»Du mußt schon aufpassen, Marga, wenn ich dir Arbeiten zur Erledigung gebe, sonst kann ich dich nicht brauchen!«
Das junge Mädchen mit den großen, braunen Augen schaute vom Schreibtisch auf, runzelte unmutig die hohe Stirn und warf den Kopf in den Nacken, daß die blonden Haare wild um das Gesicht flogen.
»Aufgepaßt habe ich schon. Wenn aber die Frachtbriefe nicht an der richtigen Stelle liegen? Du hast doch gesagt, die Eilfrachtbriefe lägen ein Fach tiefer.«
»Und du, mein liebes Kind, hast zwei große, gesunde Augen, du mußt sehen, was ein Frachtbrief und was ein Eilfrachtbrief ist.«
»Ach, Papa, das ist doch keine Wichtigkeit! Wenn ich eben einen Eilfrachtbrief statt eines gewöhnlichen Frachtbriefes ausschrieb, weiß ich mir zu helfen. Mich bringt man so leicht nicht in Verlegenheit. Das müßtest du längst wissen.«
Marga Worr, die Tochter des Spediteurs Worr, griff nach der Schere und begann, den roten Rand des Frachtbriefes abzuschneiden.
»Was machst du da?« fragte der Vater unwillig.
»Das einzig Zweckmäßige: Ich verwandle einen Eilfrachtbrief in einen gewöhnlichen Frachtbrief.«
Unwillig nahm Spediteur Worr seiner Tochter das Papier aus der Hand. »Wenn du weiter so unzuverlässig arbeitest, mein Kind, kann ich deine Hilfe nicht brauchen. Da ist ja Edith vernünftiger und umsichtiger.«
Wieder flogen die Haare um das Gesicht, denn derartige Äußerungen konnte Marga nicht vertragen. Ihre jüngere Schwester Edith, die gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, sollte umsichtiger sein? – Freilich, Marga nannte die Schwester niemals anders als »Tranlampe«, weil Edith nicht das ungestüme Temperament ihrer um zwei Jahre älteren Schwester Marga besaß.
»Du wirst an deinem besten Arbeiter stets etwas zu tadeln finden, Papa. Dabei hast du meine Fähigkeiten noch nicht erprobt. Wozu bin ich ein halbes Jahr lang in München gewesen? Wozu habe ich dort alles gelernt, was ein junges Mädchen für sein Fortkommen braucht?«
»Fängst du schon wieder mit deinen törichten Reden an, mein Kind? Es war natürlich gut, daß du bei Tante Natalie in München ein wenig Stenographie und Schreibmaschine gelernt hast, aber damit brauchst du nicht zu glauben …«
»Ihr gebt mir leider keine Gelegenheit, zu beweisen, daß ich nach dieser Richtung hin besonders begabt bin. Eine meiner Mitschülerinnen hat mich ein kaufmännisches Genie genannt. Das möchte ich nun endlich beweisen.«
»In meinem Unternehmen hast du dich bisher leider noch nicht als kaufmännisches Genie betätigt, Marga.«
Das junge Mädchen rümpfte verächtlich die Nase. »In deinem Unternehmen, lieber Papa! Du bist ein kleiner Spediteur in der Stadt Angeln, die fünftausend Einwohner zählt. Wie kann man sich hier entwickeln? Ja, wenn ich in einer Speditionsfirma in München oder Berlin tätig wäre, als die rechte Hand des Chefs …«
»Kündigte man dir nach acht Tagen, weil du alles verkehrt machst. Doch nun beeile dich und schreibe die Frachtbriefe aus. Die Kutscher warten darauf.«
Unwirsch zog Marga aus dem Fach einen Packen Frachtbriefe, warf sie auf die Schreibtischplatte und murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Der Vater achtete nicht darauf, er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er kannte seine Tochter! Marga war sonst ein herzensgutes Mädchen, die keinem Tiere ein Haar krümmte, sie war auch stets bereit zuzupacken, nur bildete sie sich auf ihren sechsmonatigen Besuch bei Tante Etsche in München zuviel ein und glaubte, daß sie, weil sie die Großstadt kennengelernt hatte, in ihrem Wissen überragend geworden sei. Immer wieder kamen ihre Prahlereien zum Vorschein, es schien ihr besondere Freude zu machen, den drei jüngeren Geschwistern ihre geistige Überlegenheit zu zeigen. Marga wollte nach ihrer Rückkehr ins Elternhaus im väterlichen Kontor helfen und der Spediteur hatte seiner Tochter den Willen getan. Doch war es selbstverständlich, daß sie, der alles völlig fremd war, erst Anweisungen brauchte. Leider sah das junge Mädchen geradezu eine Kränkung darin, wenn der Vater Unterweisungen gab. So wurde auch hier Fehler über Fehler gemacht, und wenn der nachsichtige Vater sie wirklich einmal tadelte, war Marga schwer beleidigt.
In bezug auf die Hilfe im Haushalt war es nicht anders. Sie hatte Tante Natalie in München hin und wieder ein wenig in der Küche geholfen und bildete sich jetzt ein, eine perfekte Köchin zu sein. Die Mutter machte jedoch keine Umstände mit ihrer Tochter. Energisch wies sie sie zurecht, so daß sie vorzog, lieber dem Vater im Kontor zu helfen, als im Haushalt der Mutter.
Die zweite Vormittagspost brachte einen Brief an Marga, den ihr der Vater reichte. Sie ließ sofort die Arbeit liegen und vertiefte sich in das Schreiben ihrer Freundin Hedwig Bahlau. Plötzlich sprang sie auf, klatschte in die Hände und drehte sich mehrmals um die eigene Achse.
»Was ist denn schon wieder los, du Sausewind?«
»Du hast vorhin die versteckte Äußerung gemacht, daß du mir kündigen willst, Papa. Ich nehme diese Kündigung an.«
Spediteur Worr schüttelte den Kopf. »Einmal habe ich das nicht getan, zum zweiten scheint dir der Brief neue Raupen in den Kopf zu setzen.«
»Keine Raupen, Papa, ich bin unbedingt notwendig! Ich muß meiner besten Freundin Hedwig unter allen Umständen aus ihrer entsetzlichen Verlegenheit helfen! Ich muß sie vier Wochen vertreten. Ich kann Hedwig unter keinen Umständen im Stiche lassen. Mache bitte kein Gesicht dazu, lieber Papa, die Sache ist für mich bereits entschieden!«
»Ich denke, da werden deine Eltern auch noch ein Wort mitzureden haben!«
»Du kannst Edith ins Kontor nehmen, mich willst du ja doch nicht haben. Dort aber«, Marga warf rasch einen Blick in den Brief, »bei dem Chemiker Dr. Erland, bin ich am rechten Platze! Dort kann ich mich weiterentwickeln! Chemiker! Papa, ich hatte eine Eins in Chemie! Weißt du, das ist gerade so, wie bei der Jungfrau von Orleans. Sie wartete auch auf ein Zeichen zur Berufung. Da kam der Mann mit dem Helm und sie rief aus: ›Mein ist der Helm und mir gehört er zu!‹ Dann eilte sie aufs Schlachtfeld. Zu mir kommt der Brief von Hedwig und ich rufe, genau wie die Jungfrau: ›Mein ist der Posten und mir gehört er zu!‹«
»Mache lieber die Frachtbriefe fertig, Marga.«
»Nein, Papa, das ist jetzt ganz unmöglich, denn in mir lodert alles vor Begeisterung.«
»Setze dich an den Schreibtisch und schreibe die Frachtbriefe aus!«
Margas Augen blitzten den Vater an. »Frachtbriefe, ich? Wo ich die rechte Hand des Chemikers Dr. Erland werden soll? Ich werde gleich mal nachsehen, ob Edith daheim ist.«
»Du bleibst hier«, sagte der Vater streng, »erst wird gearbeitet, erst wird alles beendet; dann darfst du deinen törichten Gedanken nachhängen.«
Worr achtete nicht auf das unwillige Murren, das vom Schreibtisch seiner Tochter zu ihm herüberklang. Endlich sprang Marga wieder auf und sagte zornig: »Ich bin fertig, ich gehe hinüber.«
Aber auch jetzt vertrat ihr der Vater den Weg, nahm die Frachtbriefe zur Hand, warf einen Blick hinein und sagte unwillig: »Hier fehlt der Bestimmungsort. Hingesetzt und alles nochmals genau durchgesehen!«
Da wurde Marga ganz still, wagte keine Gegenrede mehr, nahm die Gedanken zusammen und beendete die ihr gestellte Aufgabe.
»Kann ich nun hinübergehen?« fragte sie endlich kleinlaut.
»Eigentlich ist deine Arbeitszeit noch nicht beendet, mein Kind, aber du würdest doch alles verkehrt machen. Also laufe!«
Das junge Mädchen war in der nächsten Minute aus dem Kontor verschwunden. Leichtfüßig sprang sie die Treppe hinan und betrat die Küche, in der die Mutter tätig war.
Frau Worr war eine schlanke jugendliche Erscheinung mit einem guten und freundlichen Gesicht. Sie wurde von ihren drei Töchtern und ihrem elfjährigen Sohne Karl geradezu schwärmerisch geliebt. So drückte auch jetzt Marga, die in die Küche gewirbelt kam, der Mutter einen Kuß auf die Wange und begann in ihrer überstürzten Redeweise zu sprechen.
»Ihr müßt es mir erlauben! Die Stunde ist da, in der ich mich entwickle. Soll ich dir den Brief von Hedwig vorlesen, Mudding? Ich muß sie vertreten. Sie hat Urlaub bekommen, hat auch eine Vertretung gestellt, die ist aber leider in letzter Stunde krank geworden. Nun kann Hedwig nicht reisen, somit fallen ihre Pläne ins Wasser, wenn sie nicht binnen vier Tagen eine Vertretung stellt. Mudding, ich werde diese Vertretung sein!«
»Aber Marga! Wie kannst du deine Freundin Hedwig vertreten?«
»Warum nicht? Ich kann alles!«
»Nein, mein liebes Kind, das kannst du nicht! Hedwig ist drei Jahre älter als du und bereits drei Jahre lang in Stellung. Sie ist eine perfekte Stenotypistin, ist gut eingearbeitet und schrieb selbst, daß die Materie, in der sie arbeitet, eine schwierige sei. Ich glaube, sie ist bei einem Chemiker tätig.«
»Ja, Mudding, bei Dr. Erland! Hedwig ist allerdings derselben Ansicht wie du, sie meint, ich käme als Vertretung nicht in Frage, ich sei zu jung. Außerdem würde meine halbjährige Ausbildung nicht genügen. Pah, was denkt Hedwig eigentlich von mir? Ich kann stenographieren und schreibe Maschine beinahe perfekt. In Chemie hatte ich in der Schule stets Glänzendes geleistet. Laß mich an Hedwig telegraphieren, daß ich am Donnerstag in Altenberg eintreffe.«
»Nein, Marga, es ist ganz unmöglich, daß du solch eine Stellung ausfüllen kannst.«
»Mudding, unmöglich ist nichts für mich! Ich gehöre zu den wenigen, die sich in jeder Lebenslage zu helfen wissen. Nach dieser Richtung hin bin ich fabelhaft begabt!«
»Fängst du schon wieder zu prahlen an, mein Kind?«
»Mudding, laß mich einmal beweisen, daß meine Worte keine Prahlereien sind, laß mich nach Altenberg! Höre doch den Jammerbrief meiner Freundin an.« Marga griff nach dem Briefe und las der Mutter das Schreiben vor. Hedwig Bahlau teilte darin mit, daß sie in größter Aufregung wäre, weil ihre schöne Erholungsreise in Frage gestellt sei. Ihr Chef, der Chemiker Dr. Erland, habe gerade jetzt eine größere Arbeit zu schreiben, er brauche eine Stenotypistin. Die Vertretung, die zugesagt hatte, war plötzlich erkrankt. So fragte Hedwig bei der um drei Jahre jüngeren Freundin an, ob sie nicht jemanden wisse, der schon am Donnerstag in Altenberg eintreffen könne, damit Hedwig ihre Reise nicht zu verschieben brauche. Marga könne sie diesen Posten nicht zumuten, da Dr. Erland zuviel verlange. Sonst sei es ein sehr angenehmes Haus, er und seine Gattin wären reizende Menschen, nur der sechzehnjährige Benno sei ein Rüpel, mit dem man häufiger Arger habe.
»Mudding, kann man eine Freundin in der Not verlassen? Darf man einer Versinkenden die rettende Planke fortziehen? Stelle dir Hedwig vor, wie sie im Wasser liegt, kaum noch nach Luft schnappen kann und mit letzter Kraft um Hilfe ruft. Niemand kommt, ich aber stehe am Strande, höre die Notschreie und wende meiner besten Freundin den Rücken. Oder, sie schreit wie König Lear: ›Ein Pferd, ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd!‹ Mudding, laß mich dieses Pferd sein!«
»Sei nicht immer so dramatisch, mein liebes Kind«, erwiderte die Mutter und rührte ruhig die Suppe um.
Da griff Marga nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Ich kann deine Gleichgültigkeit nicht ertragen, Mudding! Du kochst eine Suppe und Hedwig versinkt in Not!«
»Und in einer Stunde sollt ihr Mittag essen.«
»Mudding, bitte, laß mich gehen! Ich eile hinauf in mein Zimmer und packe meine Sachen.«
»Nein, mein Kind, erst wollen wir die Sache einmal durchsprechen und sehen, ob wir Hedwig nicht auf andere Weise helfen können. Du hast im Kontor deines Vaters zu arbeiten begonnen.«
»Ich wurde gekündigt.«
Frau Worr lachte auf. »Das ist wirklich ein netter Anfang! Ich würde mich schämen, mein Kind.«
»Nein, ich schäme mich nicht, es war nicht der rechte Posten, an den mich die Vorsehung stellte. Ich fühle, daß ich zu einem Chemiker gehöre. Oh, ihr werdet staunen! So etwas habt ihr ja noch nicht erlebt und auch Dr. Erland wird sich wundern über die neue Kraft, die er bekommt. Ich werde ihm nicht nur Stenotypistin, ich werde ihm auch eine wertvolle Mitarbeiterin sein.«
»Laß deine törichten Reden bleiben, mein Kind! Du bist und bleibst ein Prahlhans! Du würdest an Hedwigs Stelle jämmerlich versagen.«
»Nein, Mudding, den Beweis will ich euch bringen!«
»Hedwig schreibt selbst, daß es ein schweres Arbeiten ist.«
»Hedwig hat wahrscheinlich in Chemie nie etwas geleistet.«
»Die Sache ist erledigt, mein Kind. Da du nicht mehr beim Vater zu arbeiten hast, so hilf mir.«
»Ich will erst den Brief von Hedwig nochmals gründlich lesen, später bin ich wieder da.«
Da saß nun Marga in ihrem Zimmer, das sie mit ihrer jüngsten Schwester Edith teilte und las wieder und immer wieder, was die Freundin schrieb. Wenn die Eltern sie doch nach Altenberg ließen! Oh, sie würde dort den geeigneten Wirkungskreis gefunden haben! Außerdem war sie in Altenberg gar nicht verlassen, wohnte doch der Bruder der Mutter, Onkel Georg Giborus, in der gleichen Stadt. Er hatte das schönste Hotel des Ortes als Eigentum, ein großes Haus, das Marga schon mehrfach auf Abbildungen gesehen hatte. Wenn auch Onkel Georg bei seinem letzten Besuche in Angeln nicht ganz nach Margas Geschmack war, konnte sie doch, wenn sie sich einmal vereinsamt fühlte, zu ihm und seiner Frau, der Tante Rosel gehen, um sich auszusprechen. Alles das wollte Marga den Eltern sagen und nicht eher ruhen, als bis man ihr die Erlaubnis zu der Reise erteilt hatte.
Sie begann sogleich an Hedwig zu schreiben und ihr mitzuteilen, daß sie sich befähigt fühle, die Stellung bei Dr. Erland anzutreten. Wenn auch die Arbeit eine schwierige sei, würde sie doch sehr wahrscheinlich von ihr zu bewältigen sein. Am Donnerstag werde sie eintreffen, den genauen Zug noch telegraphisch mitteilen.
Während sie an diesem Briefe schrieb, wurde zum Mittagessen gerufen. In dem geräumigen Eßzimmer fanden sich die Eltern und die vier Kinder ein. Es dauerte gar nicht lange, so begann der Vater seine Tochter zu fragen, was Hedwig geschrieben habe. Wie ein Strom brach es von Margas Lippen. Nochmals bat sie, die Eltern möchten sie ziehen lassen, denn von dort aus werde sie ihnen beweisen, was sie zu leisten imstande sei.
Edith, Nora und Karl, die Geschwister, erklärten dazu einstimmig, es sei ein Unsinn, daß Marga wieder fortgehe. Sie brauche nicht immerfort in der Welt umherzufahren, sie hätte im Hause zu bleiben.
»Was soll ich hier?« klang es zürnend von Margas Lippen, »ich werde erst wirklich Gutes leisten, wenn ich fort bin!«
»Bilde dir nur nicht gar zuviel auf deine geringen Kenntnisse ein, mein Kind«, mahnte der Vater.
»Das ist es ja eben, was mich so tief erbittert«, brauste Marga auf. »Ihr alle haltet mich für unbegabt, für dumm; ich weiß aber, daß ich mehr kann als tausend andere. Das fühlt man doch, und darum will ich es euch endlich beweisen.«
»Sei vernünftig, mein Kind«, mahnte freundlich der Vater, »du würdest einem so schweren Diktat, wie es Dr. Erland hat, nicht folgen können. Deine Stenographie ist noch recht mangelhaft.«
»Immer wollt ihr meine Leistungen verkleinern! Ich aber sage euch, man kann alles, was man ernsthaft will! Ich werde dem Ansturme standhalten! Außerdem braucht ihr um mich keine Angst zu haben, denn Onkel Georg wohnt auch in Altenberg.«
»In dem Briefe deiner Freundin ist aber zu lesen, daß Dr. Erland in Grünhalde sein Haus hat.«
»Das weiß ich längst, Papa! Grünhalde ist ein Vorort von Altenberg, mit der elektrischen Bahn in zehn Minuten zu erreichen. Dr. Erland soll reizend wohnen, er ist ein liebenswürdiger Herr und hat es gerade auf mich abgesehen.«
»Das steht nicht in Hedwigs Brief«, warf die Mutter trocken ein.
»Wollt ihr mir den Weg zum Glück verlegen?« rief Marga leidenschaftlich, »Es ist die erste Stufe zu meinem erfolgreichen Leben. Ihr aber zieht mir die Leiter fort.«
»Und du purzelst runter«, warf lachend der elfjährige Karl dazwischen.
Marga hatte für den Bruder keinen Blick. In ihre Augen traten die Tränen. »Wenn ich bei Dr. Erland versagen sollte, könnt ihr mich meinetwegen einen Prahlhans nennen, dann werde ich still und bescheiden alles hinnehmen und euren Worten glauben. Aber, ich versage nicht!«
»Nun«, meinte der Vater, »vielleicht wäre das eine gute Schule für meine Tochter. Du mußt erst einmal erkennen, liebe Marga, daß das Leben nicht so leicht ist, wie es dir dünkt. Also wir dürfen dich reumütig zurückerwarten, wenn du in Altenberg versagst?«
»Ja, dann würde ich still und bescheiden wieder auf deinen Kontorstuhl zurückkehren, Papa. Aber, ich versage nicht, ich werde in Altenberg meine Probe glanzvoll bestehen, darauf könnt ihr euch verlassen.«
Spediteur Worr wandte sich an seine Frau. »Wollen wir sie ziehen lassen, Hanna? Wird es nicht eine gute Lehre für sie sein? Wird unser kleiner Prahlhans nicht bald reumütig ins Elternhaus zurückkehren?«
»Marga hätte meinen Bruder am Orte. Sie wäre also nicht allein in Altenberg.«
»Ich flehe euch an, laßt mich ziehen! Es ist keine Laune, es ist ein innerer Drang! Dr. Erland wird mich nicht mehr missen wollen, ich werde von einem chemischen Laboratorium ins andere wandern, vielleicht werden sich bald die berühmtesten Professoren um mich reißen. Ja, liebe Eltern, laßt mich gehen!«
»Wir werden später alles nochmals durchsprechen.«
»Unterdessen schreibe ich Hedwig, daß ich komme.«
Nach dem Essen berieten die Eltern erneut: »Es ist für Marga vielleicht das beste, wenn sie endlich einmal einsieht, daß ihre Worte ›Ich kann alles!‹ leere Prahlerei sind«, sagte Frau Hanna. »Ich will heute noch an meinen Bruder Georg schreiben, damit er sich um Marga kümmert.«
Marga zerdrückte die Eltern schier vor Freude, als sie ihr mitteilten, sie dürfe am Donnerstag reisen. Man wollte sich jedoch zuvor noch mit Hedwig in Verbindung setzen, um Genaueres zu erfahren.
Der telephonische Bescheid der Freundin lautete nicht gerade hoffnungsvoll. Hedwig war der Meinung, daß Marga das Verlangte nicht werde leisten können, doch sei Dr. Erland einverstanden, daß Fräulein Worr als Vertretung in sein Haus komme.
Obwohl sich die Eltern von dem Aufenthalte Margas im Hause Dr. Erlands nichts versprachen, hatten sie doch ihre großsprecherische Tochter ziehen lassen. Der Vater sprach noch tags zuvor mit dem Hotelbesitzer Giborus, seinem Schwager, telefonisch, teilte ihm die Pläne seiner Tochter mit, und bat ihn, er möge sich der kleinen Prahlerin ein wenig annehmen und ein wachsames Auge auf sie haben. Er meinte weiter, er sei fest davon überzeugt, daß Dr. Erland die blutjunge Anfängerin nicht werde brauchen können. Wahrscheinlich werde Marga dann alles versuchen, um nicht sofort wieder heimzukehren; somit solle er die Unerfahrene vor törichten Handlungen behüten.
Georg Giborus sagte lachend zu. Er meinte, ihm sei seine überhebliche Nichte, die alles immer am besten zu verstehen glaubte, hinreichend bekannt. Er werde gut achtgeben, daß sie keine weiteren Dummheiten anstelle. Er versprach auch, Marga am Donnerstag am Bahnhof zu erwarten und sie nach Grünhalde zu begleiten, damit sie wohlbehalten bei Dr. Erland ankomme.
So hatten die Eltern Marga ruhig abfahren lassen. Alles weitere würde das junge Mädchen selbst erfahren. Bis zum letzten Augenblicke hatte Marga jedoch den Geschwistern gegenüber geäußert, daß sie nun wisse, wohin ihr Lebensschiff steuere, denn gerade Chemie sei das Fach, für das sie alles mitbringe, was nötig sei.
Onkel Giborus war am Bahnhof in Altenberg erschienen. Aber auch Hedwig Bahlau hatte sich eingestellt, um der Freundin vor ihrer Abreise noch rasch das Wichtigste zu melden. So wurde Onkel Georg von den beiden jungen Mädchen ziemlich kaltgestellt, Marga behauptete sogar, es wirke doch gar zu albern, wenn sie von ihrem Onkel in die neue Stelle gebracht werde.
»Geh ruhig wieder heim, Onkel Georg. Ich werde an einem der ersten freien Tage zu dir und Tante Rosel kommen und mir dann auch dein Hotel ansehen. Aber für heute mußt du mich schon entschuldigen, denn meine Freundin Hedwig bringt mich hinaus.«
Onkel Georg sagte nichts weiter als: »Hm!« und ging.
Marga bestand darauf, im Auto hinaus nach Grünhalde zu fahren, weil es einen erheblich besseren Eindruck mache, wenn man im Wagen vorfahre.
»Du hast vollkommenen Familienanschluß«, sagte Hedwig. »Frau Erland ist eine sehr nette Frau. Du hast dein eigenes Zimmer, angenehme Arbeitsstunden, allerdings keine geregelten. An manchen Tagen konnte mich Dr. Erland gar nicht brauchen, da habe ich dann im Haushalt geholfen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Marga. »Ich nehme jedoch an, daß ich Dr. Erland bald unentbehrlich sein werde. Er als Chemiker macht gewiß allerhand Experimente.«
»Er hat natürlich ein Laboratorium, aber darin hatte ich nichts zu suchen.«
»Das wird bei mir anders werden, liebe Hedwig. Wenn er erst hört, was ich in Chemie leiste …«