Die „Gedanken / Pensées“ des französischen Philosophen Blaise
Pascal (1623–1662) sind einer der meistgelesenen
philosophisch-theologischen Texte der europäischen Ideengeschichte.
Vielzitiert ist Pascals Gedanke, dass der Mensch ein zerbrechliches
Schilfrohr sei, das angesichts der unendlichen Größe des Universums
jederzeit zu Staub verfallen könne:
„Der Mensch ist nichts als ein Schilfrohr, das schwächste der
Natur, aber ein denkendes Schilfrohr. Es ist nicht nöthig, daß das
ganze Universum sich rüste ihn zu zermalmen. Ein Dunst, ein Tropfen
Wasser reicht hin ihn zu zermalmen.“
Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Pascals
„Gedanken / Pensées“ im ungekürzten Original-Wortlaut der deutschen
Übersetzung.
Erster Abschnitt.
Von der Autorität in Betreff der Philosophie.
Die Achtung vor dem Alterthum ist heut zu Tage, in den
Gegenständen, bei welchen sie am Wenigsten gelten sollte, auf dem
Punkt, daß man aus allen seinen Gedanken Orakel macht und selbst
aus seinen Dunkelheiten Geheimnisse, daß man nicht mehr ohne Gefahr
etwas Neues vorbringen kann und daß die Worte eines (alten) Autors
hinreichen die stärksten Gründe zu zerstören.
Meine Absicht ist nicht einen Fehler durch den andern zu bessern
und den Alten gar keine Achtung zu beweisen, weil man ihnen zu viel
beweist und ich will nicht ihre Autorität verbannen um ganz allein
das Selbstdenken zu erheben, obgleich man ihre Autorität allein zum
Nachtheil des eignen Vernunftgebrauchs aufrichten will. Aber man
muß erwägen, daß unter den Dingen, die wir zu kennen streben,
einige allein vom Gedächtniß abhängen und rein historisch sind,
indem dann nur unser Zweck ist wissen zu wollen was die Autoren
geschrieben haben; die andern aber hängen allein von dem Forschen
der Vernunft ab und sind gänzlich dogmatisch, indem wir dann zum
Zweck haben die verborgnen Wahrheiten zu entdecken. Nach dieser
Unterscheidung muß man abmessen, wie weit die Achtung vor den Alten
gehen darf.
In den Gegenständen, wo man allein erforschen will was die Autoren
geschrieben haben, wie z.B. in der Geschichte, Geographie,
Sprachen, Theologie, endlich in alle denen, die entweder die
einfache Thatsache oder eine göttliche oder menschliche Anordnung
zur Grundlage haben, muß man nothwendiger Weise auf ihre Bücher
zurückgehen, weil alles, was man darüber wissen kann, in diesen
enthalten ist, und es leuchtet ein, daß man nur da die vollkommne
Erkenntniß von diesen Dingen finden kann und daß es nicht möglich
ist noch etwas hinzu zu setzen. Also wenn die Frage ist, wer der
erste König der Franzosen war, auf welchen Ort die Geographen dem
ersten Meridian verlegen, welche Worte in einer todten Sprache
vorkommen u. d. m. welche andre Mittel giebt es das zu erfahren als
die Bücher? Und wer könnte irgendetwas Neues zu dem, was sie uns
darüber lehren, hinzufügen, da man ja eben nur wissen will, was sie
enthalten? Die Autorität allein kann uns darüber aufklären.
Wo aber diese Autorität die größte Stärke hat, das ist in der
Theologie, weil sie da unzertrennlich von der Wahrheit ist und wir
diese nur durch jene kennen, so daß es, um den Dingen, die für die
Vernunft die unbegreiflichsten sind, die volle Gewißheit zu geben,
hinreicht in der heiligen Schrift nach zu weisen, wie man auch, um
die Ungewißheit der wahrscheinlichen Dinge zu zeigen, nur nach zu
weisen braucht, daß sie nicht darin enthalten sind. Denn die
Prinzipien der Theologie sind über der Natur und Vernunft und der
Geist des Menschen, zu schwach und dazu durch eigne Anstrengung zu
gelangen, kann diese hohen Einsichten nicht erreichen, wenn er
nicht zu ihnen erhoben wird durch eine allmächtige und
übernatürliche Kraft.
Anders ist es mit den Gegenständen der Sinne oder der Vernunft. Die
Autorität ist hier unnütz, die Vernunft hat allein das Recht sie zu
erkennen; beide haben ihre getrennten Rechte. Jene war so lange
ganz im Vortheil, hier nun kommt diese an die Reihe zum Herrschen.
Und da die Gegenstände dieser Art der Fassungskraft des Geistes
angemessen sind, hat er vollkommne Freiheit sich hier aus zu
breiten; seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit bringt unaufhörlich
hervor und seine Erfindungen können zugleich ohne Ende und ohne
Unterbrechung sein.
Auf diese Weise müssen die Geometrie, Arithmetik, Musik,
Naturlehre, Arzneikunde, Baukunst und alle die Wissenschaften,
welche von Erfahrung und Nachdenken abhängig sind, erweitert werden
um vollkommen zu werden. Die Alten fanden sie bloß aus dem Groben
gearbeitet von denen, die ihnen vorangingen und wir werden sie
denen, die nach uns kommen, in einem vollendetern Zustande
nachlassen, als wir sie empfangen haben. Da ihre Vervollkommnung
von Zeit und Arbeit abhängt, so ist klar, daß, wenn auch unsre
Arbeit und Zeit uns weniger erworben hätte als ihre Bestrebungen
von den unsren getrennt, doch alle beide mit einander verbunden
mehr Wirkung haben müssen als jede für sich besonders.
Die Aufhellung dieses Unterschiedes muß uns lehren die Blindheit
derer beklagen, die in Sachen der Naturlehre die einzige Autorität
zum Beweise aufführen statt der Vernunft und der Erfahrung und muß
uns Abscheu einflößen vor der Schlechtigkeit derer, die in der
Theologie allein die Vernunft anwenden statt der Autorität der
Schrift und der und der Kirchenväter. Man muß aufrichten den Muth
jener furchtsamen Seelen, die in der Naturkunde nichts Neues zu
erfinden wagen und niederwerfen den Uebermuth der Vermessenen, die
in der Theologie Neues aufbringen.
Aber das ist das Unglück des Jahrhunderts, man sieht in der
Theologie viele neue Meinungen, die dem ganzen Alterthum unbekannt
waren und die mit Hartnäckigkeit behauptet, mit Beifall angenommen
werden; dagegen die Meinungen, die man in der Physik, wenn auch nur
in kleiner Anzahl neu aufstellt, scheinen der Falschheit bezüchtigt
werden zu müssen, sobald sie auch nur ein wenig gegen die
angenommenen Meinungen anstoßen; gleich als wenn die Achtung, die
man für die alten Philosophen hat, Pflicht wäre und als wenn die
Achtung, welche man vor den ältesten Vätern hegt, bloß Höflichkeit
wäre.
Ich überlasse es den Verständigen die Wichtigkeit dieses Mißbrauchs
zu beachten, welcher die Ordnung der Wissenschaften auf so
ungerechte Art umkehrt und ich glaube, daß wenige unter ihnen sein
werden, die nicht wünschen, daß unsre Forschungen einen andern Gang
nehmen möchten, da die neuen Erfindungen unfehlbar Irrthümer sind
in theologischen Gegenständen, die man ungestraft entweihet, und
dagegen unbedingt nothwendig sind zur Vervollkommnung so vieler
anderer Gegenstände einer untergeordneten Gattung, die man jedoch
nicht an zu rühren wagt.
Wir müssen unser Glauben und unser Mißtrauen gerechter vertheilen
und unsre Achtung vor den Alten einschränken. Wie die Vernunft sie
erzeugt, so muß sie ihr auch Maß und Ziel setzen. Wir müssen
bedenken: wenn sie die Zurückhaltung geübt hätten nichts zu den
empfangenen Kenntnissen hinzu zu fügen oder wenn die Leute zu ihrer
Zeit eben solche Schwierigkeit gemacht hätten das Neue, was sie
ihnen boten, an zu nehmen, so würden sie sich und ihre Nachkommen
der Früchte ihrer Entdeckungen beraubt haben.
Wie sie sich der Entdeckung, die ihnen hinterlassen waren, nur als
Mittel bedient haben um neue zu machen, und wie diese glückliche
Kühnheit ihnen den Weg zu großen Dingen geöffnet hat, so müssen wir
die, welche sie uns erworben haben, auf dieselbe Weise nehmen und
daraus nach ihrem Beispiel die Mittel und nicht den Zweck unsers
Studiums machen und so streben sie zu übertreffen, indem wir sie
nachahmen. Denn was wäre unbilliger, als wenn wir unsre Vorfahren
mit mehr Zurückhaltung behandelten, als sie gegen ihre Vorfahren
gehabt haben und vor ihnen den unglaublichen Respect hegten, den
sie sich von uns nur darum verdient, weil sie nicht einen gleichen
vor denen hegten, die denselben Vorzug vor ihnen besaßen?
Die Geheimnisse der Natur sind verborgen. Obgleich sie immer
handelt, entdeckt man nicht immer ihre Wirkungen. Die Zeit
offenbart sie von Geschlecht zu Geschlecht und wenn auch immer
gleich an sich, ist sie doch nicht immer gleich gekannt. Die
Erfahrungen, die uns die Kenntniß davon geben, vervielfältigen sich
unaufhörlich und wie sie die einzigen Grundlagen der Naturlehre
sind, so vervielfältigen sich die Folgerungen im Verhältniß.
In dieser Weise darf man heut zu Tage andre Meinungen und neue
Ansichten ergreifen, ohne die Alten zu verachten und ohne
Undankbarkeit gegen sie. Die ersten Kenntnisse, die sie uns
gegeben, sind zu Stufen geworden für die unsrigen und wenn wir so
im Vortheil sind, verdanken wir ihnen den Vorsprung, den wir vor
ihnen haben; denn sie haben sich bis zu einer gewissen Stufe
erhoben und uns bis dahin gebracht und so bringt die geringste
Anstrengung uns höher und mit weniger Mühe und weniger Ehre
befinden wir uns über ihnen. Von da aus können wir Dinge entdecken,
die sie unmöglich gewahr werden konnten. Unser Blick ist
ausgedehnter und obgleich sie alles, was sie von der Natur zu
bemerken vermochten, eben so gut kannten als wir, so kannten sie
doch nicht so viel und wir sehen mehr als sie.
Es ist merkwürdig, wie man ihre Meinungen verehrt. Es wird zum
Verbrechen gemacht ihnen zu widersprechen und zum Frevel etwas
hinzu zu fügen, als hätten sie nicht Wahrheiten hinterlassen zu
erkennen.
Heißt das nicht die Vernunft des Menschen unwürdig behandeln und
sie mit dem Instinct der Thiere in eine Reihe stellen? Man nimmt
den Hauptunterschied weg, der darin besteht, daß die Leistungen der
Vernunft ohne Aufhören zunehmen, wogegen der Instinct immer in
gleichem Zustande bleibt. Die Stöcke der Bienen waren vor tausend
Jahren eben so wohl abgemessen als heute und jede bildet jenes
Sechseck eben so genau das erste Mal wie das letzte. Eben so ist es
mit allem, was die Thiere durch diesen verborgnen Trieb
hervorbringen. Die Natur unterrichtet sie, je nachdem die
Nothwendigkeit sie drängt; aber diese schwache Kunst verliert sich,
sobald sie sie nicht mehr brauchen. Sie empfangen sie ohne Studium
und sind nicht so glücklich sie erhalten zu können und jedes Mal,
wenn sie ihnen gegeben wird, ist sie ihnen neu. Die Natur, welche
nur den Zweck hat die Thiere in einer beschränkten Vollkommenheit
zu erhalten, flößt sie ihnen jene einfach nothwendige und immer
gleiche Kunst ein, damit sie nicht verkommen und gestattet nicht,
daß sie etwas hinzuthun, damit sie nicht die Gränzen überschreiten,
welche sie ihnen vorgeschrieben hat.
Anders ist es mit dem Menschen, der nur für die Unendlichkeit
geschaffen ist. In der ersten Zeit seines Lebens ist er in
Unwissenheit, aber wie er fortschreitet, unterrichtet er sich ohne
Aufhören, denn er zieht nicht bloß von seiner eignen Erfahrung
Nutzen, sondern auch von den Erfahrungen seiner Vorgänger, weil er
die Kenntnisse, die er sich einmal erworben, immer im Gedächtniß
bewahrt und weil die Kenntnisse der Alten immer in den Büchern, die
sie darüber nachgelassen haben, vorhanden sind. Und wie er seine
Kenntnisse bewahrt, so kann er sie auch leicht vermehren, so daß
die Menschen heute in gewisser Art auf demselben Standpunkt sind,
worauf jene alten Philosophen sich befinden würden, wenn es möglich
gewesen wäre, daß sie bis jetzt fortgelebt und zu den Kenntnissen,
die sie hatten, noch die hinzugefügt hätten, welche ihre Studien in
so vielen Jahrhunderten ihnen würden erworben haben. So kommt es
denn durch ein besonderes Vorrecht der Menschen, daß nicht allein
jeder von ihnen Tag für Tag in den Wissenschaften fortschreitet,
sondern daß alle zusammen darin einen ununterbrochenen Fortschritt
machen, je älter die Welt wird; denn ein Gleiches geschieht in der
Folge aller Menschen wie in den verschiedenen Alterstufen des
einzelnen. Die ganze Reihefolge der Menschen im Lauf so vieler
Jahrhunderte, muß angesehen werden als ein und derselbe Mensch, der
immer besteht und fortwährend lernt. Daraus sieht man, wie unbillig
es ist, wenn wir das Alterthum in seinen Philosophen respectiren.
Das Alter ist die Zeit, die am Weitesten von der Kindheit abliegt,
und wer sieht nicht, daß also das Alter jenes Universalmenschen
nicht in den Zeiten, die seiner Geburt am Nächsten stehn, sondern
in denen, die am Meisten von ihr entfernt sind, gesucht werden
muß?
Diejenigen, welche wir Alte nennen, waren in Wirklichkeit jung in
allen Dingen und bildeten eigentlich die Kindheit der Menschen und
da wir mit ihren Kenntnissen die Erfahrung der Jahrhunderte, die
auf sie gefolgt sind, verbunden haben, so kann man eigentlich in
uns jenes Alterthum finden, was wir an den andern verehren. Sie
müssen bewundert werden in den Schlüssen, welche sie vortrefflich
aus den wenigen Grundgesetzen, die sie hatten, gezogen haben und
sie müssen entschuldigt werden in denen, bei welcher ihnen mehr das
Glück der Erfahrung als die Stärke des Denkens fehlte.
Waren sie zum Beispiel nicht zu entschuldigen in der Vorstellung,
die sie von der Milchstraße hatten, wenn die Schwäche ihrer Augen
noch nicht die Hilfe der Kunst empfing und sie diese Farbe einer
größern Dichtigkeit in dem Theil des Himmels, der das Licht stärker
zurückstrahlt, zuschrieben? Würden wir aber zu entschuldigen sein,
wenn wir in derselben Vorstellung bleiben, jetzt da wir unterstützt
von den Vortheilen, welche uns das Fernglas giebt, in der
Milchstraße eine Unzahl von kleinen Sternen entdeckt haben, deren
stärkeres Licht uns erkennen läßt, was die wahre Ursache jener
weißen Farbe ist?
Hatten sie nicht auch Grund zu sagen, daß alle Körper, die dem
Verderben unterworfen sind, in den Kreis des Mondes am Himmel
eingeschlossen wären, weil sie während so vieler Jahrhunderte weder
ein Untergehn noch ein Enstehn außer diesem Raume bemerkt hatten?
Müssen wir aber nicht das Gegentheil versichern, weil die ganze
Erde deutlich Kometen hat sich entzünden und weit außerhalb jener
Sphäre verschwinden sehn?
Eben so ist es mit der Lehre vom leeren Raum. Sie hatten Recht zu
sagen, die Natur leide keinen leeren Raum, weil alle ihre
Erfahrungen ihnen immer gezeigt hatten, daß sie ihn fliehe und
nicht leiden könne. Aber wenn die neuen Versuche ihnen bekannt
gewesen wären, so würden sie vielleicht Veranlassung gefunden
haben, das zu bejahen, was sie Veranlassung hatten zu verneinen aus
dem Grunde, weil das Leere noch nicht zum Vorschein gekommen war.
Auch in dem Schluß, welchen sie machten, daß die Natur nichts
Leeres leide, haben sie doch nur von der Natur, in so weit sie sie
kannten, zu sprechen gemeint, da es, ganz im Allgemeinen gesagt,
nicht genug wäre sie in zehn oder in tausend Fällen oder in irgend
einer andern noch so großen Zahl von Fällen beharrlich beobachte zu
haben, denn wenn ein einziger Fall übrig bliebe zu erforschen, so
würde dieser einzige hinreichen die allgemeine Entscheidung zu
verhindern. In der That bei allen den Gegenständen, deren Beweis in
Erfahrungen und nicht in Demonstrationen besteht, darf man daraus
keine andre allgemeine Behauptung aussprechen als nur durch
allgemeine Aufzählung aller Theile und aller verschiednen
Fälle.
So, wenn wir sagen, der Diamant ist der härteste von allen Körpern,
so meinen wir von allen den Körpern, die wir kennen und wir können
und dürfen darunter nicht die mit begreifen, die wir nicht kennen,
und wenn wir sagen, das Gold ist der schwerste von allen Körpern,
so wäre es vermessen, wenn wir in diesen allgemeinen Satz auch die
mitbegriffen, die uns nicht bekannt sind, obgleich es nicht
unmöglich ist, daß sie in der Natur seien.
Also ohne den Alten zu widersprechen, können wir das Gegentheil
behaupten von dem, was sie sagten und welches Ansehn auch das
Alterthum hat, die Wahrheit muß immer den Vorzug haben, wenn sie
auch kürzlich erst entdeckt worden ist; denn sie ist immer älter
als alle Meinungen, die man je über sie gehabt und es hieße die
Natur gar nicht kennen, wenn man sich einbilden wollte, sie hätte
angefangen zu sein zu der Zeit, da sie anfing bekannt zu
werden.
Zweiter Abschnitt.
Betrachtungen über die Mathematik im Allgemeinen.
Bei Erforschung der Wahrheit kann man drei Hauptzwecke
haben, erstens sie zu entdecken, wenn man sie sucht, zweitens sie
zu beweisen, wenn man sie besitzt, drittens sie vom Falschen zu
unterscheiden, wenn man sie untersucht.
Ich spreche nicht von dem ersten, sondern behandle besonders den
zweiten, welcher den dritten einschließt; denn wenn man die Methode
kennt die Wahrheit zu beweisen, so hat man zugleich die Methode sie
zu unterscheiden, denn indem man untersucht, ob der Beweis, den man
giebt, den Regeln, die man kennt, gemäß ist, sieht man auch, ob er
genau geführt ist.
Die Mathematik, die in diesen drei Stücken ausgezeichnet ist, hat
die Kunst entwickelt die unbekannten Wahrheiten zu entdecken, das
nennt man Analyse und es wäre überflüssig darüber zu sprechen nach
so vielen vortrefflichen Werken, die geschrieben worden sind.
Die Methode die schon gefundenen Wahrheiten zu beweisen und
dieselben so auf zu hellen, daß der Beweis davon unwiderleglich
sei, das ist die einzige, die ich angeben will und ich brauche dazu
nur den Gang zu entwickeln, welchen die Mathematik dabei
beobachtet; denn sie lehrt es vollkommen.
Indessen vorher muß ich einen Begriff von einer noch höhern und
vollendetern Methode geben, welche aber die Menschen nie erreichen
(denn was über die Mathematik geht, übersteigt uns) und doch ist es
nöthig etwas über sie zu sagen, obgleich es unmöglich ist sie
auszuüben.
Diese wahre Methode, welche die Beweise in der höchsten
Vollkommenheit bilden würde, wenn es möglich wäre sie zu erreichen,
würde in zwei Hauptsachen bestehen, erstens sich keines Ausdrucks
zu bedienen, ohne zwar genau seinen Sinn zu entwickeln, und
zweitens nie einen Satz auf zu stellen ohne ihn durch schon
bekannte Wahrheiten zu beweisen, das heißt mit einem Wort, alle
Ausdrücke zu definiren und alle Sätze zu beweisen.
Aber um der Ordnung, die ich entwickle, selbst zu folgen, muß ich
erklären, was ich unter Definition verstehe. In der Mathematik
erkennt man allein die Definitionen, welche die Logiker
Namenerklärungen nennen, das heißt, allein die Benennungen, die man
den Dingen giebt, nachdem man sie vollkommen durch bekannte
Ausdrücke bezeichnet hat, und nur von diesen allein spreche
ich.
Ihr Nutzen und ihr Gebrauch ist Aufhellung und Abstürzung der Rede,
indem man mit dem bloßen Namen, den man beilegt, das ausdrückt, was
sich nur mit mehren Worten sagen ließe; doch so, daß der beigelegte
Namen von allem andern Sinn, wenn er einen hat, entkleidet bleibt
um keinen andern mehr zu haben als den, wozu man ihn einzig
bestimmt. Ein Beispiel ist folgendes. Wenn man benöthigt ist unter
den Zahlen diejenigen, die durch zwei in gleiche Theile zu theilen
sind, von denen, die das nicht sind, zu unterscheiden, so giebt
man, um die öftere Wiederholung dieser Bedingung zu vermeiden,
einen Namen in der Art: ich nenne jede durch zwei gleich theilbare
Zahl eine gerade Zahl. Das ist eine mathematische Definition, denn
erst hat man eine Sache klar bezeichnet, nämlich jede Zahl, die
durch zwei gleich theilbar ist, und darauf giebt man ihr einen
Namen, den man aller andern Bedeutung, wenn er eine hat, entkleidet
um ihm die Bedeutung der bezeichneten Sache zu geben.
Daraus ist ersichtlich, daß die Definitionen sehr frei sind und nie
dem Widerspruch unterworfen, denn es ist nichts mehr erlaubt als
einer Sache, die man klar bezeichnet hat, einen Namen zu geben, wie
man will. Man muß sich bloß in Acht nehmen, daß man die Freiheit,
die man hat, Namen bei zu legen, nicht mißbraucht, indem man
denselben an zwei verschiedene Sachen giebt. Nicht daß das nicht
erlaubt wäre, wenn man nur die Folgerungen daraus nicht vermengt
und nicht eine auf die andre ausdehnt. Verfällt man aber in diesen
Fehler, so kann man ihm ein sehr sichres und unfehlbares Mittel
entgegen setzen, nämlich daß man die Definition in Gedanken an die
Stelle des Definirten setzt und die Definition immer so gegenwärtig
hat, daß man jedes Mal, wenn man z.B. von der geraden Zahl spricht,
genau bedenkt, das sei das, was in zwei gleiche Theile zu theilen
ist, und daß diese beiden Dinge in der Vorstellung unzertrennlich
verbunden seien und daß sobald die Rede das eine ausspricht, der
Geist unmittelbar damit das andre verknüpfe. Denn die Mathematiker
und alle, die methodisch zu Werke gehn, legen den Dingen nur Namen
bei um die Rede ab zu kürzen und nicht um den Begriff der Dinge,
von denen sie reden, zu verkleinern oder zu verändern und sie
verlangen, daß der Geist immer die ganze Definition bei dem kurzen
Ausdruck ergänze, den sie nur gebrauchen um die Verwirrung zu
meiden, welche die Menge von Worten hervorbringt.
Nichts entfernt schneller und mächtiger die verfängliche List der
Sophisten als diese Methode, die man immer gegenwärtig haben muß
und die allein hinreicht alle Arten von Schwierigkeiten und
Zweideutigkeiten zu verbannen.
Ist dies zu gut verstanden, so komme ich wieder auf die Erklärung
der wahren Ordnung zurück, die, wie gesagt, darin besteht, daß man
alles definirt und alles beweist.
Gewiß wäre diese Methode schön, aber sie ist absolut unmöglich,
denn es ist einleuchtend, daß die ersten Ausdrücke, die man
definiren möchte, andre vorhergehende voraussetzen würden, die zu
ihrer Erklärung dienen müßten und daß eben so auch die ersten
Sätze, die man beweisen möchte, andre voraussetzen würden, die
ihnen vorangingen und auf die Art ist klar, daß man nie zu den
ersten gelangen würde.
Treibt man auch die Nachforschungen weiter und weiter, so kommt man
nothwendig auf primitive Wörter, die man nicht mehr definiren kann
und auf Grundsätze, die so klar sind, daß man keine andern findet,
die es mehr wären um ihnen zu Beweise dienen.
Hieraus geht hervor, daß die Menschen ein natürliches und
unveränderliches Unvermögen haben irgend eine Wissenschaft in einer
absolut vollendeten Methode zu behandeln; aber es folgt nicht
daraus, daß man deshalb jede Art von Methode aufgeben soll.
Denn es giebt eine, nämlich die der Mathematik, die allerdings
niedriger steht darin, daß sie weniger überzeugend, nicht aber
darin, daß sie weniger gewiß ist. Sie definirt nicht alles und
beweist nicht alles und darin steht sie niedriger; aber sie setzt
nur Dinge voraus, die durch den natürlichen Verstand klar und aus
gemacht sind und daher ist sie vollkommen wahr, denn die Natur
unterstützt sie, wo die Rede es nicht thut.
Diese Methode, die vollkommenste bei den Menschen, besteht nicht
darin alles zu definiren und alles zu beweisen auch nicht darin
nichts zu definiren und nichts zu beweisen, sondern darin sich in
der Mitte zu halten, nicht zu definiren die klaren und von allen
Menschen verstandene Dinge und alle übrigen zu definiren, nicht zu
beweisen die bekannten Dinge und alle übrigen zu beweisen. Gegen
diese Methode sündigen eben so gut diejenigen, die alles zu
definiren und alles zu beweisen versuchen als auch die, welche das
versäumen in den Dingen, die nicht von selbst einleuchten.
Dies lehrt die Mathematik vollkommen. Sie erklärt nichts von
solchen Dingen als Raum, Zeit, Bewegung, Zahl, Gleichheit und
dergleichen weiter, deren es sehr viele giebt; weil diese Ausdrücke
die Dinge, die sie bedeuten, für die, welche die Sprache verstehen,
so natürlich bezeichnen, daß die Erklärung, die man davon machen
wollte, mehr Dunkelheit als Belehrung schaffen würde.
Nichts ist schwächer als das Gerede derer, die solche primitive
Wörter definiren wollen. Welche Nothwendigkeit giebt es z.B. zu
erklären, was man unter dem Wort Mensch versteht? Weiß man nicht
zur Genüge, was für ein Ding das ist, welches man mit diesem
Ausdruck bezeichnen will? und welchen Vortheil meinte Plato uns zu
verschaffen, da er sagte: der Mensch wäre ein Thier auf zwei Beinen
ohne Federn? Als wenn der Begriff, den ich natürlich davon habe und
den ich nicht ausdrücken kann, nicht viel schärfer und sichrer wäre
als der, welchen er mir durch seine Erklärung giebt, die unnütz und
sogar lächerlich ist, da ein Mensch nicht die Menschheit verliert,
wenn er die beiden Beine verliert und ein Kapaun sie nicht erlangt,
wenn er seine Federn los wird.
Es giebt Leute, die treiben es bis zu der Absurdität ein Wort durch
das Wort selbst zu erklären. Ich weiß Menschen, die das Licht in
folgender Art definirt haben: »das Licht ist eine leuchtende
Bewegung der leuchtenden Körper;« als wenn man das Wort leuchtend
verstehen könnte ohne das Wort Licht.
Eben so kann man auch das Sein nicht definiren ohne in denselben
Fehler zu verfallen; denn man kann kein Wort erklären ohne zu sagen
»es ist,« man möge das nun ausdrücklich sagen oder es doch dabei
sagen, um also das Sein zu definiren müßte man sagen »es ist« und
also in der Definition das zu definirende Wort gebrauchen.
Daraus sieht man hinlänglich, daß es Worte giebt, die nicht
definirt werden können und wenn die Natur diesen Mangel nicht durch
einen gleichen Begriff, den sie allen Menschen gegeben hat, ersetzt
hätte, so würden alle unsre Ausdrücke verworren sein, statt daß man
sie jetzt mit derselben Sicherheit und Gewißheit gebraucht, als
wenn sie auf eine vollkommen unzweideutige Weise erklärt wären. Die
Natur hat uns von selbst ohne Worte einen Begriff davon gegeben,
der genauer ist als der, welchen die Kunst uns durch unsre
Erklärungen verschafft.
Nicht alle Menschen haben denselben Begriff von dem Wesen der
Dinge, welche zu definiren, wie ich behaupte, unmöglich und
unnöthig ist. Z.B. die Zeit ist von der Art. Wer kann sie
definiren? Und warum soll man es versuchen, da alle Menschen
verstehen, was man sagen will, wenn man von der Zeit spricht, ohne
daß man sie weiter bezeichnet? Und doch giebt es viel verschiedene
Meinungen über das Wesen der Zeit. Einer behauptet: sie sei die
Bewegung eines geschaffenen Dinges, der andre: sie sei das Maß der
Bewegung u.s.w. Auch behaupte ich nicht, daß die Natur dieser Dinge
allen bekannt ist, sondern nur die Beziehung des Namens und des
Dinges, so daß bei diesem Ausdruck Zeit alle die Gedanken auf
denselben Gegenstand richten. Das reicht hin es unnöthig zu machen,
daß dieses Wort definirt werde, obgleich man nachher, wenn man
untersucht, was die Zeit ist, zur Verschiedenheit der Meinung
kommt, sobald man angefangen hat weiter darüber nach zu denken,
denn die Definitionen sind dazu da die Dinge, die man nennt, zu
bezeichnen und nicht ihre Natur zu zeigen.
Es ist ganz erlaubt mit dem Namen Zeit die Bewegung eines
geschaffenen Dinges zu benennen, denn wie gesagt, nichts ist freier
als die Definitionen. Aber wenn man diese Definition aufstellt, so
giebt es dann zwei Dinge, die man Zeit nennen muß, eins ist das,
was alle Welt natürlich unter diesem Wort versteht und was alle
die, welche unsre Sprache sprechen, mit diesem Ausdruck nennen, und
das andre ist dann die Bewegung eines geschaffenen Dinges, denn die
muß man nun mit diesem Namen nennen in Folge jener neuen
Definition. Man muß dann aber auch die Zweideutigkeiten meiden und
nicht die Folgerungen vermengen, denn es folgt nicht daraus, daß
die Sache, die man natürlicher Weise unter dem Wort Zeit versteht,
auch wirklich die Bewegung eines geschaffenen Dunges ist. Es stand
frei diese beiden Sachen gleich zu nennen, aber es steht nicht frei
sie eben so wie im Namen auch in dem Wesen gleich zu setzen.
Wenn man also das Wort ausspricht: die Zeit ist die Bewegung eines
geschaffnen Dinges, so muß gefragt werden, was man unter dem Worte
Zeit versteht, das heißt, ob man dem Wort den gewöhnlichen und von
allen angenommenen Sinn läßt oder ob man demselben den nimmt um ihm
für diesen Fall den Sinn: Bewegung eines geschaffnen Dinges zu
geben. Wenn man das Wort alles andern Sinnes entkleidet, so ist
nichts dagegen zu sagen, es wird eine freie Definition, in Folge
deren, wie gesagt, zwei Dinge diesen Namen führen werden. Aber läßt
man dem Wort seine gewöhnliche Bedeutung und behauptet dennoch, daß
das, was man unter diesem Wort versteht, die Bewegung eines
geschaffenen Dinges sei, dann kann widersprochen werden. Das ist
dann nicht mehr eine freie Definition, es ist eine Behauptung, die
beweisen werden muß, wenn sie nicht von selbst sehr einleuchtet,
und dann ist sie auch ein Grundsatz und ein Axiom, aber niemals
eine Definition, denn wenn man sich so ausdrückt, meint man nicht,
daß das Wort Zeit eben so viel bedeutet als die Bewegung eines
geschaffnen Dinges, sondern man meint, daß das, was man unter dem
Worte Zeit sich denkt, die angenommene Bewegung sei.
Wenn ich nicht wüßte, wie nöthig es ist dieses vollkommen zu
verstehen und wie alle Augenblicke in den vertraulichen Gesprächen
und in den Verhandlungen der Wissenschaft Fälle vorkommen, die dem
gegebenen Beispiel gleich sind, so würde ich mich nicht hierbei
aufhalten. Aber nach der Erfahrung, die ich von der Verwirrung beim
Streiten habe, scheint es mir, daß man nicht tief genug eindringen
kann in diesen Sinn für Genauigkeit, um deßwillen ich diese ganze
Abhandlung schreibe mehr als um des Gegenstandes willen, den ich
hier abhandle.
Denn wie viele Menschen glauben die Zeit definirt zu haben, wenn
sie sagen: sie sei das Maaß der Bewegung, und doch dem Wort seinen
gewöhnlichen Sinn lassen? Und doch haben sie einen Lehrsatz
gemacht, nicht eine Definition. Wie viele glauben eben so die
Bewegung definirt zu haben, wenn sie sagen: Motus nec
simpliciter motus non mera potentia est; sed actus entis in
potentia (die Bewegung ist weder einfach Bewegung noch reine
Kraft, sondern die That eines Wesens in Kraft)? Und doch wenn sie
dem Worte Bewegung seinen gewöhnlichen Sinn lassen, wie sie thun,
so ist es nicht eine Definition, sondern ein Lehrsatz. Sie
vermengen so die Definitionen, die sie Namenerklärungen nennen, die
die wirklichen freien, erlaubten und mathematischen Definitionen
sind, mit denen, die sie Sacherklärungen nennen, die eigentlich
Sätze und als solche keineswegs frei, sondern dem Widerspruch
unterworfen sind. Sie nehmen sich die Freiheit eben so gut als die
andern welche zu bilden und indem jeder dieselben Dinge auf seine
Weise definirt mit einer Ungebundenheit, die in dieser letzten Art
von Definitionen eben so verboten ist wie in der ersten Art
erlaubt, so verwirren sie alles; sie verlieren alle Ordnung und
alle Einsicht und verlieren sich selbst und verwickeln sich in
unauflöslichen Schwierigkeiten.
Dahin wird man nie gerathen, wenn man die Methode der Mathematik
befolgt. Diese verständige Wissenschaft ist weit davon entfernt
jene primitiven Ausdrücke Raum, Zeit, Bewegung, Gleichheit,
Wahrheit, Verminderung, Alles und die übrigen, welche jedermann von
selbst versteht, zu definiren. Aber außer diesen sind alle übrigen
Ausdrücke, deren sie sich bedient, in ihr so erklärt und definirt,
daß man kein Wörterbuch braucht um einen zu verstehen, mit einem
Wort, alle ihre Ausdrücke sind vollkommen verständlich entweder
durch das natürliche Licht oder durch die Definitionen, die sie
davon giebt.
Auf diese Weise vermeidet sie alle Fehler, die gegen die erste
Regel, daß man allein die Sachen, welche es bedürfen, definiren
soll, können begangen werden. Eben so thut sie in Betreff der
andern Regel die nicht einleuchtenden Sätze zu beweisen. Denn
sobald sie bis zu den ersten bekannten Wahrheiten gelangt ist,
bleibt sie stehen und verlangt, daß man sie zugebe, weil sie nichts
Klareres hat sie zu beweisen, so daß denn alles, was die Mathematik
als Lehrsatz aufstellt, vollkommen demonstrirt wird entweder durch
die natürliche Einsicht oder durch die Beweise.
Daher kommt es, daß, wenn diese Wissenschaft nicht alle Dinge
definirt und demonstrirt, das allein aus dem Grunde geschieht, weil
uns das unmöglich ist.
Vielleicht wird es befremden, daß die Mathematik keins von den
Dingen, die ihre Hauptgegenstände sind, definiren kann; denn sie
kann weder die Bewegung, noch die Zahlen, noch den Raum definiren
und doch sind es diese drei, was sie ins Besondere betrachtet, und
von deren Erforschung hat sie ihre drei verschiednen Namen
Mechanik, Arithmetik und Geometrie, indem dieser letzte Name die
ganze Wissenschaft wie den besondern Theil bezeichnet. Aber man
wird sich nicht darüber wundern, sobald man bemerkt, daß diese
herrliche Wissenschaft sich nur an die einfachsten Dinge anschließt
und daß eben diese Eigenschaft, welche sie würdig macht ihr
Gegenstand zu sein, sie auch undefinirbar macht. Der Mangel an
Definition ist also mehr eine Vollkommenheit von ihnen als ein
Fehler, denn er entsteht nicht aus ihrer Dunkelheit, sondern
vielmehr aus ihrer ausnehmenden Klarheit, die so groß ist, daß sie,
wenn ihr auch die Ueberführung der Beweise fehlt, doch alle
Gewißheit derselben hat. Die Mathematik setzt also voraus, daß man
weiß, was man unter den Wörtern Bewegung, Zahl, Raum versteht und
ohne sich mit der unnützen Erklärung derselben aufzuhalten
durchdringt sie ihre Natur und entdeckt ihre wunderbaren
Eigenschaften.
Diese drei, welche das All begreifen nach dem Wort »Gott hat alles
in Gewicht, Zahl und Maß gemacht,« haben eine Verbindung, die
gegenseitig und nothwendig ist. Denn man kann sich keine Bewegung
denken ohne etwas, was sich bewegt, dieses Ding ist eins und diese
Einheit ist der Ursprung aller Zahlen. Endlich da die Bewegung
nicht ohne Raum sein kann, so sieht man diese drei Stücke in dem
ersten eingeschlossen.
Die Zeit selbst ist auch darin begriffen, denn die Bewegung und die
Zeit stehn in Beziehung zu einander, da die Schnelligkeit und die
Langsamkeit, welche die Unterschiede der Bewegung sind, eine
nothwendige Beziehung auf die Zeit haben.
So giebt es denn Eigenschaften, die allen diesen Dingen gemein sind
und deren Erkenntniß öffnet den Geist den größten Wundern der
Natur. Die Haupteigenschaft begreift die beiden Unendlichkeiten,
die in allen Dingen vorkommen, die der Größe und die der
Kleinheit.
Wie rasch auch eine Bewegung sei, so kann man sich doch eine
denken, die noch rascher wäre und auch diese letzte noch
beschleunigen und so immer ins Unendliche ohne je zu einer Bewegung
zu kommen, die so rasch wäre, daß man nichts mehr hinzufügen
könnte. Und so umgekehrt, wie langsam eine Bewegung sei, so kann
man sie noch langsamer machen und diese wieder langsamer und so ins
Unendliche ohne je zu einem solchen Grade von Langsamkeit zu
gelangen, daß man nicht noch von da zu einer unendlichen Menge
andrer Grade herabsteigen könnte ohne zur Ruhe zu kommen. Eben so,
wie groß eine Zahl auch sei, kann man sich eine noch größere denken
und noch eine, welche diese letzte übersteigt und so ins Unendliche
ohne je zu einer zu gelangen, die nicht mehr vergrößert werden
kann, und umgekehrt, wie klein auch eine Zahl sei, als der
hundertste oder zehn tausendste Theil, kann man sich doch noch eine
geringere denken und immer ins Unendliche ohne zur Null oder zum
Nichts zu gelangen. Wie groß ein Raum sei, so kann man sich einen
größern vorstellen und wieder einen, der noch größer ist und so ins
Unendliche, ohne je einen zu erlangen, der nicht vergrößert werden
könnte, und umgekehrt, wie klein auch ein Raum sei, man kann noch
einen kleinern sich denken und immer ins Unendliche, ohne je einen
untheilbaren zu erreichen, der gar keine Ausdehnung mehr
hätte.
Eben so ist es mit der Zeit. Man kann sich immer eine längere
vorstellen ohne letzte und wieder eine kürzere, ohne zu einem
Augenblick und zu einem Nichts von Dauer zu kommen.
Das heißt also mit einem Wort: was für Bewegung, Zahl, Raum, Zeit
man sich denke, immer giebt es ein Größeres und Geringeres, so daß
alle diese Dinge sich zwischen dem Nichts und dem Unendlichen
halten, immer unendlich entfernt von diesen Extremen. Alle diese
Wahrheiten lassen sich nicht beweisen und doch sind sie die
Grundlagen und ersten Anfänge der Mathematik. Da aber die Ursache
ihrer Unbeweisbarkeit gar nicht in ihrer Dunkelheit liegt, sondern
vielmehr in ihrer außerordentlichen Evidenz, so ist dieser Mangel
an Beweis nicht ein Fehler, sondern vielmehr eine
Vollkommenheit.
Daraus ersieht man, daß die Mathematik weder die Gegenstände
erklären noch die Grundgesetze beweisen kann, aber allein aus dem
für sie günstigen Grunde, weil die einen wie die andern eine
natürliche Klarheit haben, welche die Vernunft mächtiger überzeugt,
als Worte thun würden.
Denn was kann einleuchtender sein als die Wahrheit, daß eine Zahl,
sie sei welche sie wolle, kann vergrößert werden? Man kann sie
verdoppeln, kann die Schnelligkeit einer Bewegung verdoppeln und
einen Raum desgleichen. Und wer ist im Stande daran zu zweifeln,
daß eine Zahl, sie sei welche sie wolle, in die Hälfte und ihre
Hälfte wieder in die Hälfte getheilt werden kann? Denn, würde nun
diese Hälfte ein Nichts sein? Wie sollten denn diese beiden
Hälften, die zwei Nullen wären, eine Zahl ausmachen?
Eben so eine Bewegung, wie langsam sie auch sei, kann sie nicht
noch um die Hälfte langsamer gemacht werden, so daß sie denselben
Raum in der doppelten Zeit durchläuft, und diese letzte Bewegung
läßt sie nicht noch verlängern? Würde das aber eine reine Ruhe
sein? Und wie sollte es zugehn, daß diese beiden Hälften der
Bewegung, die zwei Ruhen wären, die erste Bewegung
ausmachten?
Endlich ein Raum, wie klein er sei, kann er nicht in zwei Hälften
getheilt werden und diese wieder? Und wie sollte es möglich sein,
daß diese Hälften untheilbar wären, ohne alle Ausdehnung, da sie
doch mit einander verbunden die erste Ausdehnung machten?
Es giebt keine natürliche Erkenntniß im Menschen, welche diesen an
Klarheit voranginge und sie überträfe. Indessen, damit es doch
Beispiele gäbe von allen, finden man Köpfe, die in allen andern
Dingen ausgezeichnet sind und die doch an diesen Unendlichkeiten
Anstoß nehmen und auf keine Weise dem bei zu stimmen vermögen. Ich
habe nie jemand gesehn, der gemein: ein Raum könnte nicht
vergrößert werden; aber ich habe einige, sonst sehr kluge Menschen
gesehn, die versicherten, ein Raum könnte in zwei untheilbare
Stücke getheilt werden, so abgeschmackt das auch ist. Ich habe
recht nachforscht in ihnen, was doch die Ursache dieser Dunkelheit
sein könnte und habe gefunden, daß es nur eine Hauptursache gab,
das war, daß sie nicht im Stande waren ein unendlich theilbares
Continuum sich vor zu stellen, woraus sie denn schließen, daß es
nicht so theilbar sei.
Das ist eine natürliche Krankheit des Menschen zu glauben, daß er
die Wahrheit gerade zu besitzt und daher kommt es, daß er immer
geneigt ist alles zu leugnen, was er nicht begreift, da er doch in
der Wirklichkeit auf natürliche Weise nur den Irrthum kennt und für
wahr nur das nehmen darf, wovon das Gegentheil ihm falsch scheint.
Daher, so oft ein Satz unbegreiflich ist, muß man das Urtheil
darüber zurück halten und ihn um dieses Merkmals willen leugnen,
sondern das Gegentheil prüfen und wenn man dieses offenbar falsch
findet, kann man dreist den ersten Satz behauptet, wie
unbegreiflich er auch sei. Diese Regel wollen wir auf unsern
Gegenstand anwenden.
Es giebt keinen Mathematiker, der nicht glaube, daß der Raum ins
Unendliche theilbar ist. Ohne diesen Grundsatz kann man eben so
wenig ein Mathematiker sein als ohne Seele ein Mensch. Und doch
giebt es keinen Mathematiker, der eine unendliche Theilung faßt und
man versichert sich dieser Wahrheit nur durch den einzigen Grund,
der freilich auch gewiß genügend ist, daß man vollkommen faßt, wie
falsch es ist, wenn man meint einen Raum theilen und auf ein
Untheilbares d.h. auf etwas, das keine Ausdehnung hat, kommen zu
können. Was kann absurder sein als zu meinen, wenn man einen Raum
immer theile, komme man endlich zu einem Stück, was so wäre, daß,
wenn man es wieder in zwei theilt, jede der Hälften untheilbar und
ohne Ausdehnung bleibt? Wer diese Meinung hat, den möchte ich
fragen, ob er genau faßt wie zwei untheilbare Dinge sich berühren;
ists überall, so sind sie nur ein und dasselbe Ding und folglich
sind die beiden zusammen untheilbar, ists aber nicht überall, so
ist es nur an einem Theil, also haben sie Theile und sind also
nicht untheilbar.
Wenn sie denn nun bekennen (wie sie es wirklich gestehn, wenn man
sie drängt) daß ihr Satz eben so unbegreiflich ist als der andre,
so mögen sie denn anerkennen, daß wir nicht nach unsrer Fähigkeit
diese Dinge zu begreifen über ihre Wahrheit urtheilen dürfen, denn
diese zwei entgegengesetzten Sätze sind alle beide unbegreiflich
und demnach ist nothwendig einer von beiden wahre.
Können sie aber nicht begreifen, wie Theile, die so klein sind, daß
wir sie nicht bemerken, so viel getheilt werden können als das
Firmament, so giebt es kein besseres Mittel als ihnen dieselben
durch Vergrößerungsgläser zu zeigen, die den seinen Punkt zu einer
ungeheuren Masse vergrößern. Dadurch werden sie leicht begreifen,
daß man mit Hilfe eines andern, noch künstlicher geschliffenen
Glases sie vergrößern könnte, bis sie dem Firmament gleichen,
dessen Ausdehnung sie bewundern. Dann werden ihnen diese
Gegenstände sehr leicht als theilbar erscheinen, wenn sie bedenken,
daß die Natur unendlich mehr kann als die Kunst. Denn wer hat sie
dessen gewiß gemacht, daß diese Gläser die natürliche Größe jener
Dinge verändert haben oder, wenn sie umgekehrt die wahre Größe
wieder hergestellt, daß das Bild unsres Auges sie geändert und
verkürzt hat wie die Verkleinerungsgläser?
Dritter Abschnitt.
Von der Kunst zu überzeugen.
Vierter Abschnitt.
Allgemeine Kenntniss des Menschen.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Fünfter Abschnitt.
Eitelkeit des Menschen. Wirkungen der Eigenliebe.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Sechster Abschnitt.
Schwäche des Menschen. Ungewissheit keiner natürlichen
Erkenntniss.
1.
2.
3.
Della opinione regina del
mondo.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
de omni scibili
25.
26.
27.
Siebenter Abschnitt.
Elend des Menschen.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Achter Abschnitt
Gründe einiger Volksmeinungen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
Neunter Abschnitt
Zerstreute Gedanken über Moral
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Summum
jus summa injuria
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
abstine et sustine
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
.
(»Das wilde Geschlecht meint, es sei kein Leben ohne Waffen.«) Sie
lieben mehr den Tod als den Frieden, die andern mehr den Tod als
den Krieg. Jede Meinung kann über das Leben gesetzt werden, zu
welchem doch die Liebe so stark und so natürlich scheint.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
55.
56.
Ambitiosa
recidet ornamenta
57.
58.
59.
60.
62.
63.
64.
65.
66.
Zehnter Abschnitt
Verschiedene Gedanken über Philosophie und Literatur.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
poetice quam humane locutus est
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
Elfter Abschnitt
Ueber Epiktet und Montaigne
1.
2.
3.
4.
5.
Zwölfter Abschnitt.
Ueber den Stand der Großen.
1.
2.
3.