Titelbild

IMPRESSUM

Hans-Ulrich Lüdemann

Plumpsack geht um

ISBN 978-3-86394-890-0 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1979 bei Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Fred Westphal

 

Für meinen Vater

 

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6 UHR 55

„Verdammtes Insektengeschmeiß!", murmle ich schlaftrunken. Mein rechter Arm fährt vor dem Gesicht hin und her wie ein Scheibenwischer. Aber das störende Geräusch bleibt. Ich riskiere ein Auge, schließe es wieder. Sekunden später springe ich mit einem Satz aus den Federn. Die Fliege war ein Irrtum.

„Der blöde Wecker macht noch das ganze Haus mobil!" Mit dem Daumen drücke ich den Kontaktstift herunter. Die eintretende Stille ist mir unheimlich. Mich fröstelt. Ich reibe kräftig die Oberarme und kämpfe gleichzeitig gegen den Wunsch an, unter die warme Steppdecke zu kriechen. Aber die Schule! Langsam greife ich nach den Hosen. Donnerwetter! Grete hat vier Knöpfe angenäht. Endlich passen die Hosenträger von Großvater selig. In der Klasse werden sie Stielaugen kriegen. Solche urigen Dinger hat noch keiner angeschnallt. Mindestens fünf Zentimeter breit sind die Gurte ...

Ich schrecke zusammen. Vor dem Haus knallt laut ein Auspuff. Mit wenigen Schritten bin ich am Fenster. Der Riegel klemmt etwas beim Öffnen.

„Grete, was meine Mutter ist, liebt frische Luft, Freunde!" Ich nicke meiner ausgestopften Eule Meta einen guten Morgen zu. „Besonders in meinem Zimmer. Von wegen Flohkiepen auslüften."

Ich lehne mich an die Schreibplatte. Blicke in die Runde. Klein, aber mein! Das Zimmer misst höchstens neun Quadratmeter. Zentral geheizt. Komfort ist heute selbstverständlich. Aber die Größe! Ich schniefe durch die Nase: Bis ich heiraten werde, ist das längst geklärt. Davon bin ich felsenfest überzeugt.

Ich betrachte mir meine Menagerie. Flohkiepen! Da muss man sich an den Kopf fassen. Warum legt Grete sich deswegen immer mit mir an. Sie weiß doch, auf meine Freunde lasse ich nichts kommen: Die Graugans Alma mit ihrem leicht gelichteten Gefieder. Der einäugige Fuchs, den ich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen Nulpes getauft hatte. Das Wiesel, dem der Blutrausch im Taubenschlag zum Verhängnis geworden war. Der Kolkrabe, den ich von einem betrunkenen Seemann geschenkt bekam ...

War gar nicht einfach gewesen, an Bücher ranzukommen, in denen beschrieben steht, wie Tiere präpariert werden. Die Schule, speziell Bio-Zachert, wollte oder konnte mir nicht helfen. Statt einen Mumien-Zoo anzulegen, war ich angehalten worden, mich erst einmal eingehend mit dem Unterrichtsstoff im Fach Biologie zu befassen ...

Nicht immer leicht, mit den Großen auszukommen. Wenn die eine Meinung haben, tun sie sich überhaupt keinen Zwang an! Mumien-Zoo! Ich hab's nicht gezeigt, aber Zachert hatte mich ziemlich angeschlagen. Dabei sammele ich Tiere und Fotos von Tieren, um ihre Verbreitung auf unserem blauen Planeten darzustellen.

Grete denkt wie Bio-Zachert. Und auch Grete denkt nicht nur so — sie tut es ebenso kund! Ich dagegen, ich muss trotz meiner vierzehn Jahre reiflich abwägen, ob ich beispielsweise den von Grete über alles geliebten Zimmerbrunnen als Kitsch abtun darf.

Egal! Alles muss seinen normalen Gang gehen! Ich stemme mich hoch. Mein Gesicht sieht bestimmt aus wie eine ungeschälte Kartoffel: Jeden Morgen waschen! Dass da noch nichts erfunden wurde. Ich zieh den Kopf ein, um nicht mit den Drähten ins Gehege zu kommen, die ich von den Tieren und Fotografien zu der an der Wand hängenden Weltkarte gespannt habe. Standortbestimmung ist das, habe ich bei passender Gelegenheit meinen Leuten zu Hause erklärt. Als Otto erbost Mutter rief, weil ein feines Drähtchen ihm das Ohrläppchen geritzt hatte. Sonst kann mein Stammvater eine Menge ab, aber wenn er Blut sieht! Und noch dazu sein eigenes. Jedenfalls, beide fingen an, auf mich einzureden. Ich blieb hart. Wich um keinen Draht von der globalen Kennzeichnung ab. Als Otto was von lebensgefährlicher Freileitung knurrte, erklärte ich mich doch bereit, den feinen Trafodraht gegen einen etwas stärkeren auszuwechseln. „Aber nimm gefälligst einen", stieg Otto sofort ein, „den man erkennen kann, bevor er einem Gesicht und Hals verziert."

Auf dem Weg zum Bad schaue ich in die Küche. Ich schüttele den Kopf. Da ist aufgetischt, als wäre ich eine neunköpfige Raupe! Mit dem entsprechenden Appetit! Grete glaubt wohl, wir haben in den zwei Tagen auf unserem Klassenausflug zur Kunstausstellung in Dresden nicht genug zu essen bekommen. Vertan die Zeit, am Frühstückstisch zu sitzen. Meine Devise lautet: Das Brot ist in die Faust zu nehmen! An der frischen Luft, auf dem Schulweg also, ist die Mahlzeit viel gesünder! Leider hält Grete von meiner Weisheit nicht sehr viel. Zumindest, was dieses Thema angeht.

Gerade als ich mich tiefer zum Spiegel beuge, um die dunklen Punkte - Ansätze eventueller Barthaare - auszumachen, da klingelt das Telefon. Ich lasse mir Zeit. Ein Bein vors andere, so balanciere ich in den Flur. Ist bestimmt die spleenige Sylvia. Fragt nach dem neuen Stundenplan. Aufdringlich in der letzten Zeit, das Mädchen. Ich werde ihr mal ein paar Takte sagen müssen. Endlich reiße ich den Hörer ans Ohr.

„An der Muschel?!"

„Wer ist dort?"

„Dein Sohn in höchsteigener Person, Frau Grete Grieben!" In diesem Moment könnte ich mich küssen vor Wohlbehagen. In der Morgenstunde ein Gag, verliert die Schule jeden Schreck. Oder so ähnlich ...

„Sei nicht albern, Lutz! Ich soll dir von Vater einen schönen Gruß bestellen ..."

Stille. Ich presse den Hörer fester ans Ohr und will schon rufen, ob die Post wieder eines ihrer Verwechsel-Das-Telefon-Spiele oder den Leitungsknoten drauf hat, als Grete wiederholt, dass Vater mir schöne Grüße bestellt! Ich antworte gelassen wie ein Königspudel nach der Schur: „Danke!"

Grete räuspert sich und redet weiter: „Vater ist schon heute morgen um sieben abgefahren. Seine Kur ist vorverlegt worden. Du hast gestern schon geschlafen, als wir nach Hause kamen. Hat dir die Klassenfahrt gefallen? Ist doch alles in Ordnung, Junge?"

Ich atme tief durch. Ich weiß jetzt Bescheid. Lasse Grete aber noch etwas zappeln. „Alles in Ordnung", sage ich dann. „War 'ne prima Sache in Dresden. Nur ziemlich müde war ich."

„Hab ich dich geweckt, Lutz?"

„Nein!" Mein Gähnen würde ein Rudel Löwen an Gewitter glauben lassen.

„Hört sich an, als wenn Kühe auf der Wiese stehen und aufs Melken warten", reagiert Grete prompt.

„Du kennst dich aus auf dem Land, Muttchen. Vielleicht krieg ich mal eine ausgestopfte Kuh für meine Sammlung."

„Was ich sagen wollte", lenkt Grete sofort ab, „du hättest deinen Vater sehen sollen! Wie aufgeregt er war. Das erste Mal in seinem Leben zur Kur. In dem Alter!"

„Lass ihn das bloß nicht hören", warne ich.

„Was?"

„Dass er fast zwanzig Jahre älter ist als du."

„Wer redet denn davon, Junge. Stell dir vor, der Betrieb war auf dem Bahnhof vertreten. Der Genosse Buttlich ..."

„Donnerwetter! Der Genosse Buttlich!" Wer um alles in der Welt ist dieser Genosse Buttlich, dass Grete beinahe ehrfürchtig von ihm spricht!

„Toll, was? Immerhin ist er Vaters Betriebsleiter!"

„Betriebsleiter?"

„Aber Lutz! Ich denke, du kennst ihn!"

„Wen?"

„Genossen Buttlich! Den Betriebsleiter vom Kraftverkehr!"

Gretes Stimme klingt ungeduldig. Trotzdem sage ich betont desinteressiert: „Ach, den!"

Grete seufzt. Ich griene. Stelle mir ihr verdutztes Gesicht vor. Kleine Revanche für — Flohkiepen auslüften. Gretes Schweigen dauert mir zu lange.

„Mein ulkiger Tag heute, Muttchen", sage ich einlenkend.

„Hoffentlich haben deine Lehrer was übrig für solchen Humor, Junge. Du hast mich ganz aus dem Konzept gebracht. Ich vergesse noch das Wichtigste: Vater ist in die Fahrdienstleitung delegiert worden! In Anbetracht der hervorragenden Leistungen, hat Genosse Buttlich gesagt. Und dass er extra zum Bahnhof gekommen ist, weil er der erste sein wollte, der die Nachricht überbringt, hat er noch hinzugefügt. Du weißt, ich habe Vater schon lange in den Ohren gelegen. Das Busfahren ist nichts mehr für ihn. Zuviel Autos auf den Straßen. Auch wenn die Ärzte sagen, er ist ein Ausbund an Gesundheit ... Lutz?! Bist du noch da?"

Ich schnaufe durch die Nase. Vorbei ist die gute Stimmung. Ich spür die Zunge auf meinen Lippen. Aber Grete schwätzt weiter: „Urlaubstage kriegt unser Vater auch mehr. Können wir uns endlich besser um den Garten kümmern!"

Meine Backenzähne mahlen. Da hat Otto sich was einfallen lassen. Besser konnte er mir nicht die Tour vermasseln. Nicht nur mir — auch sich selbst. Und Grete dazu ...

„Fein, was? Da nimm dir ein Beispiel, Junge. Na ja, kommt alles, wenn du die Erweiterte Oberschule hinter dir hast."

„Damit ist es jetzt Essig!", fauche ich. Tränen stehen mir in den Augen. Ein Glück, dass mich niemand sieht. Ich presse die Zähne aufeinander. Lust überkommt mich, den Hörer einfach hinzuwerfen. Oder die Schnur abzureißen. Ahnt Grete nicht, was diese Beförderung für mich bedeutet? Hat niemand an die Folgen gedacht?

„Du sagst ja gar nichts, Lutz?"

„Ich freu mich riesig! Für das Familienoberhaupt", sage ich grimmig. „Hat er es doch noch geschafft. Wenn auch nach der Rente!"

„Was heißt er?"

„Dein Mann", verbessere ich und grübele, wie ich Grete auf Touren bringen kann. Mir ist mächtig danach. Aber mein Kopf ist wie ein Luftballon. Nichts als Luft darin. Keine Spur eines rachsüchtigen Einfalls. Von wegen Beförderung und ich mich darüber freuen!?

„Was soll Vater geschafft haben?", fragt Grete harmlos.

Ich fühle meine Adern anschwellen und bewege die Lippen. Dann sage ich: „Was er geschafft hat? Den Sprung aus der Arbeiterklasse! Ist doch jetzt Angestellter! Da kann ich meinen Antrag für die EOS einpökeln!" Ich halte die Luft an. Spüre mein Herz bis zum Hals. Die Lippen zittern gegen meinen Willen.

„Du spinnst, Lutz!", ruft Grete. „Was hat Vater mit deiner Oberschule zu tun! Er will heute Abend anrufen. Sagen, wie er angekommen ist und so. Dass du pünktlich zu Hause bist, Lutz. Wir haben heute bis zwanzig Uhr geöffnet ... Aber was du dir manchmal in den Kopf setzt, Junge ..."

Ich lege auf. Im gleichen Augenblick tut es mir leid. Ich starre den graufarbenen Apparat an, ohne etwas zu sehen. Kann Grete was dafür, dass Otto sich für die Fahrdienstleitung qualifiziert hat? Wie viel mir an der Penne liegt, merke ich jetzt erst. Wieso eigentlich? War mir sonst nicht so wichtig. Grete und Otto wollten immer, dass ich zur Penne geh. Aber warum eigentlich? Die Arbeiterklasse ist doch die fortschrittlichste Klasse. Sie hat die Macht in unserem Staat! Arbeiter mit Abitur? Ich schüttele den Kopf. Irgendetwas stimmt da nicht. Aber was? Otto könnte es mir erklären. Heute Abend. Am Telefon. Aber ich glaube nicht, dass ich scharf bin auf seine Erklärung. Überhaupt nicht. Interessiert mich gar nicht mehr. Erledigt. Basta ...

Ich starre noch immer auf das Telefon. Wünsche, dass es wieder klingelt. Gleichzeitig spüre ich Angst vor dem hässlichen, schrillen Laut. Was soll ich Grete sagen? Dass mir kalt geworden war? Dass ich meine Hochwasserhosen geholt habe? Dass ich ...

Ich kaue auf den Lippen. Von der Hochwasserhose sollte ich nicht anfangen. Das zweite Mal habe ich die Jeans aus der Waschmaschine geangelt. Stehen vor Dreck, behauptet Grete. Man schämt sich direkt vor den Lehrern. Neue Hosen will ich aber nicht. Sehen so aufdringlich nach Laden aus. Piekfein. Ich mach mich doch nicht lächerlich! Wenn die aus der Klasse sich über den Mumien-Zoo scheckig gelacht haben — darauf ist was gepfiffen. Aber was die Jeans angeht...

Ich könnte sagen, dass mir der Hörer runtergefallen ist. An solche Ausreden ist Grete gewöhnt. Aber es klingelt kein zweites Mal. Sie ist bestimmt auf dem Weg zu ihrer Kaufhalle. Um den Platz hinter der Kasse pünktlich zu besetzen. Ich schleiche ins Bad zurück. Auf halbem Weg kehr ich um. Steige langsam in die von Grete übel beleumdete Röhrenhose. Auch das Knallen der uralten Trägergummis kann mich nicht aufmotzen.

„Das wird noch ein Tag", seufze ich ahnungsvoll und rubbele mit der flachen Hand über die Stirn. Woher kommt das bloß? Dass ich mich in der letzten Zeit oft nicht leiden kann?