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Lynda Mullaly Hunt

Wie

ein

Fisch

im Baum

Aus dem amerikanischen
von Renate Weitbrecht

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Foto: © Kimberly Lynn

Lynda Mullaly Hunt wuchs als Jüngste von fünf Geschwistern auf. Sie arbeitete als Lehrerin, bis sie beschloss, das zum Beruf zu machen, was ihr am meisten am Herzen liegt: Lesen, Geschichten erzählen und Kinder. Ihr erstes Kinderbuch Ich hab mich nie so leicht gefühlt schaffte es auf Anhieb auf mehrere Bestenlisten, ihr zweiter Roman Wie ein Fisch im Baum landete auf der New York Times- Bestsellerliste. Sie lebt mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern sowie Hund und Katze in Connecticut.

Mehr zur Autorin auch unter lyndamullalyhunt.com und Instagram @lyndamullalyhunt

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Von der Autorin ist bereits bei cbt erschienen:

Ich hab mich nie so leicht gefühlt (16408)

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© 2015 by Lynda Mullaly Hunt
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with Nancy Paulsen Books, a division of Penguin Young Readers Group, a member of Penguin Group (USA) LLC,
A Penguin Random House Company.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Fish in a Tree« bei Nancy Paulsen Books, Penguin Group, New York.
© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by
cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Renate Weitbrecht
Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung eines Motivs von © Gallery Stock / GS
he • Herstellung: sto
Satz und eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-16017-3
V001

www.cbt-buecher.de

Widmung

Für die Lehrer …

 

die die Persönlichkeit über die Leistung stellen,

die uns zeigen, dass wir alle unsere ureigenen Begabungen haben,

die mehr Wert auf Individualität
als auf Anpassung legen.

 

 

Und für die Kinder …

 

die den Mut finden, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen –
egal, welche das auch sein mögen.

 

 

Ihr seid Helden.

Dieses Buch ist für euch geschrieben.

Kapitel 1

Wieder mal in Schwierigkeiten

Es ist immer da. Wie der Boden unter meinen Füßen.

»Also was ist, Ally? Schreibst du nun etwas oder nicht?«, fragt Mrs Hall.

Wenn meine Lehrerin gemein wäre, wäre es leichter.

»Komm schon«, sagt sie. »Ich weiß, du kannst es.«

»Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich nur mit Hilfe meiner Zähne auf einen Baum klettern will, würden Sie dann auch sagen, dass ich es kann?«

Oliver lacht und wirft sich über seinen Tisch, als würde er nach einem Ball hechten.

Shay stöhnt. »Ach Ally, kannst du dich nicht ausnahmsweise einmal normal verhalten?«

Ein großer kräftiger Junge, der in ihrer Nähe sitzt und jeden Tag dasselbe anhat – ein dunkles T-Shirt mit der Aufschrift FLINT –, setzt sich aufrecht hin, als würde er darauf warten, dass ein Knallfrosch explodiert.

Mrs Hall seufzt. »Nun mach schon. Du sollst doch nur eine Seite über dich selbst schreiben.«

Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als mich selbst beschreiben zu müssen. Ich würde viel lieber über etwas Positiveres schreiben. Zum Beispiel über einen Brechanfall auf der eigenen Geburtstagsparty.

»Es ist wichtig«, sagt sie. »Es hilft deinem neuen Lehrer, dich kennenzulernen.«

Ich weiß. Genau darum will ich es nicht. Lehrer sind wie diese Automaten, die für Vierteldollarmünzen Flummibälle ausspucken. Man weiß eigentlich schon, was man kriegt, aber nicht ganz genau.

»Und dein ständiges Gekritzel, Ally«, sagt sie. »Wenn du nicht die ganze Zeit zeichnen würdest, könntest du mit deiner Aufgabe längst fertig sein. Pack das bitte weg.«

Verlegen schiebe ich meine Skizzen unter mein leeres Aufgabenblatt. Ich habe mich selbst gezeichnet, wie ich aus einer Kanone geschossen werde. Das wäre einfacher, als zur Schule zu gehen. Weniger qualvoll.

»Komm schon«, sagt sie und schiebt mir das linierte Blatt zu. »Tu einfach dein Bestes.«

Sieben Schulen in sieben Jahren, und sie sind alle gleich. Immer wenn ich mein Bestes tue, heißt es, dass ich mir nicht genug Mühe gebe. Zu nachlässig sei. Schlampige Rechtschreibung hätte. Zum Beispiel ärgert es Lehrer, wenn dasselbe Wort auf derselben Seite unterschiedlich geschrieben ist.

Und die Kopfschmerzen. Ich bekomme immer Kopfschmerzen, wenn ich zu lange die dunklen Buchstaben auf den grellweißen Seiten anschaue.

Mrs Hall räuspert sich.

Der Rest der Klasse ist mal wieder genervt von mir. Stühle rutschen. Laute Seufzer sind zu hören. Vielleicht denken sie, dass ich ihre Bemerkungen nicht mitbekomme. Dumme Kuh. Freak. Loser.

Ich wünschte, Mrs Hall würde einfach zu Albert, der lebenden Google-Seite, weitergehen. Der bekäme schon eine bessere Note als ich, wenn er in das Aufgabenblatt schnäuzen würde.

Mein Nacken wird heiß.

Ich verstehe das nicht. Sonst lässt sie mir das durchgehen. Vermutlich ist sie diesmal so hartnäckig, weil die Texte für den neuen Lehrer sind. Darum soll keiner fehlen.

Ich blicke auf ihren dicken Bauch. »Haben Sie schon entschieden, wie das Baby heißen soll?«, frage ich sie. Letzte Woche haben wir sie dazu gebracht, in Sozialkunde eine volle halbe Stunde lang nur über Babynamen zu reden.

»Lass das, Ally, keine Zeitschinderei mehr.«

Ich antworte nicht.

»Das ist mein Ernst«, sagt sie. Ich weiß, dass sie es ernst meint.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich einen Film ablaufen, in dem sie einen Stock nimmt und zwischen uns eine Linie in die Erde zieht, unter einem strahlend blauen Himmel. Sie ist angezogen wie ein Sheriff und ich trage einen schwarz-weiß gestreiften Sträflingsanzug. Mein Kopf macht das die ganze Zeit – er zeigt mir Filme, die so echt wirken, dass sie mich mitreißen. Sie sind eine willkommene Abwechslung zu meinem wirklichen Leben.

Ich wappne mich innerlich und zwinge mich, etwas zu tun, was ich eigentlich gar nicht tun will. Nur, um dieser Lehrerin zu entkommen, die einfach nicht lockerlässt.

Ich greife nach meinem Stift. Da entspannt sich ihr Körper. Wahrscheinlich ist sie erleichtert, dass ich nachgebe.

Aber stattdessen balle ich die Hand, in der ich den Stift halte, zur Faust und kritzele meinen ganzen Tisch voll, wohl wissend, wie sehr sie Sauberkeit schätzt.

»Ally!« Sie macht einen hastigen Schritt auf mich zu. »Warum tust du das?«

Die Kringel sind oben groß und unten klein. Das Ganze sieht aus wie ein Tornado. Ich frage mich, ob ich mein Innenleben zeichnen wollte. Ich blicke wieder zu ihr auf. »Das war schon da, als ich mich hingesetzt habe.«

Die anderen lachen – doch nicht, weil sie mich witzig finden.

»Ich merke, dass du ziemlich aufgebracht bist, Ally«, sagt Mrs Hall.

Ich verberge das nicht so gut, wie ich sollte.

»Die ist total durchgeknallt«, flüstert Shay absichtlich so laut, dass alle es hören.

Oliver trommelt jetzt auf seinem Tisch herum.

Ich verschränke die Arme und starre zu Mrs Hall hinauf.

»Jetzt reicht’s«, sagt sie schließlich. »Ab ins Rektorat. Sofort.«

Das wollte ich eigentlich erreichen, aber jetzt bereue ich es.

»Ally.«

»Hm?«

Alle lachen wieder. Sie hebt die Hand. »Wer hier nur einen Piep macht, bringt sich um die Pause.« Nun ist es still im Raum.

»Ally, ich hab gesagt: ins Rektorat.«

Ich kann nicht schon wieder bei Mrs Silver, der Schuldirektorin, erscheinen. Ich muss so oft in ihr Büro, dass ich mich frage, wann über der Tür ein Spruchband mit der Aufschrift WILLKOMMEN, ALLY NICKERSON! aufgehängt wird.

»Tut mir leid«, sage ich, und ich bedaure es wirklich. »Ich schreib was. Versprochen.«

Sie seufzt. »Okay, Ally, aber sobald dieser Stift aufhört zu schreiben, geht’s ins Rektorat.«

Sie setzt mich an den Lesetisch vorne neben dem Schwarzen Brett, an dem ein Thanksgiving-Plakat übers Dankbarsein hängt, und sprüht meinen Tisch mit einem Putzmittel ein. Dabei wirft sie mir einen Blick zu, als würde sie am liebsten mich mit dem Putzmittel einsprühen, um meine Blödheit wegzuschrubben.

Ich blinzle ein bisschen, in der Hoffnung, dass das grelle Licht der Lampen mir dann weniger Kopfschmerzen bereitet. Dann versuche ich, den Stift so zu halten, wie ich es soll, statt auf die komische Art, auf die meine Hand ihn packen will.

Ich schreibe mit der einen Hand und schirme mit der anderen mein Aufgabenblatt ab. Ich weiß, dass ich den Stift in Bewegung halten muss, deshalb schreibe ich die ganze Seite mit dem Wort »Warum?« voll, von oben bis unten.

Erstens, weil ich weiß, wie man es richtig schreibt, und zweitens, weil ich hoffe, dass irgendwer mir endlich eine Antwort gibt.

Kapitel 2

Gelbe Karte

Zu Mrs Halls Babyparty erscheint Jessica mit einem so großen Strauß aus dem Blumenladen ihres Vaters, dass man meinen könnte, sie hätte eine ganze Staude aus dem Boden gerissen und die Wurzeln mit Folie eingepackt.

Wie auch immer. Das kümmert mich nicht. Im Kaufhaus habe ich eine wunderschöne Karte mit gelben Rosen darauf gefunden. Blumen auf einem Bild verwelken wenigstens nicht nach einer Woche. Diese Karte soll auch eine Entschuldigung dafür sein, dass ich die ganze Zeit so eine Nervensäge gewesen bin.

Max überreicht Mrs Hall sein Geschenk. Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und faltet die Hände hinter dem Kopf, als sie es auspackt. Er hat ihr Windeln gekauft. Er wirkt enttäuscht, als sie sich freut. Vermutlich hat er auf eine andere Reaktion gehofft.

Max liebt Aufmerksamkeit. Und er liebt Partys. Fast jeden Tag fragt er Mrs Hall, ob es eine Party gibt, und heute bekommt er endlich eine.

Als Mrs Hall meine Karte aus dem Umschlag zieht, liest sie sie nicht laut vor wie alle anderen, sondern zögert. Anscheinend gefällt sie ihr wirklich. Ich bin stolz auf mich, was bei mir nicht oft vorkommt.

Mrs Silver beugt sich hinüber, um sich die Karte anzusehen. Vielleicht bekomme ich endlich mal ein Kompliment von ihr zu hören, denke ich, doch stattdessen runzelt sie die Stirn und winkt mich zur Tür.

Shay ist aufgestanden, um auch einen Blick auf die Karte zu werfen. Sie lacht und sagt: »Jedes Mal, wenn Ally Nickerson etwas von sich gibt, wird die Welt dümmer.«

»Setz dich, Shay«, sagt Mrs Hall, aber es ist zu spät. Etwas einmal Gesagtes kann man nicht ungehört machen. Ich sollte das inzwischen gewohnt sein, aber es trifft mich trotzdem jedes Mal.

Als Shay und Jessica lachen, muss ich daran denken, was sie letzte Woche an Halloween getan haben. Wir sollten uns als eine Figur aus unserem Lieblingsbuch verkleiden. Ich kam als Alice im Wunderland – dieses Buch hat mein Opa mir unzählige Male vorgelesen. Und Shay und ihr Schatten Jessica nannten mich den ganzen Tag »Alice im Loser-Land«.

Keisha geht auf Shay zu und sagt: »Warum kümmerst du dich nicht ausnahmsweise mal um deine eigenen Angelegenheiten?«

Ich mag Keisha. Sie hat keine Angst. Ich fürchte mich vor so vielem.

Shay dreht sich zu ihr um, mit einer Miene, als wolle sie eine Fliege totschlagen. »Ist das etwa deine Angelegenheit?«, fragt sie.

»Nein, eigentlich nicht. Aber deine ebenso wenig«, erwidert Keisha.

Shay stöhnt. »Hör auf, mich dumm anzumachen.«

»Hör auf, gemein zu sein«, entgegnet Keisha.

Max verschränkt die Arme und lehnt sich über seinen Tisch. »Ja! Gleich gibt es einen Kampf!«, kräht er.

»Nichts da, es gibt keinen Kampf «, sagt Mrs Hall.

Suki hält eines ihrer Holzklötzchen in der Hand. Sie hat eine ganze Sammlung davon, die sie in einer Schachtel aufbewahrt. Ich habe schon mitbekommen, dass sie eins herausnimmt, wenn sie nervös wird. Und jetzt ist sie nervös.

Shay funkelt Keisha an. Keisha ist dieses Jahr neu in die Klasse gekommen. Es wundert mich, dass sie den Mund aufgemacht hat.

Alle sind ganz aufgebracht, und ich weiß nicht einmal, wie das passiert ist.

Mrs Hall fordert beide Mädchen auf, sich zu beruhigen, und erklärt Max, dass es dumm ist, Leute aufzustacheln. Mrs Silver winkt mich erneut zur Tür. Was ist denn los, zum Teufel?

Als ich mit Mrs Silver draußen auf dem Korridor stehe, kann ich ihrem Gesicht ablesen, dass das wieder so eine Situation ist, in der ich mich entschuldigen oder erklären muss, warum ich etwas getan habe. Nur habe ich diesmal keine Ahnung, warum ich in Schwierigkeiten bin.

Ich stecke die Hände in die Taschen, um sie davon abzuhalten, etwas zu tun, was ich hinterher bereue. Ich wünschte, ich könnte auch meinen Mund in die Tasche stecken.

»Ich verstehe das einfach nicht, Ally«, sagt sie. »Du hast dir schon einiges geleistet, aber das war einfach … untypisch. Es passt irgendwie nicht zu dir.«

Das war klar. Ich tue etwas Nettes, und sie sagt, dass es nicht zu mir passt. Ich verstehe wirklich nicht, was schlimm daran sein soll, eine Karte zu kaufen.

»Ally«, sagt Mrs Silver. »Wenn du Aufmerksamkeit suchst, ist das der falsche Weg.«

Da irrt sie sich. Aufmerksamkeit brauche ich so wenig wie ein Fisch einen Schnorchel.

Die Tür des Klassenzimmers schwingt so weit auf, dass sie gegen die Schließfächer knallt, und Oliver kommt heraus. »Ally«, sagt er. »Bestimmt hast du Mrs Hall diese Karte geschenkt, um ihr zu sagen, dass du es schade findest, dass sie uns verlassen muss, um irgend so ein doofes Baby zu bekommen. Wahrscheinlich ist sie jetzt total traurig. Mir tut es auch leid für sie.«

Was redet er denn da?

»Oliver?«, fragt Mrs Silver. »Gibt es einen Grund, warum du hier draußen bist?«

»Ja! Ich wollte … äh … ich muss auf die Toilette. Ja. Das ist alles.« Er rennt davon.

»Kann ich jetzt gehen?«, platze ich heraus. Ich habe das Gefühl, keine Sekunde länger hier stehen bleiben zu können.

Kopfschüttelnd sagt sie: »Ich begreife das einfach nicht. Warum um alles in der Welt hast du einer Schwangeren eine Beileidskarte geschenkt?«

Beileidskarte? Ich zerbreche mir den Kopf. Dann dämmert es mir. Meine Mutter verschickt solche Karten an Leute, wenn jemand gestorben ist, den sie geliebt haben. Mein Magen beginnt verrückt zu spielen, als ich mich frage, was Mrs Hall wohl gedacht hat.

»Du weißt, was eine Beileidskarte ist, Ally, oder?«

Ich sollte abstreiten, dass ich es weiß, aber ich nicke, denn ich will mir nicht anhören müssen, wie Mrs Silver es erklärt. Außerdem würde sie mich dann für noch dümmer halten, als ich bin. Falls das überhaupt möglich ist.

»Warum tust du dann so etwas?«

Ich stehe aufrecht da, aber in mir krampft sich alles zusammen. Ich fühle mich richtig mies. Ich meine, ich fand es furchtbar, als der Hund unseres Nachbarn gestorben ist, aber es wäre natürlich noch viel schlimmer gewesen, wenn ein Baby gestorben wäre.

Ich habe einfach nicht erkannt, dass das so eine Trauerkarte ist. Ich habe nur die schönen gelben Blumen gesehen und mir vorgestellt, welche Freude ich Mrs Hall damit machen würde.

Aber es gibt jede Menge Gründe, warum ich nicht die absolute Wahrheit sagen kann.

Nicht Mrs Silver.

Und auch sonst niemandem.

Ich habe schon so oft geübt, gebetet und gehofft, aber einen Text zu lesen ist für mich immer noch so, als würde ich versuchen, in einem Teller Buchstabensuppe einen Sinn zu finden. Ich weiß wirklich nicht, wie andere Leute das machen.

Kapitel 3

Es lag nie in meiner Hand

Ich lehne mich gegen die Wand des Korridors und bleibe stumm. Ein paar kleine Kinder laufen vorbei. Sie erinnern mich daran, dass ich schon in der sechsten Klasse bin – der höchsten Stufe in dieser Schule. Aber ich fühle mich wie ein Kleinkind.

»Hast du etwas zu sagen, Ally?«, fragt Mrs Silver.

Ich habe Angst, den Mund aufzumachen, weil manchmal einfach Dinge herauskommen, die mich in noch größere Schwierigkeiten bringen.

Schließlich schlägt sie vor, dass wir in ihr Büro gehen.

Ich sitze im Büro der Direktorin und starre schweigend aus dem Fenster. Ich frage mich, wie es wäre, entspannt in der Schule sitzen zu können, statt sich jede Sekunde Sorgen machen zu müssen.

Ich wünschte, ich hätte mein Skizzenbuch der Unmöglichen Dinge dabei. Es ist das Einzige, was mir das Gefühl gibt, keine Platzverschwendung zu sein. Ich beobachte gern, wie die Bilder aus meinem Kopf in meinem Buch Wirklichkeit werden. Mein Lieblingsbild ist zurzeit ein Schneemann, der an einem Hochofen arbeitet. Aber das Verrückteste, Seltsamste und Unglaublichste, was ich je zeichnen könnte, wäre wohl ich selbst, wie ich etwas richtig mache.

Mrs Silvers Seufzer katapultiert mich in die Realität zurück. »In den nicht einmal fünf Monaten, die du jetzt hier bist, warst du schon viel zu oft in diesem Büro, Ally. Du musst dein Leben umkrempeln«, sagt sie.

Ich sitze stumm da.

»Es liegt in deiner Hand.«

Es liegt nicht in meiner Hand. Es lag nie in meiner Hand.

Mrs Silvers Vortrag ist wie ein Hintergrundgeräusch. Wie ein Autoradio.

Mir fehlen die Worte, um es ihr zu erklären. Es war ein Versehen. Und ich schäme mich dafür. Aber mir ist nicht danach, ihr das anzuvertrauen.

Sie holt Luft. »Dachtest du, das wäre witzig?«

Ich schüttle den Kopf.

»Wolltest du Mrs Hall verletzen?«

Ich blicke schnell auf. »Nein! Ich wollte sie wirklich nicht verletzen. Ich habe nur …«

Ich frage mich wieder, was ich mich vorhin schon gefragt habe. Sollte ich es ihr einfach erzählen? Es kommt mir vor, als stünde mein Stuhl auf einer Falltür, mit einem Knopf daran, den ich drücken könnte, um mich runterfallen zu lassen. Ich will es ihr erzählen, aber ich habe zu viel Angst. Ich blicke zu ihr hoch. Sie sieht mich enttäuscht an. Wieder einmal. Ich glaube, es hat keinen Sinn. Ich bin bereits als Nervensäge verschrien. Warum sollen alle obendrein erfahren, dass ich dumm bin? Mir kann sowieso niemand helfen. Wie soll man Dummheit heilen?

Also schaue ich wieder aus dem Fenster und befehle meinem Mund zuzubleiben.

In den sieben verschiedenen Schulen, in denen ich schon war, habe ich gelernt, dass es besser ist, den Mund zu halten. Nie widersprechen, solange es nicht unbedingt sein muss.

Ich merke, dass meine Hände sich zu Fäusten geballt haben und dass Mrs Silver das sieht.

Sie setzt sich auf den Stuhl neben mir. »Manchmal sieht es so aus, als wolltest du geradezu in Schwierigkeiten geraten, Ally.« Sie beugt sich ein Stück vor. »Ist das so?«

Ich schüttele den Kopf.

»Komm schon, Ally. Sag mir, was los ist. Lass mich dir helfen.«

Ich sehe sie kurz an und dann weg. »Mir kann niemand helfen«, murmele ich.

»Das stimmt nicht. Lass es mich versuchen.« Sie zeigt auf ein Plakat an der Wand. »Kannst du mir das bitte vorlesen?«, sagt sie.

Das Plakat zeigt zwei Hände, die nach einander greifen. Toll. Wahrscheinlich irgendein rührseliger Spruch über Freundschaft und Zusammenhalt oder was auch immer. Ich habe nicht mal Freunde.

»Komm schon, Ally. Lies es mir bitte vor.«

Die Buchstaben auf dem Plakat sehen aus wie schwarze Käfer, die über die Wand laufen. Wahrscheinlich könnte ich die meisten erraten, aber dazu würde ich viel Zeit brauchen. Und wenn ich nervös bin, kann ich es sowieso vergessen. Dann ist mein Hirn leer wie eine Magische Tafel, die auf den Kopf gedreht und geschüttelt wurde.

»Also, was steht da?«, fragt sie wieder.

Ich versuche zu bluffen. »Ich muss es Ihnen nicht vorlesen. Ich verstehe es«, sage ich und sehe ihr direkt in die Augen. »Glauben Sie mir. Ich weiß schon alles darüber.«

»Da bin ich mir nicht so sicher, Ally. Ich denke, du müsstest vielleicht ein bisschen daran arbeiten.«

Ich wünschte, ich wüsste, was auf dem Plakat steht. Doch ich sehe es nicht an. Sonst würde sie weiter darüber reden wollen.

Es klingelt.

Mrs Silver fährt sich mit den Fingern durchs Haar. »Ally, ich weiß nicht, ob du dachtest, die Karte wäre witzig, oder ob du aufgebracht bist, weil Mrs Hall geht, oder was auch immer. Aber für mein Empfinden hast du diesmal eine rote Linie überschritten.«

Ich stelle mir vor, wie ich eine Ziellinie überquere. Mein Körper zerreißt ein leuchtend rotes Band. Die Menge jubelt und Konfetti wirbelt durch die Luft. Aber ich weiß, dass sie etwas anderes meint.

»Ab Montag hast du einen neuen Lehrer, Mr Daniels. Lass uns doch lieber versuchen, irgendwelche negativen Folgen zu vermeiden, okay?«

Ich und negative Folgen vermeiden, denke ich. Das wäre, als wollte der Regen den Himmel meiden.

Sie macht eine Handbewegung, dass ich gehen soll. Als ich aufstehe, blicke ich wieder auf das Plakat. Ich wünschte, ich wüsste, woran ich arbeiten soll, denn mir ist klar, dass ich viel mehr wissen müsste, als ich tatsächlich weiß.

Sie seufzt, als ich ihr Büro verlasse, und ich weiß, dass sie genug von mir hat.

Sogar ich habe genug von mir.

Die Flure füllen sich mit Kindern, während ich von Mrs Silvers Büro zu meinem Klassenzimmer zurückrenne, um mich bei Mrs Hall zu entschuldigen, bevor die Busse abfahren. Ich laufe ihr hinterher und berühre sie kurz am Arm.

Als sie sich umdreht und mich ansieht, wird ihr Gesicht erst traurig, dann ernst. Es tut mir so leid. Ich stehe da und hoffe, dass sie nicht denkt, ich würde ihrem Baby etwas Schlechtes wünschen.

Aber ich finde die Worte nicht. Mein Hirn ist leer gefegt wie eine Magische Tafel.

»Was ist, Ally?«, fragt sie schließlich. Sie legt die Hände auf ihren dicken Bauch, als müsste sie ihn schützen.

Ich drehe mich um und renne aus dem Klassenzimmer. Den Korridor hinunter und durch die Vordertür hinaus. Die Busse fahren ohne mich ab. Aber vermutlich soll es so sein. Ich verdiene es, laufen zu müssen.

Den ganzen langen Weg. Und ganz allein.

Kapitel 4

Vogel im Käfig

Schließlich erreiche ich die Park Road und gehe ins A. C. Petersen Farm – ein seltsamer Name für ein Restaurant. Drinnen und draußen sind zwar Bilder von Kühen, aber es liegt an einer sehr belebten Straße mit vielen Geschäften. Ich frage mich, ob es irgendwo mitten im Nirgendwo ein Restaurant gibt, das Übervölkerte Stadt heißt.

Meine Mutter wartet bereits. »Wo bist du denn gewesen? Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sagt sie und wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab.

»Ich hab den Bus verpasst und musste zu Fuß laufen.«

Sie schüttelt den Kopf. »Setz dich gleich da hin und mach dich an deine Hausaufgaben«, sagt sie und deutet mit dem Kopf zum Ende des Tresens. Auf dem Platz sitze ich immer. Dort kann sie mich im Auge behalten, sagt sie.

»Willst du mir etwas erzählen?« Sie wirkt müde.

»Sie haben dich angerufen, stimmt’s?«, frage ich.

»Ja. Ich verstehe nicht, warum du das getan hast, Ally.« Sie klingt traurig statt wütend. Was schlimmer ist.

Auf dem Tresen steht ein Tablett voller Eisgläser, die mit knallbuntem Eis gefüllt sind. Erdbeere, Pistazie, Brombeere. Rosa, grün und lila. Diese Farbkombination gefällt mir. Ich überlege mir, welche unmöglichen Dinge ich zum Thema Eis zeichnen könnte. Vielleicht Bäche aus schmelzendem Eis und einen Mann mit einem eistütenförmigen Hut, der in einem Bananensplitboot sitzt und mit einem Löffel rudert.

»Ally? Hörst du mir zu

»Oh. Tut mir leid«, murmele ich und stoße mich mit dem Fuß vom Boden ab, um mich auf dem Barhocker im Kreis zu drehen.

»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich sagen soll.«

Der Chef meiner Mutter sieht sie über seine Brille hinweg an.

Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Mach einfach deine Hausaufgaben. Wir reden zu Hause. Und bitte – hör auf, auf dem Barhocker Karussell zu fahren.«

»Es tut mir leid. Ehrlich. Ich habe wirklich gedacht, diese Karte würde Mrs Hall gefallen.«

»Eine Beileidskarte? Was sollte ihr daran gefallen?« Sie nimmt das Tablett mit den Eisgläsern und entfernt sich.

Ich ziehe ein Buch heraus und öffne es, aber die Buchstaben winden sich hin und her und tanzen herum. Wie schaffen es andere Leute, Buchstaben zu lesen, die sich bewegen?

Also starre ich stattdessen auf die dampfende Flüssigkeit, die in einer Kaffeekanne tröpfelt, und denke an dampfende Vulkane. Und an Dinosaurier, die herumstehen und Kaffee trinken. Sie schauen zu dem riesigen Meteor hinauf, der durch die Luft saust, und unterhalten sich darüber, wie hübsch er ist. Und ich denke, was für ein Glück sie hatten, dass sie nie zur Schule gehen mussten. Ich schnappe mir eine Serviette und beginne, die Dinosaurier zu zeichnen, für mein Buch der Unmöglichen Dinge.

Kurz darauf sehe ich Mamas braun-weiß karierte Schürze vor mir.

Ich blicke auf. »Ich schwöre, dass ich nicht gewusst habe, dass es eine Bei… eine Bei… eine Karte für Tote ist.«

»Eine Beileidskarte«, sagt sie. »Und sie ist nicht für den verstorbenen Menschen, sondern für seine Angehörigen, die ihn vermissen.

»Findest du nicht, dass der Mensch, der gestorben ist, eine Karte mehr verdient als sonst wer?«

Da lacht sie. Sie stützt einen Ellbogen auf den Tresen, hebt die andere Hand und legt sie mir aufs Gesicht. Sie ist warm, und ich bin sehr erleichtert, dass Mama nicht sauer auf mich ist.

»Du bist witzig. Weißt du das?«

Dann zieht sie die Serviette mit den Kaffee trinkenden Dinosauriern zu sich. »Was ist das?«

»Nur so eine Idee für mein Buch der Unmöglichen Dinge.«

Sie sieht mich an. »Ja, dein Opa wusste, dass du Talent hast. Es würde ihn stolz machen, wie eifrig du zeichnest und malst. Und es würde ihm gefallen, dass du dein Skizzenbuch nach Alice im Wunderland benannt hast. Es hat ihm solchen Spaß gemacht, dir dieses Buch vorzulesen.« Sie sieht zu mir hoch. »So wie er es mir vorgelesen hat, als ich jung war.«

Alice im Wunderland – ein Buch über das Leben in einer Welt, in der nichts einen Sinn ergibt, machte für mich absolut Sinn.

»Ich vermisse Opa«, sage ich. Drei Worte voller Traurigkeit.

»Ich auch, Schatz.«

»Es war toll, dass er immer mit uns von Ort zu Ort gezogen ist, wenn Papa woanders stationiert wurde oder im Einsatz war. Es ist ein seltsamer Gedanke, dass er nicht weiß, dass wir wieder umgezogen sind.«

Sie tippt mir auf die Nasenspitze. »Ich wär mir da nicht so sicher, Schatz. Ich denke, er weiß es.«

Im selben Augenblick geht die Glastür auf, und ich höre Stimmen, die ich erkenne. Es sind Shay und Jessica.

Als ich mich umdrehe, sagt Shay: »Ach, sieh mal, wer da ist. Ally Nickerson.«

Sie wissen, dass Mama hier arbeitet, und haben mich schon hier gesehen. Deshalb ist es vermutlich kein Zufall, dass sie hier sind.

»Ally«, sagt Shay. »Du bist nicht in die Klasse zurückgekommen. Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«

Was für ein Witz. Ich drehe mich wieder zum Tresen. Die beiden tuscheln. Dann fragt Jessica: »Warum setzt du dich nicht zu uns?« Ihre Stimme erinnert mich an eine Nadel, die in einem Schokoriegel versteckt ist.

Mama fordert mich mit einer Kopfbewegung auf, mich den beiden anzuschließen. »Geh nur, Schatz. Du kannst eine Pause vertragen.«

Ich werfe ihr den Hör bitte auf – Blick zu, während Shay mit leiser Babystimme das Wort »Schatz« nachäfft.

Mama hat das wohl nicht gehört, denn sie flüstert: »Neue Freundinnen wären gut, Ally. Dir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn du ihnen wenigstens eine Chance gibst.«

Jemand kommt, um die beiden zu einem Tisch zu führen, aber Shay fragt: »Können wir uns einfach an den Tresen setzen?«

Na toll.

Als die beiden Platz genommen haben, sind zwischen ihnen und mir zwei Barhocker frei.

Mama beugt sich zu mir und flüstert: »Warum setzt du dich nicht zu ihnen? Sie gehen auf dich zu, Ally.«

Ja, mit einer Flasche Gift in der Hand.

Ich muss an die Lamas denken, die die Besitzer des Hauses, in dem wir früher wohnten, auf ihrem Grundstück hielten. Ich liebte die Tiere, aber Mama sagte, sie würden unangenehm riechen. Ich flüstere zurück: »Es ist wahrscheinlicher, dass du mir ein Lama als Haustier kaufst, als dass ich mich zu diesen beiden Mädchen setze.«

Sie lächelt schwach. »Wie sollen wir das Lama nennen?«

Ich blinzle und schüttele den Kopf.

Sie seufzt genervt. »Du bist so stur.«

Shay und Jessica schauen zu uns herüber wie zwei Katzen, die ein paar Vögel in einem Käfig beobachten.

Mama zieht ihren Notizblock heraus und geht zu den beiden. »Hallo, Mädels. Was darf ich euch bringen?«

Jessica bestellt sich ein Erdbeereis, aber als Shay ein Schokoladeneis haben möchte, sagt Jessica zu Mama: »Oh, das klingt gut. Ich möchte auch lieber ein Schokoladeneis.« Ich verdrehe die Augen. Typisch Jessica.

Sobald Mama weg ist, ruft Shay: »Ally?«

Ich blicke hinüber.

»Warum hast du Mrs Hall diese Karte geschenkt? Das war echt gemein.«

Da es darauf keine gute Antwort gibt, starre ich auf mein Buch hinab. Ich werde die beiden einfach ignorieren. Ich bin ihr Gestichel inzwischen ja gewohnt.

Jessica lacht. »War deine Mutter immer schon Kellnerin

»Nein«, platze ich heraus. »Früher war sie Astronautin.«

Sie brechen in Gelächter aus. Da lächelt meine Mutter, die drüben am Kücheneingang steht. Sie meint, dass ich mich mit den beiden anfreunde.

»Mein Vater hat ein eigenes Blumengeschäft«, beginnt Jessica. »Und er sagt…«

Shay unterbricht sie. »Vielleicht kannst du auch Kellnerin werden, wenn du erwachsen bist, Ally. Aber kannst du mir die Eissorten vorlesen? Ich hab Probleme damit.« Sie zeigt hinauf zu dem Würfel, der an der Decke hängt und sich langsam dreht. Auf seinen Seiten stehen die Eissorten. Die Bewegung macht das Lesen noch schwieriger.

Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Oh nein! Wissen sie, dass ich nicht lesen kann?

Als sie lachen, erinnere ich mich daran, wie ich letztes Jahr nach meiner Ankunft hier etwas laut vorlesen musste. Ich weiß, ich hätte das nicht tun sollen, aber manchmal sagt mir eine blöde Stimme in meinem Kopf, dass es diesmal besser klappen wird. Dann versuche ich es, doch ich versage jedes Mal.

An jenem Tag las ich vor, dass Makkaroni dreißig Kilometer in der Stunde schwimmen können. Eigentlich stand da Manatis – das sind Seekühe. Die Klasse lachte natürlich, aber der Lehrer auch. Daher tat ich so, als hätte ich das Wort absichtlich falsch gelesen.

Ich stehe auf, laufe hinter den beiden vorbei, um die Ecke und ins Hinterzimmer. Ich soll mich eigentlich nicht da hinten herumtreiben, aber das ist der einzige Ort, an den die beiden mir nicht folgen können. Ich verstecke mich zwischen den hohen Metallregalen, in denen Dosen mit sauren Gurken, Ketchup und scharfer Soße stehen, die größer sind als mein Kopf. Den Rücken an die Wand gepresst, stehe ich da und sehe die Wörter um mich herum. Auf Kisten und Dosen und riesigen Plastikflaschen.

Wörter. Ich entkomme ihnen nie.

Ich denke an die zweite Klasse zurück, als meine Lehrerin einen Haufen Buchstaben aufschrieb und mich fragte, was da stand. Ich hatte keine Ahnung. Aber das war ich gewohnt.

»Das ist dein Name, Ally. Ally Nickerson.«

Wer hätte gedacht, dass eine Zweitklässlerin versteht, was es bedeutet, gedemütigt zu werden.

Ich spüre, dass mir die Tränen kommen, aber ich schlucke sie hinunter, weil ich weiß, dass ich bald gefunden werde. Ich mache mir solche Sorgen, dass die beiden mein Geheimnis kennen, dass mein Magen sich anfühlt, als hätte man mir in den Bauch getreten.

»Ally?«, fragt Mama, als sie um die Ecke kommt. »Deine Freundinnen sind gegangen. Was machst du denn hier hinten?«

Ich kann es ihr nicht sagen. Sie denkt, dass ich Freundinnen habe, und das freut sie.

»Liebes?«

»Ich wollte die Zutaten von Ketchup nachsehen.«

Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt, aber ich laufe an ihr vorbei, bevor sie mir eine weitere Frage stellen kann. Gefolgt von Mama kehre ich ins Restaurant zurück und setze mich neben die leeren Eisgläser von Shay und Jessica. Es kommt mir vor, als hätten sie etwas zu bedeuten. Vielleicht, dass ich im Vergleich zu allen anderen so leer wie diese Gläser bin.

Doch vor allem habe ich beim Anblick dieser Eisgläser das Gefühl, dass dieses Jahr das schlimmste wird, das ich je erlebt habe. Und das will wirklich etwas heißen.

Kapitel 5

Silberdollar und Holznickel