Das Buch
Sind wir auf dem Weg in eine schöne neue Cyberwelt? Vernetzte Haushaltsgeräte und selbstfahrende Autos könnten bald so alltäglich sein wie permanentes Lifelogging und Maschinen, die unsere Gedanken lesen. Wie ist es eigentlich dazu gekommen?
Wie wurden Maschinen nicht nur Ersatz für unsere Muskelkraft, sondern ein unverzichtbarer Begleiter, dem wir sogar das Denken überlassen? Kontrollieren wir noch unsere Maschinen, oder kontrollieren sie längst uns?
In seiner spannenden Kulturgeschichte der Kybernetik schildert Thomas Rid, Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College, wie die wirkmächtigen Mythen entstanden sind, die seit den Siebzigerjahren die Entwicklung des Internets bestimmen.
Der Autor
Thomas Rid, aufgewachsen im württembergischen Aach, forscht und lehrt seit 2011 am Department of War Studies am King’s College London. Davor arbeitete er zehn Jahre in international führenden Think Tanks in Berlin, Paris, Washington und Jerusalem.
Thomas Rid
Maschinendämmerung
Eine kurze Geschichte der Kybernetik
Aus dem Englischen
von Michael Adrian
Propyläen
Die Originalausgabe erscheint 2016
unter dem Titel Rise of the Machines. A Cybernetic History
bei W. W. Norton & Company, New York.
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Für die freundliche Abdruckgenehmigung des von Michael Adrian ins Deutsche übertragenen Gedichts All Watched Over by Machines of Loving Grace von Richard Brautigan (© 1976 Richard Brautigan und 1995 Ianthe Brautigan Swenson) bedanken wir uns herzlich bei der Estate of Richard Brautigan.
ISBN 978-3-8437-1310-8
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
Lektorat: Burkard Miltenberger
Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin
Umschlagmotiv: getty images / James Graham
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort
Was genau bedeutet »Cyber« eigentlich? Und woher kommt dieser seltsame Begriff?
Seit geraumer Zeit werde ich das immer wieder gefragt, von meinen Studentinnen und Studenten am King’s College in London, aber auch von »Cyber warfare«-Offizieren der amerikanischen Luftwaffe oder von Pentagon-Strategen und Kongressabgeordneten. Verschwiegene britische Spione zeigen sich genauso neugierig wie Bankangestellte, Hacker und Wissenschaftler. Sie alle beschäftigt der allgegenwärtige Siegeszug vernetzter Computer und die Frage, was dieser Wandel für unsere Sicherheit und Freiheit bedeutet. Und sie alle fügen das Präfix »Cyber« vor ein bereits bestehendes Wort, wie in »Cyberspace« oder »Cyberkrieg«, damit es technischer klingt, moderner, zeitgemäßer, dringlicher – und manchmal auch ironischer.
Ich hatte keine gute Antwort für sie parat, obwohl ich umfassend über Internetsicherheit – »Cybersecurity« – geschrieben habe. Das war frustrierend. Wie so viele andere konnte ich nur vage auf eine eigenartige Ursprungsgeschichte verweisen, nämlich die aus einem Science-Fiction-Roman von Mitte der achtziger Jahre, William Gibsons Neuromancer. Der Cyberspace war ein Produkt seiner lebhaften Phantasie, so hieß es, und Gibson habe anschließend die Zukunft in seine olivgrüne Reiseschreibmaschine gehämmert, eine Hermes Baujahr 1927. Für Gibson war dieser neue elektronische Raum in der Maschine so bedeutungslos wie suggestiv und damit ein perfekter Ersatz für den Weltraum als phantastische Projektionsfläche, auf der sich die Figuren seiner Romane tummeln konnten. Ihm ging es schlichtweg um eine unverbrauchte Bühne für seine Einbildungskraft. Diese Cyber-Ursprungsgeschichte wurde unzählige Male wiederholt, so wenig plausibel sie auch sein mochte. Eine der größten Sicherheitsbedrohungen des 21. Jahrhunderts wurde immer wieder auf eine erfundene Geschichte um einen Drogenabhängigen zurückgeführt, der sich in halluzinatorische Computernetzwerke flüchtet.
Konnte das stimmen? Das klang so, als hätte im Jahr 1984, als der Roman veröffentlicht wurde, eine Phantasterei das Schwungrad der Technikgeschichte in Gang gesetzt. Eine umfassendere Darstellung war vonnöten, die die kulturellen und technischen Entwicklungen aufzeigte, in die sich Gibsons Roman einfügte. Wie genau hatte der »Cyberspace« den Sprung von seiner einsamen Schreibmaschine ins futuristische und personell gut ausgestattete »Cyber Command« des Pentagons geschafft? 2010 wurde ein rasch wachsender Anteil der Tätigkeit der National Security Agency (NSA) – und ihres britischen Pendants, des Government Communications Headquarters (GCHQ) in Cheltenham – als »cyberbedingt« ausgewiesen, was immer das heißen mochte.
Dann kamen die großen Geheimdienstenthüllungen des Jahres 2013. Die öffentlich gewordenen technischen Fähigkeiten in den Händen von NSA und GCHQ empörten Datenschutzaktivisten und nicht wenige Verbündete – und lehrten einige der gefürchtetsten Nachrichtendienste der Welt Bescheidenheit; »die Leaks zeigten uns eine Kompetenzlücke auf«, wie mir ein chinesischer Geheimdienstoffizier in jenem Jahr in Peking erzählte. China hatte Nachholbedarf. Unterdessen kam es immer häufiger zu massiven Einbrüchen in Computernetzwerke, bei denen ausländische Spione und Kriminelle geistiges Eigentum und sensible persönliche Informationen in rauen Mengen abschöpften. 2015 lag der Umsatz des globalen Markts für Cyber- bzw. Netzsicherheit, auf dem Firmen oft bruchstückhafte Sicherheitslösungen anbieten, mit seinen zweistelligen Wachstumsraten erstmals über 75 Milliarden US-Dollar. Die neuen Bedrohungen werden für so unmittelbar und schwerwiegend gehalten, dass selbst in Zeiten wirtschaftlicher Knappheit und Sparpolitik die diesbezüglichen Haushaltsposten von Regierung und Militär nicht nur vor Einsparungen sicher waren, sondern rasch wuchsen.
Bei all dem blieb die wirkliche Geschichte einer der aufregendsten, teuersten und bedrohlichsten Ideen der Welt ein Rätsel. Woher also kommt »Cyber«? Was ist die Geschichte dieser Idee? Und was bedeutet das Wort eigentlich?
Ich fing an nachzuforschen. Maschinendämmerung ist das Ergebnis.
»Cyber« ist ein Chamäleon. Politiker in Washington denken bei dem Wort an Stromausfälle, die jederzeit ganze Städte ins Chaos stürzen könnten. Nachrichtendienstler in Maryland hingegen an Konflikt und Krieg – und an Daten, die von russischen Verbrechern und chinesischen Spionen gestohlen werden. Manager in der Londoner City verbinden damit massive Sicherheitsverletzungen, Banken, die finanziell bluten müssen, und Unternehmen, deren Ruf im Handumdrehen ruiniert sein kann. Für Erfinder in Tel Aviv beschwört es Visionen von Menschen herauf, die mit Maschinen verschmelzen, von verkabelten Prothesen mit empfindungsfähigen Fingerspitzen und von Silikonchips, die unter zarte menschliche Haut implantiert werden. Science-Fiction-Fans in Tokyo assoziieren es mit einer eskapistischen, aber retropunkigen Ästhetik, mit Sonnenbrillen, Lederjacken und abgenutzten, verschrammelten Geräten. Romantische Internetaktivisten in Boston sehen darin ein neues Reich der Freiheit, einen Raum jenseits der Kontrolle repressiver Regierungen und Polizeiapparate. Ingenieure in München assoziieren es mit stählerner Kontrolle und einem Fabrikbetrieb von der Computerkonsole aus. Alternde Hippies in San Francisco denken nostalgisch an Ganzheitlichkeit und Psychedelika, und wie sie ihre grauen Zellen »antörnten«. Und für die bildschirmsüchtige Jugend dazwischen bedeutet »Cyber« einfach Sex per Videochat. Das Wort verweigert sich der Festlegung auf Nomen oder Präfix. Seine Bedeutung ist genauso schwer zu fassen, schemenhaft und undeutlich. Worin auch immer sie besteht, sie ist immer in Bewegung, sie hat immer mit der Zukunft zu tun und ist zugleich immer schon Vergangenheit.
Dieses Buch erzählt die faszinierende Geschichte einer der folgenschwersten und zentralsten Ideen des 20. Jahrhunderts, einer Idee, deren Vermächtnis mit dem Voranschreiten des 21. Jahrhunderts sogar noch gewichtiger werden dürfte: der Kybernetik. Die Kybernetik war eine allgemeine Theorie der Maschinen, eine eigentümliche wissenschaftliche Disziplin der Nachkriegszeit, die sich darum bemühte, den raschen Einzug des computerisierten Fortschritts zu bewältigen. Von ihrer Geburtsstunde in den vierziger Jahren an drehte sie sich um Computer, Steuerung, Sicherheit und die permanente Weiterentwicklung der Interaktion von Mensch und Maschine.
Als ein entscheidender Moment erweist sich der Zweite Weltkrieg – insbesondere das Luftabwehrproblem, das im Zuge dieser gewaltigen Konfrontation auftauchte. Um die tödlichen neuen Bomber abzuschießen, war die bodengestützte Flugabwehr auf komplexe ballistische Berechnungen angewiesen, die schneller und präziser durchgeführt werden mussten, als menschliche »Rechner« das leisten oder auch nur von den vorab erstellten Schusstafeln ablesen konnten. Man musste also Maschinen für diesen Zweck erfinden. Und bald begannen »mechanische Gehirne« zu »denken«, wie es in der überheblichen Sprache der Zeit hieß. Der Aufstieg der Maschinen hatte begonnen.
Inmitten dieses Geschehens trug sich eine merkwürdige Begebenheit auf dem ausgedehnten Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu. Norbert Wiener, ein exzentrischer Mathematiker, las von Haubitzen und Granaten und war beschwingt: Die Vorstellung, mit Hilfe von ratternden Computern in den blauen Himmel zu schießen, gefiel dem behäbigen Professor. Nach dem Krieg bediente er sich bei Elektroingenieuren und Waffenkonstrukteuren mit einem Wust von Ideen, entwirrte ihn, verpackte ihn neu und warf die so entstandene Theorie mit großzügiger Geste einem begierigen Publikum vor die Füße wie Süßigkeiten einer Horde hungriger Kinder.
Der Zeitpunkt war perfekt gewählt. Am Ende des Jahrzehnts hielten die technologischen Wunder, die aus den Kriegsanstrengungen hervorgegangen waren, nach und nach in Industrie und Privathaushalten Einzug. Jemand musste die neuen Apparaturen und ihre Bestimmung erklären. Dies war die Stunde der Kybernetik, der kühnen Theorie zukünftiger Maschinen und ihres Potentials. Wiener und seine begeisterten Gefolgsleute sollten die Maschine verzaubern; von ihrer eigenen Theorie verführt, statteten sie sie mit Geist und einer Anziehungskraft aus, die ans Kultische grenzte. Ingenieure, Militärplaner, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Aktivisten begannen, ihre Hoffnungen und ihre Befürchtungen auf die neuen Denkmaschinen zu richten.
Der Aufstieg der Maschinen nach dem Krieg spannt einen weiten Bogen, dessen wichtigste Verankerung die Veröffentlichung von Wieners epochemachendem Buch Kybernetik in den späten vierziger Jahren darstellte. Der flapsige Gelehrte mit dicker Hornbrille und Tweedjacke offenbarte die Magie von Rückkopplungsschleifen, von Maschinen, die ihr Verhalten selbst anpassen und die lernen konnten. Von nun an hatten Automaten ein Ziel und konnten sich sogar selbst reproduzieren, zumindest theoretisch. Die Maschine wirkte plötzlich sehr lebendig.
Hieran knüpft sich eine bemerkenswerte Geschichte: Die angesagte neue Disziplin verwandelte im Lauf des nächsten halben Jahrhunderts sogar den Computer selbst – aus Maschinen der gegenseitig zugesicherten Vernichtung des Kalten Krieges wurden »Maschinen voller Liebe und Güte«, wie es in einem berühmten Gedicht hieß. Ab den späten vierziger Jahren zogen kybernetische, sich selbst anpassende Systeme vom Scharlatan bis zum Waffenkonstrukteur jeden in ihren Bann – von der Scientology-Kirche bis hin zur Boeing Corporation, die sich für den Kalten Krieg rüstete. Die Kybernetik versprach, ungelenkte Raketen in ihr Ziel und verwirrte Seelen zur Selbstfindung zu geleiten. Zu Beginn der sechziger Jahre legte sie die Konstruktion von »Exoskeletten« zum Beladen von Atombombern nahe, stiftete aber genauso tiefe Verbindungen zwischen ganzheitlichen Hippies. Sie erhöhte die Abschussraten von Jagdfliegern in Vietnam und »törnte« gleichzeitig San Franciscos Gegenkultur elektronisch an.
Um 1980 öffnete sich ein kybernetischer Raum innerhalb der Maschine, der mythische Ort einer freieren und besseren Gesellschaft – und zugleich eine Zone erbitterter Kämpfe und vermeintlicher Kriege. Diese verflochtene kybernetische Geschichte bestimmt maßgeblich, was wir im 21. Jahrhundert von Technologie, Sicherheit und Freiheit erwarten. Letztlich sollte die – heute oft zu »Cyber« verkürzte – Kybernetik ihrerseits genau die Züge jener mythischen Maschinen annehmen, die sie seit Mitte des Jahrhunderts vorhergesagt hatte: Die kybernetische Idee war selbstanpassend, von ständig wachsender Breite und Reichweite, unkalkulierbar und bedrohlich, zugleich aber verführerisch, voller Versprechen und Hoffnungen sowie stets auf der Flucht in die Zukunft.
Maschinendämmerung ist mein Versuch, sieben verschiedene historische Entwicklungsstränge der Kybernetik in hoher Auflösung darzustellen. Die Hauptstränge dieser Geschichte konzentrieren sich jeweils in einem bestimmten Jahrzehnt, die Kapitel sind daher chronologisch angeordnet, wobei sich die Fragestellungen überschneiden können: Die Themen des Buches sind breit gefächert und reichen von autonomen Robotern, Exoskeletten und Walking Trucks bis zu Virtuelle-Realität-Brillen und Remailers.
Ein Wort zur deutschen Begrifflichkeit: Die Kybernetik war zuerst eine vor allem amerikanisch und britisch inspirierte Disziplin, die sich schließlich international verbreitet hatte. Wieners Wortschöpfung lautet im Original cybernetics. Seit den frühen fünfziger Jahren haben Autoren und Kommentatoren dieses etwas sperrige Wort immer wieder spielerisch zu cyber verkürzt. Im Englischen gestaltete sich der Übergang von cybernetics zu cyber historisch, konzeptuell sowie ästhetisch immer etwas eleganter als im Deutschen. Der Leser sei also auf den Übersetzungseffekt hingewiesen: Was im Englischen als weicher, geschichtlicher Überblendungseffekt erscheint, der sich über drei Jahrzehnte zieht, tritt im Deutschen stets mit übersteigerter Schärfe hervor.
Da die Geschichte der kybernetischen Mythen den Schwerpunkt des Buches bildet, sind einige Bemerkungen zu dieser mythischen Dimension angebracht. Kybernetische Mythen sind tief in in unserem kollektiven Gedächtnis verankert; sie formen unser Verständnis von Technologien auf Schritt und Tritt, auch wenn wir uns dieses Palimpsestes, dieses tiefen und verborgenen Vermächtnisses der Kybernetikgeschichte nicht bewusst sind. Anders als im alltäglichen Gebrauch – wie er sich auch in einer prominenten Tradition der politischen Theorie formuliert findet1 – ist die Rede vom Mythos hier nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass ein faktischer Irrtum vorliegen muss. Mythen widersprechen den Tatsachen nicht, sie ergänzen sie. Die Feststellung, dass etwas als Mythos fungiert, bedeutet nicht, dass es sich »nur« um einen Mythos handelt, im Gegenteil. Politische und technische Mythen sind höchst relevant und haben enorme Auswirkungen. Ein Mythos stellt sich der nackten Tatsache nicht entgegen, vielmehr kleidet er sie, verleiht ihr in gewisser Weise eine zusätzliche Größe und erst dadurch Verführungskraft – in dreierlei Hinsicht.
Erstens greifen Mythen über die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Grenzen von Tatsachen, Erfahrungen und Technologien hinaus. Der Aufstieg der Maschinen wurde immer in die Zukunft projiziert, nicht in die Gegenwart oder Vergangenheit. Empirische Beweise waren stets Mangelware. Das Versprechen der Kybernetik war natürlich weder richtig noch falsch. Keine Version der Zukunft ist falsch oder wahr, bis die vorhergesagte Zukunft – oder ein schwacher Abglanz von ihr – tatsächlich eingetreten ist. Um sich den kybernetischen Erzählungen zu verschreiben, brauchten ihre Anhänger mehr als empirische Beweise: Sie mussten an sie glauben. Der Mythos half ihnen dabei. Von Natur aus ungewiss, camoufliert mit der selbstsicheren Sprache von Wissenschaft und Technik, verschwamm die Grenze zwischen Wissenschaft und Kult im Lauf der Jahrzehnte immer wieder – auf so subtile wie verführerische Weise.
So mächtig war der Mythos, dass ihm seine eigenen Schöpfer immer wieder verfielen. Technologische Mythen haben die Form eines festen Versprechens: Der Cyborg wird gebaut werden; wir werden Maschinen mit übermenschlicher Intelligenz erfinden; der Cyberspace wird frei sein. Der Mythos ist nur im Ansatz durch Tatsachen bestimmt, und doch gibt er sich sicher und unumstößlich. Er tritt auf wie ein empirischer Beweis. Der technologische Mythos ist Glaube im Gewand der Wissenschaft.
Zweitens bestechen kybernetische Mythen nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form. Die Grundlage des Mythos scheint eine ganz auf Erfahrung beruhende, unschuldige und unbezweifelbare Realität zu sein: Computer werden immer schneller, Maschinen immer vernetzter, Verschlüsselungstechniken immer stärker. Zugleich aber macht der Mythos einen Sprung und konstruiert eine Bedeutung von ganz eigentümlicher und stets emotionaler Form. Solche Mythen sind deshalb schlüssig, weil sie an tiefe Überzeugungen, Hoffnungen und oft auch Ängste appellieren, die wir mit der Zukunft der Technologie und ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft verbinden.
Diese Überzeugungen sind durch Visionen und Projektionen geprägt, durch Kultur, Kunst, Literatur, Science-Fiction, Theaterstücke, Filme und Geschichten. Doch bedient sich der Mythos gerne stillschweigend bei literarischen Quellen, ohne diesen kulturellen Trick offenzulegen. So bezog beispielsweise die amerikanische Diskussion über die nationale Sicherheit in den neunziger Jahren ihre Inspiration aus Science-Fiction-Romanen. Manchmal waren es sogar die nüchternen Experten selbst, die Romane verfassten, um dystopische Visionen zukünftiger Konflikte frei von der unerträglichen Bürde der Tatsachen auszubuchstabieren. Die Kryptoaktivisten der neunziger Jahre, eine Bewegung glühender und einflussreicher Eiferer, die die mannigfaltigen Segnungen einer Verbreitung von Verschlüsselungstechniken anpriesen, empfahlen ungeniert Science-Fiction-Geschichten als »Quellen« und wichtigste Inspiration für die anzustrebende Anarchie im »Cyberspace«.
Das dritte und entscheidendste Merkmal kybernetischer Mythen besteht darin, dass sie die Gegenwart überschreiten. Mythische Erzählungen schlagen für gewöhnlich einen Pfad von der Vergangenheit in die Zukunft, um die geteilten Erfahrungen einer Gemeinschaft in lebendiger Erinnerung zu behalten. Politische und historische Mythen wie etwa die der deutschen Luftangriffe auf die Londoner City während des »Blitzes« sind vor allem fest in der Vergangenheit verankert. Der politische Mythos zieht eine klare Linie von einem vergangenen Ereignis in die Zukunft und versteht die Gegenwart als einen Punkt auf dieser Linie. Er bildet das Bindegewebe der zeitübergreifenden Identität einer Gemeinschaft. Der Mythos vom »Blitz« etwa wird immer wieder in Gottesdiensten in der St.-Pauls-Kathedrale und jährlichen Flugparaden über der Stadt heraufbeschworen.
Für kybernetische Mythen gilt das Gegenteil: Sie sind fest in der Zukunft verankert, oder genauer, in einer geteilten, aber vagen Vorstellung von dieser Zukunft – die nicht zu nah und nicht zu fern sein darf. Der goldene Zeitabstand scheint bei rund zwanzig Jahren in der Zukunft zu liegen, was nahe genug ist, um das Künftige von der Vergangenheit abzuleiten, und gleichzeitig fern genug, um kühne neue Zukunftsvisionen zuzulassen. Das Resultat ist nicht weniger effektiv als beim politisch-historischen Mythos. Der technologische Mythos zieht eine klare Linie aus der Zukunft in die Vergangenheit und versteht die Gegenwart als einen Punkt auf dieser Linie.
Der Mythos der Kybernetik erzeugte stets die wirkmächtige Illusion, die Zukunft ließe sich voraussagen. Glaubt mir, sagt der Mythos, so wird die Zukunft aussehen. Dies ist keine Fiktion oder Wahrsagerei, sondern eine schlichte Tatsache, die nur noch nicht eingetreten ist. Um sich einen technologischen Mythos als effektiven und gangbaren Weg in die Zukunft zu bewahren, muss das mythische Versprechen immer wieder erneuert werden, so dass es seine spirituelle Überzeugungskraft aufbaut und bewahrt. Es erfordert »Arbeit am Mythos«, wie der Philosoph Hans Blumenberg in seinem gleichnamigen Buch so treffend bemerkte.2
An diesem Punkt setzt Maschinendämmerung an. Jener mythische Pfad in die Zukunft kann schnurgerade sein und klar markiert wirken, oder er kann verworren sein, sich zurückwenden, statt weiter voranzuführen, und auf Hindernisse stoßen, die bereits überwunden waren. Kurz gesagt: Die Arbeit am Mythos kann Irrtümer der Vergangenheit wiederholen oder überwinden. Sie kann vernebeln oder erhellen, rückschrittlich oder fortschrittlich sein, eine Falle oder ein Ausweg. Dieses Buch versteht sich als Arbeit am Mythos.
Thomas Rid, London,
im Februar 2016
Der Aufstieg der Maschinen
Noch einmal das Gepäck überprüfen. Endlose Wege im Flughafen zurücklegen. Den Ausweis griffbereit halten. Schlange stehen an der Sicherheitsschleuse, dann Schuhe und Gürtel ausziehen. Warten am Gate. Schließlich das Ritual des Boardings: Gruppe 3. Sitz 37B. Den Rollkoffer ins Gepäckfach hieven. Gedränge, die Luft ist stickig, die Sitze sind zu schmal, die Bildschirme fürs Bordfernsehen zu klein. Die Chromschnalle des Sicherheitsgurts rastet ein und mit dem metallischen Klick schießt einem der scharfe Gedanke in den Kopf: Sobald sich die Räder von der Startbahn lösen, wird das eigene Leben für die nächsten acht Stunden von dieser Maschine abhängen. Von ihren Motoren, ihrem Rumpf, ihren Rudern und Klappen, ihren Instrumenten, ihrer Luftzufuhr, ihrem Navigationssystem, ihrem Fahrgestell, ihren Computern samt Software und weiß Gott was noch allem. Man ruft sich in Erinnerung, dass Fliegen statistisch gesehen sicherer ist, als über die Straße zu gehen. Doch es bleibt eine nervenaufreibende Tatsache: Man hat soeben sein Leben, das einzige, das man hat, einer mit Elektronik vollgestopften Black Box anvertraut, die in einer Höhe von 10000 Metern durch Luft fliegt, die man nicht atmen könnte, und dabei eine Strecke von 3000 Kilometern über todbringendem offenen Wasser zurücklegt. Und nichts daran ist mehr zu ändern.
Im Laufe der nächsten acht Stunden vergisst man dieses Unbehagen, während man sich von einem seichten Film berieseln lässt. Wenn das Flugzeug schließlich auf der Landebahn aufsetzt und mit einem kräftigen Ruck das Bremsmanöver einleitet, fühlt man sich für einen Moment daran erinnert, dass man – endlich – das Geschehen fast wieder unter Kontrolle hat. Während die Maschine zum Gate rollt, holen die Passagiere, wie zur Feier des Augenblicks, ihre Handys heraus. Man schaltet den Flugzeugmodus aus und wartet auf das vertraute Symbol des Mobilfunkbetreibers. Sobald das Handy Empfang hat, gehen ein paar Benachrichtigungen ein. Ein verpasster Anruf. Eine Kurznachricht von einem geliebten Menschen. E-Mails. Spam wegwischen. Ein kurzer Blick in ein soziales Netzwerk. Bevor man auch nur aus dem Flugzeug ausgestiegen ist, weiß man schon, dass die Person, die einen abholt, mit ein paar Minuten Verspätung eintreffen dürfte. Man weiß, was der eigene Freundeskreis so getrieben hat und was die Kollegen gelesen haben, während man selbst über Grönland schwebte.
Maschinen verkörpern Kontrolle. Maschinen verhelfen Menschen zu mehr Kontrolle: Kontrolle über ihre Umwelt, Kontrolle über ihr eigenes Leben, Kontrolle über andere. Um durch Maschinen Kontrolle zu erlangen, müssen wir diese freilich an die Maschinen abgeben. Das Werkzeug zu nutzen heißt, dem Werkzeug zu vertrauen. Und immer leistungsfähigere, immer kleinere, immer stärker vernetzte Computer haben unseren Instrumenten zu immer mehr Autonomie verholfen. Wir verlassen uns auf das Gerät, das Flugzeug wie das Smartphone, und vertrauen ihm unsere Sicherheit und unsere Privatsphäre an. Die Belohnung: Ein Apparat fungiert als Erweiterung unserer Muskeln, unserer Augen und Ohren, unserer Stimmen und Gehirne.
Maschinen verkörpern Kommunikation. Ein Pilot muss mit dem Flugzeug kommunizieren, um es fliegen zu können. Aber auch das Fluggerät muss mit dem Piloten kommunizieren, um geflogen werden zu können. Zusammen bilden sie eine Einheit: Der Pilot kann nicht ohne Flugzeug, das Flugzeug nicht ohne Piloten fliegen. Doch handelt es sich dabei nicht mehr um isolierte Gebilde aus Mensch und Maschine. Die Beschränkung darauf, dass ein Mensch und eine Maschine mechanisch durch Steuerknüppel, Gashebel und Messinstrumente verbunden sind, gibt es nicht mehr. Vielmehr enthalten die Maschinen einen – oder viele – Computer und sind mit anderen Maschinen in einem Netzwerk verbunden. Das bedeutet, dass viele Menschen mit vielen und durch viele Maschinen zusammenwirken. Das Bindegewebe ganzer Gemeinschaften ist mittlerweile technisiert. Apparaturen sind nicht bloß mechanische Erweiterungen unserer Muskeln und Gehirne, sie sind Erweiterungen unserer Beziehungen zu anderen, zu unseren Familien, Freunden, Kollegen und Landsleuten. Die Technik spiegelt diese Beziehungen wider und prägt sie zugleich.
Kontrolle und Kommunikation begannen sich im Zweiten Weltkrieg grundlegend zu verändern. Damals kam ein Begriff auf, um diesen tiefgreifenden Technikwandel zu erfassen: Die Kybernetik. Norbert Wiener, ein notorisch exzentrischer Mathematiker am MIT, prägte den Begriff, ausgehend von dem griechischen Verb κυβερνώ (kyvernó), das steuern, lotsen oder herrschen bedeutet.1 Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine,2 Wieners bahnbrechendes Buch, erschien im Herbst 1948. Das Werk wartete mit allerhand tollkühnen Prophezeiungen über Maschinen auf, die sich selbst anzupassen verstünden, die denken und lernen und irgendwann klüger sein würden als »der Mensch«. Respekteinflößende mathematische Formeln und ein imponierender technischer Jargon verliehen Wieners wagemutiger Analyse eine unwiderstehliche Glaubwürdigkeit. Zur Überraschung seiner Verleger wurde das Werk ein Bestseller. »Alle Jubeljahre einmal erscheint ein wissenschaftliches Buch, das in einem Dutzend verschiedener Wissenschaften sämtliche Glocken läuten lässt«, hieß es im Dezember jenes Jahres in einer enthusiastischen Besprechung im Time-Magazin.3 Die Zeitschrift brachte später sogar eine Titelgeschichte über die »ungeheuer aufregende« neue Disziplin, die mit der Karikatur eines als Marineoffizier verkleideten Mark-III-Computers illustriert war: »The Thinking Machine«.4
Die Öffentlichkeit feierte Wiener als den Propheten einer zweiten industriellen Revolution. In der ersten hatten Motoren und Fertigungsmaschinen die menschlichen Muskeln ersetzt; jetzt, in der zweiten Revolution, würden Steuer- und Kontrollmechanismen die menschlichen Gehirne ersetzen, schwärmte Time: »Sie schlafen nie und sind auch nie krank, betrunken oder müde. Wenn solche Mechanismen fachgerecht konstruiert werden, begehen sie keine Fehler.« Wiener sollte in seinen eigenen Schriften zu ähnlich hochfliegenden Vergleichen greifen. Sowie die Menschen bessere Rechenmaschinen konstruieren würden, erklärte er, und ihre eigenen Gehirne besser verstünden, würden sich beide immer ähnlicher werden. Das Magazin verhehlte auch nicht den Pessimismus des MIT-Professors angesichts des heraufziehenden kybernetischen Zeitalters: »Der Mensch, glaubt er, erschafft sich neu, in monströser Vergrößerung und nach seinem eigenen Bilde.«5
Wiener hatte einen außergewöhnlichen Strauß von Ideen, die zutiefst praktisch und zutiefst philosophisch zugleich waren. Es war kein Zufall, dass die neue Disziplin im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen der vierziger Jahre aufkam: Die Geschwindigkeit des Kampfgeschehens beschleunigte sich im Zweiten Weltkrieg vor allem im Bereich der Luftwaffe dramatisch. Bomber und Kampfflugzeuge abzuschießen erforderte schnellere und komplexere ballistische Berechnungen, schnelleres und gezielteres Artilleriefeuer sowie eine schnellere und immer ausgedehntere Kommunikationstechnik. Der Krieg wurde zum Vater einer Palette an Innovationen, die die Beziehung von Menschen zu Maschinen, insbesondere zu Computern, für immer verändern sollten.
Die Kybernetik entstand in Reaktion auf diese Neuerungen. Eine immer größer werdende Schar von Wissenschaftlern entwickelte schon bald eine »allgemeine Maschinentheorie« – nicht nur eine Theorie der Maschinen, die es bereits gab, sondern eine Theorie aller Maschinen, einschließlich derer, die noch gar nicht erfunden worden waren.
Maschinen verkörpern auch die Zukunft. Und die Kybernetik war, gestählt durch den Krieg, das Instrument, mit dessen Hilfe eine Zukunft immer intelligenterer Automaten entworfen und vorhergesagt werden konnte. Zwei gegensätzliche Kräfte prägten die Diskussion über die kybernetischen Prophezeiungen. Die erste war geleitet von der Hoffnung auf eine bessere und friedlichere Welt, auf humanere Arbeitsbedingungen, auf unterhaltsamere Spiele, auf eine unabhängigere Politik und auf weniger blutige Kriege. Denkende Maschinen brachten Fortschritt, in jenem damals anschwellenden, zutiefst modernistischen Zukunftsglauben.
Aber auch eine entgegengesetzte Kraft prägte die kybernetischen Visionen des kommenden technologischen Wandels: die Angst vor einer Welt voller Roboter, die die Arbeiter um ihre Erwerbsquelle bringen, vor intelligenten Maschinen, die sich gegen ihre menschlichen Erschaffer auflehnen, vor lebenswichtigen Systemen, die zusammenbrechen, vor Massenüberwachung und dem Verlust der Privatsphäre, vor einem mechanisierten Rückschritt. Ein im Grunde modernistisches Spannungsverhältnis begann sich abzuzeichnen zwischen Optimismus und Pessimismus, Befreiung und Unterdrückung, zwischen Utopie und Dystopie.
Das vorliegende Buch untersucht, was es heißt, die Kontrolle Maschinen zu überlassen und mit ihnen sowie mittels ihrer zu interagieren. Befreien die Maschinen die Menschheit endlich von der Notwendigkeit, schmutzige und monotone Arbeiten zu verrichten, in zermürbenden Verkehrsstaus zu stehen, und machen sie Arbeit, Leben und Freizeit sozialer, vernetzter, aber auch sicherer? Oder schlafwandeln unsere modernen Gesellschaften in eine gefährliche »schöne neue Welt« hinein, die allmählich ihrer Kontrolle entgleitet? Schaffen wir ungewollt vernetzte Ökonomien, die uns buchstäblich in unsere Taschen greifen und die jeden Moment jäh zum Stillstand kommen, ja uns womöglich an ihren automatisierten Knotenpunkten um die Ohren fliegen könnten? Welche Risiken gehen hochentwickelte Gesellschaften ein, wenn sie die Kontrolle immer weitgehender in die virtuellen Hände immer stärker vernetzter und scheinbar immer intelligenterer Maschinen legen?
Niemand kann diese Fragen beantworten. Diese Zukunft hat noch nicht stattgefunden. Aus heutiger Sicht ist die Zukunft verschwommen, dunkel, formlos. Aber die Fragen nach ihr sind nicht neu. Die Zukunft der Maschinen hat eine Vergangenheit. Und um unsere Zukunft mit den Maschinen zu beherrschen, müssen wir unsere Vergangenheit mit den Maschinen beherrschen. Wenn wir zwanzig, vierzig oder sogar sechzig Jahre zurückblicken, zeichnet sich die zukünftige Nachwelt in schärferen Konturen ab, mit der übertriebenen Deutlichkeit einer Karikatur, die ihre bezeichnendsten und markantesten Merkmale drastisch hervorhebt. Eine treibende Kraft bei der Gestaltung dieser Charakteristika war die Kybernetik. Die besagte kybernetische Spannung zwischen dystopischen und utopischen Visionen ist bereits sieben Jahrzehnte alt. Und doch wird die Geschichtsschreibung der wirkmächtigsten Ideen zur Zukunft der Technik oft vernachlässigt. Sie geht nicht wie Diplomatie und Außenpolitik in die Archive ein.
Für sehr lange Zeit herrschten utopische Vorstellungen vor – seit Wieners Tod im März 1964 bestimmte die blauäugige Vorstellung von einer besseren, automatisierten, computergestützten, grenzenlosen, vernetzten und freien Zukunft die Liebesaffäre des Menschen mit der Maschine. Maschinen, unsere eigenen kybernetischen Schöpfungen, würden die angeborenen Schwächen unseres mangelhaften Körpers, unseres fehlbaren Geistes und unserer schmutzigen Politik überwinden können. Der Mythos der sauberen, unfehlbaren und übermächtigen Maschinen war übersteuert, aus dem Gleichgewicht geraten. Diese kybernetische Übersteuerung fand insbesondere in Kalifornien in den siebziger und achtziger Jahren einen kulturellen Resonanzboden, der bis heute in der globalen Technikbegeisterung mitschwingt und ihr unerwartete Tiefe gibt.
Doch in den neunziger Jahren kehrte die Dystopie zurück. Die Vorstellung eines digitalen Kriegs, Konflikts oder Missbrauchs, der Massenüberwachung und des Verlusts der Privatsphäre kann – auch wenn sie weithin übertrieben wird – als entscheidendes Korrektiv für den überwältigenden utopischen Reiz der Maschine dienen. Allerdings nur dann, wenn die durch den kybernetischen Mythos verdeckten Widersprüche offengelegt werden. Die Enthusiasten, die hoffnungsfroh dem Hype nachgaben, überschätzten die Möglichkeiten der neuen und sich abzeichnenden Computertechnologien. Viele nahmen das technische Heilsversprechen wörtlich und erwarteten ungeduldig die kommende gesellschaftspolitische Utopie. Die Skeptiker, die oft von Furcht und schlimmen Vorahnungen lebten, überschätzten die dystopischen Auswirkungen dieser Technologien und prophezeiten die kommende Apokalypse. Manchmal vereinten sich Hoffnung und Furcht sogar, besonders im Schattenreich von Spionen und Generälen. Fehlgeleitete Zukunftsvisionen wurden und werden indes schnell vergessen und im Mülleimer der Ideengeschichte entsorgt. Doch ignorieren wir sie auf eigene Gefahr. Unwissenheit ist nämlich mit dem Risiko verbunden, dieselben Fehler zu wiederholen.
Die Kybernetik ist zweifellos eine der großen Ideen des 20. Jahrhunderts, eine veritable Maschinenideologie, die aus dem ersten wahrhaft globalen industriellen Krieg hervorging, der selbst ideologisch motiviert war. Wie alle großen politischen Ideen war sie quecksilbrig genug, um mehrfach ihre Gestalt zu ändern, während sie im Laufe ihrer gewundenen Entwicklung Jahrzehnt für Jahrzehnt neue Schichten anlagerte. Diese Schichten, die wie in einen kulturtechnischem Palimpsest immer wieder beinahe vollständig ausradiert und überschrieben wurden, möchte das vorliegende Buch sichtbar machen. Es ist nämlich diese fast vergessene historische Tiefe, die auch heute noch in der allgegenwärtigen Verwendung des Wortes »cyber« durchscheint, jener schillernden und zugleich hochelastischen Kurzform des englischen »cybernetic«.
Seine Vorgeschichte beginnt, als sich deutsche Bomber im Sommer 1940 auf dem Weg nach London in den Himmel erheben. Der Krieg mit seinen gigantischen Forschungsanstrengungen bildete den entscheidenden Hintergrund für den schwindelerregenden Aufstieg der Kybernetik und die von ihr ausgelösten Hoffnungen und Befürchtungen, wie das erste Kapitel, »Kontrolle und Kommunikation im Krieg«, umreißt. Das zweite Kapitel, »Kybernetik«, zeichnet den anfänglichen Aufstieg der neuen Disziplin nach. Jedes der verbleibenden sieben Kapitel widmet sich den Hauptthemen aus der weitschweifenden Geschichte der Kybernetik und richtet sich dabei grob an dem Jahrzehnt aus, in dem es aufkam.
Die fünfziger Jahre erlebten eine blauäugige Debatte über die Automatisierung, die zwischen Schwarzmalen und Verklären oszillierte und in der die Optimisten schließlich die Oberhand über die Pessimisten gewannen. Ab 1960 beflügelte ein weiterer kybernetischer Mythos die populäre Phantasie: Mechanisierte Organismen würden die Menschen nunmehr in die Lage versetzen, das Werk ihres eigenen Schöpfers zu verbessern, und die Maschinen wiederum dazu befähigen, das Werk der Menschen zu vervollkommnen. Endlich schien der Mensch nun in der Lage, den Übermenschen zu schaffen. In den siebziger Jahren entdeckte die Gegenkultur das heilsame, sich immer wieder erneuernde und spirituell befreiende Potential der Kybernetik, der »Maschinen voller Liebe und Güte«, in der bekannten Wendung eines Hippiepoeten: »the Machines of Loving Grace«.6 Dieser Perspektivwechsel war der Anlass für eine noch kuriosere Entwicklung. In den achtziger Jahren kam die berauschende Idee auf, dass vernetzte Computer den Zugang zu einem neuen, unbekannten, wahrhaft freien und gesetzlosen virtuellen Raum ohne Grenzen eröffneten. In den Neunzigern wurde dieser Gedanke mit der Verbreitung allgemein zugänglicher Kryptographie politisch: Maschinen, die von den richtigen Algorithmen gespeist wurden, vermochten eine überlegene und wahrhaft libertäre politische Ordnung zu schaffen, die Kryptoanarchie. Als sich das Jahrhundert schließlich dem Ende neigte, fand eine abrupte Rückbesinnung statt und der maschinelle Niedergang rückte in den Vordergrund. In den späten neunziger Jahren kehrte die Dystopie zurück, und der letzte kybernetische Mythos zeigte seine hässliche Fratze: der Krieg. Schadsoftware konnte ganze Nationen in die Knie zwingen und das Wesen militärischer Konfrontationen für alle Zeiten verändern. Der lange Fall der Maschinen hatte begonnen.