Vorwort

+++ Der Klassiker „Bambi“ und die Fortsetzung „Bambis Kinder“ in der ungekürzten Gesamtausgabe! +++

Felix Salten (1869–1945) war ein österreichisch-ungarischer Autor, der mit seiner Geschichte von „Bambi“ (1923) weltberühmt wurde – vor allem, nachdem Walt Disney die Geschichte 1942 als Zeichentrickfilm auf die Leinwand gebracht hatte. Etwas weniger bekannt ist, dass Salten jahrelang an seiner – ebenso spannenden und lesenswerten – Fortsetzung „Bambis Kinder“ schrieb und diese 1940 veröffentlichte.

„Bambi“ ist die wunderschöne Geschichte über das Rehkitz Bambi, das bei einer Treibjagd seine Mutter verliert und fortan auf sich allein gestellt ist, verzaubert noch heute nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Leserinnen und Leser. Ein Buch voller Lebensweisheit, Tragik und Freude.

In der Fortsetzung „Bambis Kinder“ haben die inzwischen erwachsenen Bambi und Faline Nachwuchs: der eher schüchterne Geno und die abenteuerlustige und bisweilen ungestüme Gurri. Während Geno manch Wandlung durchläuft und zuversichtlicher durch die Welt läuft, droht Gurri fast übermütig in allzu viele Abenteuer zu stürzen. Die Eltern erleben mit ihren Kleinen also viele Abenteuer – und der mittlerweile lebenserfahrene Vater Bambi ist, wie schon sein Vater vor ihm, der Prinz des Waldes. Und wie schon im ersten Teil droht vor allem durch die jagenden Menschen manch große Gefahr …

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Felix Saltens „Bambi“ und dessen Fortsetzung „Bambis Kinder“ im ungekürzten Original-Wortlaut der deutschen Erstveröffentlichung von 1923 beziehungsweise 1940.


Bambi: Eine Lebensgeschichte aus dem Walde


Er kam mitten im Dickicht zur Welt, in einer jener kleinen, verborgenen Stuben des Waldes, die scheinbar nach allen Seiten offenstehen, die aber doch von allen Seiten umschirmt sind.

Es war denn auch nur wenig Platz da, knapp genug für ihn und seine Mutter.

Hier stand er nun, schwankte bedenklich auf seinen dünnen Beinen, blickte mit trüben Augen, die nichts sahen, blöd vor sich hin, ließ den Kopf hängen, zitterte sehr und war noch ganz betäubt.

»Was für ein schönes Kind!« rief die Elster.

Sie war herbeigeflogen, angelockt durch das röchelnde Stöhnen, das die Wehen der Mutter entpreßt hatten. Nun saß die Elster auf einem Ast in der Nähe. »Was für ein schönes Kind!« rief sie jetzt. Sie bekam keine Antwort und sprach eifrig weiter. »Wie erstaunlich, daß es gleich stehen und gehen kann! Wie interessant! Ich habe das noch nie in meinem Leben gesehen. Nun freilich, ich bin ja noch jung, erst seit einem Jahr aus dem Nest, wie Sie vielleicht wissen werden. Aber ich finde es wunderbar. So ein Kind ... kommt in dieser Sekunde zur Welt und kann gleich auf den Beinen stehen. Ich finde es vornehm. Ich finde überhaupt, daß alles bei euch Rehen sehr vornehm ist. Kann es auch gleich laufen ...?«

»Gewiß«, entgegnete die Mutter leise. »Aber Sie müssen entschuldigen, wenn ich jetzt nicht imstande bin, ein Gespräch zu führen. Ich habe jetzt sehr viel zu tun ... außerdem fühle ich mich noch ein wenig matt.«

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«, sagte die Elster, »viel Zeit habe ich ja auch nicht. Aber so etwas sieht man nicht alle Tage. Ich bitte Sie, wie umständlich und wie mühsam geht es bei uns zu in diesen Dingen! Da können sich die Kinder nicht rühren, wenn sie aus dem Ei sind, liegen hilflos im Nest und brauchen eine Pflege, eine Pflege, sage ich Ihnen, von der machen Sie sich natürlich keinen Begriff. Was für eine Arbeit hat man, sie zu füttern, was für eine Angst, sie zu bewachen! Ich bitte Sie, denken Sie einmal darüber nach, wie anstrengend das ist, für die Kinder Futter holen und zugleich aufpassen müssen, daß ihnen nichts geschieht; sie können sich ja nicht helfen, wenn man nicht dabei ist. Geben Sie mir nicht recht? Und wie lange muß man warten, bis sie sich rühren können, wie lange dauert das, bis sie Federn kriegen und nach etwas Anständigem aussehen!«

»Verzeihen Sie«, erwiderte die Mutter, »ich habe nicht zugehört.«

Die Elster flog davon. »Dumme Person«, dachte sie für sich, »vornehm, aber dumm!«

Die Mutter bemerkte es kaum. Sie fuhr fort, das Neugeborene eifrig zu waschen. Sie wusch es mit ihrer Zunge und das war alles in einem, Körperpflege, wärmende Massage und Liebkosung.

Das Kleine taumelte ein wenig. Unter dem Streicheln und Schubsen, von dem es überall leise berührt wurde, knickte es ein bißchen zusammen und hielt still. Sein rotes Röckchen, das noch ein wenig zerzaust war, hatte feine, weiße Sprenkel, und in seinem duseligen Kindergesicht war noch ein Ausdruck wie von tiefem Schlaf.

Ringsumher wuchsen Haselstauden, Hartriegel, Schlehdornbüsche und junger Holunder. Hohe Ahornbäume, Buchen und Eichen bauten ein grünes Dach über der Dickung, und dem festen, dunkelbraunen Boden entsprossen Farnwedel, Walderbsen und Salbei. Ganz niedrig schmiegten sich die Blätter von Veilchen, die schon geblüht hatten, und von Erdbeeren, die eben zu blühen begannen, an die Erde. Durch das dichte Laubwerk drang das Licht der Frühsonne als ein goldenes Gespinst. Der ganze Wald erschallte von vielerlei Stimmen, war von ihnen durchdrungen wie von einer fröhlichen Erregung. Der Pirol jauchzte unablässig, die Tauben gurrten ohne Aufhören, die Amseln pfiffen, die Finken schlugen, die Meisen zirpten. Dazwischen riß zänkisch der Schrei, den die Häher ausstießen, lachte das Schakern der Elstern, brach metallisch das berstende Gocken der Fasanen. Manchmal drang das gellend kurze Aufjubeln eines Spechtes durch alle die Stimmen. Falkenruf schrillte hell und dringend über den Baumwipfeln, und andauernd ließ sich der heisere Chor der Krähen vernehmen.

Das Kleine verstand keinen einzigen von den vielen Gesängen und Zurufen, kein Wort von den Gesprächen. Es hörte noch gar nicht darauf. Es nahm auch noch keinen einzigen von all den Gerüchen wahr, die der Wald atmete. Es hörte nur das leise Knistern, das über sein Röckchen hinlief, während es gewaschen, gewärmt und geküßt wurde, und es roch nichts als den nahen Leib der Mutter. Eng schmiegte es sich in diese wohlig dunstende Nähe, suchte hungrig daran herum und fand den Quell des Lebens.

Während es trank, fuhr die Mutter fort, das Kleine zu liebkosen. »Bambi«, flüsterte sie.

Dabei hob sie jeden Augenblick das Haupt, ließ die Lauscher spielen und sog den Wind ein.

Dann küßte sie wieder ihr Kind, beruhigt und glücklich. »Bambi«, wiederholte sie, »mein kleiner Bambi.«


*


Jetzt im Frühsommer standen die Bäume still unter dem blauen Himmel, hielten die Arme ausgebreitet und empfingen die niederströmende Kraft der Sonne. An den Hecken und Sträuchern im Dickicht gingen Blüten auf, weiße, rote oder gelbe Sterne. An manchen wieder begannen schon die Fruchtknospen sichtbar zu werden, zahllos, saßen an den feinen Spitzen der Äste, zart und fest und entschlossen, und sahen aus wie kleine, geballte Fäuste. Aus dem Boden kamen die bunten Sterne vieler und vielfältiger Blumen, so daß die Erde am dämmernden Grunde des Waldes in einer stillen, inbrünstigen Farbenheiterkeit sprühte. Es roch überall nach frischem Laub, nach Blüten, nach feuchter Scholle und nach grünem Holz. Wenn der Morgen anbrach, und wenn die Sonne unterging, klang der ganze Wald von tausend Stimmen, und vom Morgen bis zum Abend sangen die Bienen, summten die Wespen, brausten die Hummeln durch die duftende Stille.

Das waren die Tage, in denen Bambi seine erste Kindheit verlebte.

Er ging hinter seiner Mutter auf einem schmalen Streifen, der mitten durch das Gebüsch lief. Wie angenehm war es, hier zu gehen! Das dichte Laubwerk streichelte ihm sanft die Flanken, bog sich gelind zur Seite. Der Weg schien überall zehnfach versperrt und verrammelt, dennoch kam man in der größten Bequemlichkeit vorwärts. Überall gab es solche Straßen, sie liefen kreuz und quer durch den ganzen Wald. Die Mutter kannte sie alle, und wenn Bambi manchmal vor einem Gestrüpp wie vor einer undurchdringlichen grünen Mauer stand, die Mutter fand immer ohne Zögern und Suchen die Stelle, wo der Weg gebahnt war.

Bambi fragte. Er liebte es, seine Mutter zu fragen. Es war das schönste für ihn, immerfort zu fragen und dann zu hören, was die Mutter zur Antwort gab. Bambi staunte gar nicht, daß ihm beständig und mühelos Fragen über Fragen einfielen. Er fand das vollkommen natürlich; es entzückte ihn nur sehr. Es entzückte ihn auch, neugierig zu warten, bis die Antwort kam. Mochte sie nun ausfallen, wie sie wollte, er war immer damit zufrieden. Manchmal verstand er sie freilich nicht, aber auch das war schön, weil er immer weiter fragen konnte, wenn er wollte. Manchmal fragte er nicht weiter, und das war wieder schön, weil er dann damit beschäftigt war, sich das, was er nicht verstanden hatte, auf seine eigene Weise auszumalen. Manchmal fühlte er sehr deutlich, daß seine Mutter ihm keine ganze Antwort bot, ihm absichtlich nicht alles sagte, was sie wußte. Und das war erst recht schön. Denn da blieb noch eine so besondere Neugier in ihm zurück, eine Ahnung, die ihn geheimnisvoll und beglückend durchzuckte, ein Erwarten, bei dem ihm bang und heiter in einem Sinne wurde, so sehr, daß er schwieg.

Jetzt fragte er: »Wem gehört diese Straße, Mutter?«

Die Mutter antwortete: »Uns.«

Bambi fragte weiter: »Dir und mir?«

»Ja.«

»Uns beiden?«

»Ja.«

»Uns beiden allein?«

»Nein«, sagte die Mutter, »uns Rehen ...«

»Was sind das, Rehe?« fragte Bambi und lachte.

Die Mutter sah sich nach ihm um und lachte auch: »Du bist ein Reh, und ich bin ein Reh. Das sind Rehe. Verstehst du das?«

Bambi sprang in die Höhe vor Lachen. »Ja, ich verstehe das. Ich bin ein kleines Reh, und du bist ein großes Reh. Nicht wahr?«

Die Mutter nickte ihm zu. »Nun, siehst du.«

Bambi wurde wieder ernst: »Gibt es noch andere Rehe als dich und mich?«

»Gewiß«, sagte die Mutter. »Viele.«

»Wo sind sie?« rief Bambi.

»Hier, überall.«

»Aber ... ich sehe sie nicht.«

»Du wirst sie schon sehen.«

»Wann?« Bambi blieb stehen vor lauter Neugier.

»Bald.« Die Mutter ging ruhig weiter.

Bambi folgte ihr. Er schwieg, denn er grübelte darüber nach, was das wohl bedeuten möge: »Bald.« Er kam zu dem Ergebnis, »bald« sei gewiß nicht »gleich«. Aber er wurde sich nicht einig darüber, in welcher Zeit dieses »bald« aufhöre, »bald« zu sein, und anfange, »lange« zu werden. Plötzlich fragte er: »Wer hat diese Straße gemacht?«

»Wir«, gab die Mutter zurück.

Bambi tat erstaunt: »Wir? Du und ich?«

Die Mutter sagte: »Nun, wir ... wir Rehe.«

Bambi fragte: »Welche?«

»Wir alle«, fertigte ihn die Mutter ab.

Sie gingen weiter. Bambi war vergnügt und hatte Lust, vom Wege abzuspringen, aber er hielt sich brav bei der Mutter. Vor ihnen raschelte es dicht am Boden. In heftiger Bewegung fuhr etwas daher, das die Farnwedel und Lattichblatter verdeckten. Ein fadendünnes Stimmchen pfiff erbärmlich auf, dann war es still. Nur die Blätter und Grashalme bebten an der Stelle noch ruckweise nach. Ein Iltis hatte eine Maus gejagt. Nun kam er vorbeigehuscht, duckte sich seitwärts und machte sich an seine Mahlzeit.

»Was war das?« fragte Bambi erregt.

»Nichts«, beschwichtigte die Mutter.

»Aber ...« Bambi zitterte, »aber ... ich hab's doch gesehen.«

»Nun ja«, sagte die Mutter, »erschrick nicht. Der Iltis hat die Maus getötet.«

Aber Bambi war furchtbar erschrocken. Ein unbekanntes, großes Entsetzen umklammerte sein Herz. Es dauerte lange, bis er wieder sprechen konnte. Dann fragte er: »Warum hat er die Maus getötet?«

»Weil ...« Die Mutter zögerte. » ... gehen wir schneller«, sagte sie dann, als sei ihr etwas eingefallen, und als habe sie die Frage vergessen. Sie begann zu trollen. Bambi hüpfte hinter ihr drein.

Eine lange Pause verstrich; sie schritten wieder ruhig dahin. Endlich fragte Bambi beklommen: »Werden wir auch einmal eine Maus töten?«

»Nein«, erwiderte die Mutter.

»Nie?« fragte Bambi.

»Niemals«, war die Antwort.

»Warum nicht?« fragte Bambi erleichtert.

»Weil wir niemanden töten«,sagte die Mutter einfach.

Bambi wurde wieder heiter.

Von einer jungen Esche, die nahe an ihrem Wege stand, drang ein lautes Kreischen nieder. Die Mutter ging weiter, ohne darauf zu achten. Bambi aber blieb neugierig stehen. Zwei Häher zankten sich da oben in den Zweigen um ein Nest, das sie geplündert hatten.

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen, Sie Halunke!« rief der eine.

»Regen Sie sich doch nicht auf, Sie Narr«, antwortete der andere, »ich habe keine Angst vor Ihnen.«

Der erste tobte: »Suchen Sie sich Ihre Nester selber, Sie Dieb! Ich schlage Ihnen den Schädel ein.« Er war außer sich. »So eine Gemeinheit!« keifte er, »so eine Gemeinheit!«

Der andere hatte Bambi bemerkt, flatterte ein paar Zweige herunter und schnarrte ihn an: »Was hast du hier zu gaffen, du Fratz! Pack dich!«

Eingeschüchtert sprang Bambi davon, erreichte dann seine Mutter, ging wieder hinter ihr drein, sittsam und verschreckt, und glaubte, daß sie sein Zurückbleiben gar nicht bemerkt habe.

Nach einer Weile fragte er: »Mutter ... was ist das, eine Gemeinheit?«

Die Mutter sagte: »Ich weiß es nicht.«

Bambi überlegte. Dann fing er wieder an: »Mutter, warum sind die beiden so böse zueinander gewesen?«

Die Mutter antwortete: »Sie haben sich wegen des Essens gezankt.«

Bambi fragte: »Werden wir uns auch einmal wegen des Essens zanken?«

»Nein«, sagte die Mutter.

Bambi fragte: »Warum nicht?«

Die Mutter entgegnete: »Es ist genug da für uns alle.«

Bambi wollte noch etwas wissen: »Mutter ...?«

»Was denn?«

»Werden wir auch einmal böse zueinander sein?«

»Nein, mein Kind«, sagte die Mutter, »bei uns gibt es das nicht.«

Sie gingen weiter. Mit einem Male wurde es ganz hell vor ihnen, strahlend hell. Das grüne Gewirr von Büschen und Sträuchern war zu Ende, die Straße war zu Ende. Nur ein paar Schritte noch, und sie kamen hinaus in die lichte Freiheit, die sich vor ihnen öffnete. Bambi wollte vorwärtsspringen, doch die Mutter blieb stehen.

»Was ist das?« rief er ungeduldig und schon ganz bezaubert.

»Die Wiese«, antwortete die Mutter.

»Was ist das, die Wiese?« drängte Bambi.

Die Mutter schnitt ihm das Wort ab. »Das wirst du schon selber sehen.« Sie war ernst geworden und aufmerksam. Regungslos stand sie, hielt das Haupt hoch, lauschte angespannt, prüfte mit tiefen Atemzügen den Wind und sah ganz streng aus.

»Es ist gut«, sagte sie endlich, »wir können hinaus.« Bambi sprang los, aber sie sperrte ihm den Weg. »Du wartest, bis ich dich rufe.« Im Augenblick stand Bambi gehorsam still. »So ist es recht«, lobte die Mutter. »Und nun merke genau, was ich dir sage.« Bambi hörte, wie erregt die Mutter sprach, und geriet in große Spannung. »Es ist nicht so einfach, auf die Wiese zu gehen«, fuhr die Mutter fort, »es ist eine schwere und gefährliche Sache. Frag' nicht, warum. Du wirst das schon später noch lernen. Für jetzt befolge genau, was ich dir sage. Willst du?«

»Ja«, versprach Bambi.

»Nun gut. Ich gehe also vorerst allein hinaus. Bleibe hier stehen und warte. Und schau' immer auf mich. Behalte mich unaufhörlich im Auge. Wenn du siehst, daß ich wieder zurücklaufe, hier herein, dann machst du kehrt und rennst davon, so schnell du kannst. Ich hole dich schon ein.« Sie schwieg, schien zu überlegen und fuhr dann eindringlich fort: »Jedenfalls laufe, laufe, was du kannst. Laufe ... auch wenn etwas geschehen sollte ... auch wenn du siehst, daß ich ... daß ich zu Boden stürze ... achte nicht auf mich, verstehst du? ... Was immer du siehst oder hörst ... nur fort, augenblicklich und so schnell wie möglich ...! Versprichst du mir das?«

»Ja«, sagte Bambi leise.

»Wenn ich dich aber rufe«, sprach die Mutter weiter, »kannst du kommen. Draußen auf der Wiese darfst du spielen. Es ist schön draußen, und es wird dir gefallen. Nur ... du mußt mir auch das versprechen ... beim ersten Ruf von mir mußt du an meiner Seite sein. Unbedingt! Hörst du?«

»Ja«, sagte Bambi noch leiser. Die Mutter sprach so ernst.

Sie redete weiter: »Da draußen ... wenn ich rufe ... da darf es kein Umhergaffen geben und kein Fragen, sondern wie der Wind hinter mir drein! Merk' dir das. Ohne Besinnen, ohne Zögern ... sofort, wenn ich zu laufen anfange, heißt es auf und davon und nicht stillstehen, bis wir wieder hier drinnen sind. Wirst du das nicht vergessen?«

»Nein«, sagte Bambi beklommen.

»So will ich jetzt gehen«, meinte die Mutter und schien nun etwas ruhiger.

Sie trat hinaus. Bambi, der kein Auge von ihr ließ, sah, wie sie mit langsam hohen Schritten vorwärts ging. Voll Erwartung, voll Furcht und Neugier stand er da. Er sah, wie die Mutter nach allen Seiten lauschte, er sah sie zusammenfahren und fuhr selbst zusammen, bereit, ins Dickicht zurück zu springen. Da wurde die Mutter wieder ruhig, und als eine Minute verging, wurde sie fröhlich. Sie duckte den Hals, streckte ihn lange vor, schaute vergnügt herüber und rief: »Komm!«

Bambi sprang hinaus. Eine ungeheure Freude ergriff ihn so zauberhaft stark, daß er sein Bangen im Nu vergaß. Er hatte im Dickicht nur die grünen Baumwipfel über sich gesehen, und darüber nur manchmal, nur in kleinen Durchblicken, verstreute blaue Sprenkel. Jetzt sah er das ganze Himmelsblau hoch und weit, und das beglückte ihn, ohne daß er wußte, weshalb. Von der Sonne hatte er im Walde nur einzelne, breite Strahlen gekannt oder das zarte Gerinnsel von Licht, das golden durch die Zweige spielt. Jetzt stand er plötzlich in der heißen blendenden Macht, deren unbedingtes Herrschen auf ihn eindrang, stand mitten in dem Glutsegen, der ihm die Augen schloß und das Herz öffnete. Bambi war berauscht; er war vollständig außer sich, er war einfach toll. Unbeholfen sprang er in die Höhe, dreimal, viermal, fünfmal auf dem Fleck, auf dem er stand. Er konnte nicht anders; er mußte. Es riß ihn, in die Höhe zu springen. Seine jungen Glieder spannten sich so kräftig, sein Atem ging so tief und leicht, und er trank mit dem Atem, trank mit allem Duft der Wiese so viel übermütige Heiterkeit, daß er eben springen mußte. Bambi war ein Kind. Wäre er ein Menschenkind gewesen, so hätte er gejauchzt. Aber er war ein junges Reh, und Rehe können nicht jauchzen, wenigstens nicht auf jene Art, in der die Menschenkinder es tun. Er jauchzte also auf seine Weise. Mit den Beinen, mit dem ganzen Körper, der sich in die Luft schleuderte. Seine Mutter stand dabei und freute sich. Sie sah, daß Bambi toll war. Sie sah, daß er sich in die Höhe warf, unbeholfen wieder auf demselben Fleck niederfiel, verdutzt und berauscht vor sich hin starrte und sich im nächsten Augenblick wieder in die Höhe warf, wieder und wieder. Sie begriff, daß Bambi nur die schmalen Rehstraßen des Waldes kannte, in den kurzen Tagen seines Daseins nur an die Beengtheit des Dickichts gewöhnt war, und daß er sich deshalb nicht vom Fleck rührte, weil er es noch nicht verstand, auf der offenen Wiese frei umher zu laufen. Sie duckte sich in die ausgestreckten Vorderläufe, lachte Bambi eine Sekunde an, war mit einem Schneller weg und sauste im Kreise umher, daß die hohen Grashalme nur so rauschten. Bambi erschrak und blieb regungslos. War das nun ein Zeichen, daß er zurück ins Dickicht sollte? Kümmere dich nicht um mich, hatte die Mutter gesagt, was du auch siehst und hörst; nur fort, so schnell wie möglich! Er wollte kehrtmachen und flüchten, wie es befohlen war. Da kam die Mutter plötzlich angaloppiert; in einem wunderbaren Rauschen fuhr sie daher, ruckte zwei Schritte vor ihm zusammen, duckte sich wie das erstemal, lachte ihn an und rief: »Fang mich doch!« Und im Hui stob sie davon. Bambi war verblüfft. Was sollte das heißen? Was war denn auf einmal mit der Mutter? Aber da kam sie schon wieder, so rasend schnell, daß man schwindlig werden konnte, stieß ihn mit der Nase in die Flanke, sagte eilig: »Fang mich doch!« und fegte davon. Bambi stürzte ihr nach. Ein paar Schritte. Aber gleich wurden die Schritte zu leichten Sprüngen. Es trug ihn, er glaubte zu fliegen; es trug ihn von selbst. Raum war da unter seinen Schritten, Raum unter seinen Sprüngen, Raum, Raum. Bambi geriet außer sich. Das Gras rauschte ihm herrlich in die Ohren. Es war köstlich weich, seidig zart, wie es an ihm vorbeistrich. Er jagte im Bogen, warf sich herum und pfeilte in einem neuen Kreis, warf sich wieder herum und flitzte weiter. Die Mutter stand schon eine Weile still, holte Atem und wendete sich nur immer nach der Seite, wo Bambi vorüberflog. Bambi raste.

Plötzlich ging's nicht mehr. Er hielt inne, kam mit zierlich gehobenen Läufen zur Mutter und sah sie glückselig an. Dann spazierten sie wohlgelaunt nebeneinander. Seit er hier draußen war, hatte Bambi den Himmel, die Sonne und die grüne Weite nur mit dem Körper gesehen, nur mit einem geblendeten, trunkenen Blick den Himmel; mit dem wohlig durchwärmten Rücken und den stärkenden Atemzügen die Sonne. Nun erst genoß er mit Augen, die Schritt vor Schritt von neuen Wundern überrumpelt wurden, die Pracht der Wiese. Da war kein Fleckchen Boden sichtbar wie drinnen im Walde. Da drängte sich Halm bei Halm um jedes Pünktchen Platz, schmiegte sich und schwoll in üppiger Pracht, bog sich unter jedem Tritt sanft zur Seite und richtete sich gleich wieder versöhnt empor. Der weite grüne Plan war besternt mit weißen Margeriten, mit den violetten und rot angelaufenen dicken Köpfen des blühenden Klees und mit den prunkvoll leuchtenden Goldknäufen, die der Löwenzahn in die Höhe hielt.

»Sieh nur, Mutter«, rief Bambi, »da fliegt eine Blume davon.«

»Das ist keine Blume«, sagte die Mutter, »das ist ein Schmetterling.«

Bambi sah entzückt dem Falter nach, der sich unendlich zart von einem Halm gelöst hatte und in taumelndem Flug dahinschwebte. Jetzt sah Bambi, daß viele solcher Schmetterlinge in der Luft über die Wiese hinflogen, scheinbar eilig und doch langsam, auf und nieder taumelnd, ein Spiel, das ihn begeisterte. Es sah wirklich aus, als ob es wandernde Blumen wären, lustige Blumen, die auf ihrem Stengel nicht stillhalten wollten und sich aufgemacht hatten, um ein wenig zu tanzen. Oder Blumen, die mit der Sonne herniederkamen, noch keinen Platz hatten und wählerisch umhersuchten, sich herabsenkten, verschwanden, als seien sie schon irgendwo untergekommen, aber gleich wieder emporstiegen, bald nur ein wenig, bald höher, um weiter zu suchen, immer weiter, weil die besten Plätze eben schon besetzt waren.

Bambi blickte ihnen allen nach. Er hätte so gerne einen von ihnen in der Nähe gesehen, hätte so gerne einen einzelnen genauer ins Auge gefaßt, aber das gelang ihm nicht. Sie glitten unaufhörlich ineinander. Er wurde ganz wirr davon.

Wie er dann wieder vor sich zu Boden sah, ergötzte ihn all das tausendfache, behende Leben, das da unter seinen Schritten aufstob. Das sprang und sprühte nach allen Seiten, kam als ein Tumult und Gewimmel zum Vorschein und versank in der nächsten Sekunde wieder in den grünen Grund; aus dem es aufgestiegen war.

»Was ist das, Mutter?« fragte er.

»Das sind die Kleinen«, antwortete die Mutter.

»Sieh nur«, rief Bambi, »hier springt ein Stückchen Gras. Nein ... wie hoch es springt!«

»Das ist kein Gras«, erklärte die Mutter, »das ist ein gutes Heupferdchen.«

»Warum springt es so?« fragte Bambi.

»Weil wir da gehen«, antwortete die Mutter, » ... es fürchtet sich.«

»Oh!« Bambi wandte sich zu dem Heupferdchen, das mitten auf dem weißen Teller einer Margerite saß.

»Oh«, sagte Bambi höflich, »Sie brauchen sich nicht zu fürchten, wir tun Ihnen gewiß nichts.«

»Ich fürchte mich nicht«, erwiderte das Heupferdchen mit einer rasselnden Stimme. »Ich bin nur im ersten Augenblick erschrocken, denn ich sprach gerade mit meiner Frau.«

»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte Bambi bescheiden. »Wir haben Sie gestört.«

»Das macht nichts«, rasselte das Heupferdchen. »Weil Sie es sind, macht es nichts. Aber man weiß ja nie, wer es ist, der kommt, und man muß sich in acht nehmen.«

»Ich bin nämlich heute zum erstenmal in meinem Leben auf der Wiese«, erzählte Bambi. »Die Mutter hat mir ...«

Das Heupferdchen stand mit bockig vorgeducktem Kopf da, machte ein ernstes Gesicht und murrte: »Das interessiert mich nicht. Ich habe gar keine Zeit, mit Ihnen zu schwatzen, ich muß jetzt meine Frau suchen. Hopp!« Und weg war es.

»Hopp«, sagte Bambi verdutzt und bestaunte den hohen Sprung, mit dem es verschwand.

Bambi lief zur Mutter: »Du ... ich habe mit ihm gesprochen!«

»Mit wem?« fragte die Mutter.

»Nun, mit dem Heupferdchen«, erzählte Bambi, »ich habe mit ihm gesprochen. Es war so freundlich mit mir. Und es gefällt mir so gut. Es ist so wunderbar grün, und am Ende ist es so durchsichtig, wie kein Blatt es sein kann, auch das feinste nicht.«

»Das sind die Flügel.«

»So?« Bambi sprach weiter. »Und es hat solch ein ernstes Gesicht, voll Nachdenklichkeit. Aber trotzdem ist es freundlich zu mir gewesen. Und wie es springen kann! Das muß fabelhaft schwer sein. Hopp! sagt es und springt so hoch, daß du es nicht mehr sehen kannst.«

Sie gingen weiter. Die Unterredung mit dem Heupferdchen hatte Bambi erregt und ein wenig ermüdet, denn es war doch das erstemal, daß er mit jemandem Fremden sprach. Er fühlte Hunger und drängte sich an seine Mutter, um sich zu erfrischen. Als er dann wieder ruhig dastand und eine kurze Weile vor sich hin träumte, in der kleinen, süßen Trunkenheit, die ihn jedesmal umfing, nachdem er sich von seiner Mutter gesättigt hatte, gewahrte er in dem Gewirr der Grashalme eine helle Blume, die sich bewegte. Bambi sah schärfer hin. Nein, das war keine Blume, das war ja ein Schmetterling. Bambi schlich näher.

Der Schmetterling hing träge an einem Halme und bewegte leise seine Flügel.

»Bitte, bleiben Sie sitzen!« rief ihn Bambi an.

»Warum soll ich denn sitzen bleiben? Ich bin doch ein Schmetterling«, antwortete der Falter erstaunt.

»Ach, bleiben Sie nur ein ganz kleines bißchen sitzen!«, bat Bambi, »ich habe mir schon lange gewünscht, Sie in der Nähe zu sehen. Seien Sie doch so gut.«

»Meinetwegen«, sagte der Weißling, »aber nicht lange.«

Bambi stand vor ihm. »Wie schön Sie sind«, rief er entzückt, »wie wunderschön! Wie eine Blume!«

»Was?« Der Schmetterling klappte mit den Flügeln. »Wie eine Blume? Nun, in meinen Kreisen herrscht allgemein die Ansicht, daß wir schöner sind als die Blumen.«

Bambi war verwirrt. »Gewiß«, stotterte er, »viel schöner ... verzeihen Sie ... ich wollte nur sagen ...«

»Es ist mir ziemlich gleichgültig, was Sie sagen wollten«, entgegnete der Schmetterling. Er bog affektiert seinen schmalen Leib und spielte eitel mit den zarten Fühlern.

Bambi betrachtete ihn hingerissen. »Wie zierlich Sie sind«, sagte er, »wie fein und zierlich! Und was für eine Pracht, diese weißen Schwingen!«

Der Schmetterling legte die Flügel breit auseinander, dann stellte er sie hoch, daß sie ganz beisammen waren und einem steilen Segel glichen.

»Oh«, rief Bambi, »ich verstehe jetzt, daß Sie schöner sind als die Blumen. Außerdem können Sie ja fliegen, und das können die Blumen nicht. Weil sie festgewachsen sind; daran liegt es.«

Der Schmetterling erhob sich. »Genug«, sagte er. »Ich kann fliegen!« So leicht erhob er sich, daß es gar nicht zu merken und nicht zu begreifen war. Seine weißen Flügel bewegten sich sanft, voll Anmut, da schwebte er schon in der sonnigen Luft. »Nur Ihnen zuliebe bin ich so lange sitzen geblieben«, sagte er und gaukelte vor Bambi auf und nieder, »aber jetzt fliege ich fort.«

Das war die Wiese.


*


Tief im Dickicht gab es ein Plätzchen, das Bambis Mutter gehörte. Es lag nur ein paar Schritte abseits von der schmalen Straße der Rehe, die hier den Wald durchlief, aber es war kaum zu finden, wenn man den kleinen Einschlupf im dichten Buschwerk nicht kannte.

Eine ganze enge Kammer war es, so eng, daß nur die Mutter und Bambi darin ein wenig Raum hatten, und so niedrig, daß Bambis Mutter, wenn sie stand, das Haupt schon mitten in den Zweigen barg. Haselstrauch, Stechginster und Hartriegel wuchsen hier ineinander und fingen das wenige Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel kam, so daß es niemals bis zum Boden dringen konnte. Hier in dieser Kammer war Bambi zur Welt gekommen und hier war seine und seiner Mutter Wohnung.

Die Mutter lag jetzt an die Erde gedrückt und schlief. Auch Bambi hatte ein wenig geschlummert. Nun war er plötzlich ganz munter geworden. Er stand auf und blickte umher.

Hier innen dämmerten die Schatten, daß es beinahe dunkelte. Man hörte den Wald leise rauschen. Hin und wieder zirpten die Meisen, hier und da klang das helle Auflachen eines Spechtes oder der freudlose Ruf einer Krähe. Sonst war alles still, weit und breit. Nur die Luft kochte in der Hitze des Mittags, und das konnte man vernehmen, wenn man aufmerksam lauschte.

Hier innen war es dunstig zum Verschmachten.

Bambi sah zur Mutter nieder: »Schläfst du?«

Nein, die Mutter schlief nicht. Sie war sofort erwacht, als Bambi sich erhoben hatte.

»Was tun wir jetzt?« fragte Bambi.

»Nichts«, antwortete die Mutter, »wir bleiben, wo wir sind. Leg' dich schön hin und schlafe.«

Aber Bambi hatte keine Lust zu schlafen. »Komm«, bat er, »komm auf die Wiese.«

Die Mutter hob das Haupt: »Auf die Wiese? Jetzt ... auf die Wiese ...?« Sie sprach so erstaunt und so voll Schrecken, daß Bambi ganz ängstlich wurde.

»Kann man denn jetzt nicht auf die Wiese?« fragte er schüchtern.

»Nein«, gab die Mutter zur Antwort, und es klang sehr entschieden. »Nein, das ist jetzt nicht möglich.«

»Warum?« Bambi merkte, daß hier etwas Unheimliches im Spiele sei. Er wurde noch ängstlicher, zugleich aber reizte es ihn, alles zu erfahren. »Warum kann man jetzt nicht auf die Wiese?«

»Du wirst das später alles kennenlernen, wenn du etwas älter bist ...«, beschwichtigte die Mutter.

Bambi drängte: »Sag' mir's doch lieber jetzt.«

»Später«, wiederholte die Mutter. »Jetzt bist du noch ein kleines Kind«, fuhr sie zärtlich fort, »und mit Kindern redet man nicht von solchen Dingen.« Sie war ganz ernst geworden. »Jetzt ... auf die Wiese ... ich mag nicht einmal daran denken. Am hellichten Tag ...!«

»Aber«, wendete Bambi ein, »als wir auf die Wiese gingen, war es ja auch heller Tag.«

»Das ist etwas anderes«, erklärte die Mutter, »es war am frühen Morgen.«

»Darf man nur am frühen Morgen hin?« Bambi war zu neugierig.

Die Mutter hatte Geduld. »Nur am frühen Morgen oder am späten Abend ... oder des Nachts ...«

»Und nie bei Tag? Niemals ...?«

Die Mutter zögerte. »Doch«, sagte sie endlich, »manche mal ... einige von uns gehen manchmal auch bei Tag hinaus. Aber das sind besondere Umstände ... ich kann dir das nicht so erklären ... du bist noch zu klein ... manche gehen ... aber sie sind dabei in der größten Gefahr ...«

»Wieso sind sie in Gefahr?« Bambi war nun ganz voll Spannung.

Die Mutter jedoch wollte nicht recht mit der Sprache heraus. »Sie sind eben in Gefahr ... du hörst ja, mein Kind, daß du diese Dinge jetzt noch nicht begreifen kannst ...«

Bambi dachte, daß er alles begreifen könne, nur nicht, warum ihm die Mutter keine genaue Auskunft geben wollte. Aber er schwieg.

»Wir müssen so leben«, sprach die Mutter weiter, »wir alle. Wenn wir auch den Tag lieben ... und wir lieben den Tag, besonders in unserer Kindheit ... wir müssen doch so leben, daß wir uns bei Tag stillhalten. Erst vom Abend bis zum Morgen dürfen wir umhergehen. Verstehst du das?«

»Ja.«

»Nun, mein Kind, deshalb müssen wir jetzt hier bleiben, wo wir sind. Hier sind wir sicher. So! Und nun leg' dich wieder hin und schlafe.«

Doch Bambi wollte sich jetzt nicht hinlegen. »Warum sind wir hier sicher?« fragte er.

»Weil alle Sträucher uns bewachen, weil die Zweige an den Büschen knistern, weil das dürre Reisig am Boden knackt und uns warnt, weil das welke Laub vom vorigen Jahre auf der Erde liegt und raschelt, um uns ein Zeichen zu geben ... weil der Häher da ist und die Elster ebenso, die Wache halten, und weil wir dadurch schon von weitem wissen, wenn jemand kommt ...«

»Was ist das«, erkundigte sich Bambi, »das Laub vom vorigen Jahre?«

»Komm, setze dich zu mir«, sagte die Mutter, »ich will es dir erzählen.« Da setzte sich Bambi willig hin, schmiegte sich dicht an die Mutter, und sie erzählte ihm, daß die Bäume nicht immer grün bleiben, daß die Sonne und die schöne Wärme verschwinden. Dann wird es kalt, die Blätter werden gelb vor Frost, braun und rot, und sie fallen langsam ab, so daß die Bäume wie die Sträucher die kahlen Äste zum Himmel strecken und vollständig verarmt aussehen. Die welken Blätter aber liegen am Boden, und wenn ein Fuß sie berührt, so rascheln sie: Es kommt jemand! Oh, sie sind gut, diese dürren Blätter vom vorigen Jahre. Sie leisten treffliche Dienste, so eifrig und so wachsam wie sie sind. Jetzt noch, mitten im Sommer, halten sich viele von ihnen unter dem jungen Bodenwuchs versteckt und warnen schon von weitem vor jeder Gefahr.

Bambi drückte sich eng an die Mutter. Er vergaß die Wiese. Es war so behaglich, hier zu sitzen und zuzuhören, wenn die Mutter erzählte.

Als dann die Mutter schwieg, dachte er nach. Er fand es zu lieb von den guten, alten Blättern, daß sie so fleißig aufpaßten, obwohl sie doch welk und erfroren waren und schon so viel durchgemacht hatten. Er überlegte, was das wohl eigentlich sein könnte, die Gefahr, von der die Mutter immer redete. Aber das viele Nachdenken strengte ihn an; es war still ringsumher, man hörte nur, wie die Luft kochte vor Hitze. Und er schlief ein.


*


Als er eines Abends mit seiner Mutter wieder hinaus auf die Wiese trat, glaubte er, daß er nun alles kenne, was es da zu sehen und zu hören gab. Allein es zeigte sich, daß er im Leben doch nicht so gut Bescheid wußte, wie er gemeint hatte.

Zunächst war es ja wie beim erstenmal. Bambi durfte mit der Mutter Fangen spielen. Er fuhr im Kreise umher, und der weite Raum, der hohe Himmel, die freie Luft erfüllten ihn wieder mit einem Rausch, daß er ganz rasend wurde. Nach einer Weile merkte er, daß die Mutter stillstand. Er hielt mitten in einem Bogen inne, so plötzlich, daß seine vier Beine weit auseinander grätschten. Um sich einen anständigeren Halt zu geben, tat er einen hohen Luftsprung, und nun stand er richtig. Die Mutter drüben schien mit jemandem zu sprechen, aber es ließ sich im hohen Grase nicht ausnehmen, wer das sei. Neugierig trollte Bambi näher. Da bewegten sich im Gewirr der Halme dicht vor der Mutter zwei lange Ohren. Graubraun waren sie und mit schwarzen Streifen hübsch gezeichnet. Bambi stutzte, aber die Mutter sagte: »Komm nur her, das ist unser Freund Hase ... komm nur ruhig her und laß dich anschauen.«

Bambi ging sogleich ganz heran. Da saß nun der Hase und war sehr honett anzuschauen. Seine langen Löffelohren stiegen mächtig hoch empor und fielen dann wieder ganz schlapp herunter, wie von einer plötzlichen Schwäche angewandelt. Bambi wurde ein bißchen bedenklich, als er den Schnauzbart erblickte, der dem Hasen so stramm und gerade nach allen Seiten den Mund umstarrte. Aber er bemerkte, daß der Hase ein sehr sanftes Gesicht hatte, überaus gutmütige Züge, und daß er aus seinen großen, runden Augen bescheidene Blicke auf die Welt richtete. Er sah wirklich aus wie ein Freund, der Hase. Bambis flüchtige Bedenken verschwanden sofort. Merkwürdigerweise verlor sich sogar der Respekt, den er anfänglich empfunden hatte, alsbald vollständig.

»Guten Abend, junger Herr«, grüßte der Hase mit ausgesuchter Höflichkeit.

Bambi nickte nur »guten Abend«. Er wußte nicht, warum, aber er nickte nur. Sehr freundlich, sehr artig, doch ein wenig herablassend. Er konnte nicht anders. Vielleicht war es ihm angeboren.

»Was für ein hübscher junger Prinz!« sagte der Hase zur Mutter. Er betrachtete Bambi aufmerksam, stellte dabei bald das eine Löffelohr hoch, bald das andere, bald wieder alle beide, und manchmal ließ er sie schnell und schlapp herunterfallen, was aber Bambi nicht gefiel. Diese Gebärde schien zu sagen: es lohnt nicht.

Indessen fuhr der Hase fort, Bambi mit großen, runden Augen sanft zu betrachten. Seine Nase und sein Mund mit dem prächtigen Schnauzbart bewegten sich dabei unaufhörlich, wie jemand mit Nase und Lippen zuckt, der gegen das Niesen kämpfen will. Bambi mußte lachen. Sogleich lachte auch der Hase bereitwillig, nur seine Augen wurden nachdenklicher. »Ich beglückwünsche Sie«, sagte er zur Mutter, »aufrichtig beglückwünsche ich Sie zu diesem Sohn. Ja, ja, ja ... das wird einmal ein prächtiger Prinz ... ja, ja, ja, so was sieht man gleich.«

Er richtete sich in die Höhe und saß nun in den Hinterbeinen aufrecht da, worüber Bambi maßlos erstaunte. Nachdem er mit steilen Ohren und großartig bewegter Nase überall umhergespäht hatte, saß er wieder manierlich auf allen vieren. »Ja, nun empfehle ich mich den verehrten Herrschaften«, sagte er, »ich habe noch allerlei zu tun heute abend ... untertänig empfehle ich mich.« Er machte kehrt und hoppelte davon, mit angedrückten Ohren, die ihm bis zur Schulter reichten.

»Guten Abend«, rief ihm Bambi nach.

Die Mutter lächelte: »Der gute Hase ... so schlicht und so bescheiden. Er hat es auch nicht leicht auf der Welt.« Es war Sympathie in ihren Worten.

Bambi spazierte ein wenig umher und überließ seine Mutter ihrer Mahlzeit. Er hoffte seinen Bekannten vom erstenmal wieder zu begegnen und war auch gerne bereit, neue Bekanntschaften zu machen. Denn ohne daß es ihm recht deutlich wurde, was ihm eigentlich fehle, war doch beständig ein Erwarten in ihm. Plötzlich hörte er von ferne ein feines Rauschen auf der Wiese, spürte ein leises rasches Klopfen, das den Boden berührte. Er sah auf. Dort drüben, am anderen Saume des Waldes, huschte etwas durchs Gras. Ein Wesen ... nein ... zwei! Bambi warf einen schnellen Blick auf seine Mutter, doch die kümmerte sich um nichts, sondern hatte den Kopf tief im Grase stecken. Dort drüben jedoch ging's in jagenden Kreisen rundum, genau so, wie er selbst vorhin im Kreise umhergetobt hatte. Bambi war so verblüfft, daß er einen Satz nach rückwärts machte, als wollte er entfliehen. Dadurch wurde die Mutter aufmerksam und hob das Haupt.

»Was ist dir denn?« rief sie.

Aber Bambi war sprachlos, er fand keine Worte und stammelte nur: »Dort ... dort ...«

Die Mutter schaute hinüber. »Ach so«, sagte sie, »das ist meine Base, und, richtig, auch sie hat jetzt ein Kindchen ... nein, sie hat zwei.« Die Mutter hatte voll Heiterkeit gesprochen, nun wurde sie ernst: »Nein ... daß Ena zwei Kinder hat ... wirklich zwei ...«

Bambi stand und gaffte. Dort drüben sah er jetzt eine Gestalt, die genau seiner Mutter glich. Er hatte sie früher gar nicht bemerkt. Er sah, wie es dort drüben weiter in Doppelkreisen durchs Gras dahinfuhr, aber nur die roten Rücken waren sichtbar, dünne rote Streifen.

»Komm«, sagte die Mutter, »wir wollen hingehen, da ist einmal Gesellschaft für dich.«

Bambi wollte laufen, weil aber die Mutter ganz langsam ging und bei jedem Schritt nach allen Seiten umherspähte, hielt auch er sich zurück. Doch er war in der heftigsten Aufregung und sehr ungeduldig.

Die Mutter redete weiter. »Ich habe mir schon gedacht, daß wir Ena doch einmal treffen müßten. Wo steckt sie nur? habe ich mir gedacht. Ich wußte doch, daß sie auch ein Kind hat. Nun, das war leicht zu erraten. Aber daß es zwei Kinder sind ...«

Sie waren längst bemerkt worden, und die anderen kamen ihnen entgegen. Bambi mußte die Tante begrüßen, aber er hatte nur Augen für ihre Kinder.

Die Tante war sehr freundlich. »Ja«, sprach sie zu ihm, »das ist nun Gobo, und das ist Faline. Ihr könnt immer miteinander spielen.«

Die Kinder standen steif und still und starrten sich an. Gobo eng bei Faline, Bambi ihnen gegenüber.

Keines rührte sich. Sie standen und gafften.

»Laß nur«, sagte die Mutter, »sie werden sich schon befreunden.«

»Was für ein hübsches Kind«, erwiderte Tante Ena, »wahrhaftig, ganz besonders hübsch. So kräftig und so gut in der Haltung ...«

»Nun, es geht«, meinte die Mutter bescheiden. »Man muß zufrieden sein. Aber daß du zwei Kinder hast, Ena ...«

»Ja, das ist mal so, mal so«, erklärte Ena. »Du weißt ja, meine Liebe, ich habe schon öfters Kinder gehabt ...«

Die Mutter sagte: »Bambi ist mein erstes ...«

»Siehst du«, tröstete Ena, »vielleicht kommt es nächstens auch bei dir einmal anders ...«

Die Kinder standen noch immer und betrachteten einander. Keines sagte ein Wort. Plötzlich machte Faline einen Sprung und fegte davon. Die Sache war ihr zu langweilig geworden.

Augenblicklich stürzte sich Bambi hinter ihr her. Gobo folgte sogleich. Sie flogen in halben Kreisen, sie machten blitzschnell kehrt, purzelten übereinander, jagten kreuz und quer. Es ging prächtig. Als sie dann unvermittelt und ein wenig atemlos stehen blieben, waren sie schon ganz vertraut miteinander. Sie begannen zu schwatzen.

Bambi erzählte, daß er mit dem guten Heupferdchen und mit dem Weißling gesprochen habe.

»Hast du auch mit dem Goldkäfer geredet?« fragte Faline.

Nein, mit dem Goldkäfer hatte Bambi nicht gesprochen. Er kannte ihn gar nicht, wußte nicht, wer das sei.

»Ich rede oft mit ihm«, erklärte Faline ein wenig patzig.