Hase zur Mutter. Er
betrachtete Bambi aufmerksam, stellte dabei bald das eine Löffelohr
hoch, bald das andere, bald wieder alle beide, und manchmal ließ er
sie schnell und schlapp herunterfallen, was aber Bambi nicht
gefiel. Diese Gebärde schien zu sagen: es lohnt nicht.
Indessen fuhr der Hase fort, Bambi mit großen, runden Augen sanft
zu betrachten. Seine Nase und sein Mund mit dem prächtigen
Schnauzbart bewegten sich dabei unaufhörlich, wie jemand mit Nase
und Lippen zuckt, der gegen das Niesen kämpfen will. Bambi mußte
lachen. Sogleich lachte auch der Hase bereitwillig, nur seine Augen
wurden nachdenklicher. »Ich beglückwünsche Sie«, sagte er zur
Mutter, »aufrichtig beglückwünsche ich Sie zu diesem Sohn. Ja, ja,
ja ... das wird einmal ein prächtiger Prinz ... ja, ja,
ja, so was sieht man gleich.«
Er richtete sich in die Höhe und saß nun in den Hinterbeinen
aufrecht da, worüber Bambi maßlos erstaunte. Nachdem er mit steilen
Ohren und großartig bewegter Nase überall umhergespäht hatte, saß
er wieder manierlich auf allen vieren. »Ja, nun empfehle ich mich
den verehrten Herrschaften«, sagte er, »ich habe noch allerlei zu
tun heute abend ... untertänig empfehle ich mich.« Er machte
kehrt und hoppelte davon, mit angedrückten Ohren, die ihm bis zur
Schulter reichten.
»Guten Abend«, rief ihm Bambi nach.
Die Mutter lächelte: »Der gute Hase ... so schlicht und so
bescheiden. Er hat es auch nicht leicht auf der Welt.« Es war
Sympathie in ihren Worten.
Bambi spazierte ein wenig umher und überließ seine Mutter ihrer
Mahlzeit. Er hoffte seinen Bekannten vom erstenmal wieder zu
begegnen und war auch gerne bereit, neue Bekanntschaften zu machen.
Denn ohne daß es ihm recht deutlich wurde, was ihm eigentlich
fehle, war doch beständig ein Erwarten in ihm. Plötzlich hörte er
von ferne ein feines Rauschen auf der Wiese, spürte ein leises
rasches Klopfen, das den Boden berührte. Er sah auf. Dort drüben,
am anderen Saume des Waldes, huschte etwas durchs Gras. Ein
Wesen ... nein ... zwei! Bambi warf einen schnellen Blick
auf seine Mutter, doch die kümmerte sich um nichts, sondern hatte
den Kopf tief im Grase stecken. Dort drüben jedoch ging's in
jagenden Kreisen rundum, genau so, wie er selbst vorhin im Kreise
umhergetobt hatte. Bambi war so verblüfft, daß er einen Satz nach
rückwärts machte, als wollte er entfliehen. Dadurch wurde die
Mutter aufmerksam und hob das Haupt.
»Was ist dir denn?« rief sie.
Aber Bambi war sprachlos, er fand keine Worte und stammelte nur:
»Dort ... dort ...«
Die Mutter schaute hinüber. »Ach so«, sagte sie, »das ist meine
Base, und, richtig, auch sie hat jetzt ein Kindchen ... nein,
sie hat zwei.« Die Mutter hatte voll Heiterkeit gesprochen, nun
wurde sie ernst: »Nein ... daß Ena zwei Kinder hat ...
wirklich zwei ...«
Bambi stand und gaffte. Dort drüben sah er jetzt eine Gestalt, die
genau seiner Mutter glich. Er hatte sie früher gar nicht bemerkt.
Er sah, wie es dort drüben weiter in Doppelkreisen durchs Gras
dahinfuhr, aber nur die roten Rücken waren sichtbar, dünne rote
Streifen.
»Komm«, sagte die Mutter, »wir wollen hingehen, da ist einmal
Gesellschaft für dich.«
Bambi wollte laufen, weil aber die Mutter ganz langsam ging und bei
jedem Schritt nach allen Seiten umherspähte, hielt auch er sich
zurück. Doch er war in der heftigsten Aufregung und sehr
ungeduldig.
Die Mutter redete weiter. »Ich habe mir schon gedacht, daß wir Ena
doch einmal treffen müßten. Wo steckt sie nur? habe ich mir
gedacht. Ich wußte doch, daß sie auch ein Kind hat. Nun, das war
leicht zu erraten. Aber daß es zwei Kinder sind ...«
Sie waren längst bemerkt worden, und die anderen kamen ihnen
entgegen. Bambi mußte die Tante begrüßen, aber er hatte nur Augen
für ihre Kinder.
Die Tante war sehr freundlich. »Ja«, sprach sie zu ihm, »das ist
nun Gobo, und das ist Faline. Ihr könnt immer miteinander
spielen.«
Die Kinder standen steif und still und starrten sich an. Gobo eng
bei Faline, Bambi ihnen gegenüber.
Keines rührte sich. Sie standen und gafften.
»Laß nur«, sagte die Mutter, »sie werden sich schon
befreunden.«
»Was für ein hübsches Kind«, erwiderte Tante Ena, »wahrhaftig, ganz
besonders hübsch. So kräftig und so gut in der
Haltung ...«
»Nun, es geht«, meinte die Mutter bescheiden. »Man muß zufrieden
sein. Aber daß du zwei Kinder hast, Ena ...«
»Ja, das ist mal so, mal so«, erklärte Ena. »Du weißt ja, meine
Liebe, ich habe schon öfters Kinder gehabt ...«
Die Mutter sagte: »Bambi ist mein erstes ...«
»Siehst du«, tröstete Ena, »vielleicht kommt es nächstens auch bei
dir einmal anders ...«
Die Kinder standen noch immer und betrachteten einander. Keines
sagte ein Wort. Plötzlich machte Faline einen Sprung und fegte
davon. Die Sache war ihr zu langweilig geworden.
Augenblicklich stürzte sich Bambi hinter ihr her. Gobo folgte
sogleich. Sie flogen in halben Kreisen, sie machten blitzschnell
kehrt, purzelten übereinander, jagten kreuz und quer. Es ging
prächtig. Als sie dann unvermittelt und ein wenig atemlos stehen
blieben, waren sie schon ganz vertraut miteinander. Sie begannen zu
schwatzen.
Bambi erzählte, daß er mit dem guten Heupferdchen und mit dem
Weißling gesprochen habe.
»Hast du auch mit dem Goldkäfer geredet?« fragte Faline.
Nein, mit dem Goldkäfer hatte Bambi nicht gesprochen. Er kannte ihn
gar nicht, wußte nicht, wer das sei.
»Ich rede oft mit ihm«, erklärte Faline ein wenig patzig.