Vorwort

Ricarda Huch (1864–1947) war eine deutsche Schriftstellerin und Dichterin, die als bedeutendste Vertreterin des literarischen Jugendstils gilt. Berühmt wurde sie vor allem aufgrund ihrer detaillierten und äußerst lebendigen Personenschilderungen, bei denen Ricarda Huch kein Blatt vor den Mund nahm.

Die hier vorliegende Brieferzählung „Der letzte Sommer“ (1910) zählt zu ihren bekanntesten Werken und ist zugleich Krimi und Psychogramm. Die Handlung spielt im vorrevolutionären Russland: Der intelligente Revolutionär Lju schleust sich in die Familie des strengen Gouverneurs Jegor von R. ein und erwirbt schnell dessen Vertrauen. Die Töchter verlieben sich in Lju, der Sohn sympathisiert sogar mit dessen revolutionären Ansichten – kann Lju dennoch wie geplant den Gouverneur umbringen?

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Ricarda Huchs Brieferzählung „Der letzte Sommer“ im ungekürzten Original-Wortlaut.


*



Ricarda Huch

Der letzte Sommer


Lju an Konstantin

Kremskoje, 5. Mai 19..

Lieber Konstantin! Ich habe mein Amt angetreten und will Dir berichten, wie sich mir die Lage darstellt. Daß mir gelingen wird, was ich vorhabe, bezweifle ich nicht, es scheint sogar, daß die Umstände günstiger sind, als man voraussetzen konnte. Meine Persönlichkeit wirkt in der ganzen Familie des Gouverneurs sympathisch, von Argwohn ist keine Rede; dies ist im Grunde natürlich, nur wir Wissende konnten das Gegenteil befürchten. Wenn der Gouverneur Erkundigungen über mich eingezogen hat, so konnten diese mir nicht schaden; meine Zeugnisse von der Kinderschule an bis zur Universität sind glänzend, und das einzige, was zu meinem Nachteil sprechen könnte, daß ich mich mit meinem Vater überworfen habe, wird dadurch entkräftet, daß sein herrschsüchtiger und verschrobener Charakter allgemein bekannt ist. Ich glaube aber eher, daß er es nicht getan hat; der Mann ist so ganz ohne Mißtrauen, daß es in seiner Lage an Einfalt grenzen würde, wenn es nicht mehr mit seiner Furchtlosigkeit und seiner unrichtigen Beurteilung der Menschen zusammenhinge. Außerdem scheint meine Anstellung durchaus ein Werk seiner Frau zu sein, die, von Natur ängstlich, seit sie den Drohbrief erhalten hat, nichts andres mehr denkt, als wie sie das Leben ihres Mannes schützen kann. Mißtrauen liegt auch in ihrer Natur nicht; während sie in jedem Winkel unmögliche Gefahren wittert, könnte sie dem Mörder einen Löffel Suppe anbieten, wenn es ihr so vorkäme, als ob der arme Mann nichts Warmes im Leibe hätte.

Sie erzählte mir, daß eben der von Dir verfaßte Brief sie auf den Gedanken gebracht hätte, einen jungen Mann zu suchen, der unter dem Vorwande, ihres Mannes Sekretär zu sein, seine Person vor etwaigen Anschlägen beschützte, ohne daß er selbst es bemerkte. Es sei ihr jedoch nicht möglich gewesen, weder ihre Angst noch ihren Plan vor ihrem Manne geheimzuhalten, und auf ihr inständiges Bitten und um Ruhe vor ihr zu haben, sei er endlich darauf eingegangen, teils auch, weil er seit kurzem eine Art Nervenschmerz am rechten Arm habe, der ihm das Schreiben erschwere. Er habe aber die Bedingung gestellt, daß er wenigstens des Nachts unter dem alleinigen Schutze seiner Frau bleiben dürfe. Sie lachten beide, und er setzte hinzu, seine Frau verstehe sich so ausgezeichnet auf die Befestigung der Schlafzimmer, daß er sich dreist ihr anvertrauen dürfe; sie gehe nie zu Bett, ohne vorher alle Schränke und besonders die Vorhänge untersucht zu haben, die sie für Schlupfwinkel von Verbrechern hielte. Natürlich, sagte sie lebhaft, vorsichtig müsse man doch sein, ängstlich sei sie durchaus nicht, sie lasse sogar nachts die Fenster offen, weil sie eine Freundin der frischen Luft sei, gehe allerdings mit dem Gedanken um, Gitter machen zu lassen, die man davor setzen könne; denn da die Haustüre verschlossen wäre, bliebe doch den Leuten, die Böses vorhätten, nichts andres übrig, als durchs Fenster einzusteigen. Indessen, sagte sie, habe sie schon jetzt das Gefühl, daß sie sich weniger Gedanken machen würde, nun ich da wäre. Ihr Gesicht hatte etwas ungemein Gewinnendes bei diesen Worten. Ich sagte: „Das hoffe ich. Ich würde jede Sorge, die Sie sich jetzt noch machten, als einen Vorwurf gegen meine Berufstreue auffassen.“ Während dieses Gespräches war der Sohn ins Zimmer gekommen; er sah mich mit einem besorgten Blick an und sagte: „Fangen Sie heute schon an?“, worüber wir alle so lachen mußten, daß dadurch sofort ein vertraulicher Ton hergestellt war. Dieser Sohn, er heißt Welja, ist ein hübscher und sehr drolliger Junge, nicht viel jünger als ich, spielt aber noch wie ein Kind von fünf Jahren, nur daß das Spielzeug nicht mehr ganz dasselbe ist. Studieren tut er die Rechte, um einmal die diplomatische Laufbahn einzuschlagen; man merkt aber nichts davon. Er ist klug und ein moderner Mensch mit zahllosen unbeschnittenen Trieben und unbegrenzter Empfänglichkeit; sein Charakter ist, keinen zu haben, und dies macht ihn vollkommen belanglos. Er sieht von jeder Sache nur die Seite, an die sich ein Bonmot anknüpfen läßt, dessen größter und unwiderstehlicher Reiz in der verschlafenen Art besteht, wie er es vorbringt.

Außer dem Sohne sind zwei Töchter da, Jessika und Katja, zwischen zwanzig und dreiundzwanzig Jahren, blond, niedlich, einander ähnlich wie Zwillinge. Sie waren gegen mich eingenommen, weil sie die Furchtsamkeit ihrer Mutter albern finden und weil sie fürchteten, in ihrer sommerlichen Zurückgezogenheit gestört zu werden; da ihnen aber mein Aeußeres hübsch und stilvoll vorkommt, und da Welja, der ihr Vorbild ist, sich zu mir hingezogen fühlt, fangen sie an, sich mit meiner Anwesenheit zu befreunden. Diese drei Kinder erinnern mich, ich weiß nicht warum, an kleine Kanarienvögel, die dicht zusammengedrängt auf einer Stange sitzen und zwitschern. Ueberhaupt hat die ganze Familie etwas kindlich Harmloses, das mich und meine Aufgabe vor mir selbst lächerlich machen könnte; aber ich kenne die menschliche Seele gut genug, um zu wissen, daß diesem Wesen maßloser Hochmut zugrunde liegt. Haß, ja selbst Uebelwollen setzt doch eine gewisse Nähe zu den Menschen voraus; diese fühlen sich im Grunde allein in einer ihnen gehörenden Welt. Alle andern haben nicht die Bedeutung der Wirklichkeit und greifen nicht in ihren Frieden ein.

Die Dienerschaft besteht aus einem Kutscher, Iwan, der trinkt, und den Welja Väterchen nennt, und drei Mädchen; alles sind Leute altrussischer Art, fühlen noch als Leibeigene, beten ihre Herrschaft an und urteilen doch mit unbewußter Ueberlegenheit über sie, weil sie dem Urquell noch näher sind. Liebe Wesen, die mir, wie Tiere, eine gewisse Ehrfurcht einflößen.

Dies sind meine ersten Eindrücke; Du hörst bald mehr von mir.

Lju.



Welja an Peter

Kremskoje, 6. Mai.

Lieber Peter! Ich habe mich damit abgefunden, daß ich während der ganzen Dauer von Papas Urlaub hier auf dem Lande bleiben muß. Blödsinnige Sache, dieser Schluß der Universität. Ich hatte doch vollkommen recht, als ich Ruhe empfahl; denn daß wir bei einem Kampfe den kürzeren ziehen mußten, war vorauszusehen. Aber Du mußtest natürlich wie eine geheizte Maschine ohne Bremse drauflos, und es ist reiner Zufall, daß Du nicht von meinem eignen Vater an den Galgen gebracht wirst. Es ist durchaus keine Schande, der Uebermacht nachzugeben, vielmehr Stumpfsinn und Raserei, gegen sie anzugehen; ich leide an keinem von beiden. Wenn mir die armen Kerls nicht leid täten, die mit ihrem heiligen Eifer so rettungslos hereingefallen sind, würde ich mich mit der Geschichte ganz aussöhnen; den Sommer genießt man hier schließlich am besten, und aus der Affäre mit der Lisabeth, die ich ein bißchen unüberlegt angezettelt hatte, hätte ich mich nicht so leicht loswickeln können, wenn ich in Petersburg geblieben wäre. Wenn Papa und Mama auch etwas rückständig sind, so haben sie doch Verstand und Geschmack und sind zum täglichen Umgang viel angenehmer als die rabiaten Köpfe, mit denen Du Deine antediluvianische Dickhaut zu umgeben liebst. Papa darf man zwar nicht ernstlich widersprechen, wenn man seine Ruhe bei Tisch haben will, aber Mama hört gelegentlich eine rebellische Ansicht recht gern und frondiert mit einer gewissen Verve gegen Papa, was ihm auch in angemessenen Grenzen gut an ihr gefällt; wenn er sich aber nachdrücklich räuspert oder die Augenbrauen zusammenzieht, lenkt sie gleich ein, schon um uns mit dem guten Beispiel der Unterordnung voranzugehen. Uebrigens ist ja auch Katja hier, es ist also nicht nur erträglich, sondern positiv nett.

Der Schutzengel ist angekommen. Mama ist überzeugt, daß er das Talent hat, alle Gifte, Waffen, Dynamitpatronen und sonstigen Unfälle von Papa ab- und auf sich hinzulenken, und schätzt den begabten jungen Mann unendlich. Wir dachten, es würde ein Mann mit breitem Vollbart, biederen Fäusten und aufgeblasenen Redensarten ankommen; anstatt dessen ist er schlank, glattrasiert, zurückhaltend, eher ein englischer Typus. Mir sagte er, sein Vater habe verlangt, daß er sich zu einer Professur melde, er hat nämlich Philosophie studiert, aber er wolle keinen Beruf und habe besonders einen Widerwillen gegen die zünftigen Philosophen. Um ihn zu zwingen, habe sein Vater ihm alle Geldmittel entzogen, und deshalb habe er diese Stellung angenommen, zu der er im Grunde wohl wenig befähigt sei. Er sagte: „Ich glaube, ich kann mich am ersten dadurch nützlich machen, daß ich Ihre Frau Mutter ein wenig beruhige, und das scheint mir gar nicht schwer zu sein. Sie hat die liebenswürdige Eigenschaft, nicht zweifelsüchtig zu sein, und wird mich gern für einen geborenen Blitzableiter halten, wenn ich mir einigermaßen Mühe gebe, einen solchen vorzustellen.“ Ich sagte: „Wenn Sie sich nur nicht dabei langweilen.“ Darüber lachte er und sagte: „Ich langweile mich nie. Der Mensch befindet sich, wo er auch ist, im Mittelpunkt eines Mysteriums. Aber auch abgesehen davon: ich liebe das Landleben und gute Gesellschaft, für mich ist also gesorgt.“ Er hat einen durchdringenden Blick, und ich bin überzeugt, daß er uns alle schon ziemlich zutreffend zerlegt und eingeteilt hat. Er selbst glaubt unergründlich zu sein; ich halte ihn trotz seiner anscheinenden Kälte für verwegen, sehr leidenschaftlich und ehrgeizig. Es wäre schade, wenn er doch noch einmal Professor würde. Man hat das Gefühl, daß er mehr will und kann als andre Menschen. Seine Ansichten werden wohl nicht weniger revolutionär sein als unsre, aber er ist bis jetzt ganz unpersönlich im Gespräch. Diese Objektivität imponiert mir eigentlich am meisten, besonders weil seine Unterhaltung trotzdem anregend ist. Jessika und Katja sind dafür natürlich sehr empfänglich, weswegen Du aber noch nicht eifersüchtig zu werden brauchst, alter Saurier.

Dein Welja.



Jessika an Tatjana

Kremskoje, 7. Mai.

Liebe Tante! Da es tiefstes Geheimnis ist und bleiben soll, daß Mama einen Sekretär für Papa angestellt hat, dessen eigentliche Bestimmung ist, Papa vor den Bomben zu schützen, die ihm angedroht sind, kann ich die Tatsache wohl als bekannt voraussetzen. Vielleicht ist es auch besser, wenn sie in den weitesten Kreisen verbreitet wird, dann fangen die Anarchisten gar nicht erst an zu werfen, wodurch unserm Schutzengel seine Arbeit erleichtert wird. Du siehst, daß ich ihm wohl will, und er verdient es schon deshalb, weil seine Anwesenheit so günstig auf Mamas Stimmung einwirkt. Am ersten Mittag fragte Mama ihn, was er geträumt habe; der erste Traum an einem neuen Aufenthalt sei bedeutungsvoll. Ich glaube, er hatte gar nichts geträumt, aber er erzählte, ohne sich zu besinnen, eine lange Geschichte, daß er sich im Innern eines herrlichen Palastes befunden habe und langsam von einem Raume zum andern gegangen sei, und beschrieb alle ganz ausführlich. Zuletzt sei er zu einem Gemach gekommen, in dem es ganz dunkel gewesen sei und auf dessen Schwelle ihn eine unerklärliche Bangigkeit befallen habe; er habe gezögert, weiterzugehen, dann sich zusammengenommen, dann wieder innegehalten und sei dann unter Herzklopfen aufgewacht. Mamas Augen wurden immer größer. „Wie gut,“ sagte sie, „daß Sie nicht hereingegangen sind, es wäre gewiß etwas Schreckliches darin gewesen.“ „Vielleicht eine Badewanne,“ sagte Welja ruhig. Wir mußten alle lachen, und da Katja erst anfing, als wir andern schon fertig waren, dauerte es sehr lange. Ich sagte: „Bitte, träumen Sie doch nächste Nacht weiter und nehmen Sie ein Bad, damit Mama beruhigt ist; denn Baden kann doch nur Gutes bedeuten.“ Nein, sagte Mama, Wasser wäre zweideutig, nur Feuer wäre ein unbedingter Glückstraum, und sie hätte eben diese Nacht einen gehabt. Dann erzählte sie ihren Traum, er war zu niedlich; sie hatte nämlich mit Papa schlafen gehen wollen, und da hatten ihre Betten in Flammen gestanden, schönen, hellen Flammen ohne Rauch (das ist sehr wichtig!), und sie hatte immer hineingeblasen in der Meinung zu löschen. Da hatte Papa gerufen: „Lusinja, so blase doch nicht!“ und hatte vor Lachen kaum sprechen können, und darüber war sie auch ins Lachen gekommen und war lachend aufgewacht. Diesen Traum bezog Mama auf Lju, dessen Ankunft für uns glückbringend sei; Lju heißt unser Schutzengel. Daran anknüpfend erklärte er, woher der Volksglaube an die Bedeutung der Träume stamme und daß und warum Wasser und Feuer bei allen Völkern im selben Sinne aufgefaßt würden und was Wahres daran sei; leider kann ich es Dir nicht so hübsch auseinandersetzen, wie er es tat. Papa hörte auch sehr interessiert zu, obgleich er von Träumen und dergleichen eigentlich gar nichts versteht, und sagte zuletzt mit einem Seufzer: „Sie würden ausgezeichnet zum Sekretär meiner Frau passen!“











Katja an Peter









Lju an Konstantin













Jessika an Tatjana















Welja an Peter













Lusinja an Tatjana















Lju an Konstantin













Jessika an Tatjana













Welja an Peter













Katja an Tatjana









Lju an Konstantin













Welja an Peter







Katja an Peter







Lusinja an Tatjana















Jessika an Tatjana













Lju an Konstantin















Welja an Peter















Katja an Peter









Lusinja an Tatjana
















Jessika an Tatjana











Lju an Konstantin










Welja an Peter











Lju an Konstantin









Jessika an Tatjana











Welja an Peter



















Lju an Konstantin



















Katja an Welja









Jessika an Katja













Lusinja an Katja













Welja an Katja













Jegor von Rasimkara an Frau Demodow












Lju an Konstantin













Katja an Welja









Lusinja an Tatjana

















Welja an Katja









Lju an Konstantin













Jessika an Tatjana









Welja an Katja











Welja an Peter










Lusinja an Katja













Katja an Jegor











Lusinja an Tatjana















Jessika an Katja











Welja an Peter















Jessika an Katja











Lju an Konstantin











Lusinja an Tatjana











Welja an Katja





















Lju an Konstantin











Lusinja an Katja















Welja und Katja an Jegor











Lju an Konstantin











Lusinja an Jessika













Jegor an Welja und Katja
Kremskoje, 18. Juli. Nun ihr beiden kleinen Kinder, was für ein Unsinn ist das mit dem Trinken? Was soll ich gesagt haben? Gebildete Menschen müssen Maß halten, das ist selbstverständlich. Wenn ein russischer Bauer nicht trinkt, kann man auf Theorien und Berechnung schließen, auf den Hang zu irgendeiner Vervollkommnung, und wo der tierische Trieb einmal gebrochen ist, da tritt zunächst nichts Gutes an die Stelle. So; ihr habt mäßig zu sein, weil ihr für gebildete Menschen gelten wollt. Unser Schutzengel ist abgereist, ich habe augenblicklich keinen andern als Eure Mutter, unter deren Flügeln ich mich am wohlsten befinde. Eben tritt sie hinter meinen Stuhl, legt den Arm um mich und tut die nicht mehr neue, aber immer wieder gern gehörte Frage: „Warum bist du so blaß, J......“ ENDE *