Karin Bruder

PANAMA

Roman

1

Wir verließen Santa Fé im Regen. Zahllose Fingerspitzen trommelten auf Ruuds Wagendach. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass es am frühen Morgen je geregnet hätte.

»Ich will nicht«, hatte ich ihm in der vergangenen Nacht erklärt. Zum wiederholten Mal. Mein Nein schien ihn zu erstaunen. Mit achtzehn, besagte sein Blick, da muss man mutiger sein. Vielleicht konnte er sich nicht vorstellen, dass es ein weibliches Wesen auf der Welt gab, das ihm auf Dauer widerstehen konnte.

»Ich habe einen Schuh in der Hand. Und nun suche ich die Prinzessin dazu. Oder anders gesagt: Hier steht ein Mann. Und du bist eine Frau. Es ist nur natürlich, dass wir uns lieben.«

»Deine Standardsprüche?«

»Komm schon, lass uns ein bisschen neugierig sein. Wir werfen die Kleider ab und deinen Ernst über Bord.« Grinsend hatte er begonnen, sich zu entkleiden. Mütze, Hemd, Schlappen.

»Geh schlafen, morgen müssen wir früh raus.« Ich wollte ihn anlachen. Doch seine Enttäuschung legte sich wie ein Balken zwischen uns. Sex sollte leicht sein, deuteten seine zusammengeschobenen Augenbrauen an. Unkompliziert. Du aber bist kompliziert, hältst das Schild »Anfängerin« hoch.

»Dann eben nicht.« Dieser kleine Satz. Hat mich getroffen. An der Brust. Und weit unten.

Das monotone Summen des Scheibenwischers ließ die Gedanken an die vergangene Nacht sterben. Musik wäre schön. Aber der CD-Player war defekt. Wie so vieles. Wie das Wagendach, wie die Scheibenwischer. Ich versuchte durch die dicht gewobenen Regenfäden einen Blick auf die vorbeiziehende Landschaft zu erhaschen. Aber gerade an dem Tag hatten sämtliche Landschaften beschlossen, sich weit zurückzuziehen. Stattdessen tauchte eine unregelmäßige Bebauung auf. Wir passierten einen Abschnitt der Panamericana, an dem sich Industriehallen an mehrstöckige Mehrfamilienhäuser, Werkstätten an Fastfood-Restaurants reihten. Neben einer Tankstelle lag ein Holzkarren im Matsch. Avocados kullerten über nassen Asphalt. Pferd und Besitzer schauten ratlos.

In raschem Tempo näherten wir uns der Stadt. Ruud holte alles aus seiner alten Kiste heraus. Wir wussten, um elf Uhr würde das Flugzeug abheben, auch ohne mich. Ich hatte nur Handgepäck dabei, trotzdem sollten wir uns beeilen. Ein Blick auf den Unterarm brachte keine Erkenntnis. Wo war meine Uhr? Vermutlich im Prinzessinnenhaus. Auch mein Herz lag dort.

»Mehr Panama geht wohl nicht«, stellte Ruud mit einem Grinsen in der Stimme fest.

Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht lachen, nicht reden. Er stupste mich mit dem Ellenbogen an, sah mich eindringlich an. Und meine Augen huschten weg. Graugrünes Licht auf der Straße. Ich wollte es einsammeln. Für später. Für die Nach-Ruud-Zeit. Natürlich ahnte er, was in mir vorging. Diese Trennung war ein Vorgeschmack auf den großen Abschied. Unser Wir hatte verdammt wenig Zukunft.

Auch wenn es regnete, war Panama wunderschön.

»Panama, die Schöne«, sagte Ruud prompt. »Sie weint.«

Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass dieser Mann, der noch vor wenigen Wochen ein Fremder für mich gewesen war, meine Gedanken lesen konnte.

»Panama ist männlich«, widersprach ich. Es tat gut, die eigene Stimme auf Widerstand zu stellen.

Doch Ruud schien mir nicht zuzuhören. »Sie weint um dich. Oder um mich. Fucking egal  …«, summte er. Und es klang furchtbar. Und traurig schön zugleich. Meine Hand zuckte. Ich wollte sie auf seine legen.

»Fucking, fucking egal …«

Ruud weinte nicht, blieb stark. Aber nicht so stark wie sonst. Eine Ruudpuppe saß neben mir, die sich in guter Laune versuchte. Mit überhöhter Geschwindigkeit tauchten wir in den Schlund der Weltstadt Panama ein, die einem Riesenkraken glich, der seine Tentakeln weit ins Meer hinausstreckte. Rechts dominierten Hochhäuser das Stadtbild. Ihre gläserne Eleganz erschreckte mich. Stumpfe Haifischzähne, sie hatten sich im Kapital festgebissen, rissen und zerrten an angeschwemmtem Gut. Panama City lebt vom Geldfluss. Und war selbst zu einem reißenden Strom geworden. Ruud überholte und bog auf die Schnellstraße ein. Er brachte mich dorthin, wo ich vor knapp sieben Wochen angekommen war: zum internationalen Flughafen. Ich hatte ein paar Tage bleiben wollen. Um meinen verschwundenen und wiedergefundenen Neffen kennenzulernen und um ihn in die Schweiz zu begleiten.

An welchem Punkt beginnt eine Geschichte?

Die Geschichte meines Neffen zum Beispiel. Damit, dass Mama in Limón ihren ersten Mann kennenlernte, der der Bruder von Papa war, ihrem zweiten Mann? Mama konnte weder mit Männern noch mit Kindern umgehen. Nach der zweiten großen Trennung entschied sie sich, in Zentralamerika zu bleiben, um sich ganz ihren geliebten Reptilien und deren Bedürfnissen zu widmen. Papa und wir Kinder kehrten nach Deutschland zurück.

Das war noch lange nicht Pablos Geschichte.

Spätestens aber als unser Bruder Sigi den Spuren unserer Mutter folgte und ebenfalls auswanderte, legte er die Fährte für Pablos Lebensweg. Unser inzwischen erwachsen gewordener Bruder hatte sich verliebt und war Vater geworden, in einem Land, in dem Kinder verschwanden und auch die Lebenserwartung von Erwachsenen nicht besonders hoch war.

Unsere Mutter starb bei einem Flugzeugabsturz.

Unser Bruder wurde getötet.

Und sein Kind blieb verschwunden.

2

Wie alles begann.

»Liana, ich wünsche, dass du mich besuchen kommst«, verlangte der Großvater in seinem harten Deutsch. Auch nach einundvierzig Jahren in der Schweiz hatte er sein rollendes R nicht abgelegt. »Lass keine Zeit verstreichen, es eilt.«

Als wäre ich eine Angestellte, kommandierte seine tiefe Stimme mich herum, Widerspruch schien ausgeschlossen.

»Morgen schreibe ich Mathe.«

»Ist recht. Ich drück dir die Daumen. Obwohl, weiß ich doch, dass Mathe ein Klacks, ein Kinderspiel, für meine Königin ist. Dann kommst du eben anschließend. Ist das die letzte Prüfung?«

»Ja! Die letzte schriftliche.« Das Ja laut und deutlich. Er sollte ebenso stolz auf meine Leistungen sein wie ich. Die Prüfungen waren gut gelaufen. Ich konnte mir meinen Abidurchschnitt nicht mehr versauen. Doch unser Ota überhörte meinen Triumph.

»Nimm den ersten Zug. Oder kommst du mit dem Auto?«

»Ich kann nur in Begleitung fahren, das weißt du doch. Aber ich habe bald Geburtstag, du kannst schon mal Geld für ein Auto zur Seite legen.« Er ging nicht auf mich ein. Ein Scherz, der sonst immer funktionierte, war im Stacheldraht seiner Zerstreutheit hängen geblieben. »Was ist denn los?«, wollte ich wissen.

»Alles Weitere vor Ort.« Die Großvaterstimme kratzte in meinem Ohr. Der Alte klang verschnupft.

Nach der letzten schriftlichen Prüfung, fuhr ich von Bad Bergzabern nach Brunnen. Ich fuhr durch weiße Schneelandschaften, die meinem Kopf viel Spielraum für Gedanken und Erinnerungen ließen. Stoppelfelder wechselten sich mit weiß bedeckten Hügelketten ab, zugeeiste Seen mit grau schäumenden Flüssen. In Brunnen lag der Schnee besonders hoch, reichte bis an die Ufer des Vierwaldstättersees, der mit hungrigen Zungen an ihm leckte. Auch die umliegenden Berge trugen Wintermäntel, die Rigispitzen, der Fronalbstock, der Mythen. Es war früher Nachmittag, als ich ankam. Der Anblick der Berge schaffte es immer wieder, eine kindliche Unbeschwertheit in mir auferstehen zu lassen.

Lachend nahm der Ota mich am Bahnhof in Empfang, küsste mich jedoch nicht, sondern legte lediglich seinen Arm um meine Schultern. Mit der freien Hand schnappte er sich den Rucksack. Unser Großvater war eine stattliche Erscheinung, immer noch, trotz seiner achtzig Jahre. In seiner Nähe stand man im Schatten. Sein struppiger Bart war noch ein bisschen wilder, noch eine Spur weißer geworden. Ich entdeckte rote Verästelungen in seinen Augen. Ein Nikolaus in Lederjacke und Lederhose. Immer war er anders gewesen, nie hatte er geredet, wie die Nachbarn redeten, sich einzig und allein seinem ureigenen Kleidergeschmack unterworfen. Mein geliebter Alter.

Allein die Familie zählte und der Erfolg eines jeden Einzelnen. Mangel an Ehrgeiz konnte er nicht verzeihen. Meinen Fleiß lobte er gern und ausgiebig, doch an jenem Tag zeigte er sich geizig.

»Jesses, die Vorgänge in Panama beschäftigen mich mehr, als mir lieb ist«, sprach er, lud mich und das Gepäck in seinen Geländewagen. Joschi war nicht dabei. Dem Ota war auch der letzte Hund gestorben. Im Wagen roch es säuerlich. Ein Anflug von Furcht streifte mich. Großvater hatte in den letzten Jahren nicht nur die Schallgrenze vom alten zum sehr alten Menschen überschritten und seine Frau und die einzige Tochter verloren, sondern auch einen Enkelsohn zu Grabe tragen müssen. Wie viele Verluste würde er noch verkraften?

Von der Seite musterte ich ihn, zählte Falten, strich in Gedanken über die lange Narbe an seinem Hals. Er hatte in Rumänien im Gefängnis gesessen, mehrere Monate, und selten darüber gesprochen. Und wenn, dann so, wie man über ungeliebte Verwandte spricht, leise, hinter vorgehaltener Hand.

Mitten aus tiefen Gedanken heraus schreckte ich hoch. Unser Ota fuhr die Bahnhofstraße nicht weiter, bog rechts ab. Der Verkehr war dicht, die Straßen eng. Wie Türme erhoben sich Schneehügel rechts und links der Fahrbahn. Von den Fußgängern waren nur die bunten Mützen zu sehen. Wir fuhren durch Eisgalerien, wir fuhren Richtung Friedhof.

»Muss das sein?« Mein Protest klang matt. Ich war müde nach der langen Fahrt.

»Überlass das einem erfahrenen Ritter.«

Gekonnt versuchte der Alte mich mit seiner bärigen Stimme einzuspinnen, erzählte lachend, was in Brunnen an Gewöhnlichem und Ungewöhnlichem geschehen war. Und dann fragte er doch noch: »Und deine Matura? Wann ist das Mündliche?«

Aber jetzt wollte ich nicht mehr.

»Na, was hast du?«

Schon hielt der Wagen vor dem schmiedeeisernen Tor. Für alle, die auch im Winter die Sehnsucht nach den Toten überkam, waren vier Parkplätze frei geräumt worden. Ich sah den gestreuten Hauptweg und die mir traurig zunickenden Hängebuchen. Meine Augen stolperten über das weiße Dach der Kapelle, und da waren sie wieder: die Bilder von Sigis Beerdigung. Ich sah meinen Vater, wie er am Grab zusammengebrochen war, und ich fühlte die Hand meiner Zwillingsschwester, die sich wie eine Handschelle um mein Armgelenk gelegt hatte. Immer noch konnte ich die Stelle benennen. Und dann fühlte ich gar nichts mehr, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Es war einfach ungerecht, dass Sigi hatte sterben müssen. Und es war ungerecht, dass Ota mich ohne Vorwarnung hierherschleppte. Plötzlich war mir klar, dass mein Besuch mit Sigi zusammenhing. Waren seine Mörder gefunden worden?

»Wir besuchen deine Omama ein anderes Mal«, erklärte der Alte und ergriff meine Hand. »Heute geht es um deinen Bruder. Ich habe ihm die Neuigkeiten noch nicht erzählt. Das holen wir jetzt nach.« Zielstrebig führte er mich zum Grab.

»Was für Neuigkeiten? Spann mich nicht auf die Folter«, schniefte ich.

Er beantwortete meine Frage nicht. Kramte stattdessen in seiner Tasche, holte ein Taschentuch heraus. Geblümt, nicht besonders frisch. Mitten in der Bewegung hielt er inne, ein Mann hatte sich uns genähert, der in der weißen Einsamkeit wie eine Fata Morgana aufgetaucht war.

»Grüezi miteinander«, sprach er.

»Na«, antwortete der Großvater. »Bei dem Wetter …«

Belangloses flog hin und her. Ich versuchte die Tränen zurückzunehmen, doch es war zu spät.

»Wein, mein Schatz, weinen ist gesund«, tröstete der Ota, drehte dem Grabnachbarn demonstrativ den Rücken zu und wandte sich an den unter Schnee begrabenen Erdhügel.

»Lieber Sigi«, begann er, und sein Blick ruhte auf dem schlichten Holzkreuz, »noch weiß es niemand. Dein Sohn Pablo ist wieder aufgetaucht. Abgegeben worden oder zurückgegeben worden, wie immer man das nennen will. Du bist einen Scheißtod gestorben, aber nun geht das Leben weiter.«

»Was soll das bedeuten, Ota?« Ich verstand weniger als nichts. Meinte er wirklich den kleinen Pablo, der vor drei, oder waren es schon vier, Jahren verschwunden war und den wir irgendwo im Himmel, bestenfalls in den USA bei reichen Pflegeeltern vermuteten? Sollte ich mich freuen? Wegen Pablo hatte Sigi sich in Gefahr gebracht. Wegen ihm war unser Bruder gestorben.

Ich fragte meinen Großvater, wie so etwas möglich war, wie das Unmögliche eingetreten sein konnte. Und ich merkte, wie mir die Erregung als warme Welle vom Bauchnabel bis zu den Haarspitzen hochstieg.

»Wo haben sie das Kind gefunden, Ota?«

»In Panama City. Jemand hat ihn ins Foyer der Deutschen Botschaft gestellt. Sie wissen nicht, wer das war.«

»Warum nicht?«

»Weil es am späten Abend passierte. Jemand von der Botschaft hat ihn unten abgeholt. Da war die betreffende Person, es war eine ältere Frau, bereits weg.«

Ich brauchte eine Weile, bis ich unser Glück fassen konnte. Sigi hatte also recht gehabt. Das Kind war entführt worden. Aber von wem? Und warum? Es gab nie Lösegeldforderungen.

Ich löcherte Großvater mit zahllosen Fragen. Wie geht es dem Kind, welche Sprache spricht es, ist es gesund, wo ist es jetzt, was hat Marisol dazu gesagt?

Kurz angebunden, denn Großvater fehlten offenbar die Informationen, antwortete er. Wohlbehalten, gut untergebracht, aber schwierig im Umgang, stellte er klar. Die letzte Frage beantwortete er besonders brummig. »Das ist ja das Problem. Die Mutter ist nicht auffindbar. Deshalb wurden wir informiert. Liana, ich will, dass du fährst. Sobald du die mündlichen Prüfungen hinter dir hast, sobald wir einen Flug gefunden haben, geht’s los. Du holst den Jungen. Ich bin zu alt für solche Geschichten.«

Sein breites Glücksgesicht strafte ihn Lügen. Die Augen leuchteten, verjüngten seine Züge. Nein, er war nicht wirklich alt. Vor mir stand ein Lausbub, der sich mordsmäßig freute. Die Vorfreude galt nicht mir, das war mir natürlich klar.

Den Ota als Oberhaupt der Familie zu bezeichnen ist weit untertrieben. Er ist der Kaiser, der über seine Nachkommen herrscht und richtet. Der Großvater fragte nicht. Er tagte mit sich selbst, war Minister, Berater und Zeremonienmeister in einer Person. Wenn er zu einer Entscheidung gelangt war, verkündete er diese und drückte sie durchs Parlament, verwandelte sie in ein Gesetz. In seinen Ansichten war er klar und unbeweglich. Ein tiefer Bergsee. Und so ahnte ich sofort, dass es nicht darum ging, zu verstehen oder an der Entscheidung beteiligt zu werden. Nein, er hatte mich einzig und allein hierherbestellt, um sein Urteil zu verkünden: Ich will, dass du fährst!

Während der Großvater ein paar Tannenzweige aus dem Schnee zupfte, sprach er mit gedämpfter Stimme auf mich ein. Jedes Wort sprach er betont langsam. Die Luft war eisig klar, ich drängte mich in meine Daunenjacke. Erst sein Schlusssatz schreckte mich auf.

»Das Kind wartet im Waisenhaus in Panama City auf dich. Ein Anwalt ist eingeschaltet. Er wird dir helfen und dir zur Seite stehen. Du bist nicht allein.«

Augenblicklich war meine Freude über das Wiederauftauchen des kleinen Pablo verflogen. Ota meinte es ernst. Tagelang, vielleicht wochenlang, musste er diesen Plan mit sich herumgeschleppt haben.

»Warum soll ausgerechnet ich Sigis Kind holen? Warum nicht Papa? Und wozu? Bei wem soll er leben? Warum wartet man nicht, bis Marisol ihn zu sich nimmt?« Endlich kam wieder Leben in mich, und ich war bereit, auf dem Absatz kehrtzumachen, wenn er mich nicht aufklärte.

»Ja, verstehst du denn nicht, das kann dauern, und wie viele Monate soll das Kind im Waisenhaus ausharren, deiner jugendlichen Meinung nach? Wir müssen ihn zu uns holen, jetzt. Und basta. Dein Vater wird das nicht tun. Seit Jahren setzt er sich in keinen Flieger mehr. Dir muss ich nicht sagen, warum.«

Der Ota schluckte trocken, und ich tat es ihm gleich. Beide dachten wir an Mama, die irgendwo auf dem Grund des Atlantischen Ozeans lag.

»Tatsache bleibt, der Junge hockt mutterseelenallein dort drüben und wartet. Ich wiederhole, wie lange willst du ihm das antun, ein Jahr, zwei? Wir sind seine Familie. Wir sind immer füreinander da gewesen.«

»Was hast du vor?«

»Jeder so, wie er kann. Ich kann noch kämpfen, und genau das werde ich tun. Ich werde dem Kind ein neues Zuhause geben. Es reicht mir langsam mit diesem Sterben. Ich wollte es nie akzeptieren, dass deine Mutter und Sigi gestorben sind. Aber jetzt weiß ich, es geht wieder aufwärts. Pablo wird bei mir leben. Als mein Urenkel setzt er die Jakobilinie fort und …« Der Ota zögerte nur wenige Sekunden, »es wird ihm an nichts fehlen.«

Verwundert schluckte ich meinen Einspruch gegen diesen merkwürdigen Plan hinunter. Sammelte neue Argumente.

»Ota, du hast vergessen, dass ich mich um einen Studienplatz kümmern muss, und ich brauche ein Praktikum. Ich habe schon eine Zusage, aber ich soll mich vorher nochmals melden, zu einem Einarbeitungstag. Außerdem findet bald das Abschlussfest statt. Du bist eingeladen. Und er soll wirklich bei dir …« Ich beendete den Satz nicht.

»Wann, wann ist dieses Fest?«

»Ende März.«

Mein Großvater war es nicht gewohnt zu bitten, er bekam auch so, was er brauchte.

»Ende März bist du längst zurück. Wir kommen zu deinem Abschlussfest, der Pablo und ich.«

Ota bemerkte meinen Blick und richtete sich stolz auf. In seinem Schnauzbart hatten sich winzige Eiszapfen gebildet. Er war gemein. Hier am Grab fühlte ich mich hilflos, war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, denn Sigi hörte jedes Wort mit.

»Jesses, wie du schaust, als wolle ich dich zur Schlachtbank führen. Es ist ein Opfer, aber ein kleines. Jemand muss handeln, das wenigstens verstehst du doch.« Er wurde jetzt lauter. Als wären wir nicht auf dem Friedhof. Niemand ermahnte ihn. Niemand brachte ihn zum Schweigen. Selbst die Rabenkrähen hatten sich zurückgezogen.

Ich drängte, wollte den Ort so rasch wie möglich verlassen, doch unser Großvater blieb unbeirrt stehen.

»Du verstehst, auch ohne dass ich betteln muss, nicht wahr. Ich habe das Geld, du die Kraft. Außerdem sprichst du Spanisch. Und sag, wozu diese Studieneile? Hast du nicht noch hundert Jahre vor dir liegen? Also, das Leben, lass dir das gesagt sein, das geht dir so schnell nicht durch die Lappen. Es wird diese zehn Tage auf dich warten.«

»In Zentralamerika ticken die Uhren anders, Ota. Zehn Tage sind nichts. Werden sie mir das Kind überhaupt geben? Ich bin noch nicht volljährig.«

»Alles eingefädelt. Dieser Anwalt sitzt an der Quelle. Ihm habe ich Geld geschickt, er hat geschmiert, die Papiere sind vorbereitet. Es ist gut, wenn man Leute an den richtigen Stellen sitzen hat, aber natürlich ist es schwer, von hier aus alles zu regeln.« Nur kurz hielt er die Luft an, als hätte er Angst, mein Widerstand könne sich erneut entzünden. »Seit Wochen hänge ich am Telefon. Ich dachte schon, die Trauer hätte mich eingekrustet, aber nein, ich turne wieder mit. Dr. Schmid Rodrigues leistet gute Arbeit. Vor allem dann, wenn man ihm viel verspricht und auf die Füße tritt. Es ist ja nicht so einfach, das Sorgerecht zu bekommen. Sowieso musste ich deinen Vater bitten einzuspringen. Wir haben uns entschieden, einen Antrag auf Pflegschaft zu stellen, denn in dem Fall sind die Hürden niedrigen und es geht schneller voran. Ein Adoptionsverfahren können wir später einleiten.«

»Papa weiß Bescheid? Und wieso wollen sie ihm das Kind geben? Er ist nicht der leibliche Großvater.«

»Ganz einfach, weil er einen Antrag gestellt hat. Dein Onkel Hans ist ja schwer krank, zu nichts mehr zu gebrauchen, na ja, reden wir nicht davon. Alle versuchen sich irgendwie aus der Verantwortung zu stehlen, es ist ein Jammer.«

»Aber Papa hat nichts gesagt.«

»Schrei nicht. Hab ich ihm verboten, den Mund zu öffnen. Er ist ein guter Mann, dein Vater, hat sich an meinen Wunsch gehalten.«

»Hast du für Pablo Lösegeld bezahlt?«, hakte ich nach. Vielleicht war die Wahrheit ganz einfach. Vielleicht hatte unser Großvater sich jahrelang geweigert, Lösegeld zu zahlen, und uns alle belogen. Sigis Tod hatte ihn umgestimmt. Und unser Vater wusste von dem Deal. Meine Gedanken wurden unterbrochen.

»Aber nein, wie kommst du darauf? Es gab nie eine Forderung. Hätte es sie gegeben, hätte Sigi sein Kind freikaufen können. Er hätte sich nicht in Gefahr bringen dürfen.«

»Ota, das sind zweierlei Stiefel.«

»Egal. Es muss leider gesagt werden, dein Bruder war ein Selbstmörder. Schade um ihn. Und warum sie seinen Sohn jetzt vor die Botschaftstür gesetzt haben …« Der Alte zuckte die Schultern, zeigte zum eisblauen Himmel, an dessen Rändern durchscheinende Federwolken auftauchten, »… weiß nur der Chef allein.«

»Es muss einen Grund geben. Vielleicht ist er krank. Man hat es nur noch nicht festgestellt. Oder gab es einen Machtwechsel in Panama? Alte Seilschaften sind aufgebrochen, und …«

»Joi, wie klug sie ist, wie sie nachhakt. Bravo. Von mir hast du das geerbt. Nur bitte, werd mir nicht auch noch politisch. Ich habe die Nase voll, von den Ideen deiner Mutter und vom Opfertod deines Bruders. Lass dir versichert sein, Fragen habe ich mehr als Antworten, mein Engel. Und manche Dinge passieren, ohne dass ich instruiert werde.«

Nach dieser Grundsatzrede war der Ota eine Weile lang still. Es war schwer, das Gehörte zu schlucken. Verdauen musste ich es später.

»Habt ihr nach Marisol, Pablos Mutter, gesucht? Was sagt die Polizei?«

»Die dortige, die hat wie immer keine Ahnung. Auch das ist ein Grund, warum ich dich hinschicken will. Du kannst dich umschauen. Der Anwalt kümmert sich, natürlich, der hat Erfahrung mit solchen Dingen, und Geld stopfe ich ihm genug in den Hintern. Dennoch, ein Lächeln, gerichtet an den Herrn Botschafter, von einer hübschen Knospe wie dir, manchmal wirkt so etwas Wunder.«

Otas Sätze besaßen Widerhaken. Das fiel mir auf. Er verheimlichte mir etwas.

»Warum bittest du den Anwalt nicht? Er kann das Kind zu dir bringen.«

In Gedanken schimpfte ich auf den Großvater, der mir das alles zumutete, schimpfte auf meine Daunenjacke, die es nicht verstand, mich ordnungsgemäß zu wärmen. Schimpfte auf unseren Bruder, der sich sein Kind hatte stehlen lassen. Ich legte mir schützend die Arme um den Körper.

»So nicht«, krähte Großvater los und hob abwehrend die Hand, als müsse er einen Gegner abwehren, »der Junge hat Furchtbares durchgemacht. Jemand aus der Familie muss ihn abholen. Jemand mit einem deutschen Pass. Mir würden sie ihn sowieso nicht geben.« Sein Gesicht, von der Kälte und vom Reden gerötet, zwang sich zur Blässe. Er versuchte den Kranken zu mimen. »Du allein bist die Strickleiter zu meinem Glück.«

Er ergriff meinen Arm, und wir strebten rasch dem Ausgang zu. Doch immer noch legte er Holz nach, schürte das Feuer.

»Du hast es gesehen, nicht wahr, der Schnee hat gewackelt. Hol mich der Teufel, wenn dein Bruder nicht stolz auf dich ist. Ebenso stolz wie ich.«

Gegen meinen Willen musste ich über den Einfallsreichtum des alten Jägers lachen. Wie gewieft er war, wie gut er seine Fallen platzierte.

»Gut möglich, dass er für mich durchs Feuer gegangen wäre, aber doch eher, weil er sich immer etwas beweisen musste. Mir hätten sie das Kind nicht entführt. Weil ich nicht dort leben würde, wo Kinder verschwinden.«

»Gut so, ich meine, gut, dass du anders bist. Aber das ist jetzt zweitrangig. Meine Perle, schau, du musst lediglich hinfliegen und lächeln. Sieh es als kostenlosen Urlaub an. Die Jungen machen jetzt alle ein soziales Jahr, habe ich mir sagen lassen. Sie gehen in die Heime und putzen den Alten die Hintern. Auch du tust etwas Gutes, und noch dazu bleiben deine Hände sauber.«

Es war nicht zu fassen.

»Werden die panamaischen Behörden akzeptieren, dass ich das Kind abholen komme?«

»Du hast den richtigen Nachnamen. Der Anwalt meint, das sei entscheidend. Und ein Attest für deinen Vater kann ich besorgen.«

»Aber ich will studieren«, unterbrach ich den Ota. »Und zwar so rasch wie möglich. Wenn ich meine Unterlagen nicht rechtzeitig fertig mache, muss ich ein ganzes Jahr warten.«

»Erzähl einem alten Hasen keinen Blödsinn. Ich habe mit deinem Vater telefoniert. Sag, warum willst du Maschinenbau studieren? Warum nicht Jura oder Wirtschaftsingenieurswesen? Tatsache ist, dass du als Rheinland-Pfälzerin deine Matura früher in der Tasche hast als die anderen. Kommt noch hinzu, dass du ein Jahr übersprungen hast. Dir bleibt also massig Zeit.« Unser Großvater lachte verschmitzt. Jetzt war er wieder der kleine Junge, der einen Spatz mit der Steinschleuder vom Dach holen wollte. »Bewerbungsfrist bis Mitte Juli, ich habe mich von meinem Computer beraten lassen.«

»Und dir den Namen des Studienfaches merken können. Gratuliere, Ota.«

»Ich bin auch noch für etwas anderes gut.« Er griff in seine Hosentasche, zog einen Schlüssel hervor. Es war ein Autoschlüssel, mit einem Herzanhänger. Wie ein wertvolles Diadem reichte er mir das Mitbringsel. »Den solltest du gut aufheben. Der Wagen steht für dich bereit. Und die Versicherung übernehme ich für drei Jahre, Ehrensache.«

3

»Ihr Gepäck?«

Ich drehte mich zur Seite, neigte die rechte Schulter und ließ den größeren meiner beiden Rucksäcke aufs Band fallen.

»Nur das?« Die schwarzhaarige Dame vom Bodenpersonal war nicht besonders gesprächig. Ich auch nicht. Sie warf mir einen kritischen Blick zu. Ich warf ihr einen fragenden zurück.

»Sie scheinen mir nicht zu glauben.«

»Ja, ich meine Nein. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand mit einem solch schmalen Gepäckstück nach Panama fliegt. Keine Frau. Und je jünger, desto schwerer die Koffer.«

»Ein Kurztrip«, stellte ich klar.

»Sie will nämlich nicht weg«, mischte Basti sich ein. Er lachte und legte mir den Arm um die Schulter.

Irritiert schaute ich ihn an. Was gingen diese Frau meine Pläne an? Ich war ihr keine Erklärung schuldig.

Basti verstummte augenblicklich, als er mein Gesicht sah. Seinen Arm nahm er nicht von meiner Schulter, aber der Griff lockerte sich. Schweigend erreichten wir den Sicherheitsbereich.

»Ich dachte, wir trinken noch einen Kaffee.«

Um nicht unhöflich zu sein, schaute ich auf die Uhr. Dann schüttelte ich den Kopf. »Ich muss los.«

Wir küssten uns.

»Eine gute Reise, mein Schatz. Und geh mir nicht verloren.«

»Ist ja nicht lang.«

»Liebst du mich?«

Ja doch. Ich nickte. Aussprechen konnte ich es nicht so gut. Wir waren erst seit einem halben Jahr zusammen. Mein Kopf schwirrte, weil die Augen immer etwas zu sehen und die Ohren permanent etwas zu hören hatten. Und jetzt diese Frage.

Basti lächelte und schloss mich in die Arme. Er roch wunderbar. Nach Heimat und ein bisschen nach Kernseife. Seine Matratze im Wohnheim hatte Stockflecken. Er behandelte sie regelmäßig mit Essigessenz und Kernseife.

»Nicht wahr, du wirst mich nicht vergessen? Du fängst nichts mit einem dieser berüchtigten Sombreromachos an?«

Basti war groß. Er war gut aussehend. Doch sein Selbstbewusstsein brannte auf Sparflamme.

»Die leben in Mexiko. MEXIKO«, buchstabierte ich.

»Ich liebe dich.«

Und schon war ich ihm entglitten. Doch er ließ mich immer noch nicht gehen. »Lass dir keine Souvenirs andrehen. Und schreib mir.«

Ratschläge über Ratschläge. Oder waren es versteckte Drohungen?

Der Flug startete mit einer halben Stunde Verspätung. Was ich für ein gutes Omen hielt, da das Flugzeug, das mit unserer Mutter in den Tod gestürzt war, früher als geplant von Bocas del Toro aus gestartet war. Das Nahen eines Hurrikans war gemeldet worden. Doch Warnungen kann man so oder so interpretieren. Die kleine Passagiermaschine flog direkt in den Wirbelsturm hinein und wurde weit aufs Meer hinausgetrieben. Den Namen Earl werde ich nie vergessen, so hieß der Hurrikan.

Den Reiseführer hatte ich bereits zu Hause durchgeblättert und alles gelesen, was mit Panama City zusammenhing. Gelangweilt griff ich daher nach dem Magazin, das mir ein Steward beim Einsteigen in die Hand gedrückt hatte, und überflog die Titel. In einer Woche zur Traumfigur. In vier Tagen eine Sprache lernen. Ohne Eile – den Partner fürs Leben finden.

Die Frau neben mir erwachte. Beim Strecken stieß ihr Ellenbogen gegen die aufgeblätterte Zeitschrift.

»Sie träumen in Farbe?«, wollte sie unvermittelt wissen. Sie sprach mit einem harten Ostakzent. Ich sah hinüber, in blitzblank polierte Augen. Kein bisschen Schlaf hing unter den Lidern. Ein Lächeln zeichnete winzige Falten um die Augen. Die Frau strahlte mich an, als würden wir uns kennen.

»Ne, weiß nicht, denke schon.« Mein Stottern erschreckte mich. Etwas an der Frau machte mich verlegen. Sie war doppelt so groß wie ich, wohl auch doppelt so alt. Na ja, vielleicht auch knapp unter dreißig. Wie selbstverständlich hatte sie ihren Ellenbogen auf die Mittellehne gelegt. Ein Grübchen teilte ihr Kinn in zwei ungleichmäßige Hälften. Das gab ihr etwas sehr Männliches.

»Mara Scherbakow.« Es sah so aus, als wolle sie mir die Hand reichen, doch der Platz reichte nicht aus. Ihr Gesicht wartete, ruhig schauten die Augen. Der Mund gespitzt, wollte etwas sagen, hielt sich jedoch zurück.

»Liana Eisen.«

»Angenehm. Sie reisen allein?«

»Ja.«

»Wohin?«

»New York.« Ich sah nicht ein, warum ich die Wahrheit sagen sollte.

»Tolle Stadt.« Sie wartete. Als ich nichts mehr sagte, seufzte sie.

»Dann ich will Sie nicht stören.«

Ich vertiefte mich wieder in das Magazin. Der wichtigste Mensch in Ihrem Leben. Das fehlte noch, dass ich mich über Träume unterhalten musste. Anina war so eine, eine, die sich zu einem Traumseminar anmelden würde. Dann schon lieber Frauenmagazine durchblättern. Der wichtigste Mensch in Ihrem Leben. Daneben starrte mich eine leere Zeile an. Sie wollte gefüllt werden. Diese dümmste aller Fragen, besser gesagt, die Tatsache, dass ich sie nicht beantworten konnte, verfolgte mich. Gab es niemanden, der mir am wichtigsten war? Ein Jemand, der mir als Vorbild diente? Was war mit Sigi, was mit Anina? Zwillingsschwestern können nicht ohneeinander, wird in der Literatur behauptet. Ich konnte ganz wunderbar ohne sie. Und warum wollte meine Hand nicht Basti schreiben?

Vor der Landung bekamen alle ein Schriftstück ausgehändigt.

»Bitte ausfüllen«, erklärte der Steward.

»Ich habe das Formular bereits im Internet …«

»Trotzdem.«

Also, once again. Nein, ich wollte keine Anschläge auf die USA verüben. Und nein, ich bekannte mich immer noch nicht zum Terrorismus.

»Sie erneut träumen«, unterbrach mich die tiefe Frauenstimme mit dem Ostakzent, »ich sehe das.«

»Sie sind Traumforscherin?«

»Nein, leider nicht.« Sie schwieg. Schien darüber nachzudenken, wie viel sie mir von sich erzählen wollte. Dabei hatte ich es bereits gesehen, als sie ihren Pass hervorholte. Das kräftige Bordeauxrot. Sie war also Deutsche, trug keinen Ehering und las so etwas Spannendes wie das Handelsblatt. »In gewisser Weise, ich aber habe doch mit Träumen zu tun«, hörte ich sie sagen. »Ich zerstöre Träume. Manchmal.«

Ich verstand nicht. Wollte aber nicht nachfragen. Die Anschnallzeichen kamen mir zu Hilfe. Eine allgemeine Hektik und Aufgeregtheit setzte ein. Und ich stellte die Lehne gerade.

Bald würden wir in New York landen, und ich wusste immer noch nicht, wer der wichtigste Mensch in meinem Leben war.

Beim Aussteigen reichte meine Sitznachbarin mir förmlich die Hand, wünschte mir viel Glück für mein weiteres Leben. Das klang nach verdammt viel.

Man sah sich aber doch wieder, auf den Rolltreppen, bei der Passkontrolle. Wieder traf mich die Neugierde der Großen unerwartet.

»Sie nicht bleiben in New York?«

»Nein, ich meine Ja.«

»Wann geht Ihr Anschluss? Keine Sorge, wir haben Verspätung. Klappt aber doch meistens. Irgendwie.«

Zwei Stunden waren mir für ein einfaches Umsteigemanöver lang erschienen. Inzwischen sah ich die Dinge nicht mehr so gelassen. Wie Vergnügungssüchtige standen wir in einer nicht enden wollenden Schlange, liefen, nein tasteten uns im Zickzack zu den Einreiseschalter vor. Anstehen für die begehrte Achterbahn im Europapark. Während die Amis links durchgewinkt wurden, erlahmte unser Vorwärtskommen. Schwer bewaffnete Beamte ruderten mit Armen und Schultern, ohne dass sich an dem Tempo etwas änderte. Fingerabdrücke wurden genommen, ein Foto erstellt. Ich hatte mir das nicht so schleppend vorgestellt.

»Wohin?«, wollte die Große wissen.

»Panama City.«

»Oh!« Begeistert erzählte sie, dass sie dort lebe, und fragte mich nach dem Grund meiner Reise. Diese Frau war auf jede Kleinigkeit erpicht, als wäre sie ein Schwamm und meine Pläne die Flüssigkeit, die es aufzuwischen galt. Als ich nicht antwortete, mutmaßte sie weiter.

»Urlaub also nicht. Dann Freiwilligendienst?«

»So ähnlich.« Meine Stimme zitterte. Ich wollte nicht über meine Familie reden. Die Gefahr, über Sigis und Mamas Tod zu stolpern, war einfach zu groß.

Ich erinnerte mich gut an Mamas letzten Besuch. Anina und ich waren in einem Alter, in dem wir die großen Ferien nicht mehr in der Schweiz verbrachten. Wegen des Mutterbesuchs aber fuhren wir zum Ota. Sie sah anders aus als in unserer Erinnerung und wog weniger als nichts. Dennoch war sie laut und temperamentvoll, wuselte wie ein Wirbelwind durchs Haus und machte alle verrückt. Sie spielte uns etwas vor. Die langen Haare waren von Silberfäden durchzogen, die Haut am Hals und am Dekolleté zeigte Falten, und ihre Augen waren nicht mehr so strahlend. Unsere Schöne ging gebeugt.

Eine weitere halbe Stunde bibberte ich vor dem Schalter, ob ich den Anschlussflug bekommen würde, drückte bereitwillig meine Fingerabdrücke auf eine Glasplatte, lächelte in die Kamera, rannte zum Ausgang, bestieg einen Skytrain, reihte mich wieder in eine Schlange, ließ mich erneut abtasten und kam schweißgebadet am Gate an.

Mara Scherbakow war schon da. Wie sie es geschafft hatte, mich zu überholen, blieb ihr Geheimnis. Und dann, als ich dachte, nun muss es endlich losgehen, stellte sich heraus, dass die Maschine überbucht war und sich Freiwillige für den »Absprung« melden mussten.

Soundso viele Flugmeilen wurden geboten, dazu eine Übernachtung im Dreisternehotel. Kostenloser New-York-Aufenthalt. Als eine halbe Stunde später erst zwei Rucksackreisende nach dem Köder geschnappt hatten, wurde die Anzahl der Flugmeilen erhöht, die Übernachtungen ebenfalls.

»Last offer! Last offer!«, tönte es durch den Lautsprecher. Ich hörte längst nicht mehr zu. Mir war schlecht, ich war hoffnungslos übermüdet, hatte nagenden Hunger und somit einen absoluten Tiefpunkt erreicht.

»Sind denn jetzt überhaupt Ferien?« Mara klappte ihr Handy zu, stellte sich neben mich.

»Ich habe mein Abitur gerade gemacht. Daher habe ich frei.« Meine Plauderlaune hielt sich nach wie vor in Grenzen. Sah ich wirklich so jung aus, dass man in mir sofort die Schülerin erkannte?

»Ende Februar?«

»In Rheinland-Pfalz geht das.«

Ihre Antwort war ein intensiver Blick aus zusammengekniffenen Augen. So mustert man Menschen und Tiere, denen man nicht über den Weg traut, dachte ich, sagte aber nichts.

Mit eineinhalbstündiger Verspätung startete endlich der Continental-Flug nach Panama City. Noch vor dem Start verlangte ich nach einer Spucktüte. Später benötigte ich drei weitere. Mara hatte, ohne mich zu fragen, den Platz neben mir mit einer jungen Frau getauscht. Ihre Anhänglichkeit sollte sich für mich lohnen. Ohne sie wäre ich gestorben. Sie kümmerte sich rührend um mich.

»Kleine Turbulenzen, Herzchen«, beteuerte sie immer wieder und wischte mir mit einem nassen Lappen über das schweißnasse Gesicht. Mir war längst klar, dass die Turbulenzen an ganz anderer Stelle stattfanden. Ich hatte Angst.

Sigi war unserer Mutter gefolgt. Und das leider im doppelten Sinne. Dem Begriff Auswandern haftet der Geschmack von Abenteuer an, und genauso war es gekommen. Sigi verliebte sich in eine Nicaraguanerin, die sieben Jahre älter war als er und bereits ein Kind hatte. Ein zweites Kind wurde geboren. Möglicherweise starb es, doch daran wollte Sigi nicht glauben. Während der Suche nach der Wahrheit verstrickte er sich immer mehr in Verschwörungstheorien, und schließlich begegnete ihm der Sensenmann. Schneller, als wir gucken, schneller, als wir trauern konnten. Ich würde seine Abenteuerkette nicht neu auffädeln, so viel stand fest. Zum Teufel mit den Kämpfern und Weltverbesserern. Warum also umlagerte mich die Angst?

Unwillig duckte ich mich unter dem Gedankenschauer, wusste für Sekunden nicht, wo ich mich befand. Mühsam musste ich mich an mein Ziel erinnern. Ich würde Pablo holen und in Sicherheit bringen. Zum wiederholten Mal stellte ich mir vor, wie der kleine Furz wohl aussah. Die Fotos, die ich mir daheim angeschaut hatte, waren schon Jahre alt. Ich holte mein Notizheft hervor, betrachtete das einzige Bild, das ich eingesteckt hatte. Marisol wirkte neben ihrem zweiten Kind dunkel, fast schwarz. Gut möglich, dass Pablo nachgedunkelt war. Wie ein Möbelstück, das dem Licht ausgesetzt worden war.

Reisezweifel und Reisefieber, schrieb ich mit krakeliger Schrift in das Heft. Gerade als ich es zuklappen wollte, fiel mir ein Schriftstück entgegen. Ich sah auf Sigis Handschrift. Obwohl mir immer noch schlecht war, begann ich zu lesen.

Anina, Liana, lieber Lude,

es ist passiert. Ich werde heiraten. Oder auch nicht. Jedenfalls ist Marisol schwanger. Sie ist eine Miskitoindianerin (Viertel- oder Achtelblut, sie weiß es nicht so genau). Sie sagt, das Kind sei von mir. Ich glaube ihr. Marisol kann nicht lügen. Sie ist wie ein Vogel, man versucht sie festzuhalten, sie fliegt davon. Aber anders als unsere Mutter. Sie fliegt, weil sie sich nichts zutraut und niemandem zur Last fallen will. Eigentlich möchte sie unsichtbar sein, stelle ich mir vor. Sie redet ja nicht so viel und schon gar nicht in der diskutierenden und analytischen Art und Weise, wie wir das tun. Sie weint, wenn ich sie frage, ob sie glücklich ist.

Ich schimpfe viel. Und bettle und hadere. Was soll ich machen? In absehbarer Zeit werde ich nicht nach Deutschland zurückkehren. Ich werde hierbleiben. Bei Marisol. Sie arbeitet in einem Hotel. Es ist eine miese Absteige für einheimische Touristen, die am Wochenende in Horden hier einfallen und alles verwüsten. Hinterher sehen die Umgebung, die Gärten, sogar die Straßen wie eine einzige Müllhalde aus. Marisol will ihre Arbeit nicht aufgeben. Sie hat ein Kind, ein Baby noch, Alejandro. Der Vater des Kindes ist noch vor der Geburt abgehauen. Dass Marisol ihre Selbstständigkeit nicht aufgeben möchte, kann ich gut nachvollziehen. Die Arme war am Boden zerstört, als ich sie kennenlernte. Ich werde mich um sie und Alejandro kümmern. Und natürlich um das Neugeborene. Aber ich muss auch mit dem Ota sprechen, vielleicht kann er helfen. Wir werden eine neue Wohnung brauchen.

So ging das weiter. Er erzählte von der Arbeit, dem Alltag als schlecht bezahlter Aushilfslehrer an einer Schule. Kein Wort über unsere Mutter.

Ich schlief ein, wachte auf, nickte wieder ein. Irgendwann schlug mir jemand sanft gegen die Wange.

»Wir landen. Aufwachen! Angeschnallt bist du.«

»Wie spät?« Ich sah mich um, brauchte eine Weile, bevor ich mich in meinem Elend zurechtfand.

Mara lächelte mich aus klaren Augen an. Der Rest ihres Gesichts zeigte sich ernst. »Viertel nach fünf. Vier Stunden du hast geschlafen. Fast.«

»Danke.«

»Con mucho gusto, gern geschehen. Hier, das ist für dich.« Sie reichte mir einen Plastikbecher mit Wasser. Trink alles aus.«

»Was werden Sie tun in Panama?«

»Wir sind per du, Schätzchen. Hast du vergessen?« Demonstrativ reichte sie mir die Hand.

»Und ich habe dir erzählt mein ganzes Leben. War ich Alleinunterhalterin.« Sie lachte ihr jugendliches Lachen. »Egal, vielleicht du hast Lust, mich zu besuchen. Dann kann ich dir erzählen noch einmal. Mein Leben. Und du deins.« Sie machte eine Pause, kramte vor sich im Netz. »Das hier du hast verloren.« Sie reichte mir das Blatt aus Sigis Tagebuch. Ohne Kommentar. Aber ihr Gesicht hatte einen ernsten Ausdruck angenommen. Zu guter Letzt drückte sie mir eine Visitenkarte in die Hand. »Wenn wir gelandet sind, wirst du sehen, wie sagt man bei euch, die Hinteransicht von mir. Ich muss rennen. Kommst du alleine zurecht?«

»Denke schon.«

»Zwei Wochen sind kurze oder lange Zeit.«

»Es sind nur zehn Tage.«

»Trotzdem.« Sie ließ nicht locker. »Du besuchst deinen Bruder?«

Ich stutzte kurz, dann wurde mir klar, dass sie den Tagebucheintrag gelesen haben musste. Ich hatte ihr nichts von Sigi erzählt.

»Mein Bruder ist tot«, erwiderte ich knapp.

»Und sein Kind?« Ihre Neugierde war aufrecht, geradlinig, trotzdem fühlte ich mich unter ihrem Blick unwohl.

»Das Kind war verschwunden. Das ist einige Jahre her. Jetzt ist er wieder aufgetaucht. Ich werde den Jungen abholen und mitnehmen.«

»Du bist jung.« Sie spuckte mir diese Wahrheit wie einen vergifteten Apfel vor die Füße. »Warum machen das nicht deine Eltern?«

Ich schluckte, wollte mich nicht rechtfertigen und tat es doch. »Unser Vater setzt sich in kein Flugzeug. Und außerdem ist er nicht der Vater meines Bruders. Also auch nicht Pablos Großvater. Trotzdem läuft die Adoption, ich meine, die Pflegschaft, auf seinen Namen. Weil mein Onkel schwer krank ist.«

»Welcher Onkel?«

»Der Bruder meines Vaters.«

»Deine Mutter war mit Brüdern verheiratet?«

»Verheiratet nicht.«

»Warum macht ihr so kompliziert alles? Dein Vater muss den Jungen abholen. Wisst ihr nicht, wie Bürokraten ticken in aller Welt. Man schickt nicht Stellvertreter.«

»Jetzt bin ich aber da.«

»Deine Mutter wenigstens. Sie wäre gut gewesen.«

»Die ist tot.«

»Gott, schrecklich. Was hast du für Familie? Alle tot und verschwunden und verstreut. Du hast verschlafen meine Biografie. Gut so, auch bei mir das Unglück wuchert, wächst wie Unkraut. Aber Hintergründe, Schätzchen, wo war der Junge? Warum du lässt dir alles aus der Nase ziehen?«

»Weil mich die Geschichte krank macht. Das siehst du doch. Wir wissen nicht, wo sich der Junge aufgehalten hat. Bislang nicht.« Ich senkte meine Stimme. »Es gab keine Geldforderungen. Und wer ihn gefunden hat und in welchem Zustand er sich befindet, werde ich erst in den nächsten Tagen erfahren. Der Polizeibericht war nicht fertig, als ich abflog. Am liebsten wäre ich schon wieder auf dem Heimweg.«

»Zehn Tage«, wiederholte Mara und schnalzte ungehalten mit der Zunge, »sind kurze oder lange Zeit. Ruf mich an, wenn du brauchst Hilfe.«

»Mir fehlt nichts, danke.«

»Kamm vielleicht.«

Verlegen griff ich nach oben. Kein Spiegel weit und breit. Ich war mir sicher, dass ich furchtbar aussah. Und es war mir gerade recht, dass der Anwalt kurzfristig abgesagt hatte. Er könne mich leider nicht abholen, hatte er per SMS geschrieben, ich solle mir ein Taxi nehmen. Morgen würde er mich im Hotel Ozeano abholen.

4

Kaum hatte ich das klimatisierte Flughafengebäude verlassen, fauchte mich ein chaotisches, Dreck ausdünstendes Ungeheuer an. Willkommen, Zentralamerika! Die moderne Skyline, die sich mir während des Anflugs entgegenreckte, hatte etwas anderes suggeriert. Bankentürme bildeten einen gläsernen Wald, der von der späten Nachmittagssonne angestrahlt worden war. Auch das Meer hatte mich versöhnlich gestimmt, war intensiv blau gewesen. Jetzt war da nur Chaos, Qualm und Lärm.

Der Taxifahrer war nicht mehr jung, doch er fuhr wie ein Junger, eigentlich fuhr er wie jemand, der niemals eine Fahrprüfung abgelegt hat. Auch wie jemand, der keine Angst vor Kontrollen oder Auffahrunfällen hat. Wie ein Gejagter schoss er durch die überfüllten Straßen, hetzte in jede sich ergebende Lücke und drängte andere Wagen zur Seite. Durch Einbahnstraßen entgegengesetzt zu fahren, schien er für ebenso normal zu halten wie die Tatsache, dass man aus einer dreispurigen Straße eine vierspurige machen konnte, wenn man sich vor Enge nicht fürchtete. Die eine Hand dirigierte das Lenkrad, die andere hielt ein schreiend buntes Handy ans Ohr. Es ging um Minuten, ich verstand ihn gut. Der Mann hatte eine Familie, seine Frau gab ihm den nächsten Auftrag durch. Sie und er sprachen zwischendurch über die Kinder. Am Leben schien er dennoch nicht zu hängen. Sein Mund stand nicht still, und die Hupe, die er mit dem Daumen bearbeitete, erzeugte einen Dauerton. Im Wagen stank es nach Benzin. Mir wurde übel. Als ich die Fensterscheibe herunterkurbelte, drang qualmender Rauch ein. Ich schloss das Fenster wieder.

Panama City erinnerte an einen brodelnden Hexenkessel, in dem es gefährlich gärte. Nie war ich, wie etwa ein Großteil meiner Klassenkameraden, in Berlin, New York, London oder Paris gewesen. Nicht einmal Frankfurt kannte ich. Ich war ein Landei. Und so traf Panama City mich wie ein Faustschlag, traf mich mitten in die Magengrube, und das, obwohl ich auf eine gute Deckung geachtet hatte. Schließlich wusste ich aus dem Reiseführer, dass fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung in der Hauptstadt lebte.

Den Fahrpreis hatte ich vorher ausgehandelt, nachdem ich dem Fahrer den Namen des Hotels genannt hatte. »El Oceano«.

Als das Taxi in immer kleinere Straßen einbog, die Häuser schmaler und ihr Zustand ärmlicher wurde, kamen mir erste Bedenken.

»Sind wir richtig?«, fragte ich verängstigt.

Doch er konnte nicht antworten, das Handy schien nicht nur an seinem Ohr, sondern auch an seinem Mund festgewachsen zu sein. In seinen Antworten ging es jetzt um den Vorgarten. Immerhin, er nickte emsig. Ich hätte ihn alles Mögliche fragen können, auch, ob er verrückt sei. Spätestens aber, als er vor einem hellblau gestrichenen Haus mit aus den Angeln hängenden Fensterläden hielt, wusste ich, dass er, dieser Mistkerl, das falsche Oceano angesteuert hatte.

Ich war irgendwo gelandet, den Häusern zufolge in einer Altstadt. Da ich die Unterscheidung im Reiseführer zwischen Casco Viejo und Panama Viejo nicht verstanden hatte, wusste ich nicht einmal, ob ich in der Altaltstadt, die zu Kolumbus’ Zeiten gegründet worden war, oder in der unwesentlich neueren zweiten Altstadt gelandet war. Touristen, so stand es im Reiseführer, sollten beide Bereiche nachts meiden.

Aber: Ich hatte nicht vor, noch einen einzigen Meter mit dem Kerl zu fahren. Also stieg ich aus, ergriff mein Gepäck, bezahlte jedoch nicht, sondern bat ihn zu warten. Bis zur Rezeption schaffte ich es nicht. Der Mensch kam mir nach, überholte mich, tippte auf die Uhr. Dabei konnten wir prächtig miteinander reden. Ich war überrascht, wie gut verständlich sein Spanisch war, viel wohlklingender als das meiner Lehrerin am Gymnasium.

Er rannte ins Haus und kam nach wenigen Sekunden mit der Nachricht zurück, er wolle nun sein Geld, und ich solle mir keine Sorgen machen, es sei noch ein Platz frei.

»Sie werden erwartet.«

Kann man so dumm sein? Es ist noch ein Platz frei. Ja, das stimmte, doch es war nur ein Bett. Ich war in einem Jugendhotel gelandet. Im Dormitorium wies mir ein junger Mann ein Bett zu. Leer war es nicht, jemand hatte sein nasses Handtuch darauf ausgebreitet. Auch der Rest des Raumes war mit großen und sehr großen Rucksäcken, verschwitzten Klamotten, Schuhen, Einkaufstaschen und Waschbeuteln vollgestellt worden. Menschen, denen das alles gehören musste und die einen interessanten Geruchscocktail zurückgelassen hatten, waren keine zu sehen. Im Foyer aber, an den PC-Plätzen und vor einem großen Fernseher, lümmelten einige herum.

Ich entdeckte auch ein älteres Ehepaar in der Küche und fragte erstaunt, ob sie auch im Dormitorium schlafen würden. Nein, es gab auch Doppelzimmer. Doch die waren leider belegt.

»High season«, erklärte mir der nette junge Mann, der nun wieder an der Rezeption saß. »We have a lot of reservations as you can imagine.« Seine hellgrünen Augen verengten sich. Neugierde streifte mich, blieb an mir haften.

Ich nahm das Bett für eine Nacht und beschloss, morgen zu wechseln. Mir wurde bewusst, wie unerfahren ich war. Jugendherbergen kannte ich von Schülerfahrten und Freizeiten, ein Hostal für Rucksackreisende war mir jedoch völlig fremd. Aber, so tröstete ich mich, von dem gesparten Geld würde ich einkaufen gehen und es so richtig krachen lassen.

Und dennoch, als ich meinen Pass hervorkramte, um mich anzumelden, kamen die Tränen. Ich stand in einem Meer, schmeckte Salz und dachte intensiv an Basti. Das Kind in mir genehmigte sich eine Extraportion Sehnsucht. Die Vernünftige hingegen beschloss, Basti eine Mail zu schreiben. Ich würde mich bei ihm ausheulen. Ich würde danach gut schlafen.

5

Immer noch waren alle PC-Plätze besetzt, deshalb setzte ich mich aufs Sofa. Zwei Niederländerinnen schauten sich Spiderman 3 an. Ich kannte den Film. Gelangweilt beobachtete ich die beiden Frauen, wie sie sich aneinanderkuschelten, wie sie lachten, die Augen aufrissen. Dann bemerkten sie meinen Blick, und ich musste wegschauen. Eine Liste lag auf dem niedrigen Sofatisch. Sie bestand aus drei Seiten doppelseitig bedrucktem Papier. Mehr als hundert Filme standen zur Auswahl. Ich war beeindruckt. Endlich wurde ein PC-Platz frei. Ich hastete hin, verdrängte einen Jungen mit Pickeln, der die Lücke ebenfalls schließen wollte.

»Brauch nicht lange.«

Als hätte ich eine Einladung ausgesprochen, blieb der Kerl neben meinem Stuhl stehen, er schaute mir nicht direkt über die Schulter. Aber seine Anwesenheit machte mich nervös.

»Wo bist du? Ich sag dir Bescheid, wenn ich fertig bin«, wandte ich mich an den Jungen. Bestimmt war er älter als ich, doch die roten Pusteln in seinem Gesicht machten ihn zum ewigen Teenager.

»I’m in the kitchen.« Er reichte mir förmlich die Hand, lächelte mich an. »My name is Bill.« Er war ein Netter. Prompt fragte er, ob ich Lust auf einen Pfannkuchen hätte?