Fußnoten

1

Gegrüßt seiest du, Schülerin des Matilda-Imperatrix!

Kapitel Eins

»Wir sind verloren!« Flo tastete verzweifelt die raue Felswand ab. »Die haben uns echt eingesperrt! Diese Schule ist wirklich das alleraller…!«

»Wer den Skorpion reizt, darf über einen Stich nicht klagen«, seufzte Pina und warf ihre langen, schwarzen Zöpfe zurück.

»Verschone mich jetzt bloß mit deinen indianischen Weisheiten«, stöhnte Flo. »Meine Ehre steht auf dem Spiel!«

»Ehre?!« Pina rollte mit den Augen. »Es geht um eine blöde Wette gegen ein paar blöde Jungs.«

»Die ich gewinnen muss! Und darum muss ich hier raus!«

»Du bist schon knallrot im Gesicht.«

»Ich hänge ja auch kopfüber aus einem Fenster«, knurrte Flo. »Schon vergessen?«

»Nein. Denn ich halte dich ja an den Füßen«, Pina beugte sich über den breiten Fenstersims und grinste zu ihrer Freundin hinunter, die mit dem Kopf nach unten hin und her baumelte. »Kann ich dich jetzt wieder hochziehen?«

»Erst wenn ich eine Stelle gefunden habe, wo wir einen Haken einschlagen können, um uns abzuseilen.«

»Okay«, sagte Pina und lehnte sich wieder zurück, als sei es das Normalste der Welt, seine beste Freundin verkehrt herum aus einem Fenster über einem Abgrund hängen zu lassen. Aber Flo und Pina waren nun mal keine normalen Freundinnen. Und sie besuchten auch keine normale Schule. Flo und Pina waren Schülerinnen des Matilda-Imperatrix, dem Internat für besondere Mädchen. Nur wer ein außergewöhnliches Talent besaß, mit dem er eines Tages die Welt verbessern konnte, wurde für diese geheime Schule ausgewählt.

Pina, zu deren Vorfahren der berühmte Indianer Sequoyah vom Stamm der Cherokee zählte, war eine begabte Naturforscherin. Sie erkannte jede Spur und besaß den messerscharfen Blick eines Adlers. Flo, Spross einer alten Ritterfamilie, war eine phantastische Planerin: Ob Verkehrsumleitungen oder Rettungspläne – sie hatte sofort eine Idee, wie man am klügsten vorging. Dank ihres Talents waren nach einem Erdbeben schon zehn verschüttete Kinder geborgen worden.

Doch nicht nur die Schülerinnen, auch die Schule selbst war in jeder Hinsicht besonders. Und darum auch besonders streng: Nur einmal pro Woche durften die Mädchen unter Aufsicht das Gelände verlassen, und näherer Kontakt zur Bevölkerung war absolut untersagt.

»Ich halte mich doch nicht an so blödsinnige Regeln, nur weil die tausend Jahre alt sind!«, fluchte Flo, während sie weiter die alte Mauer aus Felssteinen absuchte. »Wir gehen ja auch nicht mehr auf Plumpsklos! Oder benutzen Schnürsenkel aus Schafsdarm!«

»Würdest du lieber auf eine andere Schule gehen?«, rief Pina nach unten.

»Niemals!«, rief Flo. »Aber nur weil dies hier die beste Schule der Welt ist, muss ich trotzdem nicht alles toll finden!«

Ihre letzten Worte verloren sich in einem tiefen Gongschlag, der aus dem Flur hallte. Es war der Ruf zur großen Begrüßungszeremonie des neuen Schuljahrs.

»Schluss jetzt!« Pina zog ihre Freundin mit einem kräftigen Ruck zurück ins Zimmer. Unsanft landete Flo auf den knatschenden Dielen der alten, holzgetäfelten Kammer.

»Wir hatten uns geschworen, in diesem Jahr ausnahmsweise mal einen guten Eindruck zu machen. Und dazu gehört auch Pünktlichkeit.« Pina sah ihre Freundin streng an, aber dann musste sie losprusten, denn Flos straßenköterblonde Haare standen noch wilder ab als sonst, und ihr Sweatshirt mit der großen Bauchtasche klebte in einem dicken Wulst unterm Kinn. »Du siehst aus wie eine Klobürste mit Halskrause.«

»Hahaha – ich dachte, Indianerherz kennt keinen Scherz!«, entgegnete Flo und zog unwirsch ihren Pulli herunter. Dann schnappte sie ihren Koffer, warf ihn auf das dritte, freie Himmelbett. Sie schob die Vorhänge beiseite, die so dunkelrot wie überreife Kirschen schimmerten, und wühlte unter den Anziehsachen einen Samtumhang in derselben Farbe hervor. »Das ist eine monstergroße Ungerechtigkeit!«, schimpfte sie. »Ausgerechnet uns in diese Butze über dem Abgrund zu stecken!«

Allerdings war es keine monstergroße Überraschung, dass ausgerechnet Flo und Pina in dem ausbruchsichersten Zimmer der Schule gelandet waren. Schließlich hatte Flo im vergangenen Jahr die berühmte rote Liste von Direktorin Petronova angeführt. Und noch nie in der tausendjährigen Geschichte des Internats war eine Schülerin häufiger ausgebüxt als sie – natürlich dicht gefolgt von Pina.

»Wir werden schon einen Weg nach draußen finden«, besänftigte Pina sie und legte sich ihren Samtumhang um die Schultern. »Zur Not schmieren wir uns mit Seife ein und quetschen uns durch den Kaminschacht. Oder wir segeln mit so einem Fluganzug aus dem Klofenster. Aber jetzt komm!«

»Ich mach ja schon!« Flo stülpte sich die Samtkapuze über den Kopf und stieß die Tür zum Flur auf. Mit wehendem Umhang marschierte Pina hinaus – und blieb abrupt stehen. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Flurs, war nämlich ebenfalls eine Tür aufgeflogen. Zwei aufgetakelte Mädchen mit superschicken Sonnenbrillen im Haar staksten auf den Flur. Angeberisch schwenkten sie ihre protzigen Handtaschen, und unter ihren Samtumhängen funkelten die Glitzerschriften ihrer Marken-T-Shirts um die Wette.

»Cilly und Lilly!«, stöhnte Flo.

»Wir hätten uns auch etwas Besseres vorstellen können, als direkt neben den unwürdigsten Schülerinnen dieses Internats zu wohnen«, entgegnete Cilly spitz und eilte mit erhobener Nase den Gang hinunter.

»Ihr seid ein Schandfleck für unsere Schule!«, quietschte Lilly und trippelte Cilly hinterher. »Aber euch wird der Spaß am Regelbrechen schon noch vergehen! Dafür werden wir sorgen!«

»Na, super!« Flo raufte sich die Haare. »Die größten Schleimschnecken der Schule im Zimmer gegenüber! Jetzt kommen wir nicht mal mehr heimlich bis zum Kaminschacht. Die lauern doch nur darauf, uns bei Petronova anzuschwärzen.«

»Pah!« Pina sah den beiden Blondinen aus schmalen Augen nach. »Nur der schlechte Jäger weicht dem Bären aus. Der gute sucht seine Spur.« Sie knuffte Flo in die Seite. »Langsam wird deine Wette echt zu ’ner spannenden Sache.«

Flo hob mit ernster Miene einen Finger. »Stell dir dieses Pferd-gegen-Fahrrad-Rennen nicht zu einfach vor!«

Pina winkte ab. »Du hast gewettet, dass du mit Eisenherz schneller bist als ein paar Blödmänner auf ihren Mountainbikes. Wo ist das Problem?«

»Die Gegner dürfen die Strecke auswählen. Und dieser Luca ist ziemlich gut.«

»Aber dein Eisenherz ist das trittsicherste und schnellste Pferd, das ich kenne!«

In dem Moment schlug der Gong zum zweiten Mal. Jetzt mussten sie sich wirklich beeilen. Flo und Pina pesten zu dem alten, steinernen Treppenhaus und sausten die Stufen hinunter. Von unten drangen lautes Schwatzen und Gelächter herauf. Mit jedem Stockwerk wurde das Gebrabbel lauter, und als sie um die letzte Kurve bogen, sahen sie auf ein Meer von roten Samtkapuzen. Hunderte Mädchen strömten durch den Kreuzgang, vorbei an den besonderen Steinsäulen, Richtung Kapitelsaal. Eilig reihten sich Flo und Pina in den Fluss mit ein und ließen sich bis zum Eingang des Versammlungsraums spülen. Kaum war Flo durch die schmale Seitentür geschlüpft, blieb sie stehen und hielt die Luft an. Sie liebte diesen Saal mit seiner nachtblauen, von Sternen übersäten Decke und dem ausgetretenen Steinboden, in den die Namen ihrer berühmten Vorgängerinnen gemeißelt waren.

Andächtig schaute Flo in den Himmel, als sie plötzlich einen Blick im Nacken spürte und herumfuhr. Auf der Bühne am anderen Ende des Saals stand Direktorin Petronova. Wie immer trug sie ein schwarzes, schlichtes Kleid und hatte die dunklen Haare streng zurückgebunden. Für eine Millisekunde hob sie eine Augenbraue und warf Flo einen mahnenden Blick zu.

Unfassbar, dachte Flo, während sie Pina nacheilte. Wie schaffte Petronova es nur, in dem ganzen Gewusel aus roten Samtumhängen sie sofort ausfindig zu machen?! Niemand wusste genau, woher die Direktorin eigentlich kam. In ihrem Lebenslauf stand, sie hätte ein Impfmittel gegen Spinnengift erfunden. Glaubte man aber den Gerüchten, die hinter vorgehaltener Hand erzählt wurden, war Petronova in Wirklichkeit eine enttarnte Spionin, die vor einigen Jahren schleunigst von der Bildfläche verschwinden musste. Und wo, wenn nicht an diesem geheimen Ort, hätte sie besser untertauchen können?

»Fünftklässler hierher, Fünftklässler hierher!«, rief eine Schülerin des Abschlussjahrgangs und winkte Flo zu einer der hölzernen Bankreihen, die sich über die Längsseiten der Saalwände zogen. Flo rutschte hinter Pina über den blanken Sitz zu einer zarten Chinesin auf. Min-Hai stammte aus einer berühmten Kalligrafen-Dynastie. Sie selbst war eine talentierte Tuschkünstlerin und beherrschte sieben asiatische Geheimschriften. Gleich darauf rückte Olga Nikolajef nach. Sie wollte eines Tages zum Mars fliegen. Ein russischer Kosmonaut der Raumstation ISS hatte sie für das Matilda empfohlen. Ihr folgte Minerva von Niederhosenbach, Expertin für Giftpflanzen. Wer sich mit ihr anlegte, hatte ganz schnell mal eine blaue Zunge oder rote Pusteln im Gesicht. Beweisen konnte man das natürlich nie, dafür war Minerva viel zu raffiniert.

Nun schlug der Gong zum dritten Mal, und das Geplapper verstummte. Die letzten Schülerinnen huschten zu ihren Plätzen, das Schulorchester spielte auf, und am Ende des Saals öffneten sich die Flügel des großen Eichentors. In zwei Reihen zogen die neuen Schülerinnen ein. Vorneweg die kleinen Erstklässlerinnen, manche vor Aufregung ganz grün im Gesicht. Dann folgten die Quereinsteigerinnen von der zweiten bis zur zwölften Klasse. Flo konnte sich noch gut an ihren ersten Schultag erinnern. Vor Aufregung hatte sie sich beinahe übergeben. Und selbst als ihre kleine Schwester Charly vor drei Jahren eingeschult worden war, hatte ihr ein dicker Kloß im Hals geklebt – obwohl Charly die größte frei laufende Nervensäge der Welt war!

Die neuen Mädchen nahmen vorn auf der Bühne Platz, und Direktorin Petronova trat ans Pult.

»Liebe Schülerinnen, ich begrüße euch zum 1012. Schuljahr des Matilda-Imperatrix. Große Aufgaben erwarten euch! Eines Tages wird die Zukunft dieser Welt auf euren Schultern liegen. Ihr müsst diese Erde zu einer besseren machen und für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit sorgen. Als Ansporn für das kommende Jahr hier nun einige unserer berühmten Absolventinnen, die unseren Planeten maßgeblich …«

»Bla-bla-bla«, stöhnte Flo. »Jedes Jahr das Gleiche.«

Pina versetzte ihr einen Rippenstoß. »Wir wollten uns zusammenreißen!«

»Aber diese Wichtigtuerei ist wirklich supernervig«, wisperte Flo, während Petronova nun eine endlose Liste von Forscherinnen, Entdeckerinnen und Königinnen herunterratterte. »Ich meine, heute kann jedes Mädchen Chefin von Google oder Bundeskanzlerin werden – ohne so ein Theater!«

Pina schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt immer noch genügend Mädchen auf dieser Welt, die nicht mal Lesen und Schreiben lernen dürfen!« Dann deutete sie unauffällig mit dem Kinn zur Bühne. »Guck dir lieber die Neuen an. Meinst du, wir kriegen eine von denen aufs Zimmer?«

»Bei unserem schlechten Einfluss?!« Flo grinste. »Quatsch!« Doch bei dem Gedanken an das dritte, freie Himmelbett in ihrer neuen Schlafstube wurde ihr nun doch etwas mulmig. Denn eins war klar: Steckte ihnen Petronova auch noch eine Fremde ins Zimmer, war es mit dem heimlichen Ausbüxen endgültig vorbei. Dann konnte sie ihre Pferd-gegen-Fahrrad-Wette vergessen und war blamiert bis auf die Knochen! Beunruhigt ließ Flo ihren Blick über die Mädchen auf der Bühne streifen. Kurz blieb sie an einem hawaiianischen Zwillingspaar mit Nasenringen hängen. Sie wirkten verschwiegen – allerdings besuchten sie höchstens die zweite Klasse. Interessant schien auch die Riesin in Wikingertracht. Sie überragte alle um zwei Köpfe, saß aber im Pulk der Drittklässler. Bei den Fünften entdeckte Flo eine gazellengleiche, dunkelhäutige Schönheit. Das war bestimmt die berühmte Marathonläuferin, von der alle sprachen. Flo stupste Pina in die Seite. »Die haut vielleicht auch ganz gern mal ab?«

Pina wiegte zweifelnd den Kopf.

»Auf jeden Fall eher als die!« Flo zeigte zu einer verkniffenen Blondine. »Der spritzt der Ehrgeiz ja schon aus den Augen!«

»Wir können sie ja mit Cilly und Lilly bekannt machen«, flüsterte Pina.

Nun mischte sich Min-Hai ein: »Die da ist sicher total harmlos.«

Flo folgte ihrem Blick zu einem Mädchen am Ende der Reihe, das sie bisher völlig übersehen hatte. Sie trug einen mausgrauen Hosenanzug und hatte das rote Haar zu einem braven Bauernzopf um den Kopf geflochten.

»Uuuh, Vorsicht!«, flüsterte Flo. »So eine verpetzt dich schon für schlechte Gedanken.«

Pina nickte. »Und wahrscheinlich lernt sie die Schulordnung rückwärts auswendig.«

»Pscht!«, machte jemand hinter ihnen, und Pina senkte beschämt den Blick. »Man sollte nicht über einen Menschen urteilen, wenn man nicht zwei Wochen in seinen Mokassins gelaufen ist.«

»Die trägt ganz sicher keine Mokassins!«, raunte Flo.

Da erklang erneut die Fanfare. Jetzt kam der große Moment des Matilda-Schwurs. Direktorin Petronova schlug ein altes, ledergebundenes Buch auf und rief die Neuen nacheinander nach vorn. Mit der Hand auf dem Herzen musste sich nun jedes Mädchen vor ihr aufstellen, den uralten Eid ablegen und schwören, die Schule niemals zu verraten. Nach dem Schwur lag eine kurze, feierliche Stille über dem Saal, dann riefen alle Schülerinnen laut die Begrüßungsformel »Te salvere iubemus, discipula mathildae imperatricis!«[1], und Petronova legte der Neuen einen roten Samtumhang um die Schultern. Damit war sie endgültig im Kreis der Matilden aufgenommen.

Die ersten Schwüre verfolgte Flo noch aufmerksam, dann schweiften ihre Gedanken wieder zu der Fahrrad-gegen-Pferd-Wette ab. Es gab nämlich noch ein Problem: Selbst wenn sie mit Pina heimlich an Cilly und Lilly vorbeikam und sich aus dem Osttrakt abseilen konnte, musste sie ja vorn irgendwie wieder aufs Internatsgelände. Wie sollten sie sonst Eisenherz und Pinas Stute Agas aus dem Stall holen? Durch den bewachten Haupteingang konnten sie ja schlecht, und blöderweise war das gesamte Schulgelände von einer riesigen Mauer umgeben. Ihr fiel keine Stelle ein, wo man ohne Hilfsmittel hinüberkam! Flo grübelte so angestrengt, dass sie gar nicht mitbekam, wie Petronova die Neuen nun auf die Schlafstuben verteilte. Sie hörte auch nicht, dass Min-Hai die schöne Marathonläuferin zugeteilt wurde und Charly das große Wikingermädchen ins Zimmer bekam. Erst als Pina ihr fest ins Bein kniff, schreckte sie auf und sah nach vorn zur Bühne. Dort saß jetzt nur noch das brave Mädchen mit dem Bauernzopf.

Flo wurde blass. »Nein, bitte nicht!«, stöhnte sie, aber da traf sie auch schon der messerscharfe Blick der Direktorin. »Unsere neue Schülerin Blanca«, verkündete Petronova laut, »wird in den Osttrakt ziehen, zu Florence und Pina.«

Kapitel Zwei

»Hey, vielleicht ist sie ja ganz lustig?«, versuchte Pina, Flo aufzumuntern, als sie sich nach vorn zur Bühne drängelten. »Vielleicht ist sie verschwiegen wie … die Schrumpfkopfsammlung eines Shuar-Häuptlings? Oder büxt selbst gern mal aus?«

Flo warf ihrer Freundin einen zweifelnden Blick zu. »Glaubst du das wirklich?«

Pina zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall müssen wir ihr eine faire Chance geben.«

»Du hast ja recht«, seufzte Flo. »Schließlich kann sie auch nichts dafür, dass sie in unser Zimmer gesteckt wurde, um uns auszuspionieren.«

Pina hielt sie am Arm und blieb stehen. »Das wissen wir doch gar nicht! Vielleicht ist es nur Zufall, dass …«

»Bei Petronova gibt es keine Zufälle«, unterbrach Flo sie finster.

»Blutsschwester!« Pina hielt Flo die Hand hin. »Wir werden diese Blanca als Komplizin gewinnen! Und wir werden einen Ausschlupf finden! Wenn nicht wir, wer dann?«

Flo holte tief Luft und klatschte ihre Freundin schwungvoll ab. Im selben Moment traf sie wieder der strenge Blick der Direktorin. Ungeduldig winkte Petronova sie heran.

»Pina! Florence! Ich möchte euch eure neue Mitbewohnerin vorstellen.« Sie zeigte auf Blanca, die stumm neben ihr stand. »Holt bitte zuerst Blancas Gepäck vom Torhaus und zeigt ihr dann die Bibliothek. Ihr habt den ganzen Nachmittag dafür Zeit.«

»Den ganzen Nachmittag?!«, platzte Flo heraus.

Pina stieß sie in die Seite. »Klar, machen wir. Gern.«

Die Direktorin sah Flo noch einmal durchdringend an, dann wandte sie sich der nächsten Mädchengruppe zu.

Unschlüssig standen Flo, Pina und Blanca voreinander.

»Hallo«, sagte Pina und streckte Blanca die Hand entgegen. »Cool, dass du zu uns ins Zimmer kommst.«

Ohne Pina richtig anzusehen, schüttelte Blanca ihre Hand.

»Hattest du eine weite Anreise?«

»Ja.«

»Wo kommst du denn her?«, fragte Flo und gab ihr nun ebenfalls die Hand.

»Zuletzt haben wir in Paraguay gelebt«, antwortete Blanca.

»Wow! Ich komme aus Nordamerika«, rief Pina. »Ich bin durch Empfehlung unserer Stammesältesten aufs Matilda gekommen.«

»Ich komme aus England«, erklärte Flo. »Meine kleine Schwester Charly ist auch hier auf der Schule.«

»Aha«, sagte Blanca, und dann war es still zwischen ihnen. Und zwar auf so eine komische, unangenehme Art. Flo und Pina wechselten einen Blick. Dann startete Pina einen neuen Versuch: »Wie bist du denn hier an die Schule gekommen?« »Auf Empfehlung«, gab Blanca knapp zurück und presste wieder die Lippen aufeinander.

»Tja, dann«, sagte Flo, bevor es wieder so quälend ruhig wurde, »holen wir am besten mal dein Gepäck, oder?«

Blanca nickte.

»Dafür müssen wir raus auf den Kreuzgang. Das Torhaus ist auf der gegenüberliegenden …« Doch bevor Flo ihren Satz beendet hatte, war Blanca schon losmarschiert. Verblüfft sah Flo ihr nach. »Was ist denn mit der los?!«

Pina wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Der Samen reift auch nicht an einem Tag zum Baum. Vielleicht braucht sie einfach ein bisschen Zeit, um hier anzukommen?«

»Okay«, sagte Flo, denn in Pinas Cherokee-Weisheiten steckte immer eine ordentliche Portion Wahrheit. Außerdem hatten sie ja keine Wahl: Sie mussten Blanca als Komplizin gewinnen. Denn nur wenn sie bereit war, die Klappe zu halten, hatte Flo eine Chance, heimlich auszubüxen und ihre Wette zu gewinnen!

 

Als sie im Torhaus ankamen, herrschte dort ein riesiges Durcheinander. Koffer, Taschen und Seesäcke lagen kreuz und quer in der kleinen Eingangshalle verteilt. Die Kuriere und Lieferanten hatten das Gepäck einfach über die Türschwelle geworfen, denn weiter durften sie nicht. Nur Schülerinnen und Personal war es erlaubt, den Innenring des Internats zu betreten, und das Torhaus war der einzige Ein- und Ausgang – mal abgesehen von der Katzenluke der Hausmeisterwohnung.

Mitten in dem Chaos stand eine kleine, dicke Frau und versuchte Ordnung zu schaffen. Es war die Hausmutter Madame Maseleige. Doch jedes Mal, wenn sie die Gepäckberge ein wenig sortiert hatte, kam eine aufgeregte Erstklässlerin und durchwühlte die Haufen, weil ein Rucksack oder Kuscheltier fehlte.

»Blanca?«, keuchte Madame, während sie ein paar bunte, gewebte Taschen übereinanderstapelte. »Ich glaube, deine Sachen stehen dahinten in der Ecke.«

Im selben Moment heulte ein kleines Mädchen auf: »Jemand hat meinen Seesack aufgeschlitzt! Jetzt ist alles rausgefallen!«

»Ach, Schätzchen, nicht weinen«, tröstete Madame. »Ich helfe dir beim Einsammeln. Das kann nur ein ganz dummer Unfall gewesen sein.«

Aus den Augenwinkeln sah Flo, wie Blanca plötzlich sehr nervös wurde.

»Was ist das denn?«, sagte Pina da und bückte sich. »Ist die vielleicht aus deinem Seesack gefallen?« Sie hielt dem heulenden Mädchen eine glänzende Goldmünze hin.

»Nee, die gehört mir nicht«, schniefte die Kleine.

»Hat die irgendjemand verloren?«, fragte Pina laut und hielt das goldene Geldstück in die Luft, damit alle im Raum es sehen konnten. Plötzlich wurden Blancas Augen groß, sie schubste Flo beiseite und stürzte auf ihren Koffer zu. Flo purzelte rückwärts in einen Haufen Rucksäcke, aber Blanca beachtete sie gar nicht. Hektisch kontrollierte sie die Schlösser ihres Koffers und rüttelte an den Verschlägen.

»Hat die noch alle Fahnen an der Burgzinne?!«, zischelte Flo, während sie sich wieder aufrappelte.

»Keine Ahnung«, sagte Pina leise und betrachtete die Münze. »Die ist eigentlich kein Grund, so auszuflippen, oder?«

Flo schaute ihr über die Schulter. Die Prägung der Münze zeigte ein großes Schiff mit drei Segeln, und am Rand stand Puerto Belo.

»Wenn sie niemandem gehört, lege ich sie zu den Fundsachen«, flötete da Madame und kraxelte über die Kofferberge heran.

»Merk dir die Inschrift und das Bild«, wisperte Flo, bevor Pina der Hausmutter die Münze reichte.

In der Zwischenzeit hatte Blanca ihren großen Überseekoffer aus der Ecke gerumpelt.

»Alles in Ordnung?«, fragte Pina. »Du warst plötzlich so panisch?«

Blanca schaute auf. »Ich? Nein, ich … Ich war nur besorgt … ob hier geklaut wird?«

»Ach so«, sagte Flo und sah ihr prüfend in die Augen. »Wir dachten schon, die Goldmünze hätte dir so einen Schreck eingejagt.«

»Was? Nein!«, sagte Blanca hastig und wandte den Blick ab. »Die Münze hab ich gar nicht gesehen …« Sie schnappte ihren Koffer und wuchtete ihn hinaus in den Kreuzgang. »Zeigt ihr mir jetzt die Bibliothek?«

Flo hielt Pina am Arm zurück. »Die lügt doch!«

»Vielleicht hatte sie wirklich Angst, dass hier geklaut wird?«

»Du glaubst ihr?«

»Nicht wirklich«, gab Pina zu. »Aber wir hatten uns vorgenommen …«

»… sie zu unserer Komplizin zu machen«, vollendete Flo den Satz. »Ich weiß. Und ich möchte auch, dass wir uns gut mit ihr verstehen. Aber irgendwie ist sie merkwürdig.«

Pina schob Flo aus dem Torhaus. »Du kannst den Frühling so wenig wie den Sommer herbeizwingen. Du kannst nur geduldig warten.«

»Schon klar«, brummelte Flo. »Helfen wir ihr beim Tragen!«

 

»Boah«, ächzte Pina, als sie den Koffer um die erste Biegung des Kreuzgangs geschleppt hatten. »Der ist ja so schwer wie ein ausgewachsener Büffel!«

»Hast du da Felssteine drin?«, stöhnte Flo.

Blanca tat, als hätte sie nichts gehört.

»Lass mich raten«, presste Pina hervor. »Du bist Gesteinsforscherin. Das ist dein besonderes Talent. Darum bist du hier an der Schule!«

»Ich tippe eher auf Gewichtheben«, versuchte Flo einen Scherz.

Doch Blanca drehte sich mit todernster Miene um und verkündete: »Ich lese äußerst gern. Außerdem backe ich leidenschaftlich Cupcakes.«

Vor Schreck ließ Flo los, und der Koffer krachte mit einem lauten Rums auf den Steinboden. »Du backst?!«, platzte sie heraus. »Freiwillig?«

»Ja«, erwiderte Blanca ruhig und bückte sich. »Ich würde gern einen Kurs anbieten, für die jüngeren Jahrgänge.« Damit wuchtete sie den Koffer wieder hoch.

Pina warf Flo einen vorwurfsvollen Blick zu und hob ebenfalls wieder an.

»Tut mir leid«, formte Flo lautlos mit den Lippen. »Aber hast du schon mal gehört, dass jemand hier aufgenommen wurde, weil er so toll backen kann?«

Pina schüttelte den Kopf und formte ebenfalls lautlos: »Aber wenn du so weitermachst, wird sie bestimmt nicht unsere Komplizin.«

Flo verdrehte die Augen, doch wenn sie ehrlich war, ärgerte sie sich am meisten über sich selbst. Jetzt hatte sie Blanca voll vor den Kopf gestoßen! Wieso konnte sie nicht einmal ihre Meinung für sich behalten?! Und weil sie nicht gleich wieder in ein Fettnäpfchen treten wollte, hielt sie bis zur Bibliothek erst einmal den Mund.

Sie stellten den Koffer in die Ecke hinter dem Eingang und traten in den gigantisch hohen, quadratischen Raum. Beim Anblick der unzähligen Regalreihen klappte Blanca der Kiefer runter. Wie hypnotisiert drehte sie sich im Kreis und starrte zu den Wänden hinauf, die bis zur Milchglasdecke mit Büchern gefüllt waren. Dann zählte sie die Galerien, die sich alle zwei Meter um den Saal zogen, und stieß ein tiefes »Da kotzt doch der Klabautermann!« aus.

Flo sah Pina fassungslos an. »Hat sie da gerade eben …?«

»Ich habe es auch gehört«, wisperte Pina.

»Sie sieht aus wie meine Tante Klara, die Buchhalterin, aber flucht wie ein Matrose nach einem Fass Rum«, zischelte Flo. »Mit der stimmt doch was nicht!« Doch dann fiel ihr ein, dass sie ja ihren blöden Patzer wiedergutmachen wollte. Außerdem liebte sie selbst Sachbücher und Nachschlagewerke – und vielleicht ließ sich hier ja irgendeine Gemeinsamkeit finden? Bemüht freundlich wandte sie sich an Blanca: »Was liest du denn gern?«

»Alles«, antwortete Blanca und marschierte zu der schmalen Treppe. »Ich fange mal oben an.«

Nun wurde Flo blass. Die Bibliothek verfügte über 1,2 Kilometer Bücherregale. Über die Computer an den Lesetischen konnte man online weitere vier Millionen Exemplare leihen. Selbst wenn Blanca sich nur einen groben Überblick verschaffen wollte, kämen sie hier nicht vor Weihnachten raus.

»Halt!«, kreischte es da vom anderen Ende der Bibliothek, und ein kleiner, hakennasiger Mann stürmte zwischen den Lesetischen auf sie zu.

»Puh«, machte Flo, und es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie beim Anblick von Signor Alberto erleichtert aufatmete. Der stets übel gelaunte Bibliothekar konnte Schülerinnen nämlich grundsätzlich nicht leiden. Hinter jeder witterte er eine Seitenausreißerin oder popelklebende Rotznase. Flo und Pina hatte er ganz besonders auf dem Kieker, seit sie in der ersten Klasse einmal hinter den Ausgabetresen geklettert waren. Flo hatte eine mit Regalen getarnte Tür entdeckt, und allein der Gedanke, dass sich dahinter irgendetwas Verbotenes verstecken könnte, hatte sie magisch angezogen. Alberto war ausgerastet und hatte sie am Kragen zurückgezerrt, bevor sie den unordentlichen Hinterraum betreten konnten. Seitdem ließ er sie nicht aus den Augen, sobald sie einen Fuß in die Bibliothek setzten.

Und auch jetzt jagte er wieder wutentbrannt heran, doch gerade als er seine knochigen Finger nach Blanca ausstrecken wollte, rief eine piepsige Stimme: »Das ist in Ordnung, Liebling!« Wie aus dem Nichts war Albertos Chefin und Ehefrau Signora Libro aufgetaucht. »Direktorin Petronova hat die Mädchen angekündigt. Sie dürfen sich alles anschauen, auch die Galerien.«

Alberto machte ein Geräusch, das Flo an eine ausgehungerte Hyäne erinnerte, dann stapfte er hinter Blanca die Treppe hinauf und schnauzte: »Los, mitkommen!«

Pina und Flo folgten stumm.

Ganz oben, auf der fünften Galerie, bog Blanca zielstrebig nach rechts in die Abteilung »Mythen und Sagen«. Doch zu Flos Überraschung schien sie gar nicht an den spannenden Heldengeschichten interessiert. Im Eiltempo marschierte sie an den Regalen vorbei, fuhr nur mal mit einem Finger über den Staubschutz aus grünem Filz oder tippte ein paar Borde an. Genauso tat sie es in der Naturkunde-Abteilung und in der gesamten vierten Etage. Erst in der dritten verharrte sie kurz vor dem einen oder anderen Buch und fischte ein paar Bände über historische Motoren aus den Bücherreihen. Dabei verzog Alberto jedes Mal so schmerzhaft das Gesicht, als wenn sie ihm einen seiner gelben Zähne aus dem Kiefer gerissen hätte. Nachdem Blanca die gesamte Galerie umrundet hatte, reichte sie Alberto die Hand und sagte: »Für heute habe ich genug gesehen. Herzlichen Dank.« Damit stieg sie die Treppe wieder nach unten.

»Ich glaube, ich habe einen Knoten im Degen«, flüsterte Flo. »Erst kriegt sie den Mund nicht auf, aber dann kotzen gleich mal die Klabautermänner! Beim Anblick einer Goldmünze fällt sie fast in Ohnmacht, aber angeblich hat sie die gar nicht gesehen! Sie kann es kaum erwarten, in die Bibliothek zu kommen, aber dann spaziert sie hier durch, ohne die Bücher anzugucken. Verstehst du das?«

Pina schüttelte den Kopf.

»Wenn das so weitergeht, sehe ich für meine Wette schwarz«, stöhnte Flo. »Und überhaupt für unser ganzes nächstes Schuljahr.«

 

Als die drei kurz darauf mit dem schweren Koffer in ihrem Zimmer ankamen, entdeckten sie auf jedem Kopfkissen einen feinen, cremefarbenen Umschlag mit Schulsiegel. Gespannt rissen sie die Kuverts auf, zogen den neuen Stundenplan hervor – und die Ankündigung der großen Geländespiele!

»Jieppie!«, juchzte Flo. »Und das schon in zwei Tagen! Das ist das Coolste überhaupt!« Sie sprang auf ihr Bett und begann so wild draufloszuhüpfen, dass der Lattenrost quietschte. Pina legte glücklich eine Hand aufs Herz und sandte einen Dankesgruß zur Sonne. Beide liebten diese Wettkämpfe, bei denen sie sich ohne Kompass und Karte durch die Berge schlagen und spannende Aufgaben lösen mussten! In den letzten Jahren war es Flo und Pina immer gelungen, den ersten Platz des Jahrgangs zu ergattern – haarscharf vor Cilly und Lilly. Und sicher wären sie auch in der Gesamtwertung der Schule ganz vorn gelandet, wenn sie nicht immer Flos kleine Schwester Charly hätten mitschleppen müssen!