Für die wahre Magie im Leben.
Die Magie, die zählt.
»Es gab eine Zeit, da lebten begabte Menschen wie ihr unbemerkt unter den Menschen. Eine Zeit, da sich die meisten von uns dem Schutz jener verschrieben haben, die gegen die Dunkelheit machtlos waren. Dann kehrte er zurück und machte die dunkelsten Visionen der Prophetinnen wahr. Das Urböse kehrte zurück, unterwarf die Erde mit seiner Armee von Dämonen und riss sein Fleisch und Blut aus den Armen der letzten Prophetin.«
Ein leises Keuchen und Wimmern ging durch die Runde, ehe ich fortfuhr.
»Prinz Sethemba wuchs an der Seite des Königs heran, widersetzte sich jedoch der Finsternis in seinem Blut und blieb auf der Seite des Lichts, wie es die letzten Visionen vorhersagten. Dann wurden ihm jedoch seine Gefühle zum Verhängnis. Er spürte ein Band zu einem Mädchen seines Alters, das er mit Zuneigung und Liebe verwechselte. In Wahrheit hatte er seine Zwillingsschwester kennengelernt. Doch noch ehe er davon Kenntnis erlangte, entglitt er dem Licht und stand nun machtvoller denn je an der Seite des Königs. Unerreichbar für seine Schwester und all jene, die ihre Hoffnung in die letzte Prophezeiung gelegt hatten. Die dunkelsten aller Tage sind angebrochen, die letzte Präsenz unseres Gottes, unseres Beschützers, schwindet stetig.«
Alle Versammelten sahen zu der nur noch schwach leuchtenden Skulptur hinüber, die nicht länger in der Lage war, über dem Boden zu schweben.
»Nun haben die zahlreichen Opfer der letzten Wochen auch unsere größte Beschützerin geschwächt. Sie weilt zwischen unserer Welt und der Welt danach. Noch hält sie der Versuchung des ewigen Lichts jenseits unseres Lebens stand, sie will nicht aufgeben. Doch den Verlust weiterer ihrer Kinder wird sie nicht verkraften können.«
Mein Blick ruht auf dem Körper, der inmitten unseres Kreises auf einer Bahre ruht, und ich schlucke den Kloß im Hals hinab. Die ehemalige Oberste Dee schien in den letzten Wochen um mehrere hundert Jahre gealtert zu sein. Je weiter sich die Dunkelheit verbreitete, je mehr Siege das Böse davontrug, desto schwächer wurde Dee. Ebenso wie das Leuchten der letzten Mondskulptur der Welt. Bald würde es erlöschen, ebenso wie Dees Leben. Das konnte ich nicht zulassen. Also erhob ich mich und verstärkte mit einem kleinen Zauber meine Stimme.
»Brüder und Schwestern! Es ist an uns, die Menschen zu beschützen, wie es seit Anbeginn der Zeit der Wunsch unseres Gottes war. Weswegen ihr alle mit mächtigen Gaben beschenkt wurdet. Wir werden nicht aufgeben. Und wir werden den Kampf gewinnen. Wir werden meinen Bruder retten und meinen Vater besiegen. Für die Zukunft!«
Ich riss einen Arm nach oben, während ich den alten Schlachtruf der Kinder des Mondes über den Platz hallen ließ.
Ein Chor aus Stimmen antwortete mir wie ein Echo: »Für die Zukunft!«
Sethemba
Mit einem angewiderten Blick belächelte Seth die drei Personen vor ihm. Der dunkelhaarige Mann war in schlichte Gewänder gekleidet, wie es sein Vater nach seiner Rückkehr für alle Untertanen zur Pflicht gemacht hatte. Mit erhobenem Kinn stand er da, der Narr. Hatte seine Frau und den kleinen Jungen hinter sich geschoben, als könne er sie vor ihm beschützen. Beinahe hätte Seth aufgelacht. Er sog genüsslich die Luft ein, die von Angst getränkt war. Der kleine Junge wimmerte und kroch beinahe in seine Mutter hinein. Er mochte vielleicht sechs oder sieben Jahre alt sein.
Etwas in Seths Innerem rührte sich. Wie immer, wenn er gezwungen war das Blut seiner Mutter anzuzapfen, um die Verbindung zu anderen Magieträgern zu erspüren, empfand er es plötzlich: Gefühle, Emotionen. Ein tiefes Knurren entfuhr seiner Kehle. Sein dunkles Blut brauchte Nahrung, um das Licht wieder zum Erlöschen zu bringen.
Er hob seine Hand und noch ehe der Mann ihm gegenüber betteln und flehen konnte, fiel er leblos zu Boden. Sein Mund war bereits geöffnet gewesen, nun spiegelte seine Leiche den Schrecken seiner letzten Sekunden. Die Augen des Mannes waren vor Angst weit aufgerissen, und doch erkannte Seth eindeutig Sorge darin. Nicht um sein eigenes Leben, sondern um das seiner Familie, die er nicht hatte beschützen können.
Narr! Seth genoss den Anblick, befeuerte mit den Schreien der Frau und des Kindes sein dunkles Blut. Energie raste durch seinen Körper wie eine dunkle Welle, die endlich das Licht wieder zum Erlöschen brachte. Bevor es ihn wieder an seine Gefühle erinnern konnte. An Gefühle, die er einst für ein Mädchen gehegt hatte, das ihn verraten hatte.
Er hatte sich geschworen jeden Magieträger zu finden und zu vernichten. Er würde alle aufspüren, die ihr wichtig gewesen waren. Er würde sie für das leiden lassen, was sie ihm angetan hatte.
Schmerz durchzuckte ihn und im ersten Moment befürchtete Seth, dass die Mutter ihn angegriffen hatte. Dann jedoch realisierte er, dass der Schmerz aus seinem Inneren kam. Es war das, was in seinen Büchern, mit denen er in seiner Kindheit so viel Zeit verbracht hatte, als gebrochenes Herz beschrieben worden war.
Er materialisierte seinen Schwarzen Dolch – ein Geschenk seines Vaters – und trat auf die Frau zu. Ihr Leid würde den Schmerz des Lichts in seinem Inneren überschwemmen. Er musste vergessen. Und dafür musste er sie quälen.
Nadiya
»Ich begrüße alle Neuankömmlinge in unserer Runde.« Ich sah mich um, schaute in die neugierigen, teils verängstigten Augen und versuchte ihnen mit meinen Blicken Mut zu machen, ihnen Hoffnung zu schenken. Ich wollte sie beruhigen und ihnen sagen, dass sie in Sicherheit waren. Ein kleiner Junge drückte sich an die Brust eines anderen Mädchens. Sie hieß Marcella und wirkte nicht viel größer als er, doch ihre magische Begabung war weit fortgeschritten. Sie hatte Leo hierhergebracht, zu dem Ort, den sie Lager nannten, und ihm so das Leben gerettet.
Ich schloss die Augen und drängte die Tränen zurück. Leo litt noch immer unter dem Fluch, mit dem Sethemba ihn belegt hatte. Aus Eifersucht hatte mein Zwillingsbruder meinen Freund töten wollen. Zu seiner Verteidigung konnte ich nur sagen, dass er nicht wusste, wie tief die Verbundenheit zwischen ihm und mir wirklich war. Dass das, was wir bei jedem Aufeinandertreffen gespürt hatten, von unserem gemeinsamen Blut herrührte. Mehr konnte ich Sethemba jedoch nicht zugestehen. Diese Tat hatte ihn komplett in die Finsternis gestürzt und ihn für uns alle hier unerreichbar gemacht. Ich konnte ihm nicht erklären, wer ich wirklich war. Dabei hatte ich es in den letzten Wochen so oft versucht.
Ich räusperte mich. »Es gab eine Zeit, da war die Macht des Mondes grenzenlos«, setzte ich an, wie es Dee jeden Vollmond getan hatte. Ich sah hinauf in den düsteren Himmel. Obwohl heute die Nacht des Vollmondes war, die Nacht seiner größten Macht, stand er lediglich wie ein Schatten am Himmel, vermochte es nicht einmal genug Licht auf den Versammlungsplatz des Lagers zu werfen und die Finsternis in den uns von allen Seiten einschließenden Wald zurückzutreiben.
Nachdem Dee schwer erkrankt war, wurde mir die Rolle der Stellvertreterin der Obersten zugeteilt. Jeder im Lager wusste, dass ich eine der Zwei war, die laut der letzten Prophezeiung meiner leiblichen Mutter Victoria die Welt zurück ins Licht führen oder in ewige Finsternis stürzen würden. Auch heute noch, Monate nach dieser alles verändernden Erkenntnis, hatte ich Angst, in diese Rolle zu schlüpfen. Ich war viel zu jung, besaß zu wenig Erfahrung, hatte bis zu jenem Ereignis nur Gerüchte über den alten Gott gehört.
Alle Augen waren auf mich gerichtet. Meine beste Freundin Mia nickte mir aufmunternd zu. Ich schluckte meine Zweifel hinab und fuhr fort.
»Der Mond beschützte die Menschen, doch die Dunkelheit hielt immer weiter Einzug.« Als ich Luft holte, raschelte es im Wald rund um das verborgene Rebellenlager und ich bekam eine Gänsehaut. Mehrere Kleinkinder wimmerten verängstigt und wandten sich an die Jugendlichen oder die wenigen Erwachsenen im Lager.
Auch Mia drückte zwei kleinere Körper an sich. Ihre Lippen waren nun zusammengepresst. Sie selbst wusste genau, wie es vor der Rückkehr des Königs gewesen war. Ihre Familie hatte dem alten Gott die Treue geschworen, jedes Familienmitglied war mit Gaben beschenkt worden und hatte sich später dem Ritual zur Verwandlung in einen Vampir unterzogen. Sie lebten seit Jahrhunderten auf diese Weise. Da sie sich nach der Rückkehr Balthasars gut versteckt hielten, waren sie seiner Rache entgangen: Sie waren nicht registriert und in den Vampirbezirk von Rom gebracht worden wie die meisten Anderwesen der Stadt.
»Wir jedoch weigern uns, nur zuzusehen. Hier ist jeder willkommen. Seit die Welt so dunkel geworden ist, sogar mehr denn je.«
Das Bild meiner Ziehmutter tauchte in meinem Kopf auf. Der leblose Körper der einzigen Mutter, die ich gekannt hatte. In dieser Nacht hatte die Dunkelheit für mich begonnen. Doch jeder der Menschen hier hatte seine eigene dunkelste Stunde. Sethemba vernichtete die bislang versteckten Magieträger auf beispiellose Weise. Er spürte sie auf, wie es nicht einmal die Diaboli, die dämonischen Wächter des Königs, geschafft hatten. Sethemba war gnadenlos, ohne auch nur den kleinsten Funken von Gefühlen in seinem Inneren, wie es hieß.
Ich war nie nahe genug an ihn herangekommen, um mit ihm sprechen zu können. Wann immer er mich erblickte, verschwand er und wurde zu einer düsteren Nebelschwade, die sich anschließend in den unzähligen Schatten der Stadt verlor. Er griff mich nie an, verletzte mich nie direkt oder versuchte mich zu töten.
Ein Blick in seine Augen hatte mir allerdings verraten, warum. Sein Hass, seine Wut, seine Enttäuschung … Sie waren so unbändig und grenzenlos, dass er mich nicht umbringen würde, ehe er mir alles genommen hatte, was mir noch geblieben war.
Ich sah in die Runde. Neben Mia saß Fernando, ebenfalls mit zusammengepressten Lippen. Seine einzige noch lebende Verwandte, Maria, die mich nach dem Tod meiner Stiefmutter bei sich aufgenommen hatte, war nicht hier im Lager. Sie hatte sich geweigert zu fliehen, wollte uns von der Stadt aus beschützen. Wir rechneten bei jedem Boten mit der Kunde von ihrem Tod. Ich atmete stockend ein.
»Auch in der kommenden Nacht werden wir wieder neue Mitglieder in unserer Familie willkommen heißen. Ich bitte euch um eure Unterstützung«, fuhr ich fort.
Pfiffe hallten über den Platz, ein Schwarm kleiner Vögel rauschte über unsere Köpfe hinweg. Sie kreischten durcheinander, dennoch konnte ich erahnen, was sie zu sagen hatten.
Mein Kopf ruckte zu Milo, einem Jungen in meinem Alter, der die Gabe hatte, das Zwitschern und Pfeifen zu verstehen. Er sollte mir Gewissheit geben.
»Jemand kommt!«, antwortete er auf meine stumme Frage hin. »Und es sind sehr viele!«
Sethemba
»Liebster?«
Schon allein ihre Stimme widerte Seth an. Er knurrte nur zur Antwort und Arianna fuhr erschrocken zurück. Seth ging zum Fenster seines neuen großen Zimmers, das der König für ihn hatte errichten lassen, nachdem sich Seth zu ihm bekannt hatte.
Arianna folgte ihm, blieb so dicht hinter ihm stehen, dass er ihre Unterwürfigkeit spüren konnte. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Als er sie vor Monaten – es schien mehrere Leben her zu sein als Gemahlin vorgeschlagen hatte, war sie die stolze Seherin eines mächtigen Hexenzirkels gewesen. Nun, da er sich nicht einmal anstrengen musste sie mit seinem Bannzauber unter Kontrolle zu halten, war sie zu einer Marionette geworden.
Seherin! Darüber konnte er nur lachen. Nachdem er das letzte Licht in seinem Blut zum Erlöschen gebracht hatte, war ihm klar geworden, dass es das Erbe seiner Mutter gewesen war, das dafür gesorgt hatte, dass er kaum magische Fähigkeiten hatte entwickeln können. Seine Mutter war schuld daran gewesen, dass er sich immer unzulänglich gefühlt hatte, nicht im Ansatz Hexen wie Arianna ebenbürtig gewesen war.
Das hatte sich nun geändert. Er war stärker als sie alle. Was an dem Geheimnis lag, mit dem Arianna ihn eigentlich hatte erpressen wollen und das ihr zum Verhängnis geworden war. Er trug nicht nur des Königs dämonisches Blut in sich, sondern den letzten verbliebenen Splitter des Bösen, der dem König zur ewigen Regentschaft in Dunkelheit fehlte.
Als er noch geistig verwirrt gewesen war, hatte er diese Macht nutzen wollen, um an der Seite von Nadiya gegen seinen Vater zu kämpfen. Gegen sein eigen Fleisch und Blut. Doch Nadiya hatte ihm gezeigt, dass es auf der Seite des Lichts keinen Platz für ihn gab.
Ariannas Hand berührte seinen Nacken und glitt seinen Rücken hinab. »Ich muss dir etwas erzählen.«
Seth fuhr herum. »Was willst du mir erzählen, was ich nicht längst selbst weiß?«, fragte er spöttisch. Dennoch drang er in ihren Geist ein und suchte nach dem, was sie ihm mitteilen wollte. Einst waren ihre Gedanken eine Festung gewesen, geschützt von zahlreichen unüberwindbaren Mauern, die er nur durch einen Trick hatte durchbrechen können. Nun jedoch glitt er durch die Trümmer ihrer geistigen Barriere, angewidert von ihrer Schwäche, die Arianna in seinen Augen so wertvoll machte wie die Trolle der Garde.
Er durchsuchte die verwirrten und gebrochenen Gedanken von Arianna und fand schnell, was er suchte: Den magischen Schimmer, der jede ihrer Visionen umhüllte, weil er von einer anderen Macht zu ihr gesandt worden war und nicht ihrem eigenen Wesen entsprang.
Er ließ sich in der Vision nieder wie unzählige Male zuvor und dennoch war es anders und er schrie auf.
Nadiya
Die Warnrufe der Vögel hallten noch immer über den Versammlungsplatz.
»Marcella!«, rief ich, die schmale Magierin, die viel jünger aussah als ihr tatsächliches Alter von rund sechzehn Jahren, war jedoch schon aufgesprungen.
»Ich sehe nach!«, rief sie noch, ehe sie sich in Luft auflöste.
Kein Magieträger der Welt beherrschte Portationen so gut wie sie. Ich selbst hatte es versucht, war jedoch gescheitert und Dee hatte mich davor gewarnt mich zu übernehmen. Wer nicht ausreichend geschult war – selbst wenn er genügend Talent besaß-, konnte sich auf der Lunar-Ebene verlieren und würde von dort nie wieder entkommen.
Kaum dass sie weg war, kam Milo kopfschüttelnd näher. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine tiefe Furche.
»Was ist los?«, fragte ich. »Haben sie noch mehr gesagt?« Mein Blick glitt hoch zu den noch immer aufgeregt herumsausenden Vögeln.
»Sie sagen, es sind … Freunde. Jemand, der mit ihnen spricht«, sagte Milo.
»Dann sind Hexen unter ihnen!«, sagte Mias Mutter Ginevra bestimmt. Die Lippen der Vampirin waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Dämonen haben keine biologischen Fähigkeiten.«
Ich nickte. Hexen waren einst, wie wir alle, mit Magie des Mondes beschenkt worden. Nur hatten sie sich der Dunkelheit verschrieben. Ehe ich etwas antworten konnte, materialisierte sich Marcella wieder. Sie ließ den Mondstein an ihrer Kette los, den sie meist fest in ihrer Faust hielt, um die Magie zu konzentrieren, die für eine Teleportation nötig war.
»Es sind nur drei«, berichtete sie. »Kaum hatte ich mich bei meinem Aussichtspunkt materialisiert, hat einer von ihnen zu mir hochgesehen. Sie haben mich gespürt!« Ihre Stimme klang so fassungslos, wie ich im Moment aussehen musste.
»Das kann nicht sein«, mischte sich Ginevra ein. Mias Mutter war eine der wenigen Erwachsenen hier, die selbst Magie wirken konnten. »Oder bist du über die Barriere getreten?«
Marcella warf ihr einen mörderischen Blick zu, der an der Vampirin jedoch wirkungslos abprallte. »Sieh doch selbst nach«, sagte sie daraufhin bissig. Sie mochte es gar nicht, wenn ihr Talent nicht anerkannt wurde oder man sie aufgrund ihres zarten und elfengleichen Äußeren falsch einschätzte. Das hatte ich schon bei unserem ersten Zusammentreffen am eigenen Leib erfahren. Mir war immer noch schlecht beim Gedanken an meine erste Portation hierher, dabei schien es Jahre her zu sein und die Welt hatte sich inzwischen ein weiteres Mal verändert.
Ich wollte hier jedoch keinen Vergleich der Fähigkeiten anstellen, der uns nur ausbremsen würde. Dee hätte so etwas sofort unterbunden, also folgte ich dem, was sie für richtig halten würde. Mir war oft beinahe so, als hätte ich eine direkte gedankliche Verbindung zu ihr, obwohl sie seit Wochen im Gebäude der Heiler reglos dalag, als wäre sie in jenem Moment gestorben, als die Mondskulptur – das Zentrum des Lagers – aufgehört hatte zu schweben.
»Sind es nur Hexen oder auch Dämonen?«, fragte ich.
Marcella zuckte mit den Schultern, ihr Gesichtsausdruck war unentschlossen.
»Bring mich hin!«, befahl ich und reichte ihr bereits die Hand. Ich war die einzige, die die dunkle Magie wirklich spüren konnte, wie ein Brennen auf der Haut.
»Ich muss was erledigen. Es ist wichtig.« Marcella zögerte.
»Was sollte es Wichtigeres geben als den Schutz des Lagers?«, antwortete ich, etwas forscher als beabsichtigt. »Bring mich hin!«
Marcella nickte ergeben. Sofort reichte sie mir die Hand und umfasste mit der anderen den Mondstein.
»Wenn es Dämonen sind, werden sie dich wollen«, hielt uns Ginevra auf und sah aus, als würde sie mich jeden Moment mit ihren vampirischen Kräften stoppen, sollte ich es wagen mich mit Marcella zu portieren.
»Wenn es Dämonen sind, müssen wir das wissen, bevor sie den Weg hierher finden«, konterte ich.
Das Lager des Ordens, wie die Gruppierung rund um Dee irgendwann genannt worden war, war nicht auf normalem Weg zu erreichen. Zahlreiche magische Barrieren schützten den Ort und nicht einmal ich wusste, in welchem Wald auf welchem Teil der Erde wir uns überhaupt befanden. Es waren allein talentierte Magieträger wie Marcella, die sich zu orientieren wussten in den Irrwegen der Lunarebene, die man bei einer Portation durchqueren musste.
»Vielleicht sind sie zufällig hier?«, sagte Fernando wenig hoffnungsvoll. Marcella verdrehte die Augen.
»Bring mich zu ihnen«, befahl ich erneut. Marcella griff nach meiner Hand, umfasste mit ihrer Rechten ihren Mondstein und die Welt um mich herum verlor sich im Rauschen.
Sethemba
Seth packte Arianna und stieß sie von sich. Sie flog mehrere Meter weit und ging stöhnend zu Boden. Er rieb sich die Tränen aus den Augen, ehe er durch die Schatten zu Arianna glitt, sie erneut hochriss und schüttelte, sodass ihr Kopf widerstandslos vor- und zurückflog.
»Was hast du vor?«, zischte er. Sein Puls raste, sein Magen bestand aus einem Klumpen von Gefühlen, die er geglaubt hatte, weit hinter sich gelassen zu haben. Sein Gesicht war tiefrot und er bemühte sich nicht die dämonische Seite in sich zu zügeln, die danach lechzte wieder die Oberhand zu gewinnen. Alles in ihm begehrte danach diesen Schmerz wieder loszuwerden. Einen Schmerz, den er nie mehr hatte spüren wollen.
Arianna wimmerte. Ihr Körper war stark genug nicht unter Seths Kraft zusammenzubrechen. Ariannas Mutter, die Meisterin des hiesigen Hexenzirkels, behandelte ihre Tochter ständig mit Magie. Doch Ariannas Wesen konnte sie nicht stärken. Ariannas Geist war gebrochen und er würde auch nicht so schnell wieder heilen.
»Sag mir, warum du mir das gezeigt hast!« Seth zog Arianna zu sich, bis sich ihre Gesichter beinahe berührten. Er schmeckte ihren Atem, schmeckte ihre Angst und leckte sich genüsslich über die Lippen. Sein dunkles Blut brodelte durch die Energiezufuhr.
»Ich …«, setzte Arianna an. »Ich weiß es nicht.«
Mit einem weiteren Knurren ließ Seth Arianna los und befand sich im nächsten Moment wieder am Fenster. Hinter sich hörte er, wie Arianna ohne seinen Halt zu Boden sank.
»Wer hat dir diese Bilder geschickt?«, versuchte Seth es ein letztes Mal, ohne Ariannas Verstand noch weiter zu zerstören.
Keine Antwort.
»Wer?«, brüllte er, sein Körper bebte, wollte, dass er dem dunklen Drang nachgab wie so oft.
Das leise Flüstern hätte genauso gut dem Wind entsprungen sein können, dennoch entzündete es ein Feuer der Wut in Seth.
»Er.«
Nadiya
Man sollte meinen, die vielen Portationen hätten mich gegen dieses widerliche Gefühl im Magen abgehärtet, doch leider war dem nicht so. Jedes Mal hatte ich kurz den Gedanken, wie mutig ich doch war Marcella ein weiteres Mal meine Hand zu reichen und mich in dieses ewige Nichts zu stürzen. Genau so musste es sich angefühlt haben, wenn man sich in die Ungeheuer auf dem Rummelplatz gesetzt hat, zu denen ich als kleines Mädchen emporgesehen hatte. Seit der König die Welt verändert hatte, gab es keine solchen Fahrgeschäfte mehr und ich hatte es nie testen können.
Portationen waren aber definitiv nicht meins. Während ich mit mir rang mich zu übergeben, strahlte Marcella, als hätte man eben den Tod des Königs verkündet. Sie war jedes Mal wie berauscht, während ich mich neben ihr krümmte und die Magensäure hinabschluckte.
Marcellas Züge wurden ernst und sie deutete mit dem Kopf ein Stück weiter. Dort ragte der große Fels, auf dem wir standen, bis in die Gipfel der Bäume hinein. Er war Teil des äußeren Rings, der den magischen Schutz bildete und der das Lager in einem Umkreis von mehreren Hundert Metern umgab.
Wir gingen ein paar Schritte, gingen kurz vor dem Abgrund in die Knie und krochen die letzten Meter. Langsam zog ich mich nach vorne und linste vorsichtig nach unten. Mehrere Personen schoben sich durch das engstehende Gebüsch. Es waren Erwachsene, soweit ich es erkennen konnte. Kaum hatte ich einen Blick auf den Vordersten von ihnen gerichtet, wandte sich der Mann um und sah nach oben. Direkt in meine Augen.
Ich zuckte zurück, verbarg mich auf den Boden gepresst vor seinem Blick und hoffte, dass dieser Mann dort unten lediglich ein Gespür dafür hatte, beobachtet zu werden. Ich kannte dieses Kribbeln im Nacken nur zu gut. Das Gefühl, sich umsehen zu müssen, ehe etwas Furchtbares geschieht.
Dann spürte ich die Magie. Sie erfüllte die Luft nicht, wie es große Zauber taten, sondern war eher der Hauch eines besonders intensiven Dufts in einer Brise. Sie strich mir über die Haare, über die rechte Wange und anschließend den rechten Arm hinab. Es fühlte sich an, als würde die Magie mich … streicheln.
»Was ist das?«, fragte Marcella und starrte auf ihren Arm.
»Hast du es auch gespürt?«, flüsterte ich zurück.
Sie nickte mit einem Stirnrunzeln, dann riss sie die Augen auf und sprang so schnell auf, dass ich sie nicht zurückhalten konnte. »Der magische Gruß!«, sagte sie laut.
»Was?«, fragte ich entgeistert.
»Dee hat mir davon erzählt. Es gab unter denen, die Victoria geglaubt hatten, eine Art Erkennungszauber. Aber müssten nicht alle ihre damaligen Verbündeten tot sein?« Noch immer verunsichert rieb sie über ihren Arm.
»Und jetzt?« In meinem Kopf lieferten sich die verschiedenen Möglichkeiten ein Duell. Bis mir eine innere Stimme sagte: Wir müssen sie schützen, das sind Verbündete. Ich glaubte die Stimme zu erkennen. Die Stimme, die ich für Dees Gedanken hielt, die sie mir auf telepathischem Weg übermittelte. Ich richtete mich ebenfalls auf, trat an den Rand der Klippe und sah erneut nach unten.
Die Menschen waren stehengeblieben. Der Mann, auf dessen Gesicht unter der Kapuze ich vorhin nur einen kurzen Blick hatte erhaschen können, stand ruhig da und hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sodass ich sein Gesicht nun bis ins Detail erkennen konnte. Er wirkte etwas jünger, weniger unnahbar durch die einfache Kleidung und die Kapuze, die jetzt in seinem Nacken lag.
Mein Magen zog sich zusammen. Mein Puls raste, als ich nach Marcellas Hand griff und ihr befahl uns so schnell wie möglich wegzubringen.
Die Mundwinkel des Mannes verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.
Ich kannte dieses Lächeln nur zu gut. Zuletzt hatte ich es am Trevi-Brunnen gesehen, als er die Vermählung seines Sohnes mit Arianna bekanntgegeben hatte.
Dort unten stand der König – in der Kleidung des einfachen Volkes.
Sethemba
Es war unmöglich. Er war tot. Seth ließ seine Wut an den Wachen des Königs aus, vernichtete einen Soldaten nach dem anderen, der ihm auf dem Weg in den Thronsaal entgegenkam. Er hinterließ einen Aschehaufen nach dem anderen. Die zwei Wachen neben dem Eingang zum Kuppelsaal des Pantheons waren ebenfalls mit einer Handbewegung aus dem Weg geräumt.
»Mein Sohn«, begrüßte ihn der König mit Belustigung in der Stimme. Ihn schien der Wutausbruch und der Tod der vielen Dämonen und anderen Soldaten zu amüsieren. Voller Stolz sah er von seinem aus Knochen erschaffenen Thron hinab zu Seth, der direkt unter dem kreisrunden Loch in der hohen Kuppel des Pantheons stand.
»Arianna hatte eine Vision«, zischte Seth. Sofort hatte er die volle Aufmerksamkeit seines Vaters und auch die von Audrey, der dämonischen rechten Hand seines Vaters, die sich wie fast immer in dessen Nähe aufhielt. Seth hatte sich geschworen sich eines Tages zu rächen für all ihre einstigen Untaten. Nun, da sie ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Vorerst jedoch genoss er die Vorstellung, wie er sie würde leiden lassen.
»Was hat sie gesehen?« Audreys Augen glühten rot. Ihr Gesicht verschwamm und zeigte ein vages Bild ihrer wahren dämonischen Gestalt, ehe sich die Tarnung der attraktiven Menschenfrau wieder festigte.
»Sie hat mir Bilder meiner Vergangenheit gezeigt.« Seth schloss die Augen, hielt in Gedanken fest, was er in Ariannas Geist gefunden hatte, und leitete es weiter an seinen Vater und Audrey. Er wollte es seinem Vater und ihr nicht erzählen, sondern es sie spüren lassen. Er presste die Kiefer aufeinander und stemmte sich gegen das, was gleich kommen würde.
Das gesamte Pantheon veränderte sich, die Kuppel und die Mauern um ihn herum lösten sich auf, das Zentrum von Victoria verschwand, ein Nichts bewegte sich in immer größeren Kreisen, ehe das Bild Geschwindigkeit aufnahm, hohe Berge überquerte und sich jenseits der Alpen verlangsamte. Sanftere Hügelketten ersetzten die hohen Berge, bewaldete Gebiete waren durchzogen von saftigen Feldern. Mitten in einem dieser dunkelgrünen Wälder stand ein kleines Haus, auf das sich Seths Bild nun fokussierte.
Er entdeckte die Bewegung unterhalb der zahlreichen Tannen, noch ehe der kleine Junge ins Haus gezerrt wurde. Die Frau war wunderschön. Allein ihr Anblick fügte Seth mehr Schmerzen zu, als ihn ein Schwarzer Dolch je hätte verursachen können – und das obwohl jene Waffe auf mentaler Ebene die grausamsten Qualen und Schmerzen hervorrief, sodass der Tod geradezu eine Erlösung war. Er sah die Angst in den Augen seiner Mutter und die Gewissheit, dass sie ihn für immer allein lassen musste.
Victoria küsste Seth ein letztes Mal auf die Stirn, nachdem sie ihn mit einem seiner liebsten Schokoriegel an den Tisch gesetzt hatte. Dann trat sie nach draußen, schloss die Tür hinter sich und stellte sich den Ankömmlingen.
Seth hörte die Schreie, spürte die Zauber, Victorias helle Magie, die für ein Kribbeln auf der Haut sorgte, und die angreifende dunkle Magie, die sich in Haut und Kopf brannte wie Säure.
Der kleine Seth stürmte schreiend zur Tür, riss sie auf und sah, wie Audrey seine Mutter überwältigte. Blut rann ihr aus den Mundwinkeln. Ihre letzten Worte waren ein heiseres Flüstern, unterbrochen von einem Husten, der den ganzen Körper erschütterte. Dennoch hatten sie eine Wirkung auf Seth, die er sich nicht erklären konnte.
»Bleibt immer im Licht, Seth. Versprich mir, dafür zu sorgen.« Ihr Blick war flehend, statt voller Schmerz angesichts des nahenden Todes. »Zwei vom Blut aus Licht und Schatten. Ihr müsst zusammenhalten!« Ihre lichte Magie strich dem Kleinen ein letztes Mal über die Wange, ehe sie verblasste.
Seth kehrte ins Pantheon zurück und stieß die Vision schnell von sich.
Audrey hatte ein dämonisches Lächeln aufgesetzt. »Sie hat dir gezeigt, was damals geschehen ist? Warum?«, fragte sie.
Seths Inneres kämpfte noch immer gegen die Emotionen an, die ihn zu überwältigen drohten. Mitgefühl. Schmerz. All das hatte er hinter sich gelassen und nie mehr spüren wollen. »Habt ihr meine Mutter«, Seth spuckte das Wort aus, als wäre es giftig, »gehört? Sie hat in der Mehrzahl gesprochen.«
Audrey riss die Augen weit auf, während der König Seth anerkennend zunickte. »Sie wusste es bereits vor den Seherinnen des Zirkels«, knurrte er. »Sie wusste von den Zwei. Vermutlich von dem Moment an, da ich sie aufgespürt hatte.« Die Worte des Königs waren nur ein Flüstern. »Sie wusste, dass ich das Kind unter ihrem Herzen spüren würde, ganz gleich, wie viele Epochen uns trennten, und dennoch hat sie ihre Visionen vor mir verborgen.«
Seth kannte die Geschichte. Immer und immer wieder hatte sein Vater erzählt, was geschehen war, nachdem man ihn besiegt hatte: Ein Splitter seiner selbst hatte den Geist Heinrichs des VIII. übernommen. Nur durch die Hand seines Vaters waren so viele Frauen hingerichtet worden, nur wegen ihm war im England der damaligen Zeit eine neue Religion entstanden. Eines Tages hatte er Victoria gespürt. Durch die Verbindung, die sein eigenes Blut geschaffen hatte: das Kind, das sie in sich getragen hatte. Seth. Die Verbindung hatte ihm mehr über Victorias Pläne verraten, hatte ihm gezeigt, wie er zurückkehren konnte. Doch offenbar hatte Victoria dem König etwas verheimlicht.
»Findet heraus, wer sie ist!«, brüllte der König Audrey an, die völlig gedankenverloren wirkte und nun zusammenzuckte.
»Nicht nötig, Vater«, antwortete Seth lächelnd, während er sich gegen den Schmerz des Verrats wappnete, sobald ihr Bild in Gedanken auftauchte. »Ich weiß, wer sie ist.«
Audreys Kopf ruckte zu ihm.
»Sie ist das Licht, das reinste Wesen, das ich je gespürt habe«, beschrieb Seth beinahe schwärmerisch das Gefühl, das er bei ihren Treffen gehabt hatte. Ehe sich das Bild rund um Nadiya rot färbte und ihm das zeigte, was sein Herz für immer gefrieren hatte lassen: Nadiya, die sich über den toten Leo beugte, ihn küsste und ihm sagte, wie sehr sie ihn liebe.
Ihn.
Diesen … Menschen!
Seths ballte die Hände zu Fäusten, in denen sich die dunkle Energie sammelte. Er entließ sie mit verkrampften Händen und schleuderte sie um sich herum zu Boden.
Audrey wurde von der Wucht der Energieentladung nach hinten geschleudert. Der König hingegen schmunzelte mit rotleuchtenden Augen. »Dann solltest du sie aufspüren und töten.« Er klopfte Seth auf die Schulter, ehe er sich entmaterialisierte und verschwunden war.
Audrey rappelte sich wieder auf und stöhnte dabei leise. Eines Tages würde Seth sie vollkommen vernichten und es genießen, sie in ihre Dimension zurückzuschicken.
Doch zuerst würde er sich auf Nadiya konzentrieren.
Nadiya
»Es ist der König«, brüllte ich, noch ehe ich mich von der Portation erholt hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde war jedes Geräusch verstummt. Im Lager herrschte absolute Stille. Selbst die Vögel hatten ihre Schreie ausgesetzt, als hätten auch sie mich verstanden.
Dann brach Chaos aus. Erwachsene schrien, Kinder weinten, Teller und Becher des Mondfestes stürzten zu Boden, als Bewegung in den Versammlungsplatz kam. Marcella war verschwunden.
Ich selbst stand da, gegen die Übelkeit ankämpfend, und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war keine Anführerin, ich war jung, wusste nichts von magischen Kriegen oder Kriegstaktiken. Alle hier im Lager waren in Gefahr. Der König wollte mich. Ich hätte niemals herkommen dürfen. Hätte nicht so egoistisch sein dürfen bei Leo zu bleiben, um ihm beizustehen und zu versuchen, ihn zu retten. Damit hatte ich ihn endgültig zum Tode verurteilt. Wie auch alle anderen hier.
Eine Hand berührte mich sanft an der Schulter und ich beruhigte mich so weit, dass ich wieder frei atmen konnte. Ein Beruhigungszauber.
»Du bist nicht schuld daran, dass er uns aufgespürt hat«, sagte Ginevra mit gefasster Stimme. »Die Barrieren werden standhalten. Er kann sie nicht durchdringen. Nicht solange wir alle zusammenhalten.«
Mia und Fernando kamen zwischen den ziellos umherrennenden Menschen und Magiebegabten auf mich zu und stellten sich zu mir. Mir entging nicht, wie Ginevra den Mund verzog, als sie die verschränkten Finger der beiden bemerkte.
Mia hatte Fernando vor Monaten das Leben gerettet und sie waren durch ihr Blut miteinander verbunden. Das Blut von Vampiren hatte heilende Kräfte. Aber jemanden vom Sterbebett zu holen verursachte bei Lunaern, zu denen Mias Familie gehörte, eine enge Verbindung zwischen Retter und Gerettetem. Enger, als Mias Mutter es für gut befand. Aber ohne Mia wäre Fernando einem Virus zum Opfer gefallen.
Mias gesamte Familie hatte später versucht Leo ebenfalls auf diese Weise zu retten. Doch sein Zustand hatte nichts mit einer Krankheit des Körpers zu tun. Sethemba hatte mit all seiner neu entfachten Magie einen dunklen Fluch auf ihn geworfen, den niemand zu kennen schien und daher zu brechen vermochte. Ich blinzelte hastig die Tränen weg. Es war nicht der richtige Moment, um erneut in Trauer zu versinken.
»Sammelt euch!«, befahl Ginevra und die Menschen gehorchten.
Nein, nicht die Menschen. Es waren die Kinder und Jugendlichen, die plötzlich alle zu wissen schienen, was zu tun war. Sie fassten sich an den Händen. Die Reihe wurde länger und länger, umringte bald den Versammlungsplatz. Ab und an wurde sie von einem Erwachsenen durchbrochen, doch die meisten waren höchstens in meinem Alter.
Mia nahm mich bei der Hand und schloss sich dem Kreis an. Ginevra stellte sich an Mias Seite und griff mit der einen Hand nach ihrer Tochter und mit der anderen nach dem vielleicht sechsjährigen Mädchen neben sich, das viel zu gefasst wirkte. Eben war sie noch unter den schreienden Kindern gewesen, doch irgendetwas schenkte ihnen Kraft.
Als Ginevras Hand die des Mädchens umfasste, ging ein Ruck durch mich hindurch. Energie, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte, ballte sich im Zentrum unseres Menschenkreises zusammen. Magie. Lichte Magie, die die Steinskulptur des Mondes in der Mitte des Versammlungsplatzes zum Erleuchten brachte und dafür sorgte, dass sie sich langsam erhob, zuerst träge bewegte und dann immer schneller rotierte.
Das Licht, das aus dem Stein floss, wurde heller und heller, bis ich es nicht mehr ertragen konnte hinzusehen. Ich schloss die Augen und glaubte plötzlich alle Gedanken der Umstehenden zu hören. Jedes einzelne Glied unserer Menschenkette. Sie alle teilten das Mantra: »Schütze uns.«
Durch meine geschlossenen Lider brannte sich das Licht, ehe eine Macht durch mich hindurchbrach, die Verbindung zu den anderen kappte und ich auf dem Hintern landete.
»Was ist passiert?«, rief ich Ginevra zu, während ich mich umsah. Ich erkannte das schwache bläulich-weiße Leuchten, das sich wie eine immer weiter wachsende transparente Blase in alle Richtungen ausdehnte. Ein Schutzzauber!
»Die Barrieren sind gefestigt«, atmete Ginevra erleichtert auf. »Keine dunkle Magie wird sie überwinden können.«
Die Kinder jubelten und umarmten sich gegenseitig. Ich beobachtete sie mit einem Lächeln. »Woher haben sie gewusst, was zu tun war?«, fragte ich.
»Ich habe es ihnen befohlen.« Ginevra tippte sich auf meinen irritierten Ausdruck hin an die Stirn. »Ich habe lange keine Macht mehr auf einen anderen Geist ausgeübt. Ich verabscheue die Gedankenkontrolle, die uns im Blut liegt, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Aber ich habe keinen anderen Ausweg gesehen.«
Ich runzelte die Stirn. »Warum wusste ich dann nicht, was ich tun sollte?«
»Dein Geist ist zu stark, um beeinflusst zu werden. Sie sind jung, haben nie gelernt sich abzuschotten. Das war hier ja auch nicht nötig.«
»Ich habe es auch nie gelernt«, gab ich zu bedenken.
»Du bist anders, Nadiya. Dir liegt es im Blut. Im Blut deiner Mutter.«
Ich überlegte noch, wie dann Dees Stimme immer wieder zu mir durchdringen konnte, als Milo rief: »Sie sind innerhalb des Kreises!«
Waldtiere huschten auf die Lichtung, rannten wie vor einem großen Feuer davon.
Sethemba
Seth mochte das Gefühl nicht, schwach zu sein. Wer würde sich schon freiwillig selbst schwächen? Doch er wusste, dass er Nadiya wie all die Magieträger zuvor nur über ihr besonderes Band würde aufspüren können. Über die Verbindung der lichten Magie – über die er Nadiya kurz vor ihrem Kennenlernen bereits gespürt hatte.
Nachdem sie ihn und seine Gefühle verraten hatten, hatte er die Magie seiner Mutter komplett in sich weggeschlossen, hatte ihr keinen Zugang zu seinem Inneren und keine Kontrolle mehr über sein Handeln gegeben. Die lichte Seite hatte ihn gehemmt, seine wahre Macht unterdrückt, die nun durch seinen Körper strömte. Dennoch musste er sie nun erneut zulassen, um diesen Faden aufzuspüren, der ihn zu Nadiya bringen würde.
Die Garde hatte den Befehl, auf ihn zu warten, während er sich in seinen Räumen vorbereitete. Es war eine Lüge, dass er diese Art der Vorbereitung wirklich bräuchte. Doch Seth wollte nicht, dass die Soldaten seines Vaters sahen, wie er Schwäche zeigte. Schwäche, für die er früher bekannt gewesen war. Doch nun war er ein anderer. Der Sohn des Königs, der Prinz der Welt, dessen Macht der seines Vaters in nichts nachstand. Seth war sich sogar sicher, dass er sie würde übertreffen können, weil er wusste, dass er den letzten Splitter der Essenz seines Vaters in sich trug. Vor all den Jahren hatten seine Mutter und ihre Verbündeten Balthasars Wesen gespalten. Seth trug den letzten Teil in sich, der seinen Vater zu endgültiger Macht verhelfen würde.
Er trat zum Fenster und blickte auf die Straßen hinab. Menschen eilten geschäftig hin und her. Alles schien so normal und trotzdem fühlte es sich anders an als vor Nadiyas Verrat. Alles wirkte eintöniger, farbloser, nichts stach mehr heraus, nichts zog Seths Neugier auf sich oder förderte seine frühere Abenteuerlust zutage.
Er knirschte mit den Zähnen, als eine Erinnerung durch seine Gedanken zog. Ein Olivenbaum, der aus dem Nichts gewachsen war. In der Ödnis des Forum Romanum. Das erste Mal, dass er etwas geschaffen hatte – und das ihm gezeigt hatte, dass seinem dunklen Blut nichts Gutes entspringen konnte. Der Baum war kurz darauf verdorrt.
Seth schloss die Augen und atmete tief ein. All seine Gedanken konzentrierten sich auf Nadiya, auf das Gefühl, das er vom ersten Moment an verspürt hatte. Auf dieses Band zwischen ihnen, zwischen ihren Herzen. Das Band, das Nadiya mit ihren Taten zerstört und mitsamt seinem Herzen zerrissen hatte.
Ein Gefühl von Wärme durchflutete ihn trotz all der Wut über Nadiya. Es war dieses verdammte Blut seiner Mutter, das ihm die positiven Seiten des Lebens zeigen wollte. Doch es gab keine positiven Seiten. Nicht für ihn, den Prinzen der Dunkelheit.
Er schob die Magie, die sanft über seine Haut strich wie eine zarte Berührung, mit zusammengepressten Lippen von sich. Er würde sie nie wieder mit offenen Armen empfangen und sich darüber auch noch freuen. Im Laufe der letzten Wochen hatte Seth seinen Vater verstehen gelernt. Was nutzten die vermeintlich schönen Seiten des Lebens und die gute Magie, wenn sie die schmerzhaftesten Gefühle mit sich brachten?
Er lachte bitter auf. Sein Blickfeld rötete sich an den Rändern, überzog die Gebäude der Stadt mit einem Schimmer, der dem Morgenrot glich. Doch vor ihm erschien ein silbrig-weißer Glanz, den man für den Faden einer Spinne halten würde. Seths Mundwinkel hoben sich, sein dunkles Blut übernahm wieder die Kontrolle, jedoch streng darauf bedacht, die Verbindung zwischen ihm und der lichten Magie nicht ganz abreißen zu lassen. Er wandte sich vom Fenster ab und verließ mit schnellen Schritten sein Zimmer.
Auf dem Flur kam ihm Audrey entgegen. Seth ignorierte ihren fragenden Blick und ließ sie stehen. Wieso sollte er mit der rechten Hand seines Vaters sprechen, wenn er ihm direkt die gute Nachricht verkünden konnte? Als er Schritte hinter sich hörte, glitt er in die Schatten und durchquerte das Pantheon auf seine Art.
Im Kuppelsaal trat er wieder in die normale Welt und registrierte mit einer gewissen Genugtuung, wie sein Vater auf seinem Knochenthron zusammenzuckte. Weder er noch Seth wussten, warum sich Seth auf diese Art portierte, die eine Mischung aus Dämonenweg und lichter Portation war. Anhand dessen, wie die Welt dann aussah, wenn Seth in den Schatten wandelte, hatte er sich zusammengereimt, dass es die dunklen Winkel der Lunar-Ebene sein mussten, die er als Einziger mit dämonischem Blut in der Lage war zu durchqueren.
»Ich habe sie aufgespürt«, sagte er in einem Ton, der seine innere Unruhe vor dem Vater verbarg.
»Bist du dir sicher, dass sie es ist?«, fragte der.
In Seths Kehle bahnte sich ein Knurren seinen Weg nach draußen. Mit großer Anstrengung hielt er es zurück. »Es kann nur sie sein. Die lichte Magie ist sehr stark. Keinen der anderen konnte ich auf diese Weise spüren.«
Der König nickte. Nicht anerkennend, wie Seth es verdient hätte. Das würde Seth vielleicht zu sehen bekommen, wenn er ihm Nadiya auslieferte.
»Wir werden dich begleiten. Sie ist zu wichtig, um sich ihr allein zu stellen.« Der König sah sich im Kuppelsaal um. »Wo ist Audrey?«, donnerte er und erhob sich von seinem Thron.
Seth zuckte mit den Schultern. Im selben Moment wurden die Türen zum Kuppelsaal aufgerissen und Audrey trat keuchend ein. Sie warf Seth einen tödlichen Blick zu, den er mit einer gehobenen Augenbraue erwiderte. Dann verbeugte sie sich vor dem König.
»Wird aber auch Zeit«, sagte dieser ruhig. Zu ruhig. Seth spürte, wie die dunkle Magie in Wellen von seinem Vater ausging und zu Seth hinüber schwappte. »Mein Sohn hat das Mädchen gefunden. Wir werden ihn begleiten. Wenn du immer noch das Problem mit der Portation hast, solltest du dir jemanden suchen, der dich begleitet.«
Audreys menschliche Gestalt wurde kreidebleich ob dieser Demütigung. Seth hatte Mühe, sich zu beherrschen. Seine Mundwinkel unter Kontrolle zu halten. Er hatte sich geschworen Audrey zu vernichten. Doch zuvor sollte sie sich fühlen, wie er sich all die Jahre gefühlt hatte. Minderwertig. Nutzlos. Unbegabt.
Mit seiner neuen Kraft war es nicht schwer gewesen, ihre Fähigkeit zu blockieren. Nicht für Seth, der mehr dunkle Magie in sich trug als Audrey und all ihre dämonischen Kreaturen zusammen. Seth genoss es sie leiden zu sehen. Sie, die ihn stets hatte leiden lassen. Die Genugtuung war mit nichts zu vergleichen.
»Sardaz!«, rief Audrey und ein zwei Meter großer Mann betrat den Kuppelsaal.
Seth kniff die Augen zusammen, um unter das menschliche Äußere zu sehen, ließ das Bild jedoch schnell wieder los. Dieser Sardaz war eine der weniger humanoiden Kreaturen der Dämonenebene. Er glich eher einem widerwärtig entstellten Troll. Auf seinem Kopf befanden sich ein paar vereinzelte fedrige Haarsträhnen, die kalten Augen saßen asymmetrisch im Gesicht, ebenso wie die fleischigen Lippen. Seth verzog angewidert den Mund. Wo hatte Audrey den denn aufgetrieben? Und was hatte sie ihm gegeben, dass er ihr zu Diensten war?
»Ruft die Soldaten!«, befahl der König und warf einen knappen Blick zu den Wachposten neben der Tür. Diese nickten sofort eifrig und sprangen davon. Kurz darauf kehrten sie mit einer Gruppe menschlicher Soldaten zurück. Unter ihnen auch Marcus, der Seth anlächelte.
Schnell wandte Seth den Blick ab. Er hatte den Hexer Marcus einst für einen Freund gehalten. Den einzigen Freund, den er im Pantheon gehabt hatte. Doch auch der hatte ihm gezeigt, dass es auf dieser Seite der Magie keine Freundschaft geben konnte, wie er sie außerhalb des Pantheons oft unter Menschen und Anderwesen gesehen hatte. Marcus hatte Audrey alles über Seth verraten, was er gewusst hatte. Marcus' Lächeln entglitt ihm, ein Schatten huschte über sein Gesicht. Seth glaubte fast etwas wie Enttäuschung darin zu lesen. Eine nur allzu menschliche Reaktion, die ihn schwach wirken ließ. Seth verabscheute Schwäche.
Der König trat zu Seth und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Führ uns zu ihr.«
Seth nickte, verschwand in den Schatten und die Düsternis erhob sich. Alle Farbe wich aus dem Pantheon. Der silberne Faden war das einzig Helle an diesem Ort, ein schwacher Schimmer, der nicht hierhergehörte, sich widernatürlich anfühlte. Seth folgte ihm, schneller und schneller. Schatten huschten an ihm vorbei, während er über die Lunarebene glitt. Er konnte das Ende der Verbindung bereits spüren und verlangsamte seine geistige Bewegung. Sein Vater und die anderen würden sich an den Ort portieren, wo auch immer er in die reale Welt zurückkehren würde.
Seth verließ die Lunarebene. Rings um ihn herum schälten sich die Schatten von unzähligen Bäumen aus dem Nichts. Der silberweiße Faden endete wenige Meter vor ihm. Seth starrte das in der Luft hängende Ende mit zusammengekniffenen Augen an. Genau hier sollte sich Nadiya befinden, das andere Ende der besonderen Verbindung. Mit mahlendem Kiefer glitt er aus den Schatten heraus. Er stand mitten auf einer kleinen Lichtung, umgeben von turmhohen Bäumen, deren Kronen das Sonnenlicht fast gänzlich aussperrten. Er drehte sich um die eigene Achse. Hinter mehreren Baumreihen glaubte er einen Felsen zu erkennen. Von dort oben würde er die Lage überblicken, herausfinden, was hier gespielt wurde. Doch er kam nicht dazu.
Mit einem kurzen Zischen materialisierten sich sein Vater und die anderen neben ihm. Der König starrte ihn erwartungsvoll an.
Seth verwarf seinen Plan mit der Orientierung und huschte durch die Schatten dem Ende der Verbindung entgegen. Er streckte die Hand aus und berührte das Ende des Silberfadens, als ihn ein Schmerz durchzuckte, der ihn zu Boden warf. Begleitet vom Gelächter des Königs und Audreys.
Nadiya