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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-722-7
»Esther? Tut mir leid, ich kann wieder einmal nicht kommen – es hat einen schweren Unfall hier in der Nähe gegeben, die Verletzten sind schon auf dem Weg zu uns.«
»Ach, Adrian! Du hattest den ganzen Tag Dienst, und dann mußt du jetzt auch noch…«
»Die Kollegen schaffen es nicht allein. Es war eine Massenkarambolage. Wir treffen uns ein anderes Mal in dem Lokal.«
Er hatte bereits aufgelegt, bevor sie noch etwas erwidern konnte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie ihr Handy wieder in der Tasche verstaute. »Man sollte weder Arzt sein, noch einen in der Familie haben!« sagte sie. »Jedenfalls nicht, wenn man sich gelegentlich mal verabreden möchte und hofft, daß diese Verabredung dann auch zustandekommt.«
Esther Berger war Kinderärztin an der Berliner Charité, ihr Bruder Adrian Winter leitete die große Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg. Die beiden waren Zwillinge, was aber nicht unbedingt erkennbar war. Esther war klein, zierlich und hellblond mit sehr blauen Augen, während Adrians Haare dunkelblond und seine Augen braun waren. Es gab zwar in ihren Zügen eine gewisse Familienähnlichkeit, aber das war auch alles.
»Was gibt’s denn?« erkundigte sich Esthers Freund, Thomas Laufenberg, der ebenfalls an der Kurfürsten-Klinik beschäftigt war und zwar als Verwaltungsdirektor. »Kommt Adrian etwa nicht?«
»Nein, es hat eine Massenkarambolage gegeben, er sagt, jeder Chirurg wird gebraucht, er kann jetzt nicht weg.«
»Dann holen wir unser Treffen nach«, meinte Thomas.
»Ja, das hat er auch gesagt. Das sagt er in solchen Fällen immer«, schimpfte sie. »Und dann dauert es wieder Wochen, bis die nächste Verabredung zustandekommt.« Sie sah sich in dem Lokal um. »Dabei war er noch nie hier, kannst du dir das vorstellen, Tom? Von seiner Wohnung bis hierher sind es keine zehn Minuten zu Fuß, und er kannte nicht einmal den Namen des Lokals. Dabei ist es schon längst richtig berühmt geworden.«
»Dank Annalena«, meinte Thomas, während seine Augen einer rassig aussehenden, dunkelhaarigen jungen Frau folgten, die ganz offensichtlich die Chefin hier war. Alle wandten sich an sie, wenn es Fragen oder Probleme gab, und sie schien überall präsent zu sein. Viele Gäste duzten sie und sagten »Annalena« zu ihr, und auch sie kannte offenbar die meisten, weil sie regelmäßig kamen. Es herrschte eine freundliche, sehr familiäre Stimmung – was jedoch zu keinerlei Nachlässigkeit im Service führte. Die Bedienungen war allesamt freundlich, aufmerksam und sachkundig, niemand mußte lange warten.
»Sie hat aus dem Laden hier eine Goldgrube gemacht«, meinte Esther, die ihren Ärger bereits vergessen hatte. »Sie ist ein Naturtalent, finde ich. Immer freundlich und ausgeglichen, nie nervös und hektisch. Kein Wunder, daß sie die Leute anzieht wie das Licht die Motten. Sie ist schön, erfolgreich und dabei noch angenehm im Wesen. Das ist bestimmt eine sehr seltene Kombination.«
Thomas griff nach Esthers Hand und zog sie an die Lippen. »Du bist das alles auch«, sagte er.
»Oh, danke schön!« Sie sah ihn verliebt an.
»Und du vergißt eins«, fuhr Thomas fort, »wenn sie hier kein gutes Essen anbieten würde, könnte Annalena so anziehend sein, wie sie wollte, niemand würde kommen. Für ein Lokal sind andere Dinge entscheidend.«
»Ach, ich weiß nicht. Annalena ist schon etwas ganz Besonderes«, meinte Esther. »Trotzdem hast du natürlich Recht: Die Speisekarte ist klein, aber alles ist erstklassig, das macht sich auch viel aus. Und das man hier nicht unbedingt etwas essen muß, sondern auch nur einen Wein oder ein Wasser trinken kann.« Sie sah sich um. »Außerdem ist es ein sehr schöner Raum – sieht irgendwie aus wie in Paris, die alten Bistros, findest du nicht auch?«
Er nickte. »Daran soll es wohl auch erinnern«, meinte er. »Ja, sie hat Geschmack.«
»Redet ihr von mir?« fragte in diesem Augenblick eine amüsierte Stimme. Sie hatten nicht bemerkt, daß sich die junge Chefin ihrem Tisch genähert hatte.
»Klar, was dachtest du denn, Annalena?« fragte Esther. »Wir haben mal wieder dein Lokal und alles, was du hier auf die Beine gestellt hast, bewundert.«
Die andere lachte. Sie war tatsächlich eine sehr anziehende Frau von vielleicht achtundzwanzig Jahren, in deren feingeschnittenem Gesicht die großen dunklen Augen und der üppige Mund sofort auffielen. »Ja«, gab sie zu, »wenn ich mal Zeit habe, bewundere ich mich selbst. Habt ihr Wünsche?«
»Mein Bruder kommt wieder einmal nicht«, teilte Esther ihr mit. »Er muß noch operieren.«
»Ich lerne ihn offenbar nie mehr kennen, den berühmten Dr. Adrian Winter«, meinte Annalena. »Dabei hast du mich allmählich wirklich neugierg auf ihn gemacht, Esther. Und nicht nur du, übrigens.«
»Wer denn noch?« erkundigte sich Esther neugierig.
»Ach, er ist offenbar ziemlich bekannt hier in Berlin«, meinte Annalena, die in einer anderen Stadt gelebt hatte, bevor sie nach Berlin gekommen war, um hier ein Lokal zu eröffnen. »Sein Name fällt gelegentlich.«
»Interessant«, meinte Esther. »Aber ich verspreche dir, du wirst ihn noch kennenlernen, und wenn ich ihn mit Gewalt hierher schleppen muß.«
»Ich will doch nicht hoffen, daß das nötig ist«, lachte Annalena. »Bisher sind die Leute immer freiwillig zu mir gekommen.«
»Wir sollten etwas bestellen«, schlug Thomas in diesem Augenblick vor, »allmählich habe ich nämlich richtigen Hunger.«
»Bravo, das ist die Stimme der Vernunft«, meinte Annalena. »Soll ich euch etwas empfehlen?«
Die beiden nickten, und sofort war nicht mehr von Adrian Winter die Rede, sondern von erlesenen Köstlichkeiten, bei deren bloßer Nennung Esther und Thomas das Wasser im Munde zusammenlief.
*
Es war gegen Mitternacht, als Adrian Winter gemeinsam mit seinem Kollegen, dem chirurgischen Assistenzarzt Bernd Schäfer, die OP-Station verließ. Beide Männer waren grau im Gesicht vor Erschöpfung, sie hatten mehrere Stunden lang operieren müssen – und das nach einem langen Arbeitstag, der bereits ebenfalls sehr anstrengend gewesen war.
»Und morgen früh geht’s schon wieder weiter«, brummte Bernd Schäfer. »Dabei hatte ich noch nicht einmal Zeit, etwas zu essen zwischendurch, ich fühle mich ganz schwach vor Hunger, das kann ich dir sagen.«
Trotz seiner Müdigkeit mußte Adrian lächeln. »Sei froh, du willst doch immer abnehmen. Diese Nacht hat dich bestimmt schon ein Kilo gekostet.«
Betrübt sah Bernd an sich herunter. Unter seinem Kittel wölbte sich unübersehbar ein stattlicher Bauch, dem er gelegentlich mit einem strikten Diätprogramm den Kampf ansagte, bis ihn die nächste Verlockung dazu brachte, diesen Kampf sang- und klanglos wieder abzubrechen. Meistens waren es Süßigkeiten, denen er nicht widerstehen konnte. »Ach, ich weiß nicht«, meinte er nun. »Was hilft es, wenn man schlank ist, sich dann aber schrecklich matt und erschöpft fühlt. Ich sage dir: Ein anständiges Wiener Schnitzel, Bratkartoffeln, von mir aus auch ein bißchen Salat – dazu zwei oder drei kühle Bierchen, das wär’s jetzt.«
»Mitten in der Nacht?« fragte Adrian trocken. »Danach könntest du gar nicht schlafen, Bernd.«
»Ich schon«, widersprach dieser. »Ich kann immer schlafen.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und immer essen.«
Er warf Adrian einen Blick zu, sah das Lächeln, das um dessen Mundwinkel zuckte, und fing dann selbst an zu lachen. »Ich bin unverbesserlich, ich weiß. Gehen wir noch schnell ein Bier trinken – um ein bißchen abzuschalten, bevor wir nach Hause gehen?«
Adrian sah auf die Uhr und zögerte, dann nickte er jedoch. »Ich war eigentlich mit Esther und Tom verabredet, aber das ist jetzt ohnehin zu spät. Die haben nämlich ein neues Lokal bei mir in der Nähe entdeckt, von dem sie mir schon seit Wochen vorschwärmen, aber bisher habe ich es noch nie geschafft, es mir einmal anzusehen. Und heute hat’s ja auch wieder nicht geklappt.«
»Ein neues Lokal?« fragte Bernd mit leuchtenden Augen. Er kannte nahezu jedes Lokal in der näheren Umgebung, das auch nur halbwegs anständiges Essen zu vernünftigen Preisen anbot. Essen war nun einmal seine Leidenschaft. »Gibt’s da auch was zu essen?«
»O ja, es soll erstklassig sein. Es heißt wie die Chefin: ›Annalena‹.«
»Davon habe ich doch schon mal gehört«, murmelte Bernd. »Aber wo denn bloß?«
»Egal, wo, jetzt gehen wir nicht mehr dahin!« sagte Adrian energisch. »Wir gehen hier um die Ecke, trinken jeder ein Bier und trollen uns nach Hause. Heute Nacht mache ich keine kulinarischen und sonstigen Entdeckungsreisen mehr, Bernd.«
»Schade«, seufzte sein Kollege. »Wirklich sehr schade, Adrian. Aber mit dir kann man ja über so etwas ohnehin nicht reden. Wer ständig von einer Nachbarin zum Essen eingeladen wird, die wie eine Sterneköchin kocht, kennt natürlich keine Not.«
»Quatschkopf«, sagte Adrian freundlich und gab Bernd einen kräftigen Schlag auf die Schulter. »Aber mit einem hast du natürlich Recht: Ohne Frau Senftleben sähe mein Leben sehr viel trauriger aus.«
Sie betraten eine stark verräucherte Kneipe, die trotz der späten Stunde noch sehr voll war, fanden mit Mühe einen Platz an der Theke und bestellten jeder ein Bier. Und tatsächlich fielen allmählich Streß und Anspannung des Tages von ihnen ab.
Es war richtig, noch hierherzugehen, dachte Adrian. Der Gestank ist zwar schrecklich, und der Lärm auch, aber man wird die Bilder los – die Bilder von den blutüberströmten Opfern des Unfalls, die uns so lange in der Klinik festgehalten haben.
Er bestellte ein zweites Bier und hoffte, der Alkohol werde ihn schläfrig machen. Manchmal war er nach so langer Arbeit zwar sehr erschöpft, aber zugleich so überdreht und hellwach, so daß er nicht schlafen konnte.
Auch Bernd trank noch ein zweites Bier, dann verließen sie die Kneipe wieder. »Bis morgen, Bernd«, sagte Adrian und sah in den Himmel hinauf, der über Berlin niemals richtig dunkel wurde.
»Bis morgen, Alter«, erwiderte Bernd. »Stell dir vor, ich bin nicht mal mehr hungrig, nur noch müde«.
»Dann gute Nacht!« sagte Adrian und machte sich auf den Weg. Er hatte es zum Glück nicht weit bis nach Hause. Nach wenigen Minuten war er bereits dort, und eine halbe Stunde später erfüllten sich seine Hoffnungen. Er schlief sofort ein.
*
Es war fast drei, als Annalena das Lokal verließ. Wenn die Gäste gegangen waren, gab es immer noch so viel zu tun – und sie wußte, daß es besser war, bestimmte Dinge noch nachts zu erledigen, weil sie einem dann leichter von der Hand gingen als am nächsten Morgen.
Noch während sie die Tür abschloß, sagte jemand hinter ihr: »Ich bringe dich nach Hause, Annalena.«
Mit einem Aufschrei fuhr sie herum. Ein schlanker blonder Mann lächelte sie schüchtern an. Er hatte ein sympathisches, jungenhaftes Gesicht, dabei hatte er die Dreißig sicherlich bereits überschritten.
»Mußt du mich so erschrecken, Sascha?« schimpfte Annalena.
Alexander Grothoff lächelte. »Du weißt doch, daß ich meistens auf dich warte – wieso regst du dich eigentlich immer wieder neu darüber auf?«
»Weil ich nicht will, daß du dir die Nächte meinetwegen um die Ohren schlägst, das habe ich dir mindestens schon hundertmal gesagt.«
»Ich werde es trotzdem weiterhin tun«, erklärte er gelassen. »Du solltest nachts nicht allein hier herumlaufen.«
»Ich laufe nicht herum, ich gehe nur nach Hause, Sascha«, sagte sie. »Und ich bin erwachsen und kann auf mich selbst aufpassen – willst du das nicht endlich akzeptieren?«
»Nein«, antwortete er. »Das will ich nicht, und das werde ich nicht.«