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Das Buch

»Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, sangen Tocotronic in den Neunzigerjahren. Aber welcher überhaupt? Wollte man lieber zu den lässigen Skatern mit ihren riesigen Hosen und XXXL-T-Shirts gehören, zu den melancholischen Gruftis mit ihren schwarzen Umhängen und den weiß geschminkten Gesichtern, oder vielleicht sogar zu den bösen Punks? Und dann gab es ja auch noch die Hippies, die ununterbrochen die Doors hörten und dabei über ihre weiten Schlaghosen stolperten.

Sebastian und seine Freunde Flo, Tina und Dirk haben alles mal ausprobiert, denn sie waren jung und hatten das Geld. Also, jedenfalls Dirk. Sein Taschengeld reichte für alle. Doch am Ende jeder Jugendkultur wartete schon die nächste. Und jedes Mal mussten die vier Freunde ganz von vorne anfangen und sich die existenziellen Fragen der Popkultur stellen: Ist das T-Shirt richtig gebatikt? Wie sieht die weiße Mercedes-S-Klasse von Dirks Vater mit einer aufgesprayten Flamme aus? Und darf man den niedlichen Hamster Schnulle Satan opfern, wie es sich für einen echten Dark Metaller gehört?

Der Autor

Sebastian Lehmann lebt in Berlin. Er liest auf Bühnen in ganz Deutschland und bei der Lesebühne Lesedüne in Kreuzberg, die auch als Bühne 36 im rbb-Fernsehen und auf Netflix ausgestrahlt wurde. Mit Julius Fischer betreibt er den Podcast Zwei zu viel. Zuletzt erschien im Aufbau-Verlag seine Geschichtensammlung Kein Elch. Nirgends und der Roman Genau mein Beutelschema. Die Radiokolumne Meine 100 liebsten Jugendkulturen lief auf radioeins und SWR 3.

Sebastian Lehmann

Ich war jung
und hatte das Geld

Meine liebsten Jugendkulturen
aus den wilden Neunzigern

Mit Illustrationen von
Lisa Bender

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Originalausgabe


1. Auflage

Originalausgabe Juni 2017

Copyright © 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

unter Verwendung eines Fotos des Autors (© Annika Zieske)

Lektorat: Doreen Fröhlich

»Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«

Musik + Text: Dirk von Lotzow, Jan Klaas Mueller, Arne Zank

© Gold Musikverlag Ltd. & Co. KG,
Hanseatic Musikverlag GmbH & Co. KG

DF · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20369-6
V001

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

Wie ich einmal …

Skater

Öko

Existenzialist

Hippie

Bodybuilder

satanistischer Dark Metaller

Landprolet

Cosplayer

Gangsta-Rapper

Kommunist

Britpopper

Snowboarder

Emo

Raver

Christ

Reggae-Rastafari

Mittelalter-Fan

Pfadfinder

Straight Edge

Backpacker

Grufti

Breakdancer

Skinhead

Deutschrapper

BWLer

Kiffer

bei der Jungen Union

Girlie

echter Berliner, Alter

Jogger

Punker

Hacker

Basketballer

Autonomer

neoliberal

Festivalgänger

Eurodancer

Surfer

Heavy Metaller

68er

Spießer

Ballermann-Mann

Jazzer

Grunger

Kampfsportler

Poetry Slammer

Heimwerker

Trekkie

Teil der Hamburger Schule

Fußball-Hooligan

Mountainbiker

Rockabilly

Sprayer

Hells Angels Rocker

Skater

… war

Danke!

»Ich möchte mich auf euch verlassen können.
Mit euch durch die Straßen rennen.
Und jede unserer Handbewegungen
hat einen besonderen Sinn,
weil wir eine Bewegung sind.«

Tocotronic:
»Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«

1. Wie ich einmal Skater war

»Aua«, ruft mein Skater-Freund Florian, den alle nur Flame Flow nennen, weil er auf sein Skateboard eine Flamme gesprayt hat.

Flame Flow ist gerade mit seinem Board die drei Stufen vor unserer Schule runtergeskatet, hat sich aber mit seiner überweiten Baggy-Hose im Geländer verfangen und ist mit dem Kopf voraus auf den Asphalt geknallt.

Jetzt bin ich dran.

Auch ich verfange mich mit meiner Hose und knalle mit dem Kopf auf den Asphalt. Da liegen ja schon meine anderen Skater-Freunde Tina und Dirk.

Die weiten Klamotten stören aber nicht nur beim Skaten, auch das normale Gehen gestaltet sich schwer, ständig verliere ich meine Hose oder die riesigen Schuhe, die ich fünf Nummern zu groß gekauft habe. Oder ich trete aus Versehen auf mein XXXXL-T-Shirt und falle um. Wir brauchen gar nicht kiffen, wir wirken auch so schon verspult genug.

Nach der Schule gehen wir immer zur Halfpipe, um weiterzuskaten.

»Schaut mal, ich kann schon einen Double-Flip-Spin«, ruft Flame Flow und dreht sich auf seinem Skateboard zweimal um die eigene Achse – während er steht und das Board festhält.

Flow ist eindeutig der coolste Skater von uns, und alle Mädchen bewundern ihn. Also hauptsächlich Tina aus der Parallelklasse. Sie ist das einzige Mädchen, das überhaupt mit uns spricht.

Leider vertreiben uns die großen Skater dann von der Halfpipe, weil wir uns ständig an sie klammern, um nicht umzufallen. Wir haben uns nämlich jeder was beim Skaten gebrochen: Flame Flow sein Bein, Tina ihr Schlüsselbein, ich mein Nasenbein und Dirk beide Arme.

Zum Glück können wir noch sprayen – also alle außer Dirk. Er kann im Prinzip nur einen geraden Strich malen.

Allerdings sind die echten Spraydosen viel zu teuer, deswegen haben wir die Handmalfarben von Dirks kleiner Schwester geklaut. Mit denen malen wir heimlich die Wand der Garage von Dirks Eltern an.

Plötzlich kommt Dirks Vater in die Garage, und es gibt riesen Ärger, weil Flow auch auf die weiße Mercedes-S-Klasse eine Flamme gemalt hat.

Da beschloss ich mich vom Skaten abzuwenden und wurde Öko.

2. Wie ich einmal Öko war

»Mein lieber Sebastian«, sagt Florian zu mir, »ich hab dich gestern gesehen, wie du aus dem Aldi rausgekommen bist, voll beladen mit Cola in Plastikflaschen, Chipstüten und Dosenravioli, da war ich echt total voll enttäuscht von dir, weil du gar nicht mehr an die Umwelt denkst.«

»An die total arme Umwelt«, sagt Dirk und beißt von seiner Bio-Roggen-Stulle mit Dinkeleinlage und Rohmilchkäse ab, fair gehandelt aus der Schweiz. Das ist ganz schön kompliziert, weil seine Arme immer noch eingegipst sind. Trotzdem hat er noch Nutella draufgeschmiert und das Brot mit mehreren Salamischeiben belegt. Aber das darf Flo nicht erfahren.

Wir sitzen im Eltern-Kind-Café Bio? Logisch! im Prenzlauer Berg – als Einzige ohne Kinder. Leider hat uns Dirks Vater vorhin mit seiner weißen Mercedes-S-Klasse hierhergefahren, was unsere Ökobilanz ziemlich in den Keller zieht. Eigentlich dürften wir heute nur noch im Bett liegen und nicht atmen. Dabei wollten wir nachher noch zur Fahrrad-Sternfahrt gegen Massenobsthaltung in Supermärkten.

Wie immer tragen wir weiße Hosen und Hemden aus Leinen, weil dieser Stoff so toll atmungsaktiv ist und wir natürlich kein imperialistisches Deodorant benutzen, sondern nur einen Kristallstein, und deswegen in normalen Kleidern sehr stinken würden. Allerdings stinken wir auch so – und echte Leinenkleider besitzen wir auch keine. Stattdessen haben wir uns einfach unsere Bettbezüge umgewickelt.

»Ich könnte jetzt ein Bio-Sellerie-Walnuss-Vollkornbrot mit Chia-Samen vertragen und dazu vielleicht einen frisch gepressten Karottensaft aus der Uckermark«, versuche ich von meinem Aldi-Malheur abzulenken.

»Fair gehandelt?«, ruft Flo.

»Fair gehandelt aus der Uckermark?«, frage ich.

Ich nehme einen Schluck meines entkoffeinierten, laktosefreien Biokaffees aus Süd-Mexiko, den blinde und homosexuelle Waisenkinder, deren Eltern von den USA gefoltert und ermordet wurden, weil sie anarchistische Rebellen waren, mit bloßen – und mit extra aus Deutschland eingeflogener PH-neutraler Eigenurin-Bioseife gewaschenen – Händen gepflückt und mit ihrer eigenen Körperwärme geröstet haben.

Er schmeckt scheiße.

Da beschloss ich mich von der Öko-Bewegung abzuwenden und wurde Existenzialist.

3. Wie ich einmal Existenzialist war

»›Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut‹«, zitiere ich mein großes Vorbild Jean-Paul Sartre. Ich nehme meine riesige Hornbrille ab, die ich meinem Opa geklaut habe, und schaue in die Runde, bestehend aus Jean-Florence, Tiné und Jean de Dirque. Ich nenne mich jetzt nur noch Jean-Sébastien Léman.

Wir sitzen im Café Paris, das seltsamerweise ein griechisches Restaurant ist, und philosophieren. Außer Dirque, der ist eingeschlafen.

Wir anderen rauchen ununterbrochen blaue Gauloises und trinken Rotwein. Tiné trägt einen schwarzen Rollkragenpulli, hat sich die Augen mit Kajal schwarz umrandet und blickt arrogant ins Leere.

Ich versuche, wie Jean-Paul Belmondo in den alten französischen Filmen von Jean-Luc Godard meine Zigarette einfach lose im Mund stecken zu lassen und dabei zu reden. Aber entweder fällt die Kippe runter und brennt ein Loch in die Tischdecke, oder der Rauch steigt mir in die Augen, und ich muss deswegen weinen. Weil ich ständig weine, halten mich alle für empfindsam – nicht schlecht für einen Existenzialisten. Tiné streift mich sogar manchmal mit ihrem Blick und deutet ein Lächeln an.

»Isch schtimme dir zü«, sagt Jean-Florence, der jetzt nur noch mit französischem Akzent spricht. »Wie der große Philosöph Jean-Luc Picard es formülierte: Der Mensch ist nüschts anderes als das, wozü er sisch macht.«

Er zündet sich eine neue Zigarette an, obwohl er noch eine im Mund stecken hat.

»Kann ich auch eine haben?«, fragt Dirque, als er endlich aufwacht.

»Wie willst du denn rauchen mit zwei gebrochenen Armen?«, ruft Tiné.

Dirque beginnt zu schluchzen. Absurderweise hat er vor Tiné Angst. Mädchen machen ihn nervös, vor allem, wenn sie mit ihm reden. Das kommt zum Glück nicht oft vor. Florence und ich sind jedoch ein wenig in Tiné verliebt.

»Mes amis«, sage ich und rücke meine Baskenmütze zurecht, die leider ein Bundeswehrbarett ist, »wir sind hier, weil wir über den Existenzialismus diskutieren wollen.«

Während ich das sage, fällt mir schon wieder meine Zigarette aus dem Mund und kokelt Dirques Gips an, auf den wir vorhin ganz groß »Das SEIN« geschrieben haben. Absurderweise haben wir uns ein wenig verschrieben, und es sieht eher aus wie »Das BEIN«, was etwas verwirrend ist auf einem Gips am Arm.

Auf einmal kommt der Kellner zu uns und wirft uns raus, weil Rauchen im Café Paris verboten ist.

Da beschloss ich mich vom Existenzialismus abzuwenden und wurde Hippie.

4. Wie ich einmal Hippie war

»Ich fühle mich so high, so wide open«, sagt Florian, der sich jetzt Steppenwolf nennt.

»Richtig krass, diese ganzen psychedelischen Muster an der Wand«, sagt Dirk, der eine alte Lammfellweste seines Vaters und ein gebatiktes Stirnband trägt.

»Das ist doch nur die Blümchentapete von meinen Eltern«, sagt Steppenwolf und malt mit der restlichen Handmalfarbe vom Sprayen ein buntes Peace-Zeichen an die Wand.

Wir rauchen die ganze Zeit Joints – allerdings nur gefüllt mit Pfefferminztee, weil wir uns noch nicht trauen, Gras zu kaufen. Der Pfefferminztee haut nicht so richtig rein, aber zum Glück haben wir noch ein paar Ökosocken aus Hanfwolle übrig. Die können wir zerkleinern und dazubröseln. Schmeckt gar nicht so schlecht, und husten muss man davon auch nicht so schlimm.

Leider braucht Steppenwolf, der bei uns fürs Tüten-Drehen zuständig ist, für jeden Joint eine halbe Stunde. Am Ende klebt er sie mit Tesafilm zusammen. Ich glaube, wir werden eher von den Chemikalien des Tesafilms high als von den Socken.

Wir beginnen, zu den alten Doors-Platten von Steppenwolfs Eltern im Wohnzimmer zu tanzen. Nur Dirk nicht, weil das doof aussieht mit zwei gebrochenen Armen.

»Hey, ich fühle mich so frei, mein Bewusstsein fließt ohne Grenzen durch die Sphären des Universums«, sagt Steppenflo, der sich eine Langhaarperücke vom letzten Karneval übergezogen hat, in die er ein paar Geranienblüten von den Balkonblumen seiner Mutter gesteckt hat. Dazu trägt er einen Benetton-Pulli, den er mit Batik-Muster versehen hat.

Er wiegt sich verträumt zur Musik und schüttelt seine langen Haare. Dabei tritt er aus Versehen auf den übergroßen Schlag seiner Hose, fällt auf eine Duftkerze, die in einer leeren Rotweinflasche steckt, und seine Perücke fängt Feuer.

»Yeah, light my fire!«, rufe ich.