Wer kennt heute noch Galizien? Wer weiß noch, wo es liegt – oder besser, wo es lag? Denn Galizien gibt es nicht mehr. Es ist von der Landkarte verschwunden. Sein westlicher Teil gehört heute zu Polen, sein östlicher zur Ukraine.
Joseph Roth, der vielleicht beste Kenner dieser Welt, aber auch viele andere Schriftsteller entstammen jener Gegend. Der jüdische Witz war hier zu Hause, und die chassidischen Wunderrabbis, die im »Schtetl« die uneingeschränkte Macht darstellten.
Martin Pollack lädt den Leser ein zu einer imaginären Reise in diese faszinierende und verlorengegangene Welt, beginnend im jüdisch-ukrainisch-polnisch-deutsch besiedelten Ostgalizien über die Bukowina, wo noch Rumänen, Ungarn, Slowaken, Armenier, vor allem aber Zigeuner sich unter das Völkergewirr mengten, zurück nach Lemberg, der Hauptstadt des Kronlandes Galizien.
Zeitgenössische Fotografien ergänzen dieses Reisebuch in die Vergangenheit.
Martin Pollack
Galizien
Eine Reise durch die
verschwundene Welt
Ostgaliziens und der Bukowina
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2013
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2001
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Umschlag: Elke Dörr
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-73267-9
www.insel-verlag.de
Vorwort
Tarnów–Przemyśl
Przemyśl, der Mittelpunkt der Welt
Przemyśl–Drohobycz
Sambor, der falsche Demetrius
Drohobycz, das galizische Pennsylvanien
Nahujewytschi
Stryj, die große Provinz
Ins Bojkenland
Stryj–Stanislau, der deitsche Schwowesohn
Stanislau–Żabie, Klang der Trembita
Żabie–Kolomea
Kolomea, die herzergreifende Geschichte der Anna Csillag
Kolomea–Czernowitz, eine Brücke aus Zigarettenpapier
Czernowitz
Sadagóra, der »kleine Vatikan«
Zurück nach Ostgalizien
Ein imaginäres Schtetl
Verfallen wie in Brody
Lemberg
Quellen
Für Gridi
Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Welt, die in diesem Buch dargestellt werden soll, erst durch ihre Zerstörung ins Blickfeld der Menschen im Westen rückte. Das Königreich Galizien und Lodomerien, wie das größte Kronland der Habsburgermonarchie offiziell genannt wurde, war bei der Ersten Teilung Polens im Jahre 1772 an Österreich gefallen. Bis zum Ersten Weltkrieg, der das Ende des Vielvölkerstaates mit sich brachte, hatte man in Wien nur reichlich verschwommene Vorstellungen, wie es in Galizien und der Bukowina, die ab 1849 ein eigenes Kronland im Rang eines Herzogtums war, aussah und welche Menschen dort lebten. Es war eine ferne, fremde Welt, von der die Kunde ging, daß dort Schmutz und Armut herrschten, Trunksucht und Analphabetismus, rohe Gutsbesitzer, die ihre Bauern wie Leibeigene behandelten und die Juden prügelten, und dumpfe Bürokraten, die faulenzten und sich die Taschen füllten. Und mit bangem Staunen vernahm man von den vielen Völkern und Volksgruppen, Religionen und Kulturen, die dort an der entlegenen Peripherie des Reiches lebten: Ruthenen, wie man die Ukrainer damals nannte, Polen, Juden, Rumänen, Zigeuner, aber auch so unbekannte Völkchen wie Huzulen, Bojken oder Lipowaner. Wer als Offizier oder Beamter nach Galizien geschickt wurde, um die kaiserliche Ordnung in diese unwirtlichen Gegenden zu tragen, der fühlte sich wie ein Verbannter.
Im Ersten Weltkrieg kamen viele Deutsche und Österreicher erstmals mit diesen Regionen in Berührung, in die sie als Soldaten geschickt wurden, um dort zu kämpfen und zu sterben. Die Schlachten um Lemberg, Przemyśl oder Grodek machten den Namen Galizien zu einem Synonym für die grausame Sinnlosigkeit des Krieges. Gleichzeitig strömten Hunderttausende Galizianer, voran Juden, nach Österreich und Deutschland, auf der Flucht vor der Zerstörung und Pogromen, die der Krieg nach Lemberg und Czernowitz brachte. 1918 wurde Galizien dem wiedererstandenen Polen zugeschlagen, die Bukowina Rumänien. Realpolitisch waren sie damit von der Landkarte verschwunden. Doch die endgültige Zerstörung dieser multikulturellen Gebiete brachte erst der Zweite Weltkrieg mit dem nationalsozialistischen Völkermord mit sich, der dann abgelöst wurde vom menschenverachtenden Stalinismus.
Abb. 1: Przemyśl, Platz Am Tor
Kein anderer Teil Europas wurde von der Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert schlimmer heimgesucht als Galizien. Dennoch strahlte dieses Land, in dem so viel gestorben wurde, stets eine ungewöhnliche Anziehungskraft aus, die ihm auch heute noch anhaftet, ja, man könnte fast sagen, seit diese Region von der Landkarte verschwunden ist, hat ihre Faszination noch zugenommen. Denn ungeachtet allen Elends war Galizien doch ein kulturell ungemein reiches Land, von dem wichtige Einflüsse ausgingen, die auch im Westen nachhaltig zu spüren waren. Vor allem literarisch war es ein fruchtbarer Boden. »Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht abgeschnitten: es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit«, schrieb Joseph Roth 1924 in einer Reportage, die den Titel »Reise durch Galizien« trägt.
Eine Reise durch Galizien wird auch in diesem Buch unternommen, eine imaginäre Reise durch eine verschwundene Landschaft, ein Versuch, diese Welt vor ihrer Zerstörung darzustellen. Als wichtige Führer dienten mir dabei jüdische, deutsche, polnische und ukrainische Autoren, die Galizien und die Bukowina zu unvergeßlichen literarischen Landschaften machten, in denen es, über allen Hader und alles Blutvergießen hinweg, zu einer befruchtenden Wechselwirkung der verschiedenen Völker und Kulturen kam. Es war dabei nicht meine Absicht, diese Regionen nostalgisch zu verklären. Das würde auch in Widerspruch zur Wirklichkeit stehen, denn Galizien war bitter arm und die Armut seiner Bewohner geradezu sprichwörtlich, das galt für die jüdischen Handwerker und Hausierer in den Schtetln genauso wie für die ruthenischen Landarbeiter oder die polnischen Kleinbauern in den Dörfern. Und es war ein Land scharfer sozialer Gegensätze und tiefer nationaler Konflikte, die von der österreichischen Bürokratie oft noch geschürt wurden.
Die äußeren Bedingungen dieser imaginären Reise und die Schilderungen der Örtlichkeiten und Menschen entsprechen der Zeit um 1900, wobei immer wieder galizische und bukowinische Autoren zu Wort kommen, aus deren Werken längere Textstellen ausgewählt wurden.
Kann man diese Reise heute nachvollziehen, wenigstens was die Routen und Wege angeht, die oft abseits der größeren Städte über die Dörfer führen? Lange Zeit schien das völlig ausgeschlossen, selbst Lemberg und Czernowitz waren in sowjetischen Zeiten nur mit einiger Mühe erreichbar, ganze Landstriche waren für westliche Besucher gesperrt. Das hat sich inzwischen geändert. Heute sind diese Gebiete, die zur unabhängigen Ukraine gehören, wieder frei zugänglich. Wer sich zu einer Reise dorthin aufmacht, der wird vieles entdecken, was an die kakanische Vergangenheit erinnert, die man längst vergessen und verschüttet glaubte. In Städten wie Lemberg, Czernowitz, Brody oder Drohobycz lassen historische Gebäude – Bürgerhäuser, Stadttheater, Bahnhöfe, Kirchen und Synagogen – auf den ersten Blick historische Gemeinsamkeit mit anderen Regionen der ehemaligen Donaumonarchie erkennen, auf die man wieder stolz ist. Doch auch in den Dörfern, etwa in den Ostkarpaten, wird man bei einer Spurensuche fündig werden und Landschaften und Menschen begegnen, die man aus der Beschreibung galizischer Autoren kennt. Bei so einer Suche soll dieses Buch helfen.
Martin Pollack
Die Karl-Ludwig-Bahn fuhr von Krakau über Tarnów, Przemyśl, Lemberg und Tarnopol nach Osten, bis sie bei der Zollstation Podwołoczyska die russische Grenze erreichte. Zunächst durchquerte sie die eintönige Landschaft der westgalizischen Tiefebene, aus der sich vereinzelt flache Kuppen erhoben; zu beiden Seiten wurde der Schienenweg von weiten Getreidefeldern begleitet, die hier und da ein schütteres Birkenwäldchen oder eines jener an der staubigen Landstraße aufgefädelten Dörfer umschlossen, deren Namen in keinem Führer verzeichnet waren.
Mit heimlichem Unbehagen denke ich daran, wie es gewesen sein mußte, vom Schicksal in ein solches Dorf verschlagen zu werden und zu wissen, daß kein Weg von dort fortführte. Eine Handvoll ärmlicher Hütten, die Dächer mit Schindeln oder Stroh gedeckt, das tief über die kleinen Fensteröffnungen herabhing; eine schiefe, vom Wetter dunkel gebeizte Holzkirche oder -synagoge; schilfumstandene Fischteiche; Scharen weißer Gänse. An klaren Tagen reichte der Blick im Süden bis zu den bewaldeten Hängen des vorkarpatischen Hügellandes. Nach etwa siebzig Kilometern erreichte der Zug die am rechten Ufer der Biała gelegene Kreishauptstadt Tarnów, Sitz eines römisch-katholischen Bischofs und Eisenbahnknotenpunkt mit Anschlüssen an die in südlicher Richtung durchs Gebirge führende Tarnów-Leluchower Staatsbahn, die über den Poprad-Durchbruch nach Ungarn gelangte, und eine Lokalstrecke nach Norden, die bei Szczucin die nahe Grenze zu Russisch-Polen überschritt. Tarnów war keine Reise wert.
Tarnów
Gasthöfe. Hôtel de Cracovie, de Léopol, de Londres, alle drei mit Restaurant.
Café's. J. Breitseer, H. Funkelstern (beide nur für polnisch-jüdische Geschäftsleute).gew;
Conditoreien. Spargnapani e Picenomi (bestens zu empfehlen: warme Hachés, feine Liqueure). Felix Drozdowski. Beide reinliche Locale. Sehenswürdig ist das alte Rathhaus und die Domkirche. Dem Rathhause kann man sich aber nur schwer nähern, da es von vier Seiten von einem Schmutzmeere umgeben ist, aus dem es sich wie eine Insel erhebt. Tarnów gehört zu den unreinsten Städten Galiziens und damit ist viel gesagt.
(Alexander F. Heksch, Illustrirter Führer durch die ungarischen Ostkarpathen, Galizien, Bukowina und Rumänien)
Hinter Tarnów beginnen trockene, mit Kiefern und Föhren bewachsene Sandböden, die nur in den Niederungen der Flüsse fruchtbarem Ackerland Platz machen und sich in östlicher Richtung bis Brody hinziehen. Immer öfter tauchten jetzt neben der Strecke Kirchen von eigentümlicher Bauart auf, die wie riesige gestrandete Archen in den Feldern lagen – ein niedriges, schindelgedecktes Dach, darüber meistens drei plumpe Kuppeln, neben der Kirche ein Holzgerüst, in dem die Glocken hingen. Die ersten Ruthenendörfer.
Bei Jarosław senkte sich die Trasse der Eisenbahn in sanftem Gefälle ins breite Tal des träg dahinfließenden San, der die natürliche Grenze zwischen West- und Ostgalizien bildete. Die Stadt Jarosław war seinerzeit berühmt für die prächtigen Ablaßfeiern in der Kirche zur Heiligen Jungfrau Maria, die Gläubige aus ganz Galizien und auch Russisch-Polen anlockten (der polnische Dichter Aleksander Morgenbesser, der 1816 in Jarosław zur Welt gekommen war, hat diesen Feierlichkeiten in seinen heute vergessenen Werken ein Denkmal gesetzt).
Abb. 2: Przemyśl, Bahnhofsrestauration Kohn
Die Strecke folgte nun am linken Sanufer, durch Obstgärten und Felder, den weiten Schlingen des Flusses und traf bei Przemyśl auf die bogenförmig hingebreiteten Hänge der Karpatenausläufer. In der auf beiden Seiten des San angeordneten Stadt überquerte die Karl-Ludwig-Bahn schließlich auf einer eisernen Brücke den Fluß. Der Bahnhof von Przemyśl lag im Zentrum der Stadt.
Dieselbe Strecke war auch der 1848 in Czortków, einer polnisch-ruthenisch-jüdischen Kleinstadt am Fluß Sereth geborene Dichter und Journalist Karl Emil Franzos oft gefahren. Der Sohn eines jüdischen Arztes und Vormärz-Deutschliberalen war mein erster Führer auf den Strecken durch Ostgalizien und die Bukowina, mit deren Beschreibung er seine Erzählungen und Reportagen gerne beginnen ließ: »Wer im Waggon von Lemberg nach Czernowitz dahinfährt …« Franzos hat alle Regionen zwischen San und Zbrucz bereist und Landschaften und Menschen in seinen Romanen und Novellen, vor allem aber in den journalistischen Kulturbildern aus den östlichen Kronländern der Habsburgermonarchie (»Aus Halb-Asien«, »Aus der großen Ebene«, »Vom Don zur Donau«) beschrieben, subjektiv und stets Partei für die Unterdrückten und Zukurzgekommenen ergreifend, mit beißendem Witz.
Wahrlich, es ist überaus menschenfreundlich von der Karl-Ludwigsbahn, daß sie den Eilzug nachts gehen läßt. Denn einen trostloseren Anblick hat man kaum aus dem Coupé irgend einer Bahn des Kontinents. Öde Heide, spärliches Gefild, zerlumpte Juden, schmutzige Bauern. Oder irgend ein verwahrlostes Nest und auf dem Bahnhof ein paar gähnende Lokal-Honoratioren, einige Juden und einige andere Geschöpfe, denen man kaum noch den Titel Mensch zuwenden kann. Wer auf dieser Bahn bei Tage reist, wird vor Langeweile sterben, wenn er nicht vor Hunger stirbt. Wohl giebt es einige Restaurationen auf dieser Strecke … aber der Mensch begehre sie nimmer und nimmer zu schauen … Ich selbst habe in Przemyśl einmal das allersonderbarste Kalbsschnitzel meines Lebens gegessen. Es war ein gefülltes Kalbsschnitzel, und zwar fand ich da: einen Nagel, stark verrostet, eine Stahlfeder und ein Büschel Haare. Als ich dem Restaurateur die Corpora delicti unter die Nase hielt, meinte er höchst gleichmütig: »Ich weiß nicht, warum Sie sich so ereifern. Habe ich Ihnen gesagt, daß Sie sollen essen das alte Eisen? Sie sollen essen das Fleisch!« Aber wir machen ja die Reise Nachts. Wir verschlafen alle Schrecken dieser Landschaft und dieser Kalbsschnitzel.
(Karl Emil Franzos, Aus Halb-Asien.)
Der verhöhnte Gastwirt wollte eine solche Beleidigung natürlich nicht auf sich sitzen lassen und schickte, in Sorge um seinen Ruf, eine geharnischte Gegendarstellung an ein in Przemyśl erscheinendes Blatt.
Wir kennen die Anerkennungs- und Belobigungsschreiben, die Herr Kohn aus den Händen der erlauchtesten Hoheiten, der Erzherzoge Albrecht, Karl Ludwig und anderer empfangen hat, und wir wissen sehr wohl von den Worten, mit denen die höchsten staatlichen Würdenträger, wie Seine Durchlaucht, Fürst Hw. Sapieha, Feldmarschall Lauber, Graf Borkowski, Pater Jabłonowski und zahlreiche andere, die gewiß hervorragend berufen sind, in dieser Angelegenheit ein sicheres Urteil zu fällen, seine Tätigkeit rühmend hervorgehoben haben.
Allein die Tatsache, daß die gesamte Generalität, der Stab und überhaupt alle Persönlichkeiten von Rang und Namen immer nur in der Restauration des Herrn Kohn am Bahnhof von Przemyśl zu speisen geruhen, beweist wohl zur Genüge, daß alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe böswillig aus der Luft gegriffen sind. Während der Besuchsreise unseres Allerhöchsten Herrschers und zur Zeit der Kriegsmanöver wurde das genannte Restaurant (obwohl sich in unserer Stadt noch andere befinden) von morgens bis abends ohne Unterlaß auf das heftigste belagert und waren alle hohen Militärs durchaus zufrieden, was sie auch öffentlich kundgetan haben.
Von allen Bahnhofsrestaurateuren in Galizien, die der bekannte Polenfresser und Pamphletist Karl Franzos angeschwärzt hat, hat allein Herr Kohn, im Bewußtsein, das Recht auf seiner Seite zu haben, den Autor durch gerichtliche Schritte gezwungen, diese Verleumdung zurückzunehmen.
Przemyśl, am 11. Februar 1881 (37 Unterschriften)
(Notiz unter dem Titel »Eingesendet« in der polnischen Zeitung »Przemyślanin«; die schmähende Bemerkung über das »gefüllte Kalbsschnitzel« im Bahnhofsrestaurant von Przemyśl ist allerdings auch aus den späteren Ausgaben der Werke von K. E. Franzos nicht getilgt worden.)
Auf den Hügeln am rechten Sanufer lagen wie große, graue Schachteln die Bauten der mächtigen österreichischen Festungsanlage, die Geschütze gegen Osten gerichtet; Außenforts, Kasernen, Munitionsmagazine. Am Fuße des Schloßbergs die Altstadt mit der sehenswerten römisch-katholischen Domkirche, dem Basilikabau der Franziskanerkirche und, etwas höher gelegen, der griechisch-katholischen Domkirche, ein Renaissancebau aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die engen Gassen des jüdischen Viertels fielen vom Ringplatz zum Flußufer hin ab. Auf der anderen Seite des Flusses der Stadtteil Zasanie, der sich bis zur Szajbówka-Heide hinstreckte, auf der zur Jahrhundertwende die ersten Fußballwettkämpfe ausgetragen wurden; die Polen in den Dressen des 1867 aus Böhmen nach Galizien verpflanzten »Sokół«-Turnvereins, die Ruthenen nannten ihren Turnverein »Sokil« (zu deutsch Falke). Nach Ausbruch des Weltkriegs sollten dann auf der Szajbówka-Heide Spione und Deserteure hingerichtet werden. Die Festungsstadt Przemyśl war immer ein Treffpunkt für Spitzel, Spione und Polizeiagenten, aber viele der Unglücklichen, die in den Kriegsjahren von Erschießungskommandos auf die sandige Heide geführt und dort füsiliert wurden, waren wohl nur Sündenböcke für die überraschenden Niederlagen der österreichisch-ungarischen Truppen an der Ostfront, die eine unvorsichtige Bemerkung, ein verdächtiger Aufsatz in ruthenischer Sprache, ein Brief dem Standgericht in die Hände trieb: ruthenische Studenten und Intellektuelle, Popen und Bauern, die pauschal der Sympathie für »Moskau« verdächtigt wurden.
Abb. 3: Przemyśl, Franziskanergasse
Um 1900 zählte Przemyśl 46 000 Einwohner – Polen, Juden, Ruthenen und Angehörige anderer in der österreichisch-ungarischen Monarchie beheimateter Nationalitäten, die in der 10 000 Mann starken Garnison ihren Militärdienst leisteten. Die Offiziere prägten das Straßenbild und sie gaben den Ton an, auf dem Korso am Franz-Josephs-Kai unten am San ebenso wie in den öffentlichen Lokalen, etwa im Grand Café Stieber in der Mickiewiczgasse, beliebt wegen des ausgesuchten kalten Büffets à la Hawełka (so hieß die berühmteste Frühstücksstube und Delikatessenhandlung in Krakau, die in ganz Galizien einen legendären Ruf genoß), im Wintergarten von Ochsenberg (Pilsner und bayerisches Bier) oder in den mit venezianischen Spiegeln und reichem Stuck verzierten Räumlichkeiten der Bahnhofsrestauration von Kohn (später Dienstl). Es gab in Przemyśl zwei polnische Gymnasien, ein ruthenisches, ein ruthenisches Mädchenlyzeum und eine deutschsprachige Militärschule, die dem Kriegsministerium unterstand. Es gab einen römisch-katholischen (polnischen) Bischof und einen griechisch-katholischen (ruthenischen), evangelische (deutsche) Pastoren und jüdische Rabbiner. Während in der Stadt eindeutig das polnische Element überwog, waren in den umliegenden Dörfern die Ruthenen klar in der Mehrheit, in Dusiwci, Posdjatsch, Cholowytschi, Kupiatytschi, Darowytschi, Wirotschko, Molodowytschi, Kormanytschi, Jaksmanytschi, Popowytschi, Manjhowytschi, Stanyslawtschyk …; es gab im Bezirk Przemyśl aber auch einzelne deutsche Kolonien und jüdische Schtetl. In den Straßen und Häusern der Garnisonstadt freilich schienen die nationalen und sprachlichen Grenzen zu verschwimmen, und am schräg abfallenden, von Bäumen gesäumten Ringplatz im Zentrum der Altstadt fand man polnische neben deutschen und jüdischen Geschäften.
In einem der gedrungenen alten Gebäude am Ringplatz, dem sogenannten Gizowski-Haus, hatte der Advokat und Rechtsgelehrte Wilhelm Rosenbach seine Kanzlei. In seinem Haus wurde, wie bei vielen gebildeten Juden, deutsch gesprochen, und daher war es naheliegend, daß seine 1884 geborene Tochter Helene, als es sie an die Universität zog, nicht nach Krakau oder nach Lemberg ging, sondern nach Wien, wo sie Schülerin und für kurze Zeit Assistentin von Sigmund Freud wurde, dessen Arzt Felix Deutsch sie heiratete. Helene Deutsch machte später in den USA als Psychoanalytikerin Karriere.
Verglichen mit meinem übrigen Leben habe ich nicht viele Jahre in Przemyśl verbracht, aber es ist und bleibt für mich der Mittelpunkt der Welt. Bis zum heutigen Tage erinnere ich mich an jeden kleinsten Winkel auf dem Schloßberg, die Parkanlagen rings um die Ruine der alten Festung auf der Anhöhe, besonders an die versteckten Bänkchen, die wahrscheinlich immer noch dort stehen und den Liebespaaren Zuflucht bieten, wie schon zu meiner Zeit. Und ich erinnere mich an die Hügel und Hänge der Umgebung, die ich stundenlang durchstreifte. Von unserem Haus im Zentrum der Stadt war es nur ein kurzer Spaziergang bis zum Schloßberg; zwei Straßen führten mich, an verschiedenen Kirchen vorbei, in einer knappen halben Stunde dahin. /…/ Das Haus war ein Mikrokosmos der damaligen polnisch-jüdischen Gesellschaft von Przemyśl. Es lag im Stadtzentrum, auf dem Ringplatz, und war durch einen winzigen Park vom Straßenverkehr getrennt. Unser Balkon auf der Vorderseite war eine Loge, von der aus wir das Leben und Treiben der Stadt an uns vorüberströmen sahen. Wenn wir in der Dämmerung dort saßen, konnten wir das Liebesleben von Dienstmädchen und Soldaten, Oberschülern und Backfischen ausspionieren und manchmal auch ehrbare verheiratete Männer auf sündigen Abwegen ertappen. Von dort aus sahen wir auch, welcher Mieter spät nach Hause kam. Manchmal mußte ein Nachzügler lange draußen warten, bis der alte Hausmeister, von der Glocke aus tiefem Schlaf gerissen, endlich in seiner schmuddeligen Unterwäsche erschien. Dabei hielt er schon die Hand nach dem Trinkgeld ausgestreckt, das er als verläßlichen Obolus für das Öffnen der Tür betrachtete. Ich höre noch meine Stimme: »Herr Horak, ich hab' kein Kleingeld, ich geb's Ihnen morgen.« /…/ Im ersten Stock wohnte die »Aristokratie« des Hauses: meine Eltern, mein Bruder, meine zwei Schwestern und ich; ferner eine zweite Anwaltsfamilie, die Tarnawskis. Sie hatten einen Sohn, ein introvertiertes, einsames Kind, dessen Mutter vermutlich an einer Angstneurose litt und ihn nie aus den Augen ließ. Tadzio wurde ein Dichter … aber unsere Wege trennten sich. In meiner Erinnerung leben die Tarnawskis als die besten Repräsentanten jener seltenen polnischen Patrioten fort, die gewillt waren, die polnischen Juden als absolut gleichberechtigt zu akzeptieren.
(Helene Deutsch, Selbstkonfrontation)
Tadzio Tarnawski ist als Dichter in Vergessenheit geraten, nicht aber die Jugendliebe von Helene Rosenbach, der Advokat Herman Lieberman, der 1893 in Przemyśl die erste Zelle der Polnischen Sozialdemokratischen Partei Galiziens und Schlesiens (PPSD) organisierte; nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie wollten die revolutionären Arbeiter am San eine »Republik Przemyśl« ausrufen, in der alle in der Stadt lebenden Nationalitäten gleichberechtigt zusammenarbeiten sollten. Der Traum war von kurzer Dauer und wurde durch die wenig später ausbrechenden Kämpfe zwischen Polen und Ukrainern, wie die Ruthenen sich jetzt nannten, zerstört.
In Przemyśl konnte der Reisende die Karl-Ludwig-Bahn verlassen und auf die Erste ungarisch-galizische Eisenbahn umsteigen, die direkte Wagen I. und II. Klasse bis Budapest führte. Die Trasse durchschnitt die sanft gewellten Hügel um Przemyśl und folgte dann in südlicher Richtung dem Verlauf des Wiar in die Vorberge der Karpaten; bei Niżankowice zweigte die Eisenbahn in das Nebental der Wyrwa ab und erreichte nach knapp dreißig Kilometern die Bezirksstadt Dobromil, bekannt wegen der heilkräftigen Salzquellen in den umgebenden Bergen.
Dobromil war in früheren Jahrhunderten im Besitz der Grafen Herburt gewesen, die in dem Städtchen eine Druckerei gegründet hatten, in der die ersten sechs Bücher der Chronik des Jan Długosz (1415-1480) – Annales seu cronice inclyti Regni Poloniae; Annalen oder Chroniken des berühmten polnischen Königreiches –, eines der schönsten Dokumente der mittelalterlichen lateinischen Literatur in Polen, gedruckt worden waren. Die Ruine des Schlosses lag auf einem kegelförmigen Hügel südlich der Stadt.
Mehr als die Hälfte der 4000 Einwohner Dobromils waren Juden, die von der österreichischen Statistik nicht als eigene Nationalität geführt wurden, denn diese wurde allein durch die »Umgangssprache« definiert; die überwiegende Mehrheit der 600 000 Juden, die um 1900 in Ostgalizien lebten, sprach zwar Jiddisch, aber dieses galt von Amts wegen nicht als Sprache, die es lohnte, in eine Statistik zu schreiben; selbst assimilierte Juden waren nur selten geneigt, Jiddisch als eigene Sprache gelten zu lassen – Karl Emil Franzos zum Beispiel nannte es einen häßlichen, die Ohren beleidigenden »deutschen Jargon«, und als żargon bezeichneten es auch die »Polen mosaischen Glaubens« voll Verachtung. Auf diese Weise wurden die galizischen Juden von der österreichischen Bürokratie den Polen, Deutschen oder, seltener, Ruthenen zugeschlagen, ein Irrtum, der die Betroffenen selbst freilich nicht besonders zu stören schien: sie hatten andere Sorgen. Sie waren voll und ganz damit beschäftigt, in einer rückständigen und verelendeten Agrargesellschaft, die sich in kleinen Trippelschritten auf das industrielle Zeitalter zubewegte, zu überleben. Viele Juden lebten vom Handel, speziell mit Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten, als kleine Zwischenhändler, Hausierer, deren wöchentlicher »Umsatz« oft nur ein Schock Eier und ein paar Hühner betrug; als Handwerker, Schneider, Schuster, Bäcker, Tallesweber; als Pächter der Branntweinschenken, die den polnischen Grundbesitzern gehörten und von denen es in Galizien in jedem Dorf mindestens eine gab; als Lohnarbeiter. Nach einer inoffiziellen Statistik waren um 1900 von den insgesamt 810 000 Juden in Galizien: 150 000 Schankwirte, 100 000 waren in einem »nicht näher bestimmten Handel« beschäftigt, also Hausierer, 400 000 waren »Händler« und 10 000 Handwerker und Lohnarbeiter. Die polnische Bürokratie versperrte den Juden den Weg in die Ämter, die wachsende Genossenschaftsbewegung der ruthenischen Bauern verdrängte sie aus dem Dorfhandel und aus den Schenken. Das Leben der galizischen Juden war unsagbar elend.
Abb. 4: Juden in einem galizischen Schtetl
Gall-izia, pflegte Reuben Mehler, ein kleiner Handwerker aus Dobromil, zu sagen, Gall-izia hat seinen Namen bekommen, weil das Leben hier so bitter ist. Bitter wie ein Gallapfel.
Zehntausende suchten ihr Heil in der Emigration: in den Zeitungen lockten die Inserate von Schiffsagenturen, und redegewandte Agenten zogen von Schtetl zu Schtetl und rühmten den Glanz der goldenen Berge im Land der Verheißung über dem Ozean: Amerika. Die Agenten standen im Dienst der Schiffsagenturen, die Menschenfracht für ihre Dampfer suchten, und bekamen für jede Passage eine Kopfprämie; mancher schrieb aus Amerika, auch dort sei nicht alles aus Gold und man müsse hart arbeiten, um am Leben zu bleiben; aber Amerika lockte.
Auch der Sohn von Reuben Mehler aus Dobromil, ein besitzloser Hausierer, packte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts seine Familie und die wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich auf die Reise nach Amerika; drüben angekommen, nannten sich die Mehlers bald Miller, aber sie sprachen immer noch Jiddisch, wenn sie auch zunehmend Ausdrücke aus der neuen Heimat daruntermischten. Der Enkel von Reuben Mehler, Saul Miller, schrieb für seine Kinder die Erinnerungen an das Schtetl an der Wyrwa nieder. Sie sollten erfahren, wie schwer es die Alten »drüben« gehabt hatten und wie rückständig und klein alles gewesen war. Wer konnte sich das in Amerika schon vorstellen?
Gewen is dos schtetl in a tol, arumgeringlt mit schene hojche grine berg, mit fruchtn un blumen gertner, a schmekende gute frische luft. Nor ejn sach hot gefelt: parnose.
Dos schtetl hot gehot a schenes skwer. Gerufen hot men es ringplaz. In mitn fun skwer hot a hojche schtodt-zejger ojsgeklingen jeder fertl schu, holbe, drej-fertl un ganze schu'n, asoj as jeder hot gewist di richtige zejt. Un dort, in jener hojcher gebejde is ojch gewen dos »rat-hojs« fun di schtodtischer-ferwalterschaft, der biro fun dem burgermejster, der polizej-agentur, der arestplaz, wen emezer hot sich epes fersindigt entgegn die ongenumene schtodtische gesezn, un die militerische komisie, geschikt fun der estrejcher regirung, un die fejerlescher, wos baschtanen fun asa pomp-maschin un zwej ferd, ejngeschpant far jeder sekund, zum lojfn leschn. Dobromil hot ch'mat jedn tog in woch gebrent.
Nischt wejt fun'm plaz senen geschtonen die jidische balagules gewart ojf emezn zu firn zum bahn-schtanzie far funf grejzer. Arum dem ring-plaz senen gewen schene brejte schtejnerne trotuarn (sejd-woks), fun drej sejtn senen gewen jidische storikes, kremer, gewelber, welche hobn gewart ojf ejn tog in woch, a montog, far konis, wejl der tog hot gedarft gebn parnose far der ganzer woch, nebich. Montag flegn dos bojerntum fun arum der gegend kumen, far sich ejnkojfn farschidene nojtige hojsbaderfenischn far der woch. In der selber zejt flegn sej brengen zum farkojfn in schtodt arejn gens, katschkes, hiner, kelber, chusrim,ferd, kih, wegner mit holz un asoj wejter. /…/ In di ferte sejt is gewen a schene aptejk, der post-ofis, dos gericht-hojs un arejnfir-hojs (di schtodtische kretschma). Nit wejt fun der aptejk is gewen a weg zum brik, wo a schmol, klejn weserl hot geschtromt, un jidn flegn sumer sich mechaje sejn. Is gekumen ejner, wos hot gehot a woser-mil un durch ferschidene politische kunzn (triks) opgeschnitn dem tejl fun woser far sejn mil, un dan is gewen ojs mitn sumerdign bodn sich. /…/ Arum 1905 hot Dobromil schtark progresirt in bezug zum balejchtn dos schtetl, ser grojser forschrit gemacht. Men hot nebn dem rat-hojs awekgeschtelt a gas-lamp, welche men hot gedarft jedn farnocht arunterlosn mit a schtrik, anfiln mit gas un antun a wejse mentele. Ojb m'hot es ongezundn hot es gegebn a blojlechn kolir fun licht un a polizej-man hot gehot dem grojsn kibud sich esk zu sejn mitn dem nejen lamp. Bejm mejn ferlosn Dobromil senen schojn gewen zwej aselche lampn.
(Saul Miller, Dobromil)
Um parnose drehte sich das ganze Leben im jüdischen Schtetl, es bedeutet Erwerb oder Lebensunterhalt, der so schwer zu verdienen war; skwer ist der amerikanische square, in Dobromil war das, wie in den meisten galizischen Orten, der Ringplatz in der Mitte des Städtchens; der schtodt-zejger ist die Uhr am Rathausturm und schu das galizisch-jiddisch ausgesprochene hebräische Wort für Stunde. Emezer heißt jemand, epes etwas und die fejerlescher sind die Feuerlöscher oder Feuerwehrmänner, die im Falle eines Brandes mit der von zwei Pferden gezogenen Pumpe ausrückten, um zu retten, was zu retten war. Gebrannt hat es in den galizischen Schtetln und Dörfern, in denen die meisten Häuser aus Holz gebaut und mit Schindeln oder Stroh gedeckt waren, vor allem im Winter, wenn geheizt wurde, ch'mat, fast, jede Woche. Balagules sind die jüdischen Droschkenkutscher oder Fuhrleute, die einen guten Teil des Personen- und Warentransportes in den Dörfern, abseits von den Bahnlinien, besorgten (nach den balagules wurden die balaguli benannt, aus dem kleinen polnischen Landadel in der Ukraine stammende Volkssänger, die nach dem Scheitern des polnischen Novemberaufstandes 1831 gegen Rußland alle nationalen Hoffnungen begruben, sich wie ukrainische Bauern kleideten und mit Pferd und Wagen von Gutshof zu Gutshof zogen, um in einfachen Liedern das Schicksal der Heimat zu beklagen). Bahnschtanzie ist die Bahnstation, storikes sind die stores, die Geschäfte, und konis die Kunden; hojsbaderfenischn ist der Bedarf, den die Bauern für ihren bescheidenen Haushalt beim jüdischen Krämer im Schtetl einkaufen; katschkes sind Enten und chusrim Schweine, die natürlich nur der polnische oder ruthenische Fleischer verarbeiten durfte. Kretschma ist eine Verballhornung des polnischen Wortes karczma und bedeutet Schenke, eine der wichtigsten Institutionen in jedem galizischen Dorf, in der die Bauern den Großteil des Erlöses ihrer mageren Ernte vertranken. Die Schankpächter waren fast durchwegs Juden, und daher wurde oft der Vorwurf laut, die Juden verleiteten die Bauern zur Trunksucht. Mechaje bedeutet soviel wie Freude und mechaje sejn sich ein Vergnügen machen; farnocht heißt am Abend, ojb in diesem Fall wenn und kolir ist wieder ein amerikanisch-jiddischer Ausdruck und steht für colour. Kibud ist die Ehre, und esk zu sejn bedeutet so viel wie beschäftigt zu sein.
Knapp zehn Kilometer hinter Dobromil erreichte die Bahn die Station Chyrów, eines jener kleinen Karpatenstädtchen, von denen man in Galizien mit mildem Spott sagte, die Bewohner sperrten ihr Rathaus nachts in den Keller oder bänden es an die Dorflinde, um es vor Dieben zu schützen. So unscheinbar das Rathaus von Chyrów war, so imposant erschien das südlich vom Bahnhof im Nachbarort Bakowice gelegene Jesuitenkonvikt, das einen Theatersaal, einen Tierpark und eine reiche Bibliothek besaß und 600 Zöglinge sowie 100 Patres beherbergte. In Chyrów traf die Erste ungarisch-galizische Eisenbahn auf die hier ihren Ausgang nehmende Dniester-Bahn, die in östlicher Richtung dem Fuß der Karpaten folgte und über Sambor und Drohobycz schließlich Stryj erreichte.
Sambor liegt in einer fruchtbaren Ebene am Dniester, der hier aus den Bergen tritt; die Stadt ist verhältnismäßig jung und lag früher flußaufwärts an der Stelle von Stary Sambor, das im fünfzehnten Jahrhundert völlig niederbrannte. In Sambor hatte sich im Jahre 1606 der zweite »falsche Demetrius«, genannt »Vor« (Räuber), ein Thronschwindler unbekannter Herkunft, mit der Tochter eines der mächtigsten Männer des damaligen polnisch-litauischen Reiches, des Starosten von Sambor und Lemberg und Palatins von Sandomierz, vermählt und war dann, begleitet von polnischen Panzerreitern, gegen Moskau gezogen, um sich die verwaiste Zarenkrone aufzusetzen. Das Abenteuer schlug fehl, nicht zuletzt, weil das Bündnis des »Vor« mit dem Erbfeind, dem »römischen« Polen, im rechtgläubigen Rußland die nationalen Widerstandsgeister weckte. An die legitime Abstammung des »Vor« vom Zarengeschlecht hatte ohnehin nie jemand geglaubt. Als letzte Zeugen dieses mißglückten Versuches des damals mächtigen polnisch-litauischen Reiches, Rußland zu unterwerfen, waren in der Samborer Vorstadt Blich ein paar grasbewachsene Wälle von der Burg des Starosten zu sehen.