Alexa Hennig von Lange
Je länger, je lieber
Roman
C. Bertelsmann
1. Auflage
Copyright © 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: buxdesign, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-06096-1
www.cbertelsmann.de
»Und die See wird allen neue Hoffnung bringen,
so wie der Schlaf die Träume bringt daheim.«
Christoph Kolumbus
1
Cadaqués, 1928
Der Sommer an der spanischen Küste war beinahe vorüber. Das blond gelockte Mädchen saß im Matrosenanzug vor einer großen Staffelei. Den Pinsel in der einen, die Farbpalette in der anderen Hand, blickte Clara konzentriert auf die weiße Leinwand. Gleich würde sich das Bild zeigen, das von ihr gemalt werden wollte. So geschah es immer. Es tauchte aus dem Nichts auf und breitete sich wie ein farbiger Schimmer über die Leinwand aus, den nur sie sehen konnte. Ihre Aufgabe war es, die Linien und Flächen für alle anderen sichtbar zu machen. Darin bestand ihr ganzes Talent. Sie hatte keine Ahnung, wie dieser seltsame Zauber funktionierte. Er begleitete sie seit jeher, und darum verbrachte sie nun schon den vierten Sommer in Folge bei Emilio Casados, dem eigentlichen Herrscher über das Atelier.
Er war ein berühmter Maler, der ihr das nötige Handwerk beibringen sollte. Dafür zahlten ihre Eltern, die seine Kunsthändler in Deutschland waren, viel Geld. Denn aus dem blond gelockten Mädchen sollte ihrem Wunsch nach ebenfalls eine große Künstlerin werden.
Clara hatte nicht viel Zeit. Ihr strenger Lehrer war mit seiner Frau Gala und seiner Tochter Daria hinunter in die Stadt gefahren, um ein paar Besorgungen fürs Wochenende zu machen. Seine Abwesenheit wollte sie verbotenerweise nutzen, um ihr erstes Gemälde ohne seine Anleitung zu malen. Schon am Nachmittag würde Casado zurück sein. Und es war nicht klar, wie er reagieren würde, wenn er sie hier in seinem Heiligtum erwischte. Obwohl er große Stücke auf ihr Können hielt, war er auch nach vier Sommern noch immer der Auffassung, dass die Zeit längst nicht reif war für ein eigenes Gemälde. Clara sollte skizzieren und zeichnen, nicht mit Farbe arbeiten. Das wollte er auf den nächsten Sommer verschieben. Dabei kribbelte es ihr so sehr in den Fingern, in ihren Eingeweiden. Es war unmöglich, das farbige Bild noch länger zurückzuhalten. Sie wollte es für Daria zum Abschied malen, ihre große Schwester im Geiste. Ihr Idol. Casados Tochter, drei Jahre älter als Clara, war schön, wild und ungestüm. Sie war anziehend und weiblich. Sie war genau das Gegenteil von Clara, die noch als Dreizehnjährige in Matrosenanzügen herumlief und ihre blonden Locken kurz trug. Und doch verband die beiden Mädchen eine enge Freundschaft, in der sie jedes Geheimnis miteinander teilten.
Aus den Augenwinkeln sah Clara aus den Atelierfenstern hinaus aufs Meer, das in der Brise des jungen Tages glitzerte. Die Möwen kreischten über der Bucht, in deren sanften Wellen sich die Segelboote wiegten. Dort draußen sprangen Daria und sie in den Abendstunden über die Klippen und schworen sich, wenn eine von ihnen den steilen Fels hinunterstürzte, würde die andere ihr nachspringen, um sie zu retten. Sie spielten viele dieser gefährlichen Spiele, bei denen sich die eine für die andere in der Fantasie opfern musste.
»Ich bin verliebt«, hatte Daria ihr neulich ins Ohr geflüstert, als sie in der sengenden Mittagshitze unter einem umgedrehten Ruderboot am Strand gelegen hatten. Ganz dicht war sie in ihrem Badeanzug an Clara herangerückt und hatte sie mit leuchtenden Augen angesehen. »Niemand darf jemals davon erfahren«, hatte sie kaum hörbar geflüstert. »Aber er liebt mich auch!«
»Ist es Jacques?«, hatte Clara beunruhigt gefragt. Der hübsche Sohn des Weinbauern Aurelio Barreto, der einmal in der Woche mit dem Pferdekarren kam, um Casado den Wein zu bringen, war für sie zu einem Freund geworden. Sobald er die Flaschen in den Keller hinuntergetragen hatte, plauderten er und Clara im Schatten der Olivenbäume und brachten, im Haus sitzend, einander ihre Sprachen bei. Jacques, mit den dunklen Locken und den grünen Augen machte erstaunliche Fortschritte, und mit jedem Wort, das sie einander lehrten, kamen sie sich näher, bis sich ihre Knie beinahe berührten.
Doch zur Auflösung von Darias Geheimnis war es an jenem Mittag nicht mehr gekommen. Gala hatte von den Felsen zu ihnen nach unten in die Bucht gerufen. Später hatte Daria plötzlich keine Lust mehr gehabt, Clara zu verraten, in wen sie heimlich verliebt war. Alles Betteln hatte nichts genutzt. Wenn es nur nicht Jacques war! Diese Vorstellung versetzte Clara augenblicklich einen erneuten Stich. Wieso teilte ihre Freundin jedes Geheimnis mit ihr – nur nicht dieses? Weil Daria wusste, was Clara insgeheim für Jacques empfand? Clara holte tief Luft. Nein! Daria würde ihr das niemals antun. Sie war ihre beste Freundin. Sie hatten sich geschworen, das eigene Leben für die andere zu opfern. Wer also war es, in den Daria verliebt war? Würde sie Clara noch den Namen des Jungen erfahren, bevor sie morgen mit dem Schiff nach Deutschland zurückkehrte?
Plötzlich schlug unten die Haustür. Waren Casado und seine Frauen schon zurück? So schnell? Unten am Fuß der Treppe hörte sie Daria und Gala miteinander flüstern. Lautlos glitt Clara über den Kokosteppich zur angelehnten Ateliertür. Irgendetwas musste passiert sein. Mit angehaltenem Atem blickte sie um die Ecke. Unten stand Gala in weißer langärmliger Bluse und bodenlangem, schmalem Rock. Aufgeregt wedelte sie sich mit ihrem Fächer Luft zu. Ihre Tochter kauerte vor ihr auf dem Teppich, den Strohhut auf den Knien. Ihr Körper wurde durch heftige Schluchzer erschüttert.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, wisperte Gala fassungslos.
Für einen Augenblick war es unerträglich still im Haus. Darias Schultern zitterten. Statt einer Antwort kam ein schmerzerfülltes Schluchzen. Noch nie hatte Clara ihre Freundin in diesem Zustand gesehen. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie die Stufen hinunter. Bevor sie wieder hinter dem Türrahmen verschwinden konnte, hob Daria ihren Kopf mit dem in Wasserwellen gelegten dunklen Haar und sah Clara aus verweinten Augen an, als flehte sie um Hilfe. Ihr Blick ließ Clara erschaudern. Es war der entsetzte Blick einer Todgeweihten.
Draußen auf dem Hof waren Schritte zu hören, die über den weißen Kies eilten. Sofort raffte Gala ihre Röcke und war schon dabei die Treppe hinaufzuflüchten. Gerade noch gelang es Clara, sich ins Atelier zurückzuziehen und sich hinter der Staffelei zu verstecken. Ihr Herz raste. Hoffentlich entdeckte Gala sie nicht! Sie konnte sehr unangenehm werden, wenn sie aufgebracht war. Doch sie rauschte an der offenen Ateliertür vorbei ins Schlafzimmer, wo die Kanarienvögel in ihrem Käfig aus Bambusrohr aufgeregt zwitscherten.
Die Tür fiel mit einem Knall ins Schloss.
Clara starrte auf die weiße Leinwand. Sie musste so schnell wie möglich aus dem Atelier verschwinden, bevor Casado kam. Noch hatte sie keine Spuren hinterlassen. Unten im Haus war seine dröhnende Stimme zu hören. »Gala?«
Kurz darauf eilte der Künstler in seinem hellen Leinenanzug am Atelier vorbei, wo er seine Schülerin sitzen sah. Clara hielt die Luft an. Aber er sagte nichts, sondern nickte ihr nur kurz zu. Einen Augenblick später tauchte Daria mit verquollenem Gesicht in der Tür auf. Zögernd kam sie näher und stellte sich neben das Regal mit den Farbtöpfen und Pinseln. Sie lächelte sanft. »Ola, mia baja brava hada.«
»Ola, Daria.« Clara lächelte nun auch. Sie mochte es, wenn Daria sie so nannte: kleine mutige Fee. Von außen wirkte sie wieder ganz ruhig. »Darf ich mir was wünschen?« Daria kam näher und hockte sich neben Clara. Ihr dunkles, welliges Haar schimmerte im Licht, als sie ihren Kopf auf Claras Schoß legte.
»Ja, bitte! Wünsch dir was.« Clara strich ihr sanft über das Haar. Sie würde alles für ihre Freundin tun. Doch nur unter einer Bedingung.
»Un ángel«, flüsterte Daria. »Mal mir einen Engel, meine kleine unschuldige Fee.«
»Sagst du mir dann, in wen du verliebt bist?«, flüsterte Clara zurück und spürte, wie Darias gesamter Körper augenblicklich erstarrte.
2
Waldblütenhain, 2013
Mimi stand mit dunklen Ringen unter den Augen in der spärlich erleuchteten Eingangshalle der Villa und starrte abwesend auf das Gemälde, das ihre Großmutter als junges Mädchen bei einer befreundeten Künstlerfamilie in Spanien gemalt hatte. Es zeigte einen Engel im schneeweißen, bodenlangen Kleid mit schwarzem, welligem Haar, das ihm wie flüssiger Teer über die Schultern glitt. Seltsames Haar für einen Engel, dachte Mimi. Normalerweise hatten die doch goldenes. Seit ihrer Kindheit gruselte sie sich vor diesem Bild. Als würde es ein düsteres Geheimnis verbergen, das es auch beim intensiven Betrachten nicht bereit war zu lüften. Unter dem schweren Goldrahmen wucherten wilde Blumenranken hervor, die sich um den hilflosen Engel schlangen. Die Ranken beherrschten die Fläche mit solch einer Kraft, als wollten sie sich irgendwann im ganzen Haus ausbreiten.
Mimi fröstelte. Es war weit nach Mitternacht. Sie war müde. Sie wollte nach Hause ins Bett, stattdessen stand sie hier in dem größtenteils unbewohnten Haus ihrer Großmutter herum, das auf einer Lichtung mitten im Wald lag. Gerade noch hatte sie in der Stadt mit amerikanischen Sammlern bei einem Abendessen in der Galerie zusammengesessen. Von hier aus schien das unendlich weit weg zu sein, aber von hier aus schien alles unendlich weit weg zu sein.
In einem der vielen Zimmer im ersten Stock hatte Clara einst das Licht der Welt erblickt. Und nichts hatte sich seither verändert. Kein Raum war umgebaut, kein Möbelstück hinzugefügt worden. Sie lebte hier wie im Museum ihrer Kindheit, dabei war sie inzwischen fast hundert. Mimis Kindheit dagegen war von einem Tag auf den anderen zu Ende gegangen, als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren.
Durch die Salontür hörte Mimi die zittrige Stimme des alten Doktor Medler, den die beinahe ebenso alte Haushälterin Margarete aus dem benachbarten Ort gerufen hatte. In letzter Zeit spielte Claras Herz verrückt. Als hätte es keine Lust mehr, auch nur einen einzigen weiteren Schlag zu tun. Doch dann entschied es sich um und schlug weiter, als wäre nichts geschehen. Diese nächtlichen Alarmrufe gingen Mimi langsam an die Substanz. Auch wenn ihre Großmutter längst ein Alter erreicht hatte, in dem man gehen durfte, fürchtete Mimi sich vor diesem Tag. Clara war nicht nur die letzte Überlebende ihrer Familie, sie war ihre Familie überhaupt. Sie hatte Mimi großgezogen und in den Kunsthandel eingearbeitet, den sie einst von ihren Eltern übernommen hatte und den Mimi wiederum nach dem Tod ihrer Eltern übernehmen musste. Damals hatte Mimi die Erfahrung gemacht, dass der Schmerz nachließ, wenn sie sich mit Arbeit betäubte. Womöglich hatte sie deshalb das Gefühl, nie nachlassen zu dürfen. Aber wenn Clara starb, was sollte sie dann tun? Noch mehr arbeiten?
Mimi band sich das blonde lange Haar zum Pferdeschwanz und zog ihre Strickjacke vorne enger zusammen. Von den sommerlich heißen Temperaturen, die sogar um diese nächtliche Uhrzeit noch herrschten, war hier drinnen wenig zu spüren. Damit sich ihr Mann keine Sorgen machte, wo sie so lange blieb, versuchte sie ihn zum wiederholten Mal zu erreichen. Seltsamerweise war sein Handy ausgeschaltet. Zu Hause war René auch nicht. Irgendwann würde er sich schon melden und fragen, wo seine Frau blieb. Oder war er schon eingeschlafen? Für ihn war es schließlich nichts Ungewöhnliches, dass sie spät nach Hause kam. Als Kunsthändlerin ging sie abends meist mit ihren Kunden essen, aber als die Haushälterin Margarete heute Abend angerufen hatte, musste sie die Wrights mit ihrer Assistentin Alice zurücklassen, um aus der Stadt so schnell wie möglich hierherzukommen.
Draußen wiegten sich die Erlen in der nächtlichen Brise. Die Jelängerjelieber rankten sich mit ihren gelben Trompetenblüten um die Fenster. Margarete war längst wieder durch den Wintergarten und den Obstgarten in ihr separates Gesindehaus geflohen. Die Frau, die schon eine halbe Ewigkeit allein mit Clara dieses riesige Haus bewohnte, schien sich beinahe noch mehr als Mimi vor Doktor Medlers Diagnose zu fürchten.
Um die Wartezeit erträglicher zu gestalten, zog Mimi sich ihre hohen Riemchensandaletten aus und gab einen erleichterten Seufzer von sich, als ihre nackten Füße den kühlen Dielenboden berührten. Ihr schwarzes Cocktailkleid mit den eingewebten Silberfäden fing langsam an, auf der Haut zu kratzen. Wie lange dauerte das denn noch? Sie trat näher an die Salontür heran. Dahinter hörte sie wieder Doktor Medlers Stimme. »Ich bitte Sie, Clara. Wenn Ihr Herz das nächste Mal verrücktspielt, sorgen Sie dafür, dass es nicht später als achtzehn Uhr ist. Ein alter Mann wie ich braucht seinen Schlaf.«
Dann ging endlich die breite Flügeltür auf, und der Arzt, ein rüstiger, kleiner Herr um die achtzig, kam herausgeschlurft, seinen Stock wie einen Fühler vor sich her schiebend. Unter seinem Sommermantel trug er einen gestreiften Pyjama, und seine Füße steckten in Filzpantoffeln. Mimi konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Scheinbar hatte er es nicht für nötig gehalten, sich für diesen Notfall umzuziehen.
»Wie kann man nur so störrisch sein?«, murmelte der Arzt kopfschüttelnd, wobei er sich mit einem großen Stofftaschentuch die Nase schnäuzte. »Bringen Sie Ihre Großmutter dazu, sich endlich von einem Spezialisten untersuchen zulassen, anstatt mich alten Mann nachts aus dem Bett zu holen!«
Mimi lächelte. Hinter Doktor Medlers Schulter sah sie ihre Großmutter in der Mitte des Salons auf dem Pflegebett liegen, das sie ihr vor ein paar Wochen besorgt hatte, damit sie bequem lag. Ihre Augen waren geschlossen, die Arme lagen ausgestreckt auf der Bettdecke, und ihr silbriges, lockiges Haar kringelte sich wie Quecksilber um ihr Gesicht. Auf dem Nachtschränkchen drängten sich vor dem gerahmten Foto ihres verstorbenen Mannes Gustav Pillenschachteln und Fläschchen mit allen möglichen Tropfen. Mimi flüsterte. »Schläft sie?«
»Wie ein Baby.« Der Arzt setzte seinen sandfarbenen Hut auf sein schütteres Haar. »Wenn Sie können, bleiben Sie besser über Nacht hier. Man weiß ja nie, was sie als Nächstes im Schilde führt.«
»Das mache ich.« Mimi reichte ihm die Hand. »Haben Sie vielen Dank, und grüßen Sie Ihre Frau. Ich hoffe, wir werden Sie so schnell nicht wieder rufen müssen.«
»Ja, bitte! Bläuen Sie das Ihrer Großmutter ein. Meine Frau und ich sind auch nicht mehr die Jüngsten. Obwohl, im Vergleich zu Clara sind wir geradezu Kindergartenkinder. Zwanzig Jahre! Zwanzig Jahre, die uns voneinander trennen! Was für eine lange Zeit auf dieser verrückten Welt!«
Nachdem der alte Mann in seinen fast ebenso alten Mercedes gestiegen, und die Allee Richtung Wald hinuntergetuckert war, drückte Mimi leise die Tür ins Schloss. Rund ums Haus rauschten die Baumkronen. Über ihr, im ersten Stock, kratzten die Äste über die Fensterscheiben. Sonst war es still.
Nachdem sie ein letztes Mal vergeblich versucht hatte, René zu erreichen, schlich sie in den Salon und setzte sich zu Clara auf die Bettkante. Sollte es sie beunruhigen, dass ihr Mann nicht ans Telefon ging? Konnte ihm etwas passiert sein? Hatte er sich am kaputten Toasterkabel einen Schlag geholt? Sollte sie besser nach Hause fahren und sich davon überzeugen, dass er wirklich über der Arbeit eingeschlafen war? Unschlüssig blickte Mimi hinüber zum Bilderrahmen, in dem das ausgeblichene Foto ihres Großvaters klemmte. Er war kurz nach ihrer Geburt bei einem Treppensturz in der Halle gestorben. Seitdem schlief ihre Großmutter nie ein, ohne sein Bild zu küssen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Eigentlich wollte Mimi genau das ihrem Mann sagen. »Ich liebe dich.«
Jetzt glitt ihr Blick zurück zu Claras Gesicht. Wie friedlich sie dalag. Wie eine Frau, die wusste, dass sie ihr Leben lang geliebt worden war. Um ihren Mund war ihr unverwechselbar spitzbübischer Zug zu erahnen. Sie hatte das Leben leicht genommen. Oder das Leben hatte es ihr leicht gemacht. Jedenfalls hatte Clara nie etwas anderes berichtet.
Zärtlich nahm Mimi die mit Altersflecken besprenkelte Hand in ihre. Voller Liebe und Mut hatte Clara damals alles versucht, um Mimi den Verlust ihrer Eltern zu erleichtern, obwohl Clara selbst ihren einzigen Sohn durch die Flugzeugkatastrophe verloren hatte. Einen Schlag, den sie, anders als Mimi, scheinbar unbeeindruckt hingenommen hatte.
Jetzt erst sah Mimi, dass Claras Finger ein kleines Holzkistchen umklammerten. Damit es nicht zu Boden fiel und das Poltern ihre Großmutter erschreckte, entwendete Mimi es behutsam ihrem erstaunlich festen Griff. Es war ein kleiner goldener Kompass, versteckt in einem feinen Gehäuse aus Kirschholz. Mimi war nicht ganz sicher, ob sie es sich einbildete oder nicht. Doch als sie von der Bettkante aufstand, meinte sie, ihre Großmutter leise den Namen »Jacques« flüstern zu hören. Als sie sich den Lippen ihrer Großmutter näherte und leise fragte: »Was hast du gesagt?«, kam jedoch keine Antwort. Offenbar hörte Mimi vor Müdigkeit Stimmen.
Das Kistchen mit dem Kompass nahm sie mit hinauf ins erste Stockwerk, in ihr altes Jugendzimmer, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern gewohnt hatte. Nun war auch sie in das Museum ihrer Kindheit zurückgekehrt.Dort stellte sie das Kästchen auf den Nachttisch und beschloss, sich keine Sorgen um René zu machen. Wenn er irgendwann mit dem Gesicht auf der Computertastatur aufwachte, würde er als allererstes versuchen, Mimi zu erreichen und erleichtert sein, dass ihr nichts passiert war, obwohl sie in dieser Nacht nicht neben ihm geschlafen hatte.
3
Waldblütenhain, 2013
Nach nur fünf Stunden Schlaf wurde Mimi vom Handyklingeln aus ihrem Traum gerissen, in dem sie eine Reihe von Männern abgeschritten war und jeden von ihnen gefragt hatte: »Sind Sie Jacques?« Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem Gerät und stieß dabei das Kästchen mit dem kleinen goldenen Kompass hinunter. O nein! Nun war genau das passiert, was sie hatte verhindern wollen: dass er hinunterfiel. Sie warf einen verschlafenen Blick aufs blinkende Display. Es war nicht, wie erhofft, ihr Mann, der wissen wollte, wo sie war, sondern die Galerie. Obwohl sich ihr gesamter Körper so schwer anfühlte, als wäre er mit Beton ausgegossen und sie noch gar nicht richtig wach, nahm Mimi ab. »Was ist denn?«
»Wo bist du?« Wenigstens fragte sich das ihre Assistentin Alice.
»Im Bett.« Mimi richtete sich auf. »Wie spät ist es?«
»Zwanzig nach sieben.«
»O Mist!« Durch die gehäkelten Gardinen flimmerte das Sommerlicht zu ihr herein und breitete sich wie ein silberner Teppich über die ausgetretenen Dielen aus. Amselgezwitscher flatterte um sie herum wie tausend kleine Schmetterlinge. Sofort wurden sie durch Alices aufgeregtes Wispern vertrieben. Es klang, als würde sie die Sprechmuschel mit beiden Händen umklammern.
»Die Wrights werden langsam unruhig. Ihr Flieger geht in zwei Stunden. Soll ich sie zum Flughafen fahren?«
»Ja.« Mimis Blick blieb an dem antiken Sessel hängen, auf dem ihr Cocktailkleid wie ein trauriges Häufchen lag. »Bring sie hin. Ich komme so schnell wie möglich nach.« Wie hatte sie verschlafen können? Hatte sie tatsächlich vergessen, den Wecker zu stellen? Ihr Anspruch war es, zu hundert Prozent verlässlich zu sein und all das, was zu erledigen war, pünktlich und souverän hinzubekommen. Egal, wie viel es war. Und amerikanische Kunstsammler zum Flughafen bringen hatte oberste Priorität. Sie schlüpfte in ihr nicht mehr ganz frisches Cocktailkleid und lief die Treppe hinunter.
In der Halle war Margarete schon mit dem Staubsauger zugange. Erschrocken drehte sich die hagere Frau mit dem schmalen Gesicht um, als Mimi Richtung Salon an ihr vorbeihuschte. Wie immer trug sie ihren hellblauen Kittel mit einer weißen Schürze darüber und die grauen Haare zu einem Dutt gebunden. Als wäre sie, genau wie die gesamte Einrichtung, ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. »Meine Güte, haben Sie mich erschreckt. Ich wusste gar nicht, dass Sie noch hier sind.« Eilig stellte sie den Staubsauger ab und richtete sich mit ihren langen Gliedmaßen wie eine Marionette auf.
»Wie geht es Clara? Ist sie schon wach?«
»Sie frühstückt gerade.«
Mimi lief durch die offene Flügeltür in den Salon. Die schweren Samtvorhänge waren beiseitegezogen, und das Zimmer mit den dunklen Möbeln, dicken Teppichen und farbenfrohen Ölgemälden wurde von der Morgensonne erhellt.
Clara sah ihr über den Rand der Teetasse erstaunt entgegen. »Kindchen, was machst du denn hier? Hat Margarete dich gestern Nacht wieder gerufen?« Ihre grauen Locken standen in alle Himmelsrichtungen ab. Sie stellte die Teetasse aufs Tablett, das vor ihr auf der Bettdecke lag. »Das soll sie doch nicht machen. Du hast genug um die Ohren.«
Mimi beugte sich zu ihrer Großmutter hinunter und gab ihr einen Kuss. »Fühlst du dich wieder besser?«
»Es war doch nur ein kleiner Aussetzer des Herzens, nichts weiter, Kindchen.« Mit zittriger Hand griff Clara nach einem Eckchen Toast und strich sorgfältig Marmelade darauf. »Aber du siehst etwas blass aus. Geht’s dir nicht gut?«
»Alles bestens. Ich muss nur schnell zum Flughafen, ein paar Käufer aus den USA verabschieden.« Mimi blickte auf ihre Armbanduhr. »Und danach hab ich noch zwei, drei Termine in der Stadt und muss Renés Smoking aus der Reinigung holen. Er hat doch heute Abend seine Preisverleihung. Aber ich komme morgen wieder, um nach dir zu sehen«
»Fahr bloß vorsichtig, mein Kind.« Clara hielt Mimi fest an der Hand und blickte sie auf einmal durchdringend an. »Noch eine Sache: Ich vermisse meinen Kompass. Ich hatte ihn mir gestern Nacht von Doktor Medler aus der Schublade geben lassen, und nun ist er weg. Hast du ihn zufällig irgendwo gesehen?«
Mimi nickte irritiert. »Den habe ich dir vorsichtshalber aus der Hand genommen, nachdem du eingeschlafen warst. Damit er nicht herunterfällt. Er liegt oben. Soll ich ihn dir noch schnell holen?« Sie hatte in der Eile ganz vergessen nachzusehen, ob er beim Herunterfallen kaputtgegangen war.
Clara schüttelte den Kopf. »Es reicht, wenn du ihn mir bringst, wenn du wieder da bist. Aber vergiss es nicht.« Sie drückte Mimis Hand noch einmal fest. »Denn er bedeutet mir sehr viel.«
»Sicher.« Mimi lächelte. »Ich vergesse es nicht.« Was hatte es mit diesem Kästchen auf sich? Sie hatte den Kompass noch nie bei ihrer Großmutter gesehen. War er ihr heute Morgen aus Unachtsamkeit zerbrochen? Sie würde später nachsehen müssen, wollte sie nicht vollends zu spät am Flughafen ankommen.
Acht Stunden später schob sich Mimi in ihrem Kombi durch den dichten Feierabendverkehr. Die Hitze stand in den Häuserschluchten. Auf den Bürgersteigen schoben sich Touristen und Geschäftsleute mit Coffee-to-go-Bechern an den Schaufenstern vorbei. Und sie trug noch immer ihr Cocktailkleid, das inzwischen eine Einheit mit ihrem Körper bildete. Die Silberfäden kratzten auf der Haut. Ihre Oberschenkel klebten am Ledersitz. Und ihr Magen knurrte. Sie hatte den Tag über noch nichts gegessen. Ansonsten hatte sie aber alles hinbekommen. Sogar am Flughafen war sie rechtzeitig gewesen. Jetzt musste sie nur noch Renés Smoking aus der Reinigung holen. Das war der letzte Punkt auf ihrer endlosen Erledigungsliste.
Seit gestern Abend hatte sich ihr Mann nur mit einer kurzen SMS bei ihr gemeldet, dass er viel zu tun habe und ob sie an seinen Smoking denke? Seltsamerweise wollte er gar nicht wissen, wo sie war. Machte er sich gar keine Sorgen, ob es ihr gut ging? Sollte sie bei ihm im Büro vorbeifahren, das hier gleich um die Ecke lag? Um Zeit zu sparen, rief sie aber doch lieber gleich dort an und erfuhr von seiner Sekretärin, dass er wieder mal in einem wichtigen Meeting steckte.
»Danke.« Mimi legte auf und ließ eine Gruppe aufgeregter Teenagermädchen über die Straße. Als sie wieder anfuhr, blieb ihr Blick an einem knutschenden Pärchen hängen, das einige Meter von ihr entfernt auf dem Bürgersteig stand. Irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor, der die rothaarige Frau eng an sich zog. Woher kannte sie ihn nur? Mimi blinzelte. Es war tatsächlich ihr Mann! René! Doch wer war die Frau? Träumte sie das alles? Mimi starrte ungläubig aus dem Seitenfenster, während sie sich langsam dem Paar näherte. Vielleicht war der Mann ein Doppelgänger von René? Ein bei der Geburt verschwundener Zwilling, der auf wundersame Weise wieder aufgetaucht war?
Sie warf einen Blick auf seine Schuhe. Sein Haar. Der Sommeranzug. All das war original René! Mimis Herz wummerte. Hinter ihr hupte es. Mit zitternden Fingern versuchte sie, das Fenster herunterzufahren. Sie wollte nach ihrem Mann rufen, um zu sehen, ob er sie hörte. Ob er überhaupt ihre Stimme hörte? Vielleicht drehte sie gerade vor Überforderung durch. Vielleicht hatte er aus Versehen die Frau verwechselt, und sie musste ihn einfach auf seinen Fehler hinweisen, damit er ihn schnell korrigieren konnte. Der Wagen hinter ihr stieß unsanft gegen ihre Stoßstange. Erneut folgte ein wütendes Hupen. Aus irgendeinem Grund ging das verflixte Fenster nicht runter. In Mimis Kopf brandete ein ganzer Ozean auf, der sich gegen ihre Schädelwände warf. Sie umklammerte das Lenkrad und fuhr im Schritttempo weiter. Ihr Mann und die fremde Frau bewegten sich direkt auf sie zu. Das alles schien so unwirklich. Was tat man denn in so einer Situation?
»Bleib ruhig«, beschwor sich Mimi. »Bleib ruhig. Du fährst jetzt um den Block und guckst, ob du die beiden weiter vorne wieder antriffst.«
An der nächsten Straßenkreuzung bog sie mit quietschenden Reifen in eine ruhigere Seitenstraße ein, schoss um die nächsten zwei Straßenecken und reihte sich dann ein Stück weiter vorne wieder in den schleppenden Verkehr auf der Hauptstraße ein. Weit übers Lenkrad gebeugt, starrte sie die entgegenkommenden Fußgänger an. Da kamen sie. Arm in Arm. Direkt auf Mimi zu. Das hier war kein Albtraum, aus dem man schweißgebadet aufwachte! Und es war auch keine Fata Morgana. Dies war die verdammte Realität.
In Zeitlupe ließ sie das Fenster herunter. Die Hand ihres Mannes glitt über das T-Shirt der Frau, die offensichtlich keinen BH trug. Als sich Mimi auf gleicher Höhe befand, rief sie, so laut sie konnte: »Hallo, René!«
Ihr Mann fuhr herum. Auch die Frau sah sich suchend um. Mimi winkte fröhlich. Was tat sie hier eigentlich? Wohin sollte das führen? Als René sie erkannte, machte er sofort einen Schritt von der Frau weg, die plötzlich nervös in ihrer Tasche herumhantierte, so als hätte sie mit der ganzen Sache nichts zu tun. René kam blindlings auf die Straße gelaufen, direkt auf Mimis Wagen zu. Er sah aus, als hätte er einen Schlag in die Magengrube abbekommen. Eilig ließ sie das Fenster hoch. Offenbar ging es ihm gut. Sie wollte nur noch weg. Ihr Mann klopfte von außen an die Scheibe. Dazu lächelte er. War das zu fassen? Er lächelte! Als wäre nichts passiert. Er rief: »Das ist aber eine Überraschung! Darf … darf ich dir meine Kollegin …«
Mimi hob die Hand und zeigte René einen Vogel. Dann fuhr sie an. Wie wütend sie plötzlich war! So fühlte sich das also an, vom eigenen Mann betrogen zu werden. Sie hörte, wie er über ihr mit der flachen Hand aufs Dach schlug und irgendetwas rief. Es klang tatsächlich so wie: »Es ist nicht so, wie du denkst.« Dann schlug er noch mal aufs Dach. Was für eine armselige Geste. Mimi sah ihn im Rückspiegel mitten auf der Fahrbahn stehen. Wie mickrig er mit einem Mal in seinem maßgeschneiderten Anzug wirkte. Hilflos hob er die Arme und ließ sie wieder sinken.
Sie atmete tief ein.
So endete also eine Liebe. Ganz banal. Auf einer Haupteinkaufsstraße. In der klebrigen Nachmittagshitze. Zwischen Touristen. Im Stau. Ohne viel Worte. Seinen Smoking musste René sich nun selbst abholen. Nur blöd, dass der Abholschein noch in ihrem Portemonnaie steckte.
4
Cadaqués, 1928
Am späten Nachmittag legte Clara den Pinsel zur Seite. Die Sonne stand direkt über dem Haus auf den Felsen, als wollte sie es zum Schmelzen bringen. Seit dem merkwürdigen Zwischenfall am Morgen war es gespenstisch still. Daria war nach oben auf die Terrasse verschwunden, Gala war nicht mehr aus dem Schlafzimmer aufgetaucht. Nur Casado hatte kurz zu Clara hereingeschaut, doch ohne sie von seinem Platz zu verscheuchen. Als er sie mit den Ölfarben hatte herumhantieren sehen, hatte er nur gemurmelt. »Tu, was du nicht lassen kannst.« Dann war auch er wieder verschwunden.
Draußen auf dem Hof kamen Schritte über den Kies. Clara stand von ihrem Schemel auf und trat an das große Fenster. Dort unten lief jemand im Schatten der Olivenbäume Richtung Hauseingang. Dunkles, gelocktes Haar. Helles Leinenhemd. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war Jacques. Was machte er denn schon wieder hier? Erst vorgestern hatte er den Wein gebracht.
Gleich darauf hörte Clara unten im Flur seine warme, volle Stimme, die von einem leicht französischen Akzent durchwoben war. Offenbar sprach er mit der Haushälterin Selena, die ihm geöffnet hatte. Dann war es still, bis es plötzlich hinter ihr an den Türrahmen klopfte.
»Hola!« Jacques lehnte mit einem breiten Lächeln im Türrahmen, das seine hübschen Zähne zeigte. Die Ärmel seines Leinenhemdes hatte er bis über die Ellbogen hochgekrempelt. Sein welliges Haar rahmte sein gebräuntes Gesicht mit den Grübchen in den Wangen ein. »Wie geht’s?«
Clara machte ein paar zögernde Schritte über den Kokosteppich. »Hola, Jacques. Was machst du hier?«
Mit einem Ruck stieß er sich vom Türrahmen ab und trat ins helle Atelier. Seine grünen Augen waren direkt auf Clara gerichtet. »Ich wollte nach dir sehen.«
Ihre farbverschmierten Finger waren mit einem Mal kalt. Obwohl sie alles daransetzte, ihre Stimme erwachsen klingen zu lassen, bekam sie nicht mehr als ein befangenes Flüstern hin. »Ich fahre morgen nach Hause. Weißt du das?«
Jacques nickte. »Si. Darum bin ich hier.« Dann streifte er an ihr vorbei und warf einen langen, prüfenden Blick auf das Bild, das einen Engel mit teerschwarzem Haar vor lichtem Hintergrund zeigte. Anerkennend pfiff er durch die Zähne, als hätte Clara einen besonders großen Fisch gefangen. »Es hermoso …«
»Es ist wunderschön«, flüsterte Clara. Ja. Es war ihr gut gelungen. Das Bildnis eines Engels. Obwohl Jacques aus einer Weinbauernfamilie kam, schien er doch ein gewisses Gespür für die Malerei zu besitzen. Das war Clara schon öfter aufgefallen. Ihn interessierten ihre Skizzen und Studien. Er besaß sogar schon eine Zeichnung, die sie von ihm oben unter den Olivenbäumen angefertigt hatte. Für einen Moment standen sie unschlüssig nebeneinander und beobachteten sich beim Atmen. Ratlos, was sie als Nächstes sagen sollten. Clara in ihrem Matrosenanzug, der an Armen und Beinen schon etwas zu kurz war. Jacques im Leinenhemd und weinfleckiger Leinenhose. Er duftete nach Sonne und Gras. Er duftete nach …
Plötzlich hob er den Finger und verschwand mit einem »Un momento!« aus dem Atelier. Gleich darauf kehrte er mit einem groben Sack zurück. Damit kniete er sich vor Clara hin und bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Es war eigenartig, mit Jacques in Casados Atelier auf dem Kokosteppich zu kauern. Mit einem Mal waren sie sich näher als je zuvor im Schatten der Olivenbäume. Sie beobachtete seine Finger, die geschickt die Kordel öffneten, die um die Sacköffnung geschlungen war. Dann griff er in den Sack hinein und holte vorsichtig eine kleine Pflanze mit einer wundersamen Blüte hervor, die sich aus unzähligen länglichen, gelben Trompeten zusammensetzte. Jacques hielt Clara die Pflanze entgegen, in dem er ihren Wurzelballen mit beiden Händen umfasste. Dazu flüsterte er feierlich: »Este es mi flor favorita.«
Das ist meine Lieblingsblume, wiederholte Clara im Stillen und nickte ebenso feierlich. Jacques bedeutete ihr, an der zarten Blüte zu riechen. Sie duftete genau wie Jacques. Nach Milch und Honig.
»Su nombre es la madreselva«, erklärte Jacques mit einem leichten Zittern in der Stimme. Clara blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. So sehr sie sich auch bemühte, sie verstand ihn nicht. Er räusperte sich und holte tief Luft. Die Worte klangen rau, als er es langsam und holprig in ihrer Sprache aussprach. Als hätte er diese bedeutungsvollen Sätze extra für diesen Moment gelernt. »Ihr Name ist Jelängerjelieber. Pflanz sie zu Hause in deinen Garten ein. Vielleicht denkst du an mich?«
Als Jacques den mit Stoff umwickelten Wurzelballen vorsichtig in ihre Hände legte, blieben seine Hände warm auf ihren liegen. Ihr Herz pochte heftig, und ihr Körper wurde von einem einzigen aufgeregten Sirren erfüllt. Schließlich ließ Jacques ihre Hände wieder los und erhob sich eilig. Der wundersame Moment war für immer vorbei. Mit gesenktem Blick griff er hastig nach dem leeren Sack, und im Hinausgehen sagte er leise: »Adiós, mia amiga.«
Clara blieb auf dem Boden knien, die Hände fest um den Wurzelballen gelegt. War Jacques nur wegen ihr gekommen? Fühlte er das Gleiche wie sie für ihn? Wenn dem so war, konnte er unmöglich der Junge sein, in den Daria verliebt war. Nein. Er war der Junge, den sie liebte. Und er liebte sie. Vielleicht war das in ihrem Alter seltsam. Doch dieses Gefühl, das ihren gesamten Körper erfüllte, war neu und nicht von dieser Welt. Und wenn er genauso fühlte, konnte keine Entfernung sie entzweien. Sie würde morgen Cadaqués mit dem Schiff verlassen. Doch sie würde im nächsten Sommer als junges Mädchen über die Meere wiederkehren.
5
Unterwegs, 2013
»Na gut!« Mimi warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, während sie im Schritttempo die mit Rhododendren gesäumte Auffahrt zu ihrem Bungalow hinauffuhr. Nach einer Dose Bier auf einer Parkbank unter einer Trauerweide war sie bereit, René zumindest die Chance zu geben, sich zu dem verstörenden Vorfall auf der Straße zu äußern. Dabei war ihr eigentlich eher danach, sich in Luft aufzulösen, sodass er den Rest seines Lebens würde nach ihr suchen müssen, geplagt von schrecklichen Gewissensbissen. Doch der Drang, sofort zu erfahren, wie es passieren konnte, dass er auf offener Straße eine fremde Frau hemmungslos küsste, war stärker. Sie wollte wissen, wer diese Frau war. Sie wollte wissen, wie lange diese »Sache« schon lief. Sie würde sich alles ganz ruhig anhören, und vielleicht hatte René ja ein paar überzeugende Argumente parat, wie er ohne Skrupel ihre Ehe hatte entweihen können. Vielleicht war es auch verrückt, sich all diese Dinge anzuhören. Doch bevor sie nicht genau wusste, woran sie war, würde sie keine Ruhe finden. Mimi atmete tief durch. Hier in diesem Bungalow hatten sie beinahe zehn Jahre ihres Lebens miteinander verbracht. Und plötzlich kam es ihr vor, als hätte sie hier nichts mehr verloren.
So schnell konnte sich das eigene Leben doch nicht ändern, oder? Wie würde René ihr begegnen? Als wäre nichts passiert? Oder würde er sich wundern, dass sie überhaupt noch nach Hause kam? Hatte er am Ende seine Sachen schon gepackt? Würde sie ihm sagen, dass sie ihn trotz allem liebte? Würde sie weinen oder die Nerven verlieren? Niemals würde sie diese demütigenden, quälenden Bilder aus ihrer Erinnerung löschen können. Ihr Mann mit einer anderen Frau. Das war das Ende. Es konnte gar nicht anders sein. Nach so einer Sache konnte man nicht weitermachen. Das war unmöglich, oder? Sie rollte auf den gepflasterten Platz vor der offenen Garage, in der Renés Wagen stand. Als wäre nichts vorgefallen.
Sie schloss die Haustür auf und tapste barfuß, mit den hohen Riemchensandalen in den Händen, in den Wohnraum, an dessen Wänden riesige Fotografien von hypernaturalistischen Landschaften hingen. Auf dem langen Esstisch stapelten sich Kunstmagazine neben Medizinfachblättern. In der Obstschale lagen drei traurige Kiwis, die in den nächsten Tagen noch einige chemische Prozesse durchlaufen würden, bis sie zu Staub zerfielen. Das passierte grundsätzlich mit ihren Kiwis. Genau wie René immer seine Sachen herumliegen ließ. In der offenen Küche standen eine halb ausgetrunkene Espressotasse und eine aufgerissene Packung mit Vollkornkeksen. Auf dem beigefarbenen Teppichboden lagen seine Schuhe. So wie immer. Als wäre nichts geschehen.
Sie warf einen Blick auf die beiden Sofas, die sich um den offenen Kamin gruppierten. Der Fernseher lief ohne Ton, dafür lagen seine Hosen und Socken auf den Polstern und sein Hemd auf dem Glastisch. Wenn er von der Arbeit kam, zog er sich sofort vor dem Fernseher aus und ließ alles liegen. Wie oft hatte sie sich über diese Angewohnheit geärgert, nun hätte sie heulen können bei dem Gedanken, dass sie in Zukunft auf dieses Chaos würde vermutlich verzichten müssen.
Sie schlurfte den Flur entlang und blieb in der Schlafzimmertür stehen. Ihr Mann stand in steif gebügeltem Oberhemd, schwarzen Socken und Unterhose am Fenster und band sich eine Fliege. Sie hatte alles erwartet, nur keinen Ehemann, der sich für die Preisverleihung fertig machte!
»Hallo!« Sie ließ ihre Sandalen fallen und ihre Stimme hart klingen.
Abrupt drehte er sich um. »Oh! Ich habe gar nicht gehört, dass du nach Hause gekommen bist.« Lächelnd kam er auf sie zu. »Warum bist du denn vorhin so schnell weggefahren?«
»Bitte?« Mimi atmete tief ein, wobei sie spürte, wie sich ihre Nasenflügel wie Segel im Wind blähten. »Was glaubst du denn? Dass ich Lust drauf hatte, euch noch ein bisschen beim Rumknutschen zuzusehen? Ihr habt euch ja beinahe gegenseitig verschlungen!« Mimis Stimme überschlug sich. Dabei wollte sie doch ruhig bleiben und sich seine Erklärungen anhören. Aber die Worte sprudelten unaufhaltsam aus ihr heraus. Verstand er nicht, was er angerichtet hatte? Dann würde sie es ihm jetzt sagen. »Du hast unsere Ehe zerstört! Du hast sie entweiht! Du hast uns das Wertvollste genommen, was wir hatten!«
»Mimi?« René kniff die Augen zusammen. »Wovon redest du? Ich war mit einer Kollegin kurz einen Kaffee trinken. Das ist alles. Wir waren gerade wieder auf dem Weg zurück ins Büro.«
»Du lügst.« Es war unglaublich! René glaubte tatsächlich, dass seine jämmerliche Ich-weiß-von-nichts-Taktik aufgehen würde. »Eigentlich hast du gerade in einem Meeting gesessen. Frag deine Sekretärin! Ich meine …«, stotterte Mimi. »Das hat mir deine Sekretärin gesagt.«
»Na gut. Ich war nicht im Büro.« René ließ seine Arme hängen. »Und was beweist das jetzt? Nichts! Nur, dass ich ausnahmsweise mal hab fünfe gerade sein lassen. Hab ich das nicht nach den letzten anstrengenden Wochen und Monaten verdient? Immerhin werde ich heute Abend für meine Forschungsarbeit ausgezeichnet. Gönnst du deinem Mann nicht mal ein bisschen Entspannung?«
»Entspannung?« Mimi schüttelte benommen den Kopf.
René streckte ihr die Hand entgegen, die sie ignorierte. »Lass uns einen schönen Abend haben und diese Sache vergessen. Da war nichts, und da ist nichts. Es war nur eine Kollegin.«
»Mit der du mich betrügst!« Für wie blöd hielt er sie eigentlich? Er sollte es einfach nur zugeben. Dann würde sie sofort auf dem Absatz kehrtmachen und verschwinden. Vermutlich war genau das das Problem. Er hatte Angst davor. Das allerdings hätte er sich eher überlegen müssen.
René lächelte hilflos. »Mein Gott.« Er hob die Arme und ließ sie wieder sinken. »Was soll ich sagen: Es tut mir leid. Es war ein Fehler. Das Ganze hat nichts zu bedeuten.«
»Wie lange läuft das schon?« Ihre Stimme zitterte. Sie wollte es gar nicht wissen. Eigentlich. Auf der anderen Seite wollte sie wissen, wofür sie ihn gleich verließ. Ein paar Fakten waren wichtig bei so einer absolut lebensverändernden Entscheidung, mit der sie nie gerechnet hatte. Bis vor ein paar Stunden hatte sie nicht einen Augenblick an der Haltbarkeit ihrer Ehe gezweifelt. Sie wäre nie darauf gekommen, dass sie eines Tages hier im Schlafzimmer stehen würde, um sich von einer Sekunde auf die andere von ihrem Mann zu trennen, den sie doch eigentlich liebte. Interessant, dass sie gerade gar nichts fühlte. Wie jemand, der eine echte Grenzsituation auf Leben und Tod durchmachte.
»Wozu willst du das wissen?« In seinen Augen flackerten nervös die Pupillen. War das ein Trick?
»Weil du das Wertvollste zerstört hast, das wir hatten!« Mimi spürte die Tränen aufsteigen. »Warum?«
»Das Wertvollste?« Seine Worte klangen rau und irgendwie ehrlich überrascht.
»Ja! Das Wertvollste!«, presste Mimi hervor.
Ihr Mann setzte sich auf die Bettkante und blickte sie ernst an. Mit einem Mal sah er erschöpft aus. »Ich wusste nicht einmal, dass unsere Ehe überhaupt noch besteht.«
»Bitte?« Sie kam näher heran. Was redete ihr Mann denn da? Sie kniete sich vor ihn hin und fasste nach seinen Händen. »Schlafen wir nicht jede Nacht im selben Bett?«
»Ja! Ohne uns zu berühren, wie zwei Fremde, die zufällig im selben Haus wohnen.« Er sah sie traurig an. »Ich kann so nicht leben.«
Mimi schluckte. »Willst du damit sagen, dass es meine Schuld ist, dass du eine Affäre hast?«
»Ich weiß nicht.« René war offenbar nicht bereit zuzugeben, dass er etwas getan hatte, was nicht wiedergutzumachen war. Bisher hatte er sich nicht über den Zustand ihrer Ehe beklagt. Und nun klang es so, als hätte er in der Vergangenheit bereits alles versucht, dass sie sich nicht auseinanderlebten. Zugegeben, im letzten halben Jahr hatten sie nicht viel Zeit miteinander verbracht, sie arbeiteten eben beide viel. Trotzdem hatte sie ihm den Smoking aus der Reinigung holen wollen. War das nichts?
Da René nichts mehr sagte, stand Mimi schließlich auf und murmelte: »Dann hab ich schon die erste Aufgabe für die neue Frau an deiner Seite: Sie kann schnell losflitzen und deinen Smoking aus der Reinigung holen, denn die Tour habe ich mir gespart, nachdem ich euch beide so vertraut miteinander gesehen habe.«
»In welcher Reinigung?« René starrte sie entgeistert an.
»Na die, die sich direkt um die Ecke von deinem Büro befindet. Was denkst du denn, warum ich bei der Hitze im Stau stand?« Mimi starrte wütend zurück. So würde das nichts mit der Aussprache werden. Vor allen Dingen, weil René nicht vorzuhaben schien, die Preisverleihung zugunsten der Rettung ihrer Ehe ausfallen zu lassen. Ironie des Schicksals, dass er für seine Errungenschaften in der Wissenschaft zur Früherkennung einer seltenen Immunkrankheit ausgezeichnet wurde. Sozusagen für die Rettung der Welt. Sie war mit Supermann verheiratet, der es nun nicht hinbekam, sich mutig die Trümmer ihrer Ehe anzusehen, die er mit verursacht hatte.
»Das glaub ich nicht.« Ihr Mann fuhr sich hilflos durchs Haar. Mit ein paar Schritten war er drüben beim Kleiderschrank, riss ihn auf und wühlte in seinen Anzügen herum. »Was soll ich denn jetzt anziehen?«
»Ist das dein einziges Problem.« In Mimis Kopf rauschte es.
»Nein, es ist nicht mein einziges Problem!« René fuhr herum. »Aber es ist das einzige, das gerade am ehesten zu lösen ist, auch wenn sogar dieses Problem unlösbar erscheint. Aber irgendwo muss man ja anfangen.«
»Na dann: viel Glück!« Mit einem Mal war der Wunsch, ihre Ehe zu retten oder zumindest ein vernünftiges Gespräch über das Geschehene zu führen, vollkommen erloschen. Sie wollte hier nur noch raus. Das alles hatte nichts mehr mit ihr zu tun. Entschlossen holte Mimi ihre Reisetasche und den Koffer aus dem Wandschrank im Flur und stopfte sämtliche Kleidungsstücke hinein, die sie zu fassen bekam. T-Shirts, Strickjacken und Jogginghose. Und ein Cocktailkleid. Das, was sie noch immer anhatte, musste dringend in die Wäsche oder in die Mülltonne. Dieses Kleid würde sie sonst ewig an diesen niederschmetternden Tag erinnern, an dem ihr Leben unrettbar aus den Fugen geraten war. »Leb wohl!«
René fuhr herum. »Wohin willst du?« Meinte er diese Frage ernst?
»Das geht dich überhaupt nichts an.« Mimi warf noch einen Stapel Unterwäsche in die Tasche und ging ins Bad, wo sie ihren Kulturbeutel zusammenpackte. Shampoo. Gesichtswasser. Duschgel. René klammerte sich am Henkel ihrer Tasche fest. »Was ist los mit dir?«
»Was mit mir los ist? Du betrügst mich! Das ist los!« Mimi riss an ihrer Tasche und eilte damit den Flur hinunter, nahm den Mantel von der Garderobe und lief in den Sommerabend hinaus. René folgte ihr bis zur Haustür. Weiter traute er sich in Oberhemd und Unterhose nicht. »Können wir bitte in Ruhe darüber reden? Ich trage nicht allein die Schuld daran. Du…«
Mimi zog die Wagentür auf und warf ihre Reisetasche und den Koffer auf den Rücksitz. »Ich verlasse dich, René.«
»Mimi! Bitte! Lass uns reden«
»Darüber hätten wir gerne reden können, wenn du nicht so getan hättest, als wäre ich an allem schuld. Aber da du dir offenbar vorgenommen hast, so zu tun, als hätte ich ein Problem und nicht du, brauche ich dir auch nicht zu erklären, warum ich dich verlasse. Denn: Das ist bereits die Erklärung.«
»Mein Gott! Was verlangst du? Dass ich mich zu keiner anderen Frau hingezogen fühle, wenn meine Frau die ganze Zeit arbeitet und mich nicht mal mehr zu ihren Eröffnungen mitnimmt.«
»Muss ich dich wirklich fragen? Du könntest ja auch einfach mitkommen, so, wie ich dich heute Abend wie selbstverständlich begleitet hätte. Denn obwohl mein Mann arbeitet, manchmal sogar bis spät in die Nacht, gucke ich keine anderen Männer an.«
Damit stieg Mimi in ihren Wagen, schoss rückwärts die Auffahrt hinaus und fuhr dann stadtauswärts, zum Haus ihrer Großmutter. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Was für ein dummer Abgang! Nichts hatten sie geklärt! Nichts! Sie war genauso schlau wie vorher. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte sie sich dieses Zusammentreffen anders vorgestellt, und zwar so, dass es eindeutig zu ihren Gunsten verlief, dass René sie anflehte, ihr zu verzeihen, dass sie die Oberhand behielt und nicht verantwortlich für diese Misere war. Er liebte sie nicht. Das war’s! Das war die einzige akzeptable Erklärung. Sie schmerzte zwar höllisch, aber nicht so sehr wie die Erkenntnis, das Wertvollste verloren zu haben, weil sie es nicht genug gehütet und beschützt hatte.