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Buch

Das erste eigene Modell ist zwanzig Jahre alt, ohne Toilette, und abends baut man auf jedem freien Quadratzentimeter ein Bett. »Is ja wegen der Kinder«, erklärt Andreas Austilat, bemüht, den Imageschaden zu begrenzen. Es stört ein wenig, dass man nun zur selben Zeit wie die Kinder ins Bett muss. Dieser ständige Mangel an Intimsphäre wird zur Belastungsprobe für die Liebenden. Wahrscheinlich schreien seine Frau und er sich deshalb auch nach einer Woche an. In der Hoffnung auf entspannte Ferien für alle kaufen sie einen größeren Wohnwagen. Von da an brechen sie jedes Jahr auf, das teure Ding kann ja schließlich nicht einfach nur rumstehen: Sie trotzen herbstlichen Sturmtiefs in der Lüneburger Heide, ziehen mit dem Wohnwagen durch überfüllte süditalienische Mautstationen und durch die hitzeflirrenden Pyrenäen. Sie verteidigen ihn gegen holländische Vorzelte, betrinken sich mit Belgiern und streiten so mit dem halbwüchsigen Sohn, dass der mitten in Frankreich beschließt auszuziehen. Als auch die jüngere Tochter beginnt, ihre eigenen Wege zu gehen, könnten die Austilats eigentlich für den Rest ihres Lebens wieder Urlaub machen wie jeder normale Mensch. Im Hotel. Doch das Verreisen im Wohnwagen schweißt zusammen. Wer sich einmal dem Abenteuer hingegeben und sich auf dem Terrain bewährt hat, gibt die grenzenlose Freiheit nicht so leicht wieder auf.

Autor

Andreas Austilat, geboren 1957, ist stellvertretender Leiter des Ressorts Sonntag beim Tagesspiegel. Regelmäßig erscheint dort seine beliebte Kolumne »Meine Frau, ihr Garten und ich«. Er ist verheiratet, hat Sohn und Tochter und lebt in Berlin – wenn er nicht gerade mit dem Wohnwagen unterwegs ist.

Andreas Austilat

Hotel kann jeder

Meine Frau,
unser Wohnwagen und ich

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Originalausgabe April 2014
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Redaktion: Antje Steinhäuser
KF · Herstellung: Str.
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN: 978-3-641-11856-3
V002

www.goldmann-verlag.de

Vorwort

Meine Frau hat wirklich schöne Augen. Und einen Schwiegervater habe ich auch. Dieses Buch enthält also wahre Kerne. Anderes ist frei erfunden.

Das muss an dieser Stelle gesagt werden, schließlich will ich auch in Zukunft noch Freunde haben.

1

Wie wir wurden,
wie wir sind

Wusch, war er auch schon vorbei. »Papa, das war ein Ferrari!«, rief der Junge von hinten, »mit mindestens zweihundertfünfzig.« Mindestens. Erstaunlich, was so ein flaches Ding für einen Wind macht. Die Bö hatte den Wohnwagen erfasst, für Sekunden schlingerten wir wie ein Schiff in schwerer See. Meine Hände schwitzten, wahrscheinlich weil ich das Lenkrad derart fest gepackt hielt. Ich guckte in den Rückspiegel, ob noch einer kommt. Sie kommen oft paarweise, jagen sich gegenseitig. Mal angenommen, ich würde kurz rüber auf die Überholspur. Dann hätte der auch Stress, wenn plötzlich eine fahrende Schrankwand vor ihm auftaucht. War natürlich nur ein Gedanke, würde ich nie machen. Nachher knallt mir noch einer hinten in die Sitzgruppe. Ja: Die wahren Kapitäne der Straße fahren gemächliche achtzig, ziehen einen Wohnanhänger hinter sich her und zeichnen sich durch überlegene Friedfertigkeit aus.

»Wenn man eure Bilder so sieht, könnte man meinen, ihr wart entweder auf der Autobahn, oder ihr habt am Swimmingpool gelegen«, riss mich Basti aus meinem Vortrag, mit dem ich versucht hatte, meiner privaten Diashow die Würze zu geben. Sebastian ist mein kleiner Bruder. Das heißt, er ist gar nicht wirklich kleiner, nur deutlich jünger als ich, ein Nachzügler sozusagen.

»Ich dachte, du interessierst dich dafür, wie das so ist mit der Fahrerei«, antwortete ich ein wenig gereizt. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, das Programm zu straffen. Auf mindestens zehn Bilder, die unser Gespann aus Auto und Wohnwagen in verschiedenen Perspektiven zeigten – »elf Meter lang«, wie ich mehrmals einwarf, schon um zu unterstreichen, was für ein toller Kerl ich sein musste, so etwas wohlbehalten ans Urlaubsziel zu bringen –, folgte tatsächlich eine längere Sequenz Poolbilder. Ich hatte sie aus pädagogischen Gründen aufgenommen. Weil ich meiner Familie unbedingt demonstrieren wollte, dass diese modernen Campingplätze ganz anders sind, als sie sich das vorstellen. Also hatte ich den Pool in geschickten Einstellungen auf eine Weise in Szene gesetzt, dass er aussah wie in einer Bacardi-Werbung.

Das Problem ist doch, dass kaum jemand weiß, wie das wirklich ist, das Verreisen mit dem Wohnwagen. Schlimmer, auf der Autobahn werden Gespannfahrer gern als Hindernis betrachtet und um jeden Preis überholt. Weil, wer möchte sich schon dahinter einordnen? Und zu Hause mag niemand, der nicht dabei gewesen ist, die Urlaubsbilder sehen. Keine Frage, als Camper bekommt man leicht ein Imageproblem. Und auf Verständnis darf man schon gar nicht hoffen.

Das war an meinem Geburtstag nicht anders. Ich hatte mir lauter Dinge gewünscht, die ich für mein neues Camperleben brauchen konnte. Echtes Geschirr zum Beispiel ist im Wohnwagen unpraktisch. Jedes einzelne Stück muss sorgsam verpackt werden, alles zusammen ist wahnsinnig schwer. Eigentlich dürfte man gar nichts anderes mehr einladen, diese Anhänger sind nämlich erstaunlich schnell überladen, was erstens verboten ist und zweitens die Fahrerei nicht leichter macht. Ich wollte also Gläser aus Acryl und Teller aus Melamin.

»Wofür denn das?«, hatte Basti gefragt.

»Das ist besonders leichtes Geschirr«, versuchte ich ihm zu erklären, »und kaum kaputtzukriegen.«

Was machte Basti? Er brachte mir einen Satz Pappteller mit, weil die auch leicht seien, »und wenn einer kaputt ist, schmeißt du ihn weg.« Meine Güte, Melamin, das ist ein Spezialkunststoff, solche Teller sehen fast aus wie aus Porzellan, wiegen dabei nur einen Bruchteil und sind quasi unzerbrechlich. »Melamin klingt eklig«, sagte Basti zu seiner Verteidigung, »wie eine schlimme Hautkrankheit. Nimm die Pappteller. Und als Geschenk hab’ ich dir ein Buch mitgebracht.« Es handelte sich um John Steinbecks »Reise mit Charley«. Zumindest damit hatte Basti bewiesen, dass er mitdenkt. In dem Buch bereist Steinbeck seine amerikanische Heimat mit dem Wohnmobil. Ist zwar nicht dasselbe wie ein Wohnwagen, aber immerhin. Ich sagte ihm das. »Ich weiß«, antwortete er und befingerte einen Zelthammer, den mir mein Schwiegervater geschenkt hatte. »Was ist das denn?«

»Das ist ein Zelthammer, lass ihn liegen, bevor du was kaputt machst.«

Basti blinzelte durch seine Designerbrille. »Wofür braucht man den? Ich dachte, du bist mit dem Wohnwagen unterwegs?«

»Fürs Vorzelt. Damit kommst du in jeden Boden, selbst wenn er gefroren ist. Falls du dein Vorzelt mal im Winter aufbauen willst.«

Mein Bruder schüttelte sich. »Wer sollte so etwas tun?«, bemerkte er, während er den Zelthammer weglegte. Er klang jetzt gar nicht mehr amüsiert, sondern eher ein wenig besorgt.

Basti wohnt in Prenzlauer Berg, obwohl er sich schon fragt, ob das noch cool genug ist, und arbeitet irgendetwas in der Kreativbranche. »Campst du eigentlich bei jedem Wetter?« Bastis Lächeln wurde eine Spur breiter. Wahrscheinlich stellte er sich vor, wie ich im Freien saß, Pudelmütze auf dem Kopf, Decke über den Knien. Hinter mir der Caravan, über sieben Meter lang, zwei Meter dreißig breit. Vor mir eine Dose Bier. Weil, Camper sitzen nach landläufiger Meinung doch immer draußen und trinken Bier, im Sommer in Shorts, im Winter in der Trainingshose.

Dabei hätte es auch anders kommen können. Wenn Goethe zum Beispiel ein bisschen mehr riskiert hätte. Der alte Dichter, das heißt seinerzeit war er noch ein junger Dichter, ist auch Camper gewesen und sogar mit dem Wohnwagen verreist, 1792 nach Valmy. Weiß nur kaum jemand. Goethe selbst hat seinem Eckermann vorgemacht, er habe dort die Nacht in einem Zelt auf dem Boden verbracht. In Wirklichkeit soll er sich zur Schlafenszeit in einen mit Pferden bespannten Wohnwagen zurückgezogen haben, ausgestattet mit Diwan, Schreibtisch und Waschschüssel aus Porzellan. Warum Goethe das nicht zugegeben hat? Weil er wohl um seinen Ruf fürchtete, wenn sich die Zeitgenossen ihn in Trainingshose auf einem Klappstuhl vorstellen. Hätte der Meister mehr Bekennermut gehabt, der Wohnwagen wäre womöglich fester Bestandteil der deutschen Klassik geworden. Heute stünde er in der Mitte der Gesellschaft, wie in Holland, und ich wäre jetzt nicht in Erklärungsnot geraten.

»Is’ wegen der Kinder«, sagte ich und zeigte dem Onkel Bilder von seinem Neffen, wie er gerade eine Kartoffel ins Lagerfeuer hielt. Was man nicht sah, war, wie ich die verkokelte Knolle später wegwarf. »Kinder lieben Camping. Weil sie nichts mehr hassen als Hotelzimmer, wo ihnen das Zimmermädchen immer die Legosteine wegfeudelt.« Genauso ist es doch. Und die schicke Finca im Hinterland? Die hassen sie ebenfalls. Weil es ihnen nämlich furchtbar egal ist, ob abends die Sonne hinter Olivenhainen verglüht oder hinter einem kastenförmigen Doppelachser mit Fliegengittern vor jedem Ausstellfenster. Den Unterschied sehen sie gar nicht. Stattdessen fragen sie nur: »Was soll ich’n hier machen?« Und spätestens dann würde doch jeder die Finca hassen. Und bereit sein für den Campingplatz. Da gibt es keine Zimmermädchen, da gibt es nicht einmal Zimmer. Mit ein bisschen Glück gibt es Olivenbäume oder wenigstens mannshohe Büsche. Sollte man drauf achten, weil es nämlich sonst aussieht, als ob man seinen Urlaub auf einem Parkplatz verbringt. Nicht dass den Kindern das auffallen würde. Die sind sowieso den ganzen Tag weg. Genau das ist nämlich der große Vorteil von Campingplätzen: Wenigstens im Sommer gibt es dort Kinder in rauen Mengen. Und vom ersten Tag an haben sie keine Zeit mehr für ihre Eltern.

»Warum gehst du nicht in eins dieser Clubdörfer, da gibt es auch Kinder, und du hast ein anständiges Dach über dem Kopf.« Basti hatte natürlich keine Ahnung, was ein Urlaub in einem Clubdorf in der Hauptsaison kostete. Er hat nämlich keine Kinder, außerdem ist er Single.

»Die Queen«, sagte ich, »wusstest du, dass die Queen von England schon an Bord eines Wohnmobils gesehen wurde?« Was Besseres fiel mir gerade nicht ein, ich dachte nur, ich müsste ein bisschen mehr Luxus in die Geschichte bringen. Und es stimmt tatsächlich, ich hatte es in der Zeitung gelesen: Queen Elizabeth II. war mit ihrem Prinzgemahl an Bord eines Wohnmobils der Marke Bailey of Bristol gesehen worden. Der Artikel trug die Überschrift »The Queen goes Glamping.« »Man nennt das Glamping«, sagte ich also, »eine Mischung aus Glamour und Camping.« Die Queen selbst soll nach ihrer Spritztour, sie blieb für zweihundert Meter an Bord, übrigens gesagt haben, der Wagen fühle sich an wie ein richtiges Zuhause. Was da alles drin ist, sogar ein Herd und eine Heizung. Und der Prinzgemahl machte einen Verbesserungsvorschlag: Er hätte die Betten lieber längs statt quer eingebaut – wahrscheinlich, weil das im Buckingham Palast auch so ist. Oder auf der königlichen Jacht. Geordert hat Elizabeth später leider nicht. Darüber soll der Chef von Bailey ein bisschen enttäuscht gewesen sein.

Ich verstehe die Queen. Erstens ist ein Wohnmobil ziemlich teuer, das ist praktisch gar nicht reinzuurlauben. Und zweitens hat es auch Nachteile. Die Leute denken immer, mit diesen Wohnmobilen sei man irre mobil. Dann stehen sie irgendwo und merken, dass sie keine Brötchen haben. Oder das Bier ist alle. Also, packen sie alles wieder ein und fahren mit ihrem Riesenteil auf den Supermarktparkplatz. Ich dagegen kann am Ziel einfach abkoppeln, das Ding irgendwo hinstellen und habe immer noch das Auto. Toll ist das mit dem Wohnwagen. Doch davon wusste Basti zu diesem Zeitpunkt nichts. Vor allem wusste er nicht, dass er Jahre später mit uns einmal Urlaub in Frankreich machen würde, nein, nicht im, aber zumindest neben unserem Wohnwagen, wo er ein eigenes Zelt aufschlagen sollte.

Michi, mein großer Bruder, hatte auch keine Ahnung. Natürlich hatte er mir ebenfalls keine Melamin-Teller geschenkt, weil er fand, dass die irgendwie nach Plastik aussähen. Davon könne man nicht essen, sagte er. Und wenn doch, wolle er nichts damit zu tun haben. Michi ist selbstständig. Mit seinem Kompagnon betreibt er ein Restaurant. Obwohl er dort eigentlich mehr für das Kaufmännische zuständig ist, hält er sich für einen Feinschmecker. Weshalb er sich gern über kulinarische Themen unterhält. Zum Beispiel darüber, ob man mit einem Campingkocher richtiges Essen zubereiten könne oder ob es da immer nur Ravioli aus der Dose gebe. Den Campingbackofen, den wir ebenfalls geschenkt bekommen hatten, ignorierte er. Das liegt natürlich auch an Carola, seiner Frau. Die ist ein bisschen eigen. Morgens in einem Waschhaus wildfremden Leuten zu begegnen, die Gummilatschen tragen und auch ansonsten nur unvollständig bekleidet sind, ist mehr, als sie ertragen kann. Wie recht ich damit hatte, sollte sich erst noch erweisen, als uns die beiden auf einem Campingplatz besuchten. Ich glaube nicht, dass sie dieses Experiment wiederholen werden.

Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Mutter während meines Diavortrags eingenickt war. Auch sie konnte wohl nicht viel damit anfangen. Meine Mutter spricht nie von Campingplätzen, wenn ich ihr von unseren Urlaubsplänen erzähle. Sie verwendet stattdessen hartnäckig das Wort »Zeltplatz.« Und es nutzt nichts, wenn ich ihr sage: »Mama, wir werden nicht zelten. Wir schlafen in einem Wohnwagen, da haben wir ein richtiges Bett.« Nicht dass sie irgendwie snobistisch wäre. Auf keinen Fall, sie ist ein sehr bodenständiger, eher praktischer Mensch. Ich glaube nur, es fehlt ihr mangels Anschauung jedwedes Vorstellungsvermögen dafür, wie es auf einem Campingplatz zugeht. Ich habe mit meinen Eltern keinen einzigen Campingurlaub gemacht. Zum Glück, ich erinnere mich an eine Reise, von der ich nicht weiß, ob wir die überlebt hätten, wenn hinten am Auto ein Wohnwagen gehangen hätte. Meine Mutter kann nämlich sehr spontan sein. Einmal fand sie mitten auf einer dänischen Autobahnbrücke, mein Vater, der den Wagen gerade lenkte, hätte eine Erfrischung verdient. Sie wischte ihm mit einem kalten Lappen das Gesicht ab. Wahrscheinlich war meinem Vater von der ewigen Geradeausfahrerei ohnehin etwas dämmrig zumute, jedenfalls traf ihn die plötzliche Fürsorge vollkommen unvorbereitet. Er schrie, ließ das Lenkrad los und versuchte, meine Mutter abzuwehren. Michi und ich schrien auch. Basti gab es noch nicht, ich bin aber überzeugt davon, er hätte nicht anders reagiert, wenn er gesehen hätte, wie wir auf die Leitplanke zuschleuderten, während mein Vater mit einem Lappen kämpfte.

Es war verdammt knapp, aber mein Vater konnte den Wagen wieder abfangen. Wir setzten unseren Weg in ein dänisches Ferienhaus fort, das wir auch schadlos erreichten. Das heißt, mein Vater hatte eine derbe Schwellung am Hals. Dort hatte ihn eine Wespe gestochen, nachdem meine Mutter erst gebrüllt hatte: »Vorsicht, eine Wespe!«, und ihn dann zum zweiten Mal auf dieser Fahrt mit dem Lappen traktierte. Zum Glück waren wir da schon runter von der Autobahn.

Es war unser einziger Urlaub, der Campingferien relativ nahekam. Mein Bruder Michi und ich schliefen in Etagenbetten. Ich habe seitdem eine kleine Narbe auf der Stirn, weil er als der Größere sich natürlich das obere Bett nahm. Und als wir uns irgendwann mal stritten, langte er nach unten und erwischte mich mit irgendetwas Hartem an der Stirn. Es kann sich nicht um Absicht, sondern nur um einen Zufallstreffer gehandelt haben, weil es in unserem Zimmer nämlich stockdunkel war.

Das Haus hatte keinen Strom. Wenn man Licht haben wollte, musste man eine Petroleumlampe anzünden. Eines Tages platzte der Glasschirm mit einem gewaltigen Knall, wahrscheinlich hatte meine Mutter auch dieses Ding feucht gewischt, obwohl die Lampe brannte und der Schirm entsprechend heiß war. Meine Mutter kriegte einen Riesenschreck, und mein Vater machte irgendetwas Ungeschicktes, er war kein sonderlich praktisch veranlagter Mensch. Jedenfalls fiel die Lampe um, das Öl lief aus und brannte noch ein bisschen auf dem Tisch weiter. Was für eine Sauerei. Ich glaube, von diesem Tag an hatte meine Mutter eine tief sitzende Abneigung gegen alles, was irgendwie provisorisch wirkt, worunter Ferienhäuser eindeutig fielen. Zelte erst recht. Ein Zelt hätte sie wohl nur akzeptiert, wenn wir irgendwie auf der Flucht gewesen wären. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, ich komme aus einer Familie, der jeder Gedanke an einen Campingurlaub vollkommen fremd ist. Und bis heute können sie nicht begreifen, warum ich, ihr Bruder, Schwager und Sohn, mit seinem ganzen Hausrat in die Ferien fahren will.

Schuld ist eigentlich meine Frau. Und als ich sie kennenlernte, hatte ich keinen Schimmer, was auf mich zukommen sollte. Obwohl ich es ziemlich früh hätte erkennen müssen. Mein Gott, es war Liebe, da hört man doch nicht immer so hin. Zum Beispiel, als sie anfing, mir von ihrem Leben zu erzählen, von den Reisen, die sie als Kind unternommen hatte. Sie zeigte mir farbstichige Bilder, wie sie auf Sylt gezeltet hatte, wie sie mit ihren Eltern in Frankreich die Loire entlanggefahren war und sogar auf dem Parkplatz vor Versailles übernachtet hatte. Ich sah Aufnahmen von einem zahnsteinfarbenen Ei auf zwei absurd kleinen Reifen, das ihr Vater bis nach Malaga gezogen und in dem sie alle geschlafen hatten, der Vater, ein Riesenkerl, der ein bisschen aussah wie eine Mischung aus Bud Spencer und Luciano Pavarotti, die Mutter, die auf den Bildern eigentlich immer lächelte, wobei man ihre schönen Zähne sah, und ein kleines Mädchen, das auch schöne Zähne hatte und aussah wie eine Indianerin mit Topfschnitt, weil sie dermaßen braun war und die Haare so ulkig trug. »Ulkig«, sagte ich also und erfreute mich wieder an dem strahlenden Lächeln. Schöne Augen hat sie auch. Ich war also abgelenkt, als sie immer wieder schwärmte. Wie toll das gewesen sei, jeden Tag woanders und doch irgendwie immer zu Hause, weil man ja in seinem eigenen Bett schlief. Beinahe jeden Sommer hätten sie auf diese Weise verbracht. Und allein von besagter Reise nach Malaga konnte sie stundenlang erzählen. Wie sie die Küstenstraße nahmen, wie sie in ihrem Wohnwagen einen Meter vom Abgrund entfernt übernachteten, wie sie sich Wasser über die Köpfe gossen, weil es derart heiß war. Ich erinnere mich, dass ich an dieser Stelle einmal den Einwand erhob, dass diese Fahrt doch ewig gedauert haben, mithin eine Tortur gewesen sein müsse. Da ging sie gar nicht drauf ein, erzählte mir stattdessen von der Bretagne, wo sie wieder an irgendeinem Abgrund gestanden hätten und ihre Eltern den ganzen Campingplatz nach ihr absuchten, während sie in den Klippen mit einem französischen Jungen rumknutschte. Immerhin, an dieser Stelle hörte ich aufmerksam zu und beschloss, vorsichtig zu sein, sollten wir jemals in Frankreich Urlaub machen. »Dein Vater war bestimmt ganz schön sauer?«, fragte ich.

»Och nö«, antwortete sie, war ja Urlaub. Ihr Vater machte mir danach ein wenig Angst. Was musste das für ein Typ sein, der Tausende Kilometer fuhr, dabei vergleichsweise gelassen blieb und das Unterfangen auch noch Urlaub nannte?

Ursprünglich hätte ihr Vater ja die Idee gehabt, einen Anhänger zu bauen und darauf irgendwie ein Zelt zum Zusammenklappen zu errichten, erzählte sie mir. Abends bräuchte man das nur auseinanderzufalten, und fertig sei die Unterkunft. Ich staunte, wie man überhaupt auf solch eine Idee kommen konnte. Man muss dazu wissen, dass mein Vater nicht mal in der Lage war, einen Fahrradschlauch zu flicken. Mein Schwiegervater dagegen erwies sich als Multifunktionshandwerker, der grundsätzlich erst einmal alles selber machte, weil das billiger und wahrscheinlich auch besser würde. Später sollte ich bemerken, dass sein unerschütterliches Selbstvertrauen in die eigenen handwerklichen Fähigkeiten sogar so weit geht, dass er es für überflüssig hält, irgendwelche Gebrauchsanweisungen zu konsultieren – was mir zuweilen wiederum Angst macht. Vor allem, wenn es um etwas Elektrisches geht oder mit Gas zu tun hat. Beides kommt im Wohnwagen oft vor. Trotzdem sollte er seinen Plan vom selbst gefertigten Klappanhänger nie verwirklichen, weil er nämlich feststellen musste, dass ihn das zumindest dieses eine Mal viel teurer käme als der Kauf eines gebrauchten Wohnwagens. Kurz, meine Frau kommt aus einer Camperfamilie.

Anfangs bekam ich davon nicht viel mit. Wenn wir in den Urlaub fuhren, mieteten wir uns in Hotels ein, in Pensionen oder was immer, wie die meisten anderen Menschen eben auch. Selbst als Florian geboren wurde, unser erstes Kind, änderte sich daran nichts. Dann wurde er zwei, und wir mussten im Flugzeug für ihn bezahlen. Das allein wäre noch in Ordnung gegangen. Schließlich kam Sophie zur Welt, unsere Tochter. Und irgendwann flogen wir das erste Mal zu viert nach Griechenland in die Ferien. Es war natürlich Pech, dass wir mit der Bahn erst einmal nach München fahren mussten, weil wir keinen geeigneten Flug ab Berlin mehr bekommen hatten. Auf dem Münchner Hauptbahnhof standen wir dann zu viert an der Rolltreppe. Ich überlegte, wie das zu bewerkstelligen sei, meine Frau könnte mit dem Kinderwagen die Kleine nehmen, ich einen Koffer, der Junge damals fünf, würde inzwischen oben auf das übrige Gepäck aufpassen. Auf diese Weise würde ich viermal auf und ab fahren. Ich hielt nach einem Gepäckträger Ausschau, die es in jenem Jahr tatsächlich noch gab. Leider war er weder für Geld noch gute Worte bereit, mir zu helfen, weil, »ich bin nur fürs Obergeschoss zuständig, Rolltreppe mach ich nicht«. Ich verwünschte den Mann, machte mich an die Arbeit und musste mir anschließend von meiner Frau unter Tränen erzählen lassen, wie schön das früher gewesen sei, als sie mit ihren Eltern und dem Wohnwagen in den Urlaub gefahren war. Weil, im Wohnwagen, da hat man gar keine Koffer. Wozu auch, alles liege doch vom ersten Urlaubstag an parat im Schrank. Ich muss zugeben, ich hielt das plötzlich für einen verlockenden Gedanken.

2

Kurzer Exkurs
über das Zelten

Natürlich hätte man das alles viel einfacher haben können. Wenn man unbedingt auf einen Campingplatz will, braucht es doch dafür eigentlich nur ein Zelt. Um zu erklären, warum ich das inzwischen anders sehe, muss ich ein wenig ausholen.

Ich war sechzehn und ging in meinen ersten Urlaub ohne die Eltern. Zu diesem Zweck hatte ich mir von einer Freundin für die Sommerferien ihr Mofa geborgt. Ich kann nicht sagen, wieso ihre Eltern das zugelassen haben, vermute aber im Nachhinein, dass sie entweder mich oder das Mofa loswerden wollten. Mit sechzehn dachte ich weder an das eine noch an das andere, sondern ergriff, ohne zu zögern, die Gelegenheit. Ich wollte mit zwei Freunden, die jeder ein Mofa besaßen, kreuz und quer durch Deutschland fahren. Es gab damals noch zwei deutsche Staaten, genau genommen sogar drei, denn wir waren aus West-Berlin, das bekanntermaßen von einer Mauer umschlossen war. Und die einzigen Landverbindungen, die wir als Transitstrecke ins Bundesgebiet nutzen durften, waren Autobahnen. Mofas durften dort natürlich nicht fahren. Denn selbst wenn wir sie für richtige Maschinen hielten, im Grunde handelte es sich, wie der Name schon andeutet, um Fahrräder mit Hilfsmotor. Für die Lösung sorgte der Vater einer meiner Freunde. Der verdiente sein Geld als Importeur für Wild und Geflügel, weshalb sein Sohn von uns den Spitznamen Hühnchen verpasst bekommen hatte. Wir hätten ihn auch Hirsch nennen können oder Hase. Die Wahl fiel auf Hühnchen. Hühnchens Vater besaß einen Kühllastwagen, mit dem wurden unsere Mofas ins bayerische Hof kurz hinter der deutsch-deutschen Grenze transportiert. Ich weiß nicht, ob das legal war, schließlich war der Laster für den Transport von Lebensmitteln vorgesehen. Aber ich glaube, seinerzeit nahm man das noch nicht so genau. Und falls ich mich da irre, ist die Geschichte bestimmt längst verjährt. Die Firma gibt es auch nicht mehr, sogar Hühnchen ist aus meinem Leben verschwunden.

Wir hatten angenommen, der Laster würde auf dem Weg gen Westen nicht gekühlt, schließlich sollte er doch leer sein. Ein Irrtum, unsere Mofas trafen tiefgefroren in Hof ein. Natürlich sprang kein einziges an. Bei dem Versuch, die Dinger anzuschieben, rannten wir fast bis Bayreuth. Es wurde trotzdem eine großartige Tour, wir fühlten uns wie die Könige, fern der Heimat und ohne jede erwachsene Aufsicht. In unserem Übermut wurden wir schnell kriminell. Ich kann das hier freimütig erzählen, denn auch diese Geschichte dürfte inzwischen verjährt sein. Wir führten nämlich einen Campingkocher und Blechgeschirr mit, und tatsächlich ernährten wir uns anfangs überwiegend von Ravioli aus der Dose. Die einzige Abwechslung stellten Konserven mit Bami Goreng und Nasi Goreng dar. Dann kam der Tag, an dem ich lernte, dass Campingküche keineswegs eintönig sein muss.

Der Gasthof, in dem wir unterkamen (wir waren fürs Zelten nicht bereit, und der Wirt hatte uns für kleines Geld in einem noch nicht ganz fertiggestellten Flügel seines Hauses einquartiert), lag in der Nähe mehrerer Forellenteiche. Einen dieser Teiche nahmen wir uns vor. Zwar war er vollständig eingezäunt, und auf dem schmalen Wiesenstreifen innerhalb der Umzäunung patrouillierte ein Schäferhund um den Teich, aber das machte nichts. Unsere Angel war lang genug. Wir warfen Haken und Köder über das Grün, was der Hund wohl bemerkte, es nutzte ihm nur nichts. Natürlich war das Wilderei oder sogar Schlimmeres, aber wir waren aus der Stadt und dachten wohl, was da alles im Wasser rumschwimmt, gehört eigentlich jedem. Außerdem war der Teich im Grunde viel zu voll, die Viecher wollten ja raus, die schnappten schon nach unserem Köder, wenn der noch ein Stück über der Oberfläche hing. In vergleichsweise kurzer Zeit holten wir sechsundzwanzig Forellen aus dem Wasser. Sechs aßen wir selbst, was wir ohne Hühnchen nie geschafft hätten. Das wäre schon daran gescheitert, die Tiere fachgerecht zu erlegen. Eine Forelle ist ja sehr glitschig, und wie sie so nach Luft schnappt, sieht sie ganz schön traurig aus. Hühnchen machte das nichts aus, er konnte die Fische sogar richtig ausnehmen. Zwanzig verkauften wir dem Wirt, der uns Quartier gegeben hatte. Und mit einigem Stolz registrierten wir am nächsten Tag die Tafel neben dem Eingang zu seinem Gasthof. Mit Kreide hatte er darauf geschrieben: »heute frische Forellen«. Wir waren derart angefeuert von unserem Erfolg, dass wir am nächsten Tag versuchten, eine Ente zu angeln. Mir war zwar schleierhaft, wie das funktionieren sollte, aber Hühnchen war sich seiner Sache sehr sicher. Er legte eine Spur aus Brotkrumen aus, und am Ende wartete unser Angelhaken mit der letzten Krume. Ich muss sagen, als dann tatsächlich eine Ente angewatschelt kam, mit ihren Jungen im Schlepptau, stockte mir der Atem. Ich war wirklich froh, dass das Federvieh unseren Haken liegen ließ, fühlte mich aber trotzdem mies, allein schon wegen unseres Versuchs.

Der Tiefpunkt kam erst noch. Im Allgäu strandeten wir ganz in der Nähe des Forggensees. Das ist der See unterhalb von Schloss Neuschwanstein, das Bayernkönig Ludwig II. dort in den Hang hatte setzen lassen. Das Schloss hatte später Micky-Maus-Erfinder Walt Disney so gut gefallen, dass er ein nachempfundenes Abbild als sein Logo verwendete. Wir beachteten das Schloss nicht weiter, denn als Quartier kam es wohl nicht infrage, wir hatten aber noch keinen Platz für die Nacht. Und weil wir uns, obwohl zu dritt, inzwischen fühlten wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn, beschlossen wir schließlich, unser Lager im Wald aufzuschlagen. Kaum hatten wir unsere Schlafsäcke im Wald ausgerollt, fing es an zu regnen. Bedauerlicherweise hatte niemand von uns daran gedacht, ein Zelt mitzunehmen. Ich weiß auch nicht, wie wir uns das vorgestellt hatten, wie gesagt, ich kam aus einer Familie, die mit Camping gar nichts am Hut hatte.

Wenigstens hatte Nils, der Dritte aus unserem Team, eine große Plane dabei, die wir an den Bäumen ringsum aufspannten, und zwar ungefähr fünfzig Zentimeter über dem Boden, damit es nicht von der Seite reinregnete. Wie wir da so auf dem Rücken lagen, nebeneinander, das war nicht schön. Es war kalt, es war nass, man konnte nicht aufstehen. Am nächsten Morgen wachte ich mit einem heftigen Pochen im Ohr auf. Ich sehnte mich nach einem heißen Zwiebelsäckchen, ein altes Hausmittel, mit dem meine Mutter eine aufkommende Mittelohrentzündung zu bekämpfen pflegte, aber wir hatten nicht einmal warmes Wasser. Mir war klar, dass ich auf jeden Fall besser vorbereitet sein musste, sollte ich mich je wieder auf etwas Vergleichbares einlassen. Was allerdings sehr unwahrscheinlich war, denn Camping hatte für mich seither den Ruch des Semikriminellen, war überdies mit Schmerzen verbunden.

Es dauerte ein paar Jahre, bevor ich wieder von Nils hörte. Die Erinnerung an unsere gemeinsame Deutschlandreise war inzwischen verblasst, da erfuhr ich, dass er auf einem dänischen Campingplatz Urlaub machen würde. Ja, sie seien überhaupt alle dort, die ganze Truppe aus Jugendtagen – bis auf Hühnchen. Mir wurde nostalgisch zumute, und ich dachte daran, wie einfach das wäre, den ganzen Krempel ins Auto zu laden – wir fuhren inzwischen einen Kombi – und loszufahren.

Camping würde auch sehr preiswert sein. Ich erkundigte mich, der Aufenthalt auf der Insel Falster, auf einem wunderbaren Platz unmittelbar am Ostseestrand, würde mich für vier Personen nicht mehr als vierzig Mark die Nacht kosten – den Euro gab es noch nicht. Das war so billig, wie es eben in einem Land nur billig sein kann, in dem ein einziger Hotdog durchaus acht Mark, also umgerechnet vier Euro, kosten konnte. Wobei es inzwischen vermutlich eher sechs Euro wären. Ich begann, mir die Sache schönzureden: Seit Karl May das Lagerfeuer und den Wigwam in Deutschland eingeführt hat, ist Zelten doch sowieso die höchste Form des Campings. Theoretisch wenigstens. Und wäre es damals am Forggensee nicht sehr idyllisch gewesen, wenn wir statt einer einfachen Plane ein richtiges Zelt gehabt hätten?

Florian, er muss um die acht gewesen sein, hat sich auch mächtig gefreut, als ich ihm vorschlug, wir würden mit dem Zelt nach Dänemark fahren. Ein Riesenabenteuer. Er hat sich vorgestellt, wie wir abends am Lagerfeuer Würstchen braten. Und uns nachts den Schlafsack bis über die Ohren ziehen. Zumindest das haben wir auch getan, das mit dem Schlafsack. Pfingsten kann sehr kalt sein in Dänemark. Nicht so gut hat es mit dem Lagerfeuer geklappt, schon wegen des Regens.

Wenn ich ganz ehrlich bin, war der Urlaub ohnehin nicht allzu toll. Einen halben Tag haben wir gebraucht, dünne Eisenhaken in den knallharten Boden zu hämmern – um zwei geliehene Zelte aufzubauen, von denen wir nur so ungefähr wussten, wie der Hersteller sich das gedacht hatte. War nicht leicht, wahrscheinlich hatte deshalb niemand den geborstenen Ast bemerkt, der nur noch an einem Rest Rinde direkt über uns hing. Irgendwann entdeckten wir ihn. Das heißt, zuerst sahen wir die Harzflecken auf unserem Stoffdach.

»Hier können wir nicht bleiben«, stellte meine Frau sofort klar.

»Ach was«, behauptete ich lahm, »der hängt da sicher schon ewig, keine Gefahr.« Ich stellte Überlegungen an, wie man das Harz in einer Plastiktüte auffangen könnte.

»Du kannst ja darunter schlafen«, meinte meine Frau und machte mich darauf aufmerksam, dass sie mit den Kindern ins zweite Zelt ziehen würde, außerhalb der mutmaßlichen Flugbahn des Astes.

Ich begann mir auszumalen, wie es wohl aussehen würde, wenn sich der Ast nachts erst in mein Zelt und dann in mich bohren würde. Wir brauchten einen halben Tag, um mit Sack und Pack umzuziehen. Und noch einen ganzen, um das Harz auszuwaschen. Natürlich hätte ich darauf auch verzichten können, »aber dann kannst du das Zelt vergessen«, versicherte mir Nils.

Ich hatte Nils lange nicht gesehen. Er hatte inzwischen vier Kinder. Und jedes Jahr fuhr er mit Frau, Wohnwagen und seinen vier Kindern nach Skandinavien. Wahrscheinlich dachte er, das sei er seinem Namen schuldig. Wir nannten seinen Wohnwagen denn auch die schwedische Legebatterie, weil er aus schwedischer Produktion kam und innen im Wesentlichen aus Betten bestand. Wenn man reinkam, tat sich links ein schmaler Gang auf, der von Etagenbetten gesäumt wurde. Wie in dem Film »Das Boot«. Nils steht sehr auf Skandinavien. Jedenfalls heißen seine Kinder Ole, Björn und Sven, und eine Tochter hat er auch, Annika. Seine Frau heißt, klar, Karen (wahrscheinlich hatte er sie nach dem Namen ausgesucht). Immer noch trug er sehr gern Clogs wie in seiner Jugend, man sah ihn zumindest außerhalb seines beruflichen Lebens praktisch ausschließlich in diesen dänischen Holzschuhen, von denen er nach wie vor behauptete, darin könne er am besten laufen. Was definitiv nicht stimmte. Von Beruf war Nils inzwischen Ingenieur, irgendetwas Elektrisches, Praktisches, weshalb man ihn immer um Rat fragen kann, wenn etwas kaputt ist. Nils war in Sachen Camping eine echte Koryphäe geworden. Nun ließ er mich also wissen: »Einmal zusammengerollt, klebt dein Zelt zusammen wie Baumkuchen. So verharzt wie das ist, kriegst du die Schichten nie wieder auseinander.« Dabei rieb er sich mit seiner Rechten über die Bartstoppeln auf seiner Wange, bis es knirschte, es stimmt schon, Camper sind selten glatt rasiert, und dazu lachte er sein vertrautes keckerndes Lachen. Manchmal frage ich mich, wie jemand mit diesen Schuhen und solch einer Lache in eine führende Position gelangen konnte? Nils war irgendetwas Höheres in seiner Firma. Es konnte nicht nur an seinem großzügigen Wesen, es musste auch an seiner Expertise liegen.

Meine Frau und ich, wir schrien uns dann ein bisschen an, weil, irgendjemand musste ja schuld sein am bisherigen Verlauf unseres Urlaubs. Die Kleine fing an zu weinen. Eigentlich sollte der Große sich um seine Schwester kümmern. Aber der war weg. Richtig, Kinder auf Campingplätzen sind ja praktisch nie zu Hause. »Waschbenzin«, sagte Nils plötzlich, »damit kriegt man Harz raus.« Also wollte ich noch mal los, Waschbenzin besorgen, weil das Zelt ja nur geborgt war, und wenn es sich nie wieder hätte auseinanderrollen lassen, das wäre nicht so gut gewesen. »Ich komm’ mit«, verkündete Nils, er ging für sein Leben gern in Baumärkte, »bring nur schnell noch das Klo weg.« Ich hatte es längst begriffen: Ein Wohnwagen wäre viel toller als unser Zelt. Und dass es darin ein Klo geben würde, fand ich besonders faszinierend. Nur die Tatsache, dass man den Inhalt dieses Klos wegbringen musste, verstörte mich. Gibt es da keine andere Lösung? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte Nils sie längst gefunden gehabt. Ein Schrei riss mich aus meinen Überlegungen, Nils war mit seinen Clogs umgeknickt, bereits das zweite Mal an diesem Tag. Aus seinem Chemieklo suppte etwas Dunkelblau-Graues auf seine Jeans. Es roch schlecht. »Lass mal«, sagte ich, »ich fahr allein. Und du solltest deinen Knöchel kühlen.« Nils hatte empfindliche Bänder, weil er so oft mit seinen dämlichen Clogs umknickte.

Natürlich wäre es mit den Würstchen am Lagerfeuer auch ohne Regen nichts geworden, denn am Abend war mir vom vielen Waschbenzin schlecht. Zur Schlafenszeit nahm meine Frau die Kinder mit rüber ins andere Zelt. Ich verbrachte die Nacht allein unter einem kontaminierten Stoffdach, das nicht weit von meiner Nase entfernt war. Der Benzindunst roch trotz des Regens immer noch entsetzlich. Ich dachte an den Forggensee, malte mir aus, wie ich bald die Besinnung verlieren und es niemand bemerken würde, wenn ich mich im Schlaf übergebe und einen Tod wie Jimi Hendrix erleide. Es wurde eine bedrückende Nacht.

Meine Frau freilich fand den Urlaub dann doch ganz gut. Zu Hause kramte sie ihre alten Urlaubsfotos wieder raus und schwärmte mir von den Sommern ihrer Kindheit vor. »Guck mal«, meinte sie, »das sind wir, wie wir den Brenner überqueren.« Mein Gott, von mir gibt es auch alte Fotos, von meiner Einschulung zum Beispiel. Auf denen trage ich Hosenträger mit Verkehrszeichen drauf, auf die war ich furchtbar stolz. Na und? Will ich deshalb wieder solche Hosenträger haben? Mir schwante, da steckt mehr dahinter, irgendetwas Genetisches vielleicht. Aber eines wusste ich, zelten würde ich nie wieder. Stattdessen dachte ich an Nils Wohnwagen. Und ich sagte: »Schatz, was meinst du zu einer Anhängerkupplung? Würde sich die nicht gut an unserem Auto machen?«