Wie immer habe ich mich bei der Niederschrift dieses Buches auf das Wissen von Freunden verlassen, und ich möchte ihnen von dieser Stelle aus dafür danken. Steve Holland, Gene McDade, Mark Lee, Buster Hale und R. Warren Moak stellten mir ihre Erfahrungen zur Verfügung und/oder gingen auf die Suche nach vertraulichen Details. Will Denton las auch diesmal das Manuskript und sorgte dafür, daß alles Juristische stimmt.
In Brasilien wurde ich von Paulo Rocco unterstützt, meinem Verleger und Freund. Er und seine reizende Frau Angela machten mich mit ihrem geliebten Rio vertraut, der schönsten Stadt der Welt.
Wenn ich sie fragte, sagten diese Freunde mir die Wahrheit. Wie gewöhnlich gehen alle Fehler auf mein Konto.
John Grisham wurde am 8. Februar 1955 in Jonesboro/ Arkansas, geboren. Als junger Mann träumte er von einer Karriere als Profi-Baseballspieler, doch als sich diese Pläne zerschlugen, studierte er in Mississippi Rechnungswesen und Jura. 1981 schloss er sein Studium erfolgreich ab und heiratete im selben Jahr Renee Jones.
Er ließ sich in Southaven/Mississippi als Anwalt für Strafrecht nieder und engagierte sich außerdem in der Politik. 1983 und 1987 wurde er in das Abgeordnetenhaus von Mississippi gewählt.
Der schreckliche Fall einer vergewaltigten Minderjährigen brachte ihn zum Schreiben. In Früh- und Nachtschichten entstand sein erster Thriller, Die Jury, der 1988 in einem kleinen, unabhängigen Verlag erschien.
Sofort nach Fertigstellung von Die Jury begann John Grisham mit seinem nächsten Buch, Die Firma. Noch vor Erscheinen des Buches erwarb Paramount Pictures die Filmrechte, wodurch die großen Verlage aufmerksam wurden. Schließlich kaufte Doubleday die Buchrechte, und Die Firma wurde der Bestseller des Jahres 1991 und stand 47 Wochen in Folge auf der New York Times-Bestsellerliste.
Seither hat John Grisham jedes Jahr ein neues Buch veröffentlicht. Alle seine Bücher kamen auf die internationalen Bestsellerlisten; sie wurden in 38 Sprachen übersetzt. Weltweit sind über 275 Millionen Exemplare verkauft worden. Die meisten seiner Romane wurden auch verfilmt.
Heute lebt John Grisham mit seiner Frau Renee zurückgezogen in Charlottesville/Virginia und auf einer Farm in Oxford/Mississippi. Neben dem Schreiben fördert er die Baseball-Jugend und engagiert sich in karitativen Projekten. Er versucht dem Medienrummel zu entgehen und ein möglichst normales Familienleben zu führen.
»Grisham bürgt für Hochspannung und Qualität, er ist die oberste Instanz des Thrillers.« Neue Zürcher Zeitung
»Mit John Grishams Tempo kann keiner mithalten.«
The New York Times
»John Grisham ist so viel besser als alle anderen.«
Süddeutsche Zeitung
Sie spürten ihn in Ponta Porã auf, einem verschlafenen Nest in Brasilien, an der Grenze zu Paraguay, einer Gegend, die auch heute noch einfach nur das Grenzland genannt wird.
Sie stellten fest, daß er zurückgezogen in einem Ziegelsteinhaus in der Rua Tiradentes lebte, einer breiten Straße mit Bäumen auf dem Mittelstreifen und einer Horde barfüßiger Jungen, die Fußball spielend über das heiße Pflaster tobte.
Sie stellten fest, daß er, soweit sie erkennen konnten, allein lebte. Während der acht Tage, die sie auf der Lauer lagen und ihn ausspähten, kam und ging gelegentlich eine Putzfrau.
Sie stellten fest, daß er ein angenehmes, aber keineswegs luxuriöses Leben führte. Das Haus strahlte Bescheidenheit aus und hätte jedem x-beliebigen einheimischen Kaufmann gehören können. Der Wagen, ein 1983er Käfer, Massenfabrikat, in São Paulo gebaut, war rot, sauber und auf Hochglanz poliert. Ihr erstes Foto von ihm war ein Schnappschuß, der ihn hinter dem Tor zur Auffahrt seines Hauses beim Einwachsen des Käfers zeigte.
Sie stellten fest, daß er abgenommen hatte. Die hundertfünfzehn Kilo, die er mit sich herumgeschleppt hatte, als er zum letztenmal gesehen worden war, waren verschwunden. Sein Haar und seine Haut erschienen dunkler; sein Kinn war vergrößert und seine Nase verfeinert worden. Perfekte plastisch-kosmetische Korrekturen des Gesichts. Sie hatten dem Schönheitschirurgen in Rio, der zweieinhalb Jahre zuvor die Operation vorgenommen hatte, ein kleines Vermögen für die Informationen bezahlen müssen.
Sie spürten ihn nach vier Jahren ebenso gewissenhafter wie ermüdender Suche auf, vier Jahren, in denen sie sich in Sackgassen verrannt hatten, vier Jahren kalt gewordener Spuren und falscher Hinweise, vier Jahren, in denen viel Geld geflossen war und, wie es schien, gutes Geld schlechtem hinterhergeworfen worden war.
Aber sie fanden ihn. Und sie warteten. Anfangs drängte sie alles zum schnellen Zugriff, drängte es sie, ihn zu betäuben und in ein sicheres Haus nach Paraguay zu schmuggeln, ihn zu schnappen, bevor er sie sah oder bevor ein Nachbar argwöhnisch wurde. Aber nach zwei Tagen beruhigten sie sich und warteten. Sie hielten sich, wie die Einheimischen gekleidet, an verschiedenen Stellen entlang der Rua Tiradentes auf, tranken Tee im Schatten, mieden die Sonne, aßen Eis, unterhielten sich mit den Kindern und beobachteten sein Haus. Sie folgten ihm, wenn er zum Einkaufen in die Innenstadt fuhr, und sie fotografierten ihn über die Straße hinweg, als er die Apotheke verließ. Auf einem Obstmarkt schoben sie sich so nahe an ihn heran, daß sie hören konnten, wie er sich mit einem Verkäufer unterhielt. Er sprach ein ausgezeichnetes Portugiesisch, mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent eines Amerikaners oder eines Deutschen, der sich große Mühe mit dem Erlernen der Sprache gegeben hatte. Er bewegte sich schnell und zielstrebig durch die Innenstadt, erledigte seine Einkäufe und kehrte nach Hause zurück, wo er das Tor sofort wieder hinter sich abschloß. Sein kurzer Ausflug zum Einkaufen lieferte ein Dutzend guter Fotos.
In seinem früheren Leben hatte er gejoggt; aber in den Monaten vor seinem Verschwinden war seine Laufleistung in dem Maße geschrumpft, wie sein Gewicht nach oben gegangen war. Jetzt, wo sein Körper sich am Rande der Auszehrung bewegte, waren sie nicht überrascht, ihn wieder laufen zu sehen. Er verließ sein Haus, schloß das Tor hinter sich ab und bewegte sich in langsamem Trab die Rua Tiradentes hinunter. Neun Minuten für die erste Meile, als die Straße völlig gerade verlief und die Häuser weiter auseinander rückten. Am Stadtrand ging das Pflaster in Schotter über, und ungefähr in der Mitte der zweiten Meile war sein Tempo auf acht Minuten pro Meile gestiegen, und Danilo war ganz hübsch ins Schwitzen geraten. Es war Oktober, um die Mittagszeit, die Temperatur betrug ungefähr fünfundzwanzig Grad, und er wurde noch schneller, als er vorbei an einer kleinen, mit jungen Müttern überfüllten Klinik und vorbei an einer kleinen Kirche, die die Baptisten gebaut hatten, die Stadt verließ. Die Straßen wurden staubiger, als er mit sieben Minuten pro Meile in die offene Landschaft lief.
Er nahm die Sache mit dem Laufen sehr ernst, ein Umstand, der sie mit tiefer Genugtuung erfüllte. Daniel würde ihnen praktisch in die Arme laufen.
Am Tag, nachdem sie ihn zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatten, wurde von einem Brasilianer, der Osmar hieß, eine kleine, heruntergekommene Hütte am Rand von Ponta Porã gemietet, und innerhalb kurzer Zeit trudelte der Rest des Verfolgerteams dort ein. Es bestand zu gleichen Teilen aus Amerikanern und Brasilianern, wobei Osmar die Befehle auf portugiesisch gab und Guy Kommandos auf englisch zu bellen pflegte. Osmar beherrschte beide Sprachen und fungierte als so etwas wie der offizielle Dolmetscher des Teams.
Guy kam aus Washington. Er war ein ehemaliger Secret-Service-Mann, angeheuert, um Danny Boy zu finden, wie sie ihn unter sich nannten. Manche Leute hielten Guy für ein Genie auf seinem Gebiet. Gesichtslos und ohne Spuren zu hinterlassen, war Guy ein Mann ohne Vergangenheit. Sein fünfter Einjahresvertrag, Danny Boy aufzuspüren, lief, und für das Ergreifen der Beute winkte ihm ein hübscher Bonus. Obwohl er es stets gut zu verbergen wußte, drohte Guy unter dem Druck, Danny Boy nicht finden zu können, über die Jahre langsam den Verstand zu verlieren.
Vier Jahre und dreieinhalb Millionen Dollar. Und nichts, was man hätte vorweisen können.
Aber jetzt hatten sie ihn aufgespürt.
Osmar und seine Brasilianer hatten nicht die geringste Ahnung von Danny Boys Sünden, aber jeder auch nur halbwegs mit Verstand Begabte konnte sehen, daß er untergetaucht sein und sich mit ihm entschieden zu viel Geld in Luft aufgelöst haben mußte. Osmar hatte rasch gelernt, keine Fragen zu stellen. Guy und die Amerikaner hatten zu diesem Thema nichts zu sagen.
Die Fotos von Danny Boy wurden auf zwanzig mal fünfundzwanzig vergrößert und an eine Wand in der Küche der heruntergekommenen kleinen Hütte geheftet, wo sie wieder und wieder von Männern mit harten Augen verbissen studiert wurden, Männern, die Kette rauchten und angesichts der Fotos die Köpfe schüttelten. Sie flüsterten miteinander und verglichen die neuen Fotos mit den alten, denen aus seinem früheren Leben. Dünnerer Mann, eigenartiges Kinn, andere Nase. Sein Haar war kürzer und seine Haut dunkler. War es wirklich ihr Mann?
Sie hatten das alles schon einmal durchgemacht, in Recife, an der Nordostküste, neunzehn Monate zuvor, wo sie eine Wohnung gemietet und ebenfalls Fotos an einer Wand betrachtet hatten, bis beschlossen wurde, den Amerikaner zu greifen und seine Fingerabdrücke zu überprüfen. Falsche Fingerabdrücke. Falscher Amerikaner. Sie pumpten noch ein paar Drogen mehr in ihn hinein und entsorgten ihn in einem Straßengraben.
Sie scheuten davor zurück, allzu tief in das gegenwärtige Leben von Daniel Silva einzudringen. Wenn er tatsächlich ihr Mann war, dann verfügte er ausreichend über Geld. Und Bargeld, das wußten sie, wirkte bei den einheimischen Behörden stets Wunder. Jahrzehntelang hatten sich Nazis und andere Deutsche, die sich in Ponta Porã eingenistet hatten, mit Bargeld ausgesprochen erfolgreich Schutz erkaufen können.
Osmar wollte einen schnellen Zugriff. Guy sagte, sie würden warten. Am vierten Tag verschwand er urplötzlich, und sechsunddreißig Stunden lang herrschte in der heruntergekommenen kleinen Hütte ein ziemliches Chaos.
Sie sahen noch, wie er in den roten Käfer stieg. Er hatte es eilig, lautete der Bericht. Er raste durch die Stadt zum Flughafen, ging im letzten Augenblick an Bord einer kleinen Maschine, und weg war er. Sein Wagen blieb auf dem einzigen Parkplatz des Flugplatzes zurück, wo sie ihn in den nächsten Tagen keine Sekunde aus den Augen ließen. Das Flugzeug flog mit vier Zwischenlandungen in Richtung São Paulo.
Sofort gab es den Plan, in sein Haus einzudringen und alles zu inventarisieren. Es mußte ganz einfach Unterlagen geben. Irgendwie mußte das Geld ja verwaltet werden. Guy sah es direkt vor sich; er träumte davon, Bankunterlagen zu finden, Belege für telegrafische Überweisungen, Kontoauszüge; alle möglichen Dokumente, alles fein säuberlich in Ordnern abgeheftet, die ihn direkt zu dem Geld führen würden.
Aber er wußte es besser. Wenn Danny Boy ihretwegen die Flucht ergriff, dann würde er auf keinen Fall irgendwelches Beweismaterial zurücklassen. Und wenn er tatsächlich ihr Mann war, dann war sein Haus bestimmt sorgfältig gesichert. Danny Boy würde, wo immer er war, vermutlich sofort Bescheid wissen, wenn sie seine Haustür oder ein Fenster öffneten.
Sie warteten. Sie fluchten und stritten und litten noch stärker unter dem Zwang zum Erfolg. Guy rief täglich in Washington an, eine unerfreuliche Aufgabe. Sie beobachteten den roten Käfer. Jedes eintreffende Flugzeug ließ sie die Ferngläser und Handys zücken. Sechs Flüge am ersten Tag. Fünf am zweiten. In der heruntergekommenen kleinen Hütte wurde es heiß und stickig. Die Männer flüchteten ins Freie – die Amerikaner dösten im mickrigen Schatten eines Baumes auf dem Hinterhof vor sich hin. Die Brasilianer spielten, am Zaun im Vorgarten sitzend, Karten.
Guy und Osmar unternahmen eine ausgedehnte Fahrt und schworen sich, daß sie sofort zuschlagen würden, sollte er jemals zurückkehren. Osmar äußerte sich zuversichtlich, daß er wieder auftauchen würde. Vermutlich war er nur kurz geschäftlich unterwegs, was immer das auch heißen mochte. Sie würden ihn schnappen, ihn identifizieren, und sollte sich herausstellen, daß er der Falsche war, würden sie ihn einfach in irgendeinem Straßengraben abladen und verschwinden. Wie beim letztenmal.
Am fünften Tag kam er zurück. Sie folgten ihm in die Rua Tiradentes, und alle waren glücklich.
Am achten Tag leerte sich die heruntergekommene kleine Hütte; alle Brasilianer und alle Amerikaner gingen auf Position.
Die Laufstrecke war sechs Meilen lang. Er hatte sie seit seiner Rückkehr jeden Tag zurückgelegt, war fast immer zur gleichen Zeit gestartet, trug die gleichen blau-orangenen Laufshorts, abgetragenen Nikes, Socken, kein Hemd.
Die ideale Stelle für den Zugriff lag zweieinhalb Meilen von seinem Haus entfernt, hinter einer kleinen Anhöhe auf einem Schotterweg, nicht weit vom Wendepunkt seiner Laufstrecke entfernt. Danilo kam nach zwanzigminütigem Lauf über die Anhöhe, ein paar Sekunden früher als erwartet. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war er schneller als gewöhnlich. Vielleicht wegen der Wolken.
Auf der anderen Seite der Anhöhe stand ein Kleinwagen mit einem scheinbar platten Reifen und blockierte, hinten aufgebockt, die Straße. Sein Fahrer, ein kräftiger, untersetzter junger Mann, tat so, als wäre er vom Anblick des asketisch wirkenden Mannes überrascht, der schwitzend und keuchend auf der Anhöhe erschien. Daniel verlangsamte für eine Sekunde sein Tempo. Rechts war mehr Platz.
»Bom dia«, sagte der stämmige junge Mann und tat einen Schritt auf Daniel zu.
»Bom dia«, sagte Daniel, sich dem Wagen nähernd.
Der Fahrer holte plötzlich eine großkalibrige Pistole aus dem Kofferraum und hielt sie Daniel zwischen die Augen. Dieser erstarrte; seine Augen fixierten die Pistole, er atmete schwer mit offenem Mund. Der Fahrer hatte massige Hände und lange, kräftige Arme. Er packte Daniel am Genick, riß ihn mit einem Ruck zum Wagen hin und drückte ihn dort neben der Stoßstange auf den Boden. Die Pistole verschwand in einem Halfter, und ehe Daniel sich versah, fand er sich in den Kofferraum des Wagens verfrachtet. Danny Boy wehrte sich und trat um sich, aber er hatte nicht den Hauch einer Chance.
Der Fahrer schlug den Kofferraumdeckel zu, ließ den Wagen herunter, warf den Wagenheber in den Straßengraben und fuhr davon. Nach etwa einer Meile bog er in einen schmalen Feldweg ein, wo man bereits unruhig auf ihn wartete.
Sie schlangen Nylonseile um Danny Boys Handgelenke und verbanden ihm mit einem schwarzen Tuch die Augen, dann wuchteten sie ihn auf die Rückbank eines Vans. Osmar saß zu seiner Rechten, ein weiterer Brasilianer zu seiner Linken. Jemand griff sich seine Schlüssel aus der mit Klettband befestigten Velcros-Bauchtasche, die er um die Taille trug. Daniel sagte nichts, als der Van startete und Fahrt aufnahm. Er schwitzte noch immer und atmete sehr schwer.
Als der Van auf einer staubigen Straße neben einer landwirtschaftlich genutzten Fläche abrupt anhielt, brachte Danilo seine ersten Worte hervor. »Was wollt ihr?« fragte er auf portugiesisch.
»Kein Wort!« kam die Antwort von Osmar, auf englisch. Der Brasilianer links neben Daniel holte eine Spritze aus einem kleinen Metallkasten und zog ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel auf. Osmar hielt Danilos Handgelenke fest zusammengepreßt, während der andere Mann ihm die Nadel in den Oberarm jagte. Daniel versteifte sich und versuchte sich loszureißen, dann wurde ihm klar, daß es hoffnungslos war. Er entspannte sich sogar ein wenig, als der Rest des Mittels in seinen Körper ging. Seine Atmung verlangsamte sich, sein Kopf begann zu schwanken. Als ihm das Kinn auf die Brust gesackt war, hob Osmar sanft mit dem rechten Zeigefinger die Shorts an Danilos rechtem Oberschenkel und fand genau das, was er erwartet hatte. Blasse Haut.
Das Laufen hielt ihn schlank, und es hielt ihn auch braun.
Entführungen waren im Grenzgebiet keine Seltenheit. Amerikaner waren leichte Opfer. Aber weshalb gerade ich, fragte sich Daniel, als er immer benommener wurde und ihm die Augen zufielen. Er lächelte, während er durch den Weltraum stürzte, Kometen und Meteoren auswich, nach Monden griff und ganze Galaxien angrinste.
Sie stopften ihn unter ein paar mit Melonen und Früchten gefüllte Pappkartons. Die Grenzposten winkten sie durch, ohne sich von ihren Stühlen zu erheben, und Danny Boy war nun in Paraguay, obwohl ihm im Moment nichts gleichgültiger sein konnte als das. Er ließ sich glücklich auf dem Boden des Vans liegend durchrütteln, als die Straßen schlechter und die Landschaft unwegsamer wurde. Osmar rauchte Kette und deutete gelegentlich in diese oder jene Richtung. Eine Stunde nach dem Zugriff bogen sie ein letztes Mal in einen unscheinbaren Feldweg ab. Die Hütte lag in einer Schlucht zwischen zwei steil aufragenden Bergen, von der schmalen Landstraße aus kaum zu sehen. Sie schleppten ihn wie einen Mehlsack hinein und luden ihn auf einem Tisch ab; dann machten sich Guy und der Fingerabdruck-Experte ans Werk.
Danny Boy schnarchte, während ihm von allen acht Fingern und den beiden Daumen Abdrücke genommen wurden. Die Amerikaner und die Brasilianer drängten sich um ihn und registrierten jeden Handgriff. In einem Karton neben der Tür standen ungeöffnete Whiskeyflaschen, für den Fall, daß dies der richtige Danny Boy sein sollte.
Der Fingerabdruck-Experte verließ mit den frischen Abdrücken den Raum und begab sich in sein auf der Rückseite des Hauses gelegenes Zimmer, wo er sich einschloß und die frischen Abdrücke vor sich ausbreitete. Er justierte die Lampe und holte den Vergleichssatz hervor, jene Abdrücke, die Danny Boy so bereitwillig geliefert hatte, als er noch wesentlich jünger war, damals, als er Patrick hieß und seine Zulassung als Anwalt im Staat Louisiana beantragt hatte. Merkwürdig, dieses Abnehmen der Fingerabdrücke bei Anwälten.
Beide Sätze waren in sehr gutem Zustand, und es war bereits auf den ersten Blick erkennbar, daß sie perfekt übereinstimmten. Aber er prüfte akribisch alle zehn. Er hatte keine Eile. Sollten die da draußen doch warten. Er genoß den Augenblick. Endlich öffnete er die Tür und starrte das Dutzend erwartungsvolle Gesichter mit steinerner Miene an. Dann lächelte er. »Er ist es«, sagte er auf englisch, und sie klatschten erlöst Beifall.
Guy genehmigte zur Feier des Tages den Whiskey, aber nur in Maßen. Es gab schließlich noch einiges mehr zu tun. Danny Boy, immer noch apathisch vor sich hin dämmernd, wurde, mit einem weiteren Schuß ruhiggestellt, in ein kleines Schlafzimmer gebracht, ohne Fenster und mit einer massiven Tür, die von außen abgeschlossen werden konnte. Hier drinnen würde man ihn verhören und, falls erforderlich, auch foltern.
Die barfüßigen Jungen, die auf der Straße Fußball spielten, waren zu sehr mit sich und ihrem Ball beschäftigt, um irgend etwas Ungewöhnliches zu bemerken. An Danny Boys Schlüsselbund hingen lediglich vier Schlüssel, und deshalb war das kleine Tor zur Straße hin schnell aufgeschlossen und blieb angelehnt. Ein Komplize in einem Mietwagen hielt unter einem großen, vier Häuser entfernten Baum. Ein anderer, auf einem Motorrad, stellte seine Maschine am anderen Ende der Straße ab und begann, sich intensiv mit deren Bremsanlage zu beschäftigen.
Sollte eine Alarmanlage losheulen, würde der Eindringling einfach die Flucht ergreifen und sich nie wieder blicken lassen. Wenn nicht, dann würde er sich drinnen einschließen und Danny Boys Hab und Gut inventarisieren.
Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen. Kein Alarm ertönte. Die Schalttafel an der Wand informierte jeden, der es wissen wollte, daß die Alarmanlage ausgeschaltet war. Er holte tief Luft und verharrte eine Minute lang absolut regungslos, dann begann er mit seiner Arbeit. Er entfernte die Festplatte aus Danny Boys PC und sammelte sämtliche Disketten ein. Er durchstöberte die Papiere auf dem Schreibtisch, fand aber nichts außer den üblichen Rechnungen, einige davon bezahlt, andere noch offen. Das Faxgerät war billig und ohne auffällige Sonderausstattung. Der Anzeige zufolge war es nicht betriebsbereit. Routiniert fotografierte er die Räumlichkeiten. Er machte Fotos von Kleidung, Nahrungsmitteln, Möbeln, Bücherregalen, Zeitschriftenständern.
Fünf Minuten nach dem Öffnen der Eingangstür wurde auf Danilos Dachboden ein stummes Signal ausgelöst, und es erfolgte ein Anruf bei einer privaten Sicherheitsfirma, elf Blocks entfernt, in der Innenstadt von Ponta Porã. Der Anruf blieb ohne Antwort, da der diensthabende Wachmann gerade sanft in einer Hängematte hinter dem Haus schaukelte. Eine Tonbandstimme aus Danilos Haus informierte jeden, der von Rechts wegen hätte zuhören müssen, davon, daß gerade ein Einbruch stattfand. Fünfzehn Minuten vergingen, bis ein menschliches Ohr die Meldung hörte. Als der Wachmann zu Danilos Haus raste, war der Einbrecher bereits wieder verschwunden. Und von Mr. Silva weit und breit keine Spur. Alles schien in Ordnung zu sein, Käfer auf dem Stellplatz inklusive. Das Haus und das Tor zum Anwesen waren verschlossen.
Die Anweisungen in den Unterlagen ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Bei einem solchen Alarm nicht die Polizei informieren. Zuerst versuchen Mr. Silva ausfindig zu machen, und falls er nicht sofort aufzufinden war, eine Nummer in Rio anrufen. Eva Miranda verlangen.
Mit kaum zu unterdrückender Erregung tätigte Guy seinen täglichen Routineanruf nach Washington. Er schloß sogar die Augen dabei und lächelte, als er die Worte »Er ist es« hervorstieß. Seine Stimme war eine Oktave höher als gewöhnlich.
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann: »Sind Sie sicher?«
»Absolut. Die Fingerabdrücke stimmen perfekt überein.«
Neuerlich Stille, während der Stephano in Washington seine Gedanken ordnete, ein Vorgang, der normalerweise nur Bruchteile von Sekunden in Anspruch nahm. »Das Geld?«
»Wir haben noch nicht angefangen. Er steht noch immer unter Drogen.«
»Wann?«
»Heute abend.«
»Ich bleibe in der Nähe des Telefons.« Stephano legte auf, obwohl er am liebsten stundenlang weitergeredet hätte.
Guy fand einen Platz auf einem Baumstumpf hinter der Hütte. Die Vegetation war dicht, die Luft dünn und kühl. Die leisen Stimmen glücklicher Männer wehten zu ihm herüber. Die Schinderei hatte ein Ende – der größte Teil zumindest.
Er hatte gerade fünfzigtausend Dollar verdient. Das Auffinden des Geldes würde ihm einen weiteren Bonus einbringen, und er war sich absolut sicher, daß er das Geld finden würde.
Rio, Innenstadt. In einem hübschen kleinen Büro im zehnten Stock eines Hochhauses umklammerte Eva Miranda den Telefonhörer mit beiden Händen und wiederholte langsam die Worte, die sie gerade gehört hatte. Der stumme Alarm hatte das Wachpersonal herbeigerufen. Mr. Silva sei nicht zu Hause, aber sein Wagen stünde in der Auffahrt, und das Haus sei abgeschlossen.
Jemand war eingedrungen und hatte den Alarm ausgelöst, und es konnte kein Fehlalarm gewesen sein, weil er immer noch aktiviert war, als der Wachmann eintraf.
Daniel war verschwunden.
Vielleicht war er joggen gegangen und hatte gegen den gewohnten Ablauf verstoßen. Dem Bericht des Wachmannes zufolge war der Alarm vor einer Stunde und zehn Minuten ausgelöst worden. Aber Daniel joggte weniger als eine Stunde – sechs Meilen bei einem Tempo von sieben bis acht Meilen pro Minute, also maximal fünfzig Minuten. Keine Ausnahmen. Sie wußte über seine Gewohnheiten genau Bescheid.
Sie rief in seinem Haus in der Rua Tiradentes an, aber niemand meldete sich. Sie rief die Nummer eines Handys an, das er manchmal mit sich führte. Abermals Fehlanzeige, niemand meldete sich.
Vor drei Monaten hatte er versehentlich den Alarm ausgelöst und ihnen beiden damit einen fürchterlichen Schrecken eingejagt. Aber ein kurzer Anruf ihrerseits hatte die Angelegenheit aufgeklärt.
Was seine Sicherheit anging, war er viel zu sorgfältig, um leichtsinnig zu werden. Zu vieles hing davon ab.
Sie wiederholte die Telefonroutine. Das Ergebnis blieb unverändert. Es gibt eine Erklärung für all das, redete sie sich ein.
Sie wählte die Nummer des Apartments in Curitiba, der Hauptstadt des Staates Paraná, einer Stadt mit anderthalb Millionen Einwohnern. Ihres Wissens wußte niemand etwas von diesem Apartment. Es war unter einem anderen Namen angemietet worden und diente als Aufbewahrungsort für wichtige Unterlagen und gelegentlich auch als Treffpunkt. Manchmal verbrachten Daniel und sie dort ein gemeinsames Wochenende; für Eva leider nicht oft genug.
Sie rechnete nicht wirklich damit, daß jemand den Hörer abnahm. Keine Antwort. Daniel würde nicht dorthin fahren, ohne sie vorher zu verständigen.
Als sie mit den Anrufen fertig war, schloß sie die Tür ihres Büros ab und blieb eine Weile mit geschlossenen Augen gegen sie gelehnt. Aus der Eingangshalle drangen die Geräusche des üblichen geschäftigen Treibens der Anwälte und Sekretärinnen zu ihr. Zur Zeit arbeiteten dreiunddreißig Anwälte in der Kanzlei, der zweitgrößten in Rio mit einer Filiale in São Paulo und einer weiteren in New York. Das Zirpen und Wispern der Telefone, Faxgeräte und Kopierer verband sich zu einem fernen geschäftigen Chor.
Mit einunddreißig Jahren war sie eine erfahrene, seit fünf Jahren bei der Kanzlei angestellte Anwältin; so erfahren, daß sie gewohnt war, zahlreiche Überstunden zu machen und auch samstags zu arbeiten. Vierzehn Partner betrieben die Kanzlei, aber nur zwei davon waren Frauen. Sie hatte sich vorgenommen, dieses Verhältnis zu ändern. Zehn der neunzehn angestellten Anwälte waren Frauen, ein Beweis dafür, daß in Brasilien, ebenso wie in den Vereinigten Staaten, immer mehr Frauen in diesen Beruf drängten. Sie hatte an der Pontificia Universidade Católica in Rio studiert, die ihrer Ansicht nach zu den besseren zu zählen war. Ihr Vater lehrte dort noch immer Philosophie.
Er hatte darauf bestanden, daß sie nach dem Jurastudium in Rio in Georgetown weiterstudierte. Georgetown war seine Alma mater. Sein Einfluß, verbunden mit ihren beeindruckenden Bewerbungsunterlagen, ihrem blendenden Aussehen und ihrem fließenden Englisch ließen das Finden eines hochkarätigen Jobs bei einer erstklassigen Kanzlei zu einem Kinderspiel werden.
Sie trat ans Fenster und zwang sich zu Gelassenheit. Zeit war plötzlich von entscheidender Bedeutung. Die nächsten Schritte erforderten höchste Konzentration. Sie würde verschwinden müssen. In einer halben Stunde hatte sie eine Besprechung, aber die mußte verschoben werden.
Der Ordner befand sich in einem kleinen, feuerfesten Safe. Sie holte ihn heraus und las abermals das Blatt mit den Anweisungen; Schritten, die sie und Daniel viele Male zusammen durchgegangen waren.
Er hatte gewußt, daß sie ihn finden würden.
Eva hatte es stets vorgezogen, diese Möglichkeit zu ignorieren.
Ihre Gedanken schweiften ab, während sie sich Sorgen um ihn machte. Das Telefon läutete. Sie schreckte hoch. Es war nicht Daniel. Ein Mandant wartet, sagte ihre Sekretärin. Der Mandant war zu früh dran. Sie wies die Sekretärin an, sie bei dem Mandanten zu entschuldigen; sie solle höflich um einen neuen Termin ersuchen; außerdem wolle sie ab jetzt unter gar keinen Umständen mehr gestört werden.
Das Geld lag gegenwärtig an zwei Orten: auf einer Bank in Panama und bei einem Off-shore-Holding-Trust auf den Bermudas. Ihr erstes Fax autorisierte die sofortige Überweisung des Geldes in Panama auf eine Bank in Antigua. Ihr zweites Fax verteilte Geld auf drei Banken auf Grand Cayman. Das dritte transferierte das Geld von den Bermudas auf die Bahamas.
In Rio war es fast zwei Uhr. Die europäischen Banken hatten geschlossen, deshalb würde sie gezwungen sein, das Geld ein paar Stunden lang in der Karibik von einem Ort zum anderen zu bewegen, bis der Rest der Welt erneut für Banktransfers zur Verfügung stand.
Danilos Anweisungen waren eindeutig, aber allgemein gehalten. Details waren ihre Sache. Die Ausgangsüberweisungen waren von Eva vorgenommen worden. Sie hatte entschieden, welche Banken wieviel Geld bekamen. Sie hatte die Liste der fiktiven Firmennamen erstellt, die als Tarnung für das Geld fungierten; eine Liste, die Daniel nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie verteilte, streute und überwies Kapital hierhin und dorthin. Es war etwas, was sie viele Male geprobt hatten, aber ohne je genau ins Detail zu gehen.
Daniel wußte nicht, wohin das Geld ging. Nur Eva. Sie war autorisiert, in diesem Moment und unter diesen extremen Umständen, das zu tun, was sie für richtig hielt. Sie war auf Handelsrecht spezialisiert. Die meisten ihrer Mandanten waren brasilianische Geschäftsleute, die in die Vereinigten Staaten und nach Kanada exportieren wollten. Sie wußte Bescheid über ausländische Märkte, Währungen, Bankgepflogenheiten. Was sie über das Zirkulierenlassen von Geld in der ganzen Welt noch nicht gewußt hatte, hatte ihr Daniel beigebracht.
Immer wieder schaute sie auf die Uhr. Seit dem Anruf aus Ponta Porã war mittlerweile mehr als eine Stunde vergangen.
Ein weiteres Fax wurde abgeschickt, das Telefon läutete erneut. Bestimmt war das Daniel, endlich, mit einer verrückten Geschichte, und all das hier war umsonst gewesen. Vielleicht nur eine Übung, eine Probe, um festzustellen, wie sie unter Druck reagierte. Aber er war eigentlich kein Mensch, der zu unnötigen Spielereien neigte.
Am anderen Ende war ein Partner, ziemlich aufgebracht, weil sie für eine weitere Zusammenkunft bereits zu spät dran war. Sie entschuldigte sich mit knappen Worten und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fax zu.
Mit jeder Minute, die verging, stieg der Druck. Immer noch kein Wort von Daniel. Keine Reaktion auf ihre wiederholten Anrufe. Wenn sie ihn tatsächlich gefunden hatten, dann würden sie nicht lange damit warten, ihn zum Sprechen zu bringen. Davor fürchtete er sich am meisten. Und das war auch der Grund, weshalb sie von hier verschwinden mußte.
Anderthalb Stunden. Die neue Realität machte ihr schwer zu schaffen. Daniel war verschollen. Er würde nie verschwinden, ohne sie vorher davon zu unterrichten. Dazu war er in seinen Planungen zu sorgfältig, immer in Angst vor den Schatten. Ihr schlimmster Alptraum war wahr geworden.
Von einem Münzfernsprecher in der Lobby des Bürogebäudes aus tätigte Eva zwei Anrufe. Der erste galt dem Verwalter des Hauses, in dem sie wohnte; sie wollte wissen, ob irgend jemand in ihrer Wohnung in Leblon gewesen war, einem Stadtteil im südlichen Teil Rios, in dem die Reichen lebten und die Schönen sich vergnügten. Die Antwort war nein, aber der Verwalter versprach, die Augen offenzuhalten. Der zweite Anruf ging an das Büro des FBI in Biloxi, Mississippi. Es sei äußerst dringend, erklärte sie so gelassen wie möglich und fast akzentfreies Englisch sprechend. Sie wartete, wohl wissend, daß es von diesem Augenblick an keinen Weg zurück gab.
Jemand hatte Daniel aufgespürt. Seine Vergangenheit hatte ihn schließlich doch eingeholt.
»Hallo?« Die Stimme am anderen Ende klang, als wäre sie nur einen Häuserblock weit entfernt.
»Agent Joshua Cutter?«
»Ja.«
Sie zögerte eine Sekunde. »Sind Sie für den Fall Patrick Lanigan zuständig?« Sie wußte genau, daß er zuständig war.
Nach einer kleinen Pause. »Ja. Wer sind Sie?«
Sie würden den Anruf nach Rio verfolgen, und das würde ungefähr drei Minuten dauern. Dann würde sich ihre Spur in einer Stadt mit zehn Millionen Einwohnern verlieren. Aber sie schaute sich trotzdem nervös um.
»Ich rufe aus Brasilien an«, sagte sie, sich an das Drehbuch haltend. »Sie haben Patrick entführt.«
»Wer?« fragte Cutter.
»Ich kann Ihnen einen Namen nennen.«
»Ich höre«, sagte Cutter mit plötzlich deutlich nervös gewordener Stimme.
»Jack Stephano. Kennen Sie ihn?«
Eine Pause, während Cutter offenkundig versuchte, den Namen unterzubringen. »Nein. Wer ist das?«
»Ein Privatagent in Washington. Er hat die letzten vier Jahre nach Patrick gesucht.«
»Und Sie sagen, jetzt hat er ihn gefunden, richtig?«
»Ja. Seine Leute haben ihn gefunden.«
»Wo?«
»Hier. In Brasilien.«
»Wann?«
»Heute. Und ich halte es für möglich, daß sie ihn umbringen.«
Cutter dachte eine Sekunde darüber nach, dann fragte er: »Was können Sie mir sonst noch sagen?«
Sie gab ihm Stephanos Telefonnummer in Washington, dann legte sie auf und verließ das Gebäude.
Guy sah sorgfältig die Papiere durch, die sie aus Danny Boys Haus mitgenommen hatten, und staunte über das Fehlen jeglicher Spuren. Ein Monatsauszug einer lokalen Bank wies ein Guthaben von dreitausend Dollar aus, nicht gerade das, was sie im Sinne hatten. Die einzige Einzahlung belief sich auf achtzehnhundert Dollar, die monatlichen Ausgaben betrugen weniger als tausend. Danny Boy lebte offenkundig sehr bescheiden. Strom- und Telefonrechnung waren unbezahlt, aber noch nicht wirklich in Verzug. Ein Dutzend weitere kleinere Rechnungen trugen den Vermerk »bezahlt«.
Einer von Guys Leuten überprüfte sämtliche Nummern auf Danny Boys Telefonrechnung, förderte aber nichts Interessantes zutage. Ein anderer nahm sich die Festplatte des Computers vor und stellte rasch fest, daß Danny Boy kein großer Hacker war. Da gab es ein ausführliches Tagebuch über seine Abenteuer im brasilianischen Dschungel. Der letzte Eintrag lag ungefähr ein Jahr zurück.
Die Dürftigkeit der gefundenen Papiere an sich war schon verdächtig. Nur ein Kontoauszug? Wer in aller Welt bewahrte nur den letzten Kontoauszug seiner Bank im Haus auf? Was war mit dem Monat davor? Danny Boy mußte irgendwo außerhalb seines Hauses über einen Ort verfügen, wo er seine Unterlagen aufbewahrte. Das würde zu einem Mann auf der Flucht passen.
Bei Anbruch der Dunkelheit wurde Danny Boy, immer noch bewußtlos, bis auf seine kurze Baumwollunterhose ausgezogen. Seine schmutzigen Laufschuhe und die schweißgetränkten Socken wurden abgestreift. Zum Vorschein kamen Füße, die blendend weiß waren. Seine dunkle Haut war nur vorgetäuscht. Sie legten ihn auf eine drei Zentimeter dicke Sperrholzplatte neben seinem Bett. In die Platte waren Löcher gebohrt worden, um seine Knöchel, seine Knie, seine Taille, seinen Brustkorb und seine Handgelenke mit Nylonseilen fixieren zu können. Ein breites Band aus schwarzem Plastik wurde straff um seine Stirn geschnallt. Der Tropf für die Infusion hing direkt über seinem Gesicht. Der Schlauch führte zu einer Vene oberhalb seines linken Handgelenks.
Eine Spritze wurde gesetzt, um Danny Boy aufzuwecken. Sein Atmen wurde schneller, und als sich seine Augen öffneten, waren sie blutunterlaufen und glasig und brauchten eine Weile, bis sie den Tropf erkennen konnten. Der brasilianische Arzt trat ins Bild und stach wortlos eine weitere Nadel in Danny Boys linken Arm. Es war Natrium-Thiopental, eine barbarische Droge, die manchmal benutzt wird, um Leute zum Reden zu bringen. Wahrheitsserum. Es wirkte am besten, wenn es Dinge gab, die der Gefangene gestehen wollte. Die perfekte Droge, die alles ans Licht brachte, mußte erst noch erfunden werden.
Zehn Minuten vergingen. Er versuchte, den Kopf zu bewegen, ohne Erfolg. Er konnte zu beiden Seiten ein paar Füße sehen. Das Zimmer war dunkel bis auf eine kleine Lampe irgendwo in einer Ecke hinter ihm.
Die Tür öffnete und schloß sich wieder. Guy kam allein herein. Er ging direkt auf Danny Boy zu, stützte die Hände auf den Rand der Sperrholzplatte und sagte: »Hallo, Patrick.«
Patrick schloß die Augen. Daniel Silva lag ein für alle Mal hinter ihm, für immer. Wie ein vertrauenswürdiger alter Freund war er verschwunden, einfach so. Das einfache Leben in der Rua Tiradentes löste sich zusammen mit Daniel in nichts auf; seiner kostbaren Anonymität war mit den freundlichen Worten ›Hallo, Patrick‹ kurz und schmerzlos ein Ende gesetzt worden.
Vier Jahre lang hatte er sich immer wieder gefragt, was er wohl empfand, wenn sie ihn erwischen würden. Würde es ein Gefühl der Erleichterung sein? Der Gerechtigkeit? Irgendwelche Erregung angesichts der Aussicht, nach Hause zurückzukehren, um für alles geradestehen zu müssen?
Ganz und gar nicht! Im Augenblick war Patrick beinahe besinnungslos vor Angst. Praktisch nackt und gefesselt wie ein Tier, wußte er, daß die nächsten Stunden unerträglich werden würden.
»Können Sie mich hören, Patrick?« fragte Guy, auf ihn herabschauend, und Patrick lächelte, nicht weil er es wollte, sondern weil etwas in ihm, das er nicht kontrollieren konnte, alles amüsant fand.
Die Droge begann zu wirken, stellte Guy fest. Natrium-Thiopental ist ein kurzzeitig wirkendes Barbiturat, das in sorgfältig kontrollierten Dosen verabreicht werden muß. Es ist überaus schwierig, genau den Grad an Bewußtsein herzustellen, in dem jemand für ein erfolgreiches Verhör bereit ist. Eine zu kleine Dosis, und der Widerstand wird nicht gebrochen. Ein bißchen zuviel, und das Opfer sackt einfach weg.
Die Tür öffnete und schloß sich erneut. Ein weiterer Amerikaner glitt ins Zimmer, um dem Verhör beizuwohnen, aber Patrick konnte ihn nicht sehen.
»Sie haben drei Tage geschlafen, Patrick«, sagte Guy. Es waren nur etwa fünf Stunden gewesen, aber wie konnte Patrick das wissen? »Haben Sie Hunger oder Durst?«
»Durst«, sagte Patrick.
Guy schraubte den Deckel einer kleinen Flasche ab und goß behutsam Mineralwasser zwischen Patricks Lippen.
»Danke«, sagte er, dann lächelte er wieder.
»Haben Sie Hunger?« fragte Guy noch einmal.
»Nein. Was wollen Sie?«
Guy stellte langsam die Flasche mit dem Mineralwasser auf einen Tisch und beugte sich dann dicht über Patricks Gesicht. »Lassen Sie uns vorher etwas klarstellen, Patrick. Während Sie schliefen, haben wir Ihnen Fingerabdrücke abgenommen. Wir wissen genau, wer Sie sind, also können wir uns bitte jedes Leugnen sparen, was das angeht?«
»Wer bin ich?« fragte Patrick, abermals lächelnd.
»Patrick Lanigan.«
»Von wo?«
»Biloxi, Mississippi. Geboren in New Orleans. Jurastudium in Tulane. Verheiratet, eine sechsjährige Tochter. Seit nunmehr gut vier Jahren vermißt.«
»Bingo! Der bin ich.«
»Sagen Sie, Patrick, haben Sie Ihrer eigenen Beerdigung zugeschaut?«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Nein. Nur ein Gerücht.«
»Ja. Ich habe zugeschaut. Ich war richtig gerührt. Wußte gar nicht, daß ich so viele Freunde hatte.«
»Wie nett. Wo haben Sie sich nach Ihrer Beerdigung versteckt?«
»Mal hier, mal dort.«
Ein Schatten kam von links ins Bild, und eine Hand stellte die Infusion neu ein.
»Was ist das?« fragte Patrick.
»Ein Cocktail«, antwortete Guy, wobei er dem anderen Mann zunickte, der sich daraufhin in die Ecke zurückzog.
»Wo ist das Geld, Patrick?« fragte Guy mit einem Lächeln.
»Welches Geld?«
»Das Geld, das Sie haben mitgehen lassen.«
»Ach, das Geld«, sagte Patrick und holte tief Luft. Seine Augen schlossen sich plötzlich, und sein Körper wurde schlaff. Sekunden vergingen, und sein Brustkorb bewegte sich nur noch langsam auf und ab.
»Patrick«, sagte Guy und schüttelte leicht dessen Arm. Keine Reaktion, nur die Geräusche eines tief Schlafenden.
Die Dosis wurde sofort reduziert, und sie warteten.
Die FBI-Akte über Jack Stephano war schnell überflogen: ehemals Detective in Chicago mit zwei bestandenen Examen in Kriminologie; dann hochkarätiger Kopfgeldjäger, hervorragender Schütze, Spezialist auf den Gebieten Recherche und Spionage. Gegenwärtig Inhaber einer zwielichtigen Firma in Washington, die gegen stattliche Honorare das Aufspüren vermißter Personen und kostspielige Überwachungen organisierte.
Die FBI-Akte über Patrick Lanigan füllte acht Kästen. Es lag nahe, daß die eine Akte die andere anzog. Es herrschte kein Mangel an Leuten, die wollten, daß Patrick gefunden und in die Vereinigten Staaten zurückgebracht wurde. Stephanos Gruppe war offensichtlich angeheuert worden, um eben genau das zu tun.
Stephanos Firma, Edmund Associates, war im obersten Stockwerk eines unauffälligen Gebäudes in der K-Street untergekommen, sechs Block vom Weißen Haus entfernt. Zwei Agenten warteten in der Halle neben dem Fahrstuhl, während zwei weitere Stephanos Büro stürmten. Sie gerieten fast in ein Handgemenge mit dessen schwergewichtiger Sekretärin, die behauptete, daß Mr. Stephano im Moment zu beschäftigt sei, um ihren Besuch zu empfangen. Sie fanden ihn an seinem Schreibtisch, allein, angeregt telefonierend. Sein Lächeln verschwand, als sie mit gezückten Ausweisen hereinplatzten.
»Was zum Teufel soll das?« wollte Stephano wissen. Die Wand hinter seinem Schreibtisch wurde von einer Weltkarte mit kleinen roten Lämpchen, die auf grünen Kontinenten blinkten, eingenommen. Welches davon bezeichnete wohl Patrick?
»Wer hat Sie beauftragt, Patrick Lanigan zu finden?« fragte Agent eins.
»Das ist vertraulich«, erklärte Stephano mit einem leisen Anflug von Hohn. Er war jahrelang bei der Polizei gewesen und durch nichts so leicht einzuschüchtern.
»Wir erhielten heute nachmittag einen Anruf aus Brasilien«, sagte Agent zwei.
Ich auch, dachte Stephano fassungslos; dennoch versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Seine Kinnlade klappte leicht nach unten. Blitzartig ging er alle Möglichkeiten durch, die eine Erklärung dafür boten, warum diese beiden Burschen hier aufgetaucht waren. Er hatte mit Guy gesprochen. Mit niemandem sonst. Guy war absolut zuverlässig. Guy würde nie mit jemandem reden, schon gar nicht mit dem FBI. Guy konnte es unmöglich gewesen sein.
Guy hatte ein Autotelefon benutzt und aus dem Gebirge im Osten Paraguays angerufen. Den Anruf abzuhören war unmöglich.
»Sind Sie noch da?« fragte Agent zwei bissig.
»Ja«, sagte er, ohne die Frage richtig gehört zu haben.
»Wo ist Patrick?« fragte Agent eins.
»Vielleicht in Brasilien.«
»Wo in Brasilien?«
Stephano gelang mühsam die Andeutung eines Achselzuckens. »Keine Ahnung. Es ist ein großes Land.«
»Wir haben einen Haftbefehl für ihn«, sagte Agent eins. »Er gehört uns.«
Stephano zuckte abermals die Achseln, diesmal schon ein wenig lockerer, als wollte er sagen: »Na, wenn schon«.
»Wir wollen ihn haben«, verlangte Agent zwei. »Und zwar sofort.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Sie lügen«, fuhr ihn Agent eins an, und beide bauten sich vor Stephanos Schreibtisch auf und fixierten ihn. Agent zwei übernahm das Reden. »Wir haben Männer unten in der Halle, draußen, um das gesamte Gebäude herum und auch vor Ihrem Haus in Falls Church. Wir werden von jetzt ab jeden Ihrer Schritte überwachen, bis wir Lanigan haben.«
»Schön. Wie wäre es, wenn Sie verschwinden würden.«
»Und tun Sie ihm nichts. Es würde uns eine Freude sein Sie festzunageln, wenn unserem Jungen auch nur das geringste zustößt.«
Sie marschierten aus dem Zimmer, und Stephano schloß die Tür hinter ihnen. Sein Büro hatte keine Fenster. Er trat vor seine Weltkarte. Brasilien hatte drei Lämpchen, was wenig bedeutete. Er schüttelte den Kopf. Er begriff es einfach nicht.
Hatte er nicht genug Zeit und Geld darauf verwendet, seine Spuren zu verwischen?
Seiner Firma eilte in gewissen Kreisen der Ruf voraus, die beste zu sein, wenn es darauf ankam, Probleme der etwas ungewöhnlicheren Art diskret und effizient zu lösen. Er war noch nie zuvor erwischt worden. Noch nie hatte jemand auch nur geahnt, hinter wem Stephano gerade her war.