Hölderlin: Worte wie Blumen

Von Gerhardt Staufenbiel

Προζ εαυτον

Lerne im Leben die Kunst, im Kunstwerk lerne das Leben, Siehst du das eine recht, siehst du andere auch.

Friedrich Hölderlin

Hölderlin: Worte wie Blumen

Auf der Suche nach der Ganzheit

Meditationen über Hölderlins Dichtung

Von Gerhardt Staufenbiel

Inhaltsverzeichnis

1. Wege des Wanderers

2. Einleitung

Teil I
Lehrerin der Menschheit

3. Hälfte des Lebens

3.1 Apriorität des Individuellen

3.2 Lehrerin der Menschheit

3.3 Sinnlichkeit und Schönheit

3.4 Die neue Mythologie

3.5 Des Menschen Maß

3.6 Die heimatliche Natur

3.7 Die Götternacht

3.8 Dialektik: Heroisch – idealisch – naiv

3.9 Dialektik: Heimkunft

3.10 Exkurs: Platons Symposion

Teil II
Nachtgesänge

4. Nachtgesänge

4.1 Du edles Wild – Chiron

4.2 Die Meisterin und Mutter

4.3 Prometheus: Technik

4.4 Exkurs: Das Hohe Lied

4.5 Adonischer Vers

5. Hälfte des Lebens: Innigkeit

5.1 Zu-Neigung

5.2 Gelbe Birnen und wilde Rosen

5.3 Die Schwäne

5.4 Heilig nüchtern

6. Hälfte des Lebens: Winter

6.1 Weh mir!

6.2 Der Winter

6.3 Wo nehm ich die Blumen

6.4 Schatten der Erde

6.5 Klirrende Fahnen

7. Lebensalter

8. Der Winkel von Hardt

8.1 Winkel und Quadrat

9. Ausklang

10. Danksagung

1. Wege des Wanderers

In den homerischen Hymnen werden die Geschichten von Apollo und Hermes erzählt.

Als Apollo im Beisein aller Götter geboren war, zerriss er sofort seine goldenen Windeln und entstieg der Wiege. Laut rief er: „Mein seien Bogen und Leier!“ Sprach‘s und schritt herrscherlich davon. Aber es gab weder Leier noch Bogen.

Hermes wurde in aller Stille in einer verborgenen Höhle inmitten der unberührten Natur geboren. Seine Mutter, die Nymphe mit den goldenen Zöpfen, legte ihn in eine schlichte Getreideschwinge. Hermes hielt es nicht lange in der Schwinge. Heimlich schlich er davon. Kaum hatte er die Höhle verlassen, da begegnete ihm als glücklicher Fund eine Schildkröte und er formte daraus die Leier.

Er flocht sich riesige Sandalen aus Reisig und schnallte sie verkehrt herum an seine Füße. Dann ging er rückwärts, um die Rinder des Apollo zu stehlen. Doch die Spur führt Apollo direkt zu Hermes. Nur zu gern tauschte er die Rinder, die er ohnehin nicht mochte, gegen die Leier. Manchmal scheinen wir rückwärts zu gehen, aber hinterher betrachtet, führt die Spur dennoch geradewegs ins Ziel.

Hermes freut sich über jeden noch so kleinen Fund und die vielen bunten Blumen an seinen verschlungenen Wegen. Ihm ist der Weg wichtiger als das Ziel. Schöpferisch spielend wie ein Kind, kommt er dennoch ans Ziel. Unterwegs aber hat sich ihm eine weite, bunte Landschaft erschlossen.

Möge uns Hermes auf verschlungenen Pfaden durch Hölderlins Dichtung geleiten. Auch wenn wir manchmal scheinbar das Ziel aus den Augen zu verlieren oder rückwärts zu gehen scheinen: die Funde am Wegesrand entschädigen tausendfach für die Mühe.

Doch nun, nun müssen Worte wie Blumen entstehen!

2. Einleitung

Im Dezember 1803 schrieb Hölderlin einen Brief an seinen Verleger Wilmans in Frankfurt. Der hatte ihn gebeten, einige Gedichte für seinen geplanten Musen Almanach für das Jahr 1805 mit Liebes- und Freundschaftsgedichten zu schicken.

Ich bin eben an der Durchsicht einiger Nachtgesänge für ihren Almanach.

Ich wollte Ihnen aber sogleich antworten, damit kein Sehnen in unsere Beziehung kommt.

Die neun Nachtgesänge, die Hölderlin an Wilmans gab, sollten die letzten von ihm selbst zum Druck gegebenen Gedichte werden.

Unsere Zeit ist für Hölderlin die Zeit der Götternacht, der Abwesenheit des Heiligen, die bis heute andauert. Dem Dichter bleibt nur, wach zu bleiben in der Nacht und das Heilige, das kommen wird, zu erwarten. Darum wohl nennt er die geplante Folge der Gedichte für den Almanach die Nachtgesänge. Es sind Gesänge aus der Nacht der Geschichtszeit, in der Hoffnung auf das neue Licht, das kommen wird.

Hölderlin wollte keine schwärmerischen Gedichte zur Unterhaltung der besseren Gesellschaft schreiben. Seine Gesänge sollten ‚Lehrerin der Menschheit‘ sein. Menschheit ist nicht die Gesamtheit der Menschen, es ist das, was den Menschen eigentlich erst zum Menschen macht, seine Humanität. Zugleich sollten sie helfen, eine neue, unmittelbar sinnliche Religion zu bilden.

Obwohl Hölderlin ein hochgelehrter Mann war, der die Bibel im hebräischen Original las und der die griechischen und römischen Klassiker bestens kannte und übersetzte, nennt er unsere Kultur ‚kinderähnlich‘. Zur Goethezeit, der Lebenszeit Hölderlins, bestand nahezu die gesamte Bildung aus Anlehnungen an das Altertum, besonders der griechischen Antike. Auch unsere Religion ist ein Überbleibsel aus Griechenland und dem vorderen Orient. Für Hölderlin, den studierten Theologen, der nach den Regeln des Tübinger Stifts ein Amt als Pastor hätte annehmen müssen, war die Religion an ihr Ende gekommen. Die antiken Heilandsgötter Herakles, Dionysos und Christus - drei Brüder im Geiste – sind verschwunden. Nur noch die alten Geschichten werden erzählt, aber sie selbst sind hinweggegangen, wenig bekümmert um uns‘.

Ruhelos zog Hölderlin von Ort zu Ort und suchte leidenschaftlich und voller Liebe nach dem Eigenen, unabhängig vom griechischen Vorbild. Das Eigene, das Hölderlin sucht, ist nicht sein persönliches Eigentum, es ist das Eigene des ‚Vaterlandes‘ und darüber hinaus auch das Eigene der Menschheit überhaupt.

Das Eigene ist das Offene, die Freiheit des Blickes und des Herzens fern jeder Enge und Eingeschränktheit. Das Eigene ist das Vaterländische, das, was uns von den Griechen unterscheidet, und das unser zu Hause bildet. Die Griechen sind unser Vorbild, weil sie gelernt hatten, im Einklang mit ihrer Natur zu leben und das ihnen Eigene zu gestalten. Darum brauchen wir sie, so Hölderlin, um von ihnen zu lernen.

Aber unsere Natur, unser Klima, das die Menschen formt und bildet, ist anders als die Natur Griechenlands oder der Wüsten des vorderen Orients, in der unsere Religionen entstanden sind. Das Vaterländische hat nichts mit einem Nationalismus oder einer Enge einer deutschen Leitkultur zu tun. Es ist das Besondere unserer Natur, die uns formt.

Der deutsche Dichter sitzt unter schützenden Wolken im Schatten von Eichen, der Dichter der antiken Welt saß in der Glut der Sonne unter Palmen. Die Natur selbst erzieht den Menschen zu seinem jeweils Eigenen. Aber allen gemein ist es, dass die Natur selbst den Menschen erzieht, so unterschiedlich sie sich an verschiedenen Orten und Klimazonen auch zeigen mag.

Die Natur ist ‚älter als die Zeiten und über die Götter‘. Die Menschen haben sie bisher nicht gesehen, denn ihr Blick war vom Dasein der Götter gefangen. Aber die Götter haben lediglich in ‚Knechtsgestalt‘ den Acker gebaut. Die Natur selbst ist das Heilige. Sie, die alles hervorbringt und wieder zurücknimmt. Auch die Götter, die ihre Zeit haben, um dann wieder zu verschwinden.

Darum tut es Not, dass wir – nicht nur zu Hölderlins Zeiten, sondern gerade auch heute, in Zeiten der Orientierungslosigkeit, der Umweltzerstörung und der Vergewaltigung der Natur – auf sie selbst hören. Denn der Mensch steht der Natur nicht gegenüber, er ist ein Teil von ihr. Wenn die Natur stirbt, sterben auch wir. Und die Götter sind noch eher verschwunden als der Mensch.

So wurde Hölderlin nicht nur der Dichter der Deutschen. Weltweit werden seine Gesänge gelesen und rezitiert, sogar im fernen Japan und in China. In Italien ist erst kürzlich eine komplette Ausgabe seiner Werke in italienischer Sprache erschienen.

Hölderlin war gerade einmal um die dreißig Jahre alt, als er sein gewaltiges Hauptwerk schuf. Mit 36 Jahren verstummte er und lebte dann noch einmal über dreißig Jahre als Wahnsinniger im Tübinger Turm, dem Haus des Schreinermeisters Zimmern unweit des Tübinger Stifts, in dem er studiert hatte. Hölderlin war nun wieder zurückgekehrt zu seinem Ursprung.

Ob seine späteren Werke Erzeugnisse der Krankheit waren oder ob es sich um die höchsten Kunstwerke deutscher Sprache handelt, war lange umstritten. Heute ist diese Frage müßig, denn auch so genannte Schizophrene sind in der Lage, große Kunstwerke zu schaffen. Sicher war Hölderlins Sprache immer komplexer geworden. Er war hochbegabt und hochsensibel. Darum ging es ihm um absolute Reinheit seiner Gedanken, frei von persönlichen Wünschen. Hölderlin dachte in Bildern und seine bildhafte Sprache wurde immer dichter. Wenn ein Psychiater ohne nähere Kenntnis von Hölderlins Werk Gedichte aus der Spätzeit liest und sie nicht versteht, dann ist das kein Beweis für Hölderlins Krankheit, sondern für mangelndes poetisches Verständnis des Psychiaters.

Hölderlin arbeitete an ganz neuen Ideen für seine Dichtung, er wollte einen völlig neuartigen Gesang schaffen. So sind seine großen späten Gedichte unvollendete Fragmente, die mitten im Arbeitsprozess liegen blieben. Hölderlin hatte keine Zeit mehr, die geplanten Werke zu vollenden. Immer wollte er das Einfache sagen, aber seine Ideen waren zu unzeitgemäß und neu.

Erst in den letzten Gedichten der Nachtgesänge und später im Turm gelingt ihm der ‚einfache Gesang‘. Aber seine Zeitgenossen hielten gerade diese Gedichte für das Werk eines Wahnsinnigen. Ver-rückt war Hölderlin sicher. Aber was ist normal in verrückten Zeiten wie der Zeit Hölderlins mit aufkeimenden Hoffnungen, Revolutionen, die im Blut versanken, den napoleonischen Kriegen und der sich ankündigenden Selbstgenügsamkeit des Biedermeier?

Wir begeben uns auf eine Abenteuerreise in Hölderlins Bilder- und Gedankenwelt und versuchen, seinen Ideen zu folgen. Dabei tauchen wir in ein komplexes Gedankengebäude ein, das bunt und farbig ist ‚wie das Land, das wechselt wie Korn‘. Damit wir uns nicht in den Weiten der hölderlinschen Bilder- und Gedankenwelt verlieren, soll das kleine Gedicht ‚Hälfte des Lebens‘ aus den Nachtgesängen der Ariadnefaden sein, der uns durch das Rankengewirr leiten mag und zu dem wir immer wieder zurückkehren. Auch die Nachtgesänge werden uns immer wieder auf unseren Wegen leiten und führen.

Wir besuchen dabei nicht nur die deutschen Wälder, sondern auch das Meer der Griechen und die Wüsten Palästinas.

Hölderlins Zeitgenossen hielten ihn für geisteskrank, weil sie seine Sprache nicht mehr verstanden. Aber fast alle zeitgenössischen Lyriker verdanken Hölderlins Dichtung wesentliche Impulse.

Rainer Maria Rilke schrieb in einem Brief an Norbert von Hellingrath der um 1909 Hölderlin neu entdeckte und herausgab:

sein Einfluß auf mich ist groß und großmüthig wie nur der des Reichsten und innerlich Mächtigsten es sein kann.

Erst kürzlich, im Jahr 2016, ist in einem Wiener Antiquariat ein Hölderlinband aus dem Besitz von Georg Trakl aufgetaucht. Auf der ersten Seite hat Trakl mit Bleistift ein Gedicht notiert mit dem Titel ‚Hölderlin‘. Trakls Gedicht klingt wie ein Echo der einfachen Sprache von Hölderlins späten Gedichten aus dem Turm.

Der Wald liegt herbstlich ausgebreitet

Die Winde ruhn, ihn nicht zu wecken

Das Wild schläft friedlich in Verstecken,

Indes der Bach ganz leise gleitet.

So ward ein edles Haupt verdüstert

In seiner Schönheit Glanz und Trauer

Von Wahnsinn, den ein frommer Schauer

Am Abend durch die Kräuter flüstert.

G. T.

1911

Das gesamte Spätwerk von Martin Heidegger wäre ohne die intensive Begegnung mit der Dichtung Hölderlins nicht in der Form entstanden. So hat Heidegger Vorlesungszyklen über Hölderlin gehalten. Sein Entwurf der Philosophie des Gevierts, des „Spiegel-Spiels“ von Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen wäre ohne Hölderlin nicht denkbar.

Heute, mehr als 170 Jahre nach seinem Tod möge Hölderlins Dichtung wieder zur Lehrerin der Menschheit werden, damit „geistiger das weit gedehnte Leben“ werde.

Mich selbst fesselt Hölderlins Dichtung seit nun weit mehr als vierzig Jahren und bereichert mein Leben – meine Hälfte des Lebens! Ich verneige mich vor ihm in tiefer Ehrfurcht und Dankbarkeit.

Teil I

Lehrerin der Menschheit

Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte

Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,

Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,

Und von trunkener Stirn höher Besinnen entspringt,

Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,

Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.

Gang aufs Land