Titel

Hermien Stellmacher

Was bleibt, wenn alles verschwindet

Roman

Insel Verlag

Was bleibt, wenn alles verschwindet

Widmung

Für Rie van Lochem, Gers Maandag und Betty Goldhoorn, die mir bereits als kleinem Mädchen zeigten, wie wertvoll gute Freundinnen sind.

Prolog

Es dämmert bereits, aber der Nebel hat sich gelichtet. Froh, den wöchentlichen Termin hinter mich gebracht zu haben, biege ich auf die Landstraße ein und gebe Gas. Jetzt nichts wie nach Hause.

Ich habe die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als ich den hellen Fleck am Rand des Stoppelfeldes registriere. Langsam fahre ich an die Stelle heran.

Der Sportwagen ist frontal gegen einen Baum gekracht, die Motorhaube zusammengedrückt. Als ich auf Höhe der Fahrerseite anhalte und dich auf dem Sitz hängen sehe, traue ich meinen Augen nicht. Doch der halb von deinen Locken verdeckte Ohrstecker und dein auffälliger Ring an der linken Hand widerlegen jeden Zweifel.

Du bist es.

Wahrscheinlich ist dir nie bewusst gewesen, dass es mich gibt. Ich hingegen habe deinen Werdegang genau verfolgt. Ich wollte dich nicht aus den Augen verlieren, denn ich war noch nicht fertig mit dir.

Im Lauf der Jahre habe ich die unterschiedlichsten Möglichkeiten durchgespielt, was ich tun würde, sollten unsere Wege sich kreuzen. Diese Variante war nicht dabei.

Bilder aus der Vergangenheit fallen über mich her, Stimmen, Geräusche. Zitternd umklammere ich das Lenkrad und versuche, meine Atmung zu kontrollieren, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann lege ich den ersten Gang ein und trete das Gaspedal durch.

Es ist bereits nach Mitternacht, als ich die Telefonzelle betrete und den Unfall melde. Auch wenn man wohl nichts mehr für dich tun kann.

1.

»Du machst es diesmal echt spannend.« Ruth spähte aus dem Beifahrerfenster in den dichten Tannenwald, der sich zu beiden Seiten der Straße erstreckte. »Lass mich raten: Sind wir auf dem Weg zur Einöde Am Ende der Welt? Oder heißt der Ort Nichts

Susanne fuhr lachend in die nächste Kurve. »Einöde könnte stimmen, aber namenstechnisch bist du weit entfernt.«

Gleich zu Beginn ihrer Freundschaft hatten sie eine gemeinsame Vorliebe für kuriose Orts- und Hotelnamen entdeckt. Je ausgefallener die Bezeichnung, desto größer ihre Neugierde, ob der Platz ihren Fantasien entsprach.

Die Entdeckung des fränkischen Dorfes Laibarös war der Startschuss für diese Reisen gewesen. Ein Name, den Susanne sofort mit einer hartnäckigen Lungenkrankheit in Verbindung gebracht hatte, während Ruth der Meinung gewesen war, es handele sich dabei um den mittelalterlichen Begriff für depressive Stimmungen.

Auch wenn keines von beidem zugetroffen hatte, war der Name nach einem schönen Wanderwochenende als Redewendung in ihren Wortschatz eingegangen.

Die Ausflüge waren zu einer festen Tradition geworden. Jedes Jahr unternahmen sie eine Kurzreise dieser Art, wobei mal die eine, mal die andere für Ziel und Planung zuständig war. Dieses Mal war Susanne an der Reihe, und sie liebte es, ihre Freundin auf die Folter zu spannen.

»Wie wäre es mit Fuchs und Hase?«, bohrte Ruth weiter. »Als Anspielung auf das, was man sich hier allabendlich wünscht?«

»Sehr kreativ, aber nein, ich muss dich enttäuschen.«

Bei der nächsten Serpentine kamen Susanne plötzlich Zweifel. Würden sie sich in dem von ihr ausgewählten Gasthof wohlfühlen? Sie hatten im Lauf der Jahre durchaus den einen oder anderen Flop erlebt. Das Hotel Zum letzten Kapitänsteller war eine Katastrophe gewesen, und im Gasthof von Löffelstelzen hatte Ruth gar befürchtet, laibarös zu werden. Am nächsten Tag waren sie gleich weitergefahren.

Als könnte Ruth ihre Unsicherheit spüren, strich sie ihr über die Schulter. »Was immer du ausgesucht hast, meine Liebe, ich bin mir sicher, dass wir ein paar schöne Tage miteinander verbringen werden.« Sie linste durch die Windschutzscheibe. »Schau. Die Sonne kommt sogar heraus. Und da vorn bewegt sich etwas. Menschen!«

»Damit wären wir auch am Ziel.« Susanne steuerte den Wagen auf einen leeren Stellplatz. »Bitte sehr!«

Gasthof zum Teufel – Essen wie bei Mutti stand in schwungvollen Lettern auf der weißen Fassade.

Ruth lachte. »Wow, ein irrer Name! Kompliment!«

»Nicht unbedingt eine Empfehlung, wenn ich an die Kochkünste meiner Mutter denke, aber dieser Kombi konnte ich nicht widerstehen«, sagte Susanne. »Außerdem ist es lange her, dass wir im Schwarzwald waren.«

»Da wäre ich auch schwach geworden.« Ruth öffnete die Beifahrertür und schwang ihre langen Beine hinaus. »Hoffen wir mal, dass diese Mutti gut kocht. Ich sterbe vor Hunger.«

Das Haus machte einen ordentlichen Eindruck. Eine weißgestrichene Fassade mit vielen Holzfenstern, dazu jede Menge Blumenkästen mit bunten Petunien, die dank der milden Oktoberwitterung noch üppig blühten. Doch kaum hatten sie den Empfang betreten, fühlten sie sich schlagartig in die sechziger Jahre zurückversetzt. Wände und Decken waren mit dunklem Holz getäfelt, die Böden olivgrün gefliest, und die Dekoration machte sie mit Hilfe von künstlichen Pilzarrangements nachdrücklich auf die Jahreszeit aufmerksam. An der Wand hing ein Wimpel mit der russischen Flagge.

»Da dürfen wir auf die Gestaltung der Zimmer gespannt sein«, murmelte Susanne, während sie die Glocke am Empfang drückte. »Hoffentlich wurden die Matratzen zwischenzeitlich ausgetauscht.«

Ein Mann, bei dem es sich laut Namensschild um den Geschäftsführer Igor Makarow handelte, erschien an der Rezeption. »Guten Tag. Sind die Damen allein?«

»Die Damen sind zu zweit«, sagte Susanne. »Und haben ein Doppelzimmer auf den Namen Bender gebucht.«

»Sehr wohl.« Nach einem Blick auf den Reservierungsplan nickte Herr Makarow bestätigend. »Wir haben das schöne Zimmer 108 für Sie reserviert. Möchten die Damen vielleicht unsere Halbpension buchen? Auch an diesem Wochenende haben wir ein hervorragendes Menü für die Hausgäste vorbereitet.«

»Warum nicht«, sagte Ruth. »Ab wann wird das Essen serviert?«

»Sie sind ab 18 Uhr in unserem Restaurant willkommen.« Der Geschäftsführer legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen. »Der Weg zu Ihrem Zimmer ist ganz einfach.« Er öffnete eine Tür. »Zuerst folgen Sie diesem roten Läufer bis zum Ende des Flurs, dann die drei Stufen hinauf, durch die grüne Tür. Nun gleich rechts, bis Sie vor einem Bergpanorama stehen. Dort nehmen Sie die Treppe in den ersten Stock, wo Sie sich immer rechts halten.« Er lächelte. »Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl.«

Die Korridore hatten sich infolge mehrerer Um- und Anbaumaßnahmen, deren Zeiträume gut an den Tapetenmustern abzulesen waren, in ein ausgefallenes Labyrinth verwandelt, doch sie erreichten ihr Ziel: ein muffig riechendes Zimmer mit dunklem Holz, grauem Bodenfilz und Herbstdekorationen auf jeder verfügbaren Stellfläche.

»Wir finden niemals zurück.« Susanne riss ein Fenster auf und ließ sich auf die linke Betthälfte fallen. »Wir hätten Brotkrumen streuen sollen.«

Ruth setzte sich auf die andere Seite und schlug die Zimmermappe mit den Informationen auf, die neben dem Telefon lag. »Keine Bange, wir brauchen nur die 5 zu wählen, dann wird uns laut Angabe bei allen Problemen geholfen.« Sie ließ sich ebenfalls auf den Rücken rollen. »Ob die auch Schulaufgaben korrigieren?«

»Oder meine … meine Dings machen?« Susanne setzte sich auf und rieb sich die Stirn. »Himmel! Wie nennt man denn diese Papiere, die man jedes Jahr ausfüllen muss?«

Ruth hob fragend die Brauen. »Formulare?«

»Ja, aber eine ganz schreckliche Sorte!«

»Die Steuererklärung?«

»Genau. Vielleicht können sie die auch ausfüllen.«

»Ich würde lieber mit einer anderen Aufgabe beginnen: der erfolgreichen Bekämpfung von Hunger und Durst!«

Zehn Minuten später hatten sie den Korridor-Wirrwarr erneut gemeistert und öffneten eine Tür mit der Aufschrift Gaststube. Als sie auf einen unbesetzten Tisch am Fenster zusteuerten, stellte sich ihnen eine korpulente Frau in den Weg. »Menü? Halbpension?«

Kaum hatten sie dies bestätigt, zeigte die Bedienung auf einen Nebenraum. »Da!« Dann kreuzte sie die Arme mit einem grimmigen Blick vor der Brust. Bereit, die leeren Tische notfalls mit Gewalt zu verteidigen.

»Wenn das Mutti ist, möchte ich den Teufel nicht kennenlernen«, sagte Ruth, während sie auf die geöffneten Flügeltüren zugingen. Wenige Stufen führten hinunter in einen Raum mit überklebtem Parkettboden, dessen Fischgrätmuster unter dem braunen Kunststoff gut erkennbar war. Zwei große Lüsterlampen verbreiteten kaltes Licht.

»Hoffentlich war die Sache mit der Halbpension kein Fehler«, sagte Susanne, während sie sich im Raum umsah. »So etwas ist mir seit meinen DDR-Reisen vor der Wende nicht mehr untergekommen.« Sie deutete auf die weißen und goldenen Stoffbahnen, die kunstvoll an Wänden und Fenstern drapiert waren. »Hier fehlen nur noch die Portraits von alten Funktionären.«

»Hier fehlen noch ganz andere Dinge«, sagte Ruth leise. An sechs der Tische saßen Paare im geschätzten Alter zwischen 30 und 80, die wahlweise auf das Display ihres Smartphones oder auf die Tischdecke starrten. »Keiner dieser Menschen hat ein Getränk oder ein Essen vor sich stehen.«

Kaum hatten sie Platz genommen, kam Geschäftsführer Makarow mit federnden Schritten auf sie zu. »Ich sehe, Sie haben den Weg gefunden. Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«

»Wenn Sie uns zwei Bier bringen könnten, wäre das wunderbar. Wir sind kurz vor dem Verdursten.« Susanne lächelte ihm aufmunternd zu.

»Zwei Bier. Kommen in einer Sekunde!«, versprach Herr Makarow. Er grüßte vage in die Runde, dann verschwand er so schnell, wie er gekommen war.

»Mal sehen, was uns sonst noch erwartet.« Ruth öffnete die einfach gestaltete Menükarte, die auf dem Tisch stand. »Wir beginnen mit einer klaren Gemüsesuppe, dann kommt eine Salat Variation. In zwei Worten.«

»Solange der Deutschlehrerin solche Dinge auffallen, ist der Hungertod noch fern.«

»Das Verdursten ist akuter.« Ruth warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wie lange Sekunden hier wohl dauern?«

»Eine Ewigkeit«, sagte der Mann am Nebentisch. »Wir warten schon seit einer halben Stunde. So lange braucht kein Pils.«

Susanne schüttelte den Kopf. »Ist das hier immer so?«

»Gestern ging es etwas flotter«, sagte seine Frau.

Ruth seufzte. »Anschließend gibt es Rindfleisch mit Meerrettichsoße und Butterkartoffeln, Zanderfilet mit Salzkartoffeln oder einen Gemüseteller mit Rösti.« Sie sah Susanne über den Rand ihrer Lesebrille an. »Höre ich da etwa Begeisterungsschreie?«

Die Frau am Tisch hinter ihnen kicherte. »Die Salzkartoffeln gestern machten ihrem Namen alle Ehre!«

Susanne schob ihren Stuhl zurück. »Sollen wir das Essen nicht lieber abblasen? Ich hasse Meerrettichsoße. Mir ist viel mehr nach einem …«

In diesem Moment kam Herr Makarow mit zwei Gläsern Wein hereingetänzelt. »So, da wären wir schon!« Schwungvoll servierte er die Getränke am letzten Tisch. Die Glücklichen nahmen einen tiefen Schluck.

»Haben Sie sich schon für einen der Hauptgänge entschieden?« Der Reihe nach nahm Makarow die Bestellungen auf.

»Denken Sie an unser Bier?«, fragte Ruth.

»Ich denke an nichts anderes«, sagte der Geschäftsführer. »Es kommt sofort

Kaum hatte Makarow den Raum verlassen, schlurfte eine Bedienung mit einer Suppenterrine herein, die sie wortlos auf den Tisch neben ihnen stellte.

»Bringen Sie uns bitte auch Teller?«, fragte die Frau.

»Und die bestellten Getränke«, fügte ihr Mann hinzu. »Ein großes Pils und eine Weißweinschorle.« Doch die Kellnerin verschwand, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

»Jetzt ist aber gut«, sagte Susanne, nachdem weitere Zeit vergangen war. »Ich erkundige mich mal, was es hier mit den Begriffen sofort und Sekunde auf sich hat.«

In der Gaststube waren mittlerweile alle Tische besetzt, doch auch hier hatten die wenigsten ein Getränk vor sich stehen. Statt sich um das Wohl der Leute zu kümmern, drängten die Bedienungen sich um die Registrierkasse, wo Herr Makarow etwas in einer Sprache erklärte, die russisch klang. Der Mimik seiner Angestellten nach zu urteilen ohne Erfolg.

Sehnsüchtig betrachtete Susanne die zwei halbgezapften Biere auf dem Schanktisch. Als ihr Satz »Könnte sich mal jemand um unsere Getränke kümmern?« wirkungslos verpufft war, beschloss sie, die Sache selber in die Hand zu nehmen. Sie schlich sich hinter die Theke und zapfte die Krüge voll, während die Angestellten mit Makarow diskutierten. Noch ein drittes Glas für den durstigen Tischnachbarn, dann schnappte sie sich eine Speisekarte und verschwand unbemerkt.

Ihre Leidensgenossen, die ihre Suppe mittlerweile direkt aus der Terrine löffelten, bedankten sich herzlich für das Getränk. »Und wir bilden uns in der Zwischenzeit«, sagte Susanne zu Ruth, die ihr Glas in zwei Zügen geleert hatte. »Schau, zu allen Gerichten gibt es ein Foto und eine Beschreibung in Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch. Wir sehen uns jetzt einfach satt und lernen nebenbei noch ein paar Vokabeln.«

»Du hast nicht zufällig eines deiner Sudokuhefte in der Tasche?«

Susanne schüttelte den Kopf. »Leider. Aber das hier lenkt uns auch gut ab.«

Während sie sich durch Speisen und Getränke blätterten, versuchten andere Gäste die Durststrecke mit dem Lesen der Tageszeitung zu überbrücken, eine der Wartenden legte eine Patience. Bis wieder eine Bedienung mit einer dampfenden Terrine hereinkam. Sofort rissen alle die Arme hoch – was der Frau einen solchen Schreck einjagte, dass sie samt Suppe davonlief.

Dieser Vorfall lockerte die Stimmung erheblich auf. Auch diejenigen, die sich bislang ihrem Schicksal missmutig ergeben hatten, begannen eine Unterhaltung mit ihren Nachbarn. Richtig ausgelassen wurde die Stimmung, als eine Kellnerin mit zwei Salaten erschien. Das hungrige Paar am ersten Tisch riss ihr die Teller förmlich aus der Hand und begann augenblicklich zu essen. »Was man hat, das hat man«, kommentierte die Frau mit vollem Mund.

»Wenn das so weitergeht, sind wir alle bald in Teufels Küche und essen direkt aus den Töpfen«, sagte Ruth. »Haben wir noch etwas Essbares im Auto?«

»Nur ein Stück Käse und ein paar Äpfel.«

»Wir könnten Landjäger beisteuern«, sagte die Frau am Nachbartisch.

»Wie wäre es, wenn wir Pizza bestellen?« Einer der Männer hielt sein Smartphone hoch. »Das entlastet die Bedienung, und wir werden alle satt.«

Die Vorbereitungen zur Rebellion wurden jäh unterbrochen, als Herr Makarow ein großes Tablett mit Getränken hereintrug und sich wortreich entschuldigte. Es habe Probleme gegeben, doch nun werde das Essen bald fortgesetzt werden. Sofort, wie er mehrmals betonte.

»Ich möchte nicht wissen, wann wir heute ins Bett kommen«, sagte eine alte Dame. »Aber wir sollten es uns hier gemütlich machen. Was meinen Sie? Schieben wir die Tische zu einer langen Tafel zusammen?«

Zurück im Zimmer stellte Susanne die kitschigsten Dekostücke auf den Schrank, während Ruth die beiden Sessel so zusammenschob, dass sie zur Balkontür hinausschauen konnten. Die Sonne war bereits untergegangen, das warme Abendlicht erzeugte eine angenehme Atmosphäre im Raum.

»Wer hätte gedacht, dass wir noch so einen Spaß haben würden«, sagte Susanne. »Und Muttis Kochkünste konnten sich durchaus sehen lassen. Dieses Schokoladenzeugs war echt lecker. Jetzt noch einen Absacker, und die Welt ist mein Freund.«

»Kommt sofort. Außerdem habe ich noch eine Überraschung für dich.« Ruth langte in ihre Reisetasche und förderte ein Päckchen mit roter Schleife zutage. »Erinnerst du dich noch an unsere erste gemeinsame Konferenz?«

»Natürlich! Jetzt mach es nicht so spannend.«

»Erst erzählen.« Ruth entkorkte den mitgebrachten Bordeaux und schenkte den Wein in die Zahnputzgläser.

»Das war … 1987. Es war deine erste Stelle, und du kamst mir im Lehrerzimmer etwas verloren vor«, begann Susanne. »Ich hingegen war froh, dass ich endlich mal wieder aus dem Hause kam. Obwohl ich nervös war, weil ich nicht wusste, wie es mit Paulchen bei der Tagesmutter klappen würde. Als ich gesehen habe, dass du den Liebhaber von Duras in der Tasche hast, habe ich dich gefragt, wie du das Buch findest, und dir im Lauf des Gesprächs den leeren Platz neben mir angeboten.« Sie musterte Ruth mit einem Augenzwinkern. »Damals waren deine Haare allerdings um einiges länger und noch nicht silbern.«

»Test bestanden.« Ruth überreichte ihr das Geschenk.

»Ein Buch … Jetzt bin ich gespannt.« Vorsichtig löste Susanne das rote Geschenkpapier mit weißen Punkten. »Hoffentlich kenne ich es nicht.«

»Der Inhalt sollte dir bekannt sein.«

Susanne starrte ergriffen auf das Cover. Es zeigte ein Bild von ihnen beiden. Die Arme um die Schultern gelegt winkten sie lachend in die Kamera. Was wäre das Leben ohne Dich? lautete der Titel. Darunter, etwas kleiner, 33 Jahre Susanne und Ruth.

»Du bist verrückt …« Susanne spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

Die erste Doppelseite mit der Überschrift – 1987, wie alles anfing – zeigte ein Foto von ihnen an ihrem angestammten Platz im Lehrerzimmer. Daneben war der Umschlag des Duras-Romans abgebildet. Es folgten Schnappschüsse von einem Essen im Biergarten, von Susanne in einem See und ein Bild von Ruth mit dem kleinen Paul im Sandkasten. Viele Aufnahmen hatte Ruth mit einem kurzen Kommentar versehen.

Auf der rechten Seite entdeckte Susanne ein Foto des Sängers Ben E. King, der in jenem Jahr mit Stand By Me große Erfolge gefeiert hatte. Zu ihrem Lied war es in der Zeit avanciert, als klargeworden war, dass Ruths sehnlicher Kinderwunsch trotz aller Versuche nicht in Erfüllung gehen würde. Eine schwere Phase, in der sie ihre Freundin nach Kräften unterstützt und getröstet hatte.

»Du bist komplett verrückt«, wiederholte sie, während sie sich beim Weiterblättern über die Augen wischte. »Das war doch sicher schrecklich viel Arbeit!« Sie stand auf und schloss ihre Freundin fest in die Arme. »Ich danke dir. Es ist wunderschön.«

Ruth erwiderte ihre Umarmung. »Wenn man im Leben das Glück hat, einer so tollen Frau wie dir zu begegnen, kann man ihr schon mal ein Buch gestalten«, sagte sie leise. »Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass es dich gibt.«

»Das geht mir nicht anders.« Susanne reichte Ruth ein Glas, und sie stießen feierlich an. »Auf unsere Freundschaft!«

Susanne rückte die Sessel näher zusammen, dann blätterten sie erzählend durch die Seiten. Es war eine Reise, die quer durch die unterschiedlichsten Lebensumstände führte. Durch Alltag, Momente unbändigen Glücks, aber auch der Verzweiflung und tiefer Trauer.

»Kannst du mir mal sagen, warum du mich nie davon abgehalten hast, dieses schreckliche Teil in der Öffentlichkeit zu tragen?« Susanne tippte auf ein Foto, auf dem sie eine Jacke mit riesigen Schulterpolstern trug.

»Das hatte man damals so.« Ruth zeigte auf ein Bild, das sie in einem ähnlichen Kleidungsstück zeigte.

»Bei deiner Länge ist das was ganz anderes«, brummte Susanne. »Ich sehe aus wie ein buntes Quadrat auf zwei Beinen.«

»Aber ein hübsches Quadrat.« Ruth knuffte sie in die Seite. »Das gehört alles zu unserer Vergangenheit. Dazu muss man stehen.« Sie schenkte gerade nach, als ihr Handy klingelte. »Gustav. Ich gehe mal kurz ran.«

Der Empfang im Zimmer war eher schlecht, so stellte Ruth sich auf den Balkon, um den Anruf ihres Mannes entgegenzunehmen. Susanne schlug das Jahr 1992 auf: Pauls Einschulung. Zärtlich betrachtete sie die Aufnahme, auf der er mit einer riesigen Schultüte zu sehen war. Schon verrückt, mittlerweile war er selber Vater von zwei Kindern. Aber die Sommersprossen hatte er noch immer. Auf einem anderen Foto saß er mit Ruth in der Eisdiele, wo die beiden sich einen Bananasplit teilten. Sie hatten sich vom ersten Moment an geliebt, und der Kleine hatte Ruth mit seiner unbekümmerten Art in einigen schwierigen Phasen aufgeheitert.

Die Balkontür schwang auf, und Ruth schaute herein. »Kurze Frage: Gustav hat drei Karten für den Liederkreis von Schumann bekommen. Ich weiß, dass klassischer Liedgesang nicht dein Ding ist, aber willst du nicht doch mal mitkommen? Diese Stücke sind so berührend.«

Susanne schüttelte energisch den Kopf. »Perlen vor die Säue. Nehmt lieber einen echten Fan mit.«

Doch die Erwähnung des Liederzyklus riss für den Bruchteil einer Sekunde in ihrem tiefsten Inneren eine Tür auf, sodass ein paar Zeilen hindurchschlüpfen und sich in ihrem Kopf breitmachen konnten, bevor es ihr gelang, sie wieder fest ins Schloss zu drücken.

Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst,

dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst!

Gereizt rieb sie sich die Arme und blätterte zur ersten Doppelseite zurück.

Stand By Me. Mit Macht konzentrierte sie sich auf die Melodie und den Text, damit die andere Weise verschwand.

So darlin’, darlin’, stand by me, oh stand by me

If the sky that we look upon

Should tumble and fall …

Es funktionierte. Bis Ruth mit dem Telefonat fertig war, hatte Ben King Schumann mundtot gemacht.

»Seit wann hat Gustav Zeit für Konzerte?«, fragte sie, als Ruth wieder neben ihr saß. »Sonst jagt ein Architekturwettbewerb den nächsten und er kommt kaum zum Schlafen?«

»Das hatte begonnen, als er eine richtige Brille brauchte. Früher war er für so etwas viel zu eitel, du kennst ihn ja. Da hat im Notfall eine Fertigbrille herhalten müssen. Warte. Ich habe ihn mit mehreren Modellen fotografiert, damit ihm die Entscheidung leichter fällt.« Ruth wischte über das Display ihres Handys, bis sie die Bilder gefunden hatte. »Welches Modell, glaubst du, hat er sich ausgesucht?«

Susanne sah sich die Aufnahmen an. »Ich tippe auf das dunkelrote Gestell.«

»Hundert Punkte. Zudem hatte er nach dieser Anschaffung erfahren, dass ein Studienfreund nach kurzer Krankheit gestorben ist. Das hat ihn ins Grübeln gebracht. Seitdem delegiert er mehr im Büro. Neuerdings hat er sogar einen Zettel am Rückspiegel mit den Worten: Ich bin über 60, und meine Zeit ist begrenzt.«

Susanne lachte. »Da tut sich ja einiges!«

»Allerdings. Und seit ihm das bewusst geworden ist, frönt er auch anderen Leidenschaften wieder. Zum Beispiel Schumann.«

»Ich denke manchmal daran, wie es wohl wäre, wenn Martin sich das mehr zu Herzen genommen hätte. Im wahrsten Sinne des Wortes«, sagte Susanne. »Ob es anders gelaufen wäre, wenn er einen Schuss vor den Bug bekommen hätte?«

Ruth schlug das Erinnerungsbuch bei der Jahreszahl 2003 auf. Dort waren Schnappschüsse von einem letzten gemeinsamen Wanderwochenende in den Bergen. Beide Paare beim Brotzeitmachen vor einer Hütte in der Sonne. Martin prostete der Kamera zu.

»Das waren wunderschöne Tage. Und zwei Monate später war es aus und vorbei.« Sanft strich sie mit dem Zeigefinger über sein Gesicht.

Ruth legte ihren Arm um Susannes Schultern. »Vermisst du ihn oft?«

»Manchmal rede ich mit ihm. Erzähle ihm, wie es Paul, Sandra und den Kindern geht. Dann überlege ich, wie mein Leben wohl aussehen würde, wenn er noch da wäre.«

»Würde sich das sehr von deinem jetzigen unterscheiden?«

»Ich wäre sicher mehr auf Achse. Du weißt ja, wie gern er gereist ist und wie viele Pläne er noch hatte. Aber im Großen und Ganzen ist es gut, wie es ist. Ändern kann ich es ohnehin nicht.«

Ein Klingelton zeigte ihr an, dass eine WhatsApp-Nachricht eingegangen war. »Schau. Als hätten sie gehört, dass ich von ihnen spreche.« Sie zeigte Ruth das Bild von den planschenden Enkelkindern in der Badewanne. Liebe Grüße, auch an Ruth!

»Ach, wie süß. Ich muss diese Rasselbande bald mal wieder besuchen«, seufzte Ruth. »Sie verändern sich in dem Alter so rasend schnell.«

»Du kannst nächste Woche gern vorbeikommen«, sagte Susanne. »Sandra muss sich um ihre frischoperierte Mutter kümmern, und ich bin als Köchin und Dompteuse angestellt, bis Paul von der Arbeit kommt.«

»Hör mir auf mit nächster Woche«, sagte Ruth. »Schon der Gedanke daran erschlägt mich. Vielleicht sollten wir hier auf dem Telefon doch mal die 5 wählen. Wer weiß, was uns entgeht.«

»Mittlerweile bin ich skeptisch. Mag sein, dass der Wille vorhanden ist. Aber nach den heutigen Erfahrungen glaube ich nicht, dass die Hilfe rechtzeitig eintrifft. Lass uns lieber schlafen gehen.«

Nachdem sie noch eine Weile im Bett gelesen hatten, begann Ruth zu gähnen. »Kann ich das Licht ausmachen?«

»Gern. Übrigens, nächste Woche bin ich bei Paul zum Babysitten. Nur dass du Bescheid weißt.«

»Das hast du schon erzählt.«

»Ach so.« Leise summte Susanne Stand By Me. Die Melodie hatte sich in Endlosschleife in ihrem Kopf breitgemacht.

No I won’t be afraid, no I won’t be afraid,

Just as long as you stand, stand by me

Plötzlich überfiel sie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Sie tastete mit der linken Hand nach Ruth, die sie fest umschloss. »Solange du bei mir bist, brauche ich mich vor nichts zu fürchten, oder?«

»Nein. Ich werde immer für dich da sein.«

»Egal, was passiert?«

»Egal, was kommt. Versprochen.« Ruth strich ihr zärtlich über die Finger. »Und jetzt schlaf gut.«

2.

Der Wochenauftakt ließ zu wünschen übrig: Es regnete in Strömen, und Ruth hatte schlecht geschlafen. Müde schloss sie die Tür zum Lehrerzimmer auf. Der Bereich der Pädagogen war dreigeteilt: das eigentliche Lehrerzimmer, die Kaffeeküche mit Bistro-Tischen und Kopierer sowie eine Bibliothek, die neben Büchern der jeweiligen Fachgebiete auch einige PCs beherbergte. Ruth stellte die Tasche auf ihren Platz und grüßte in die Runde.

Die Tische waren in Hufeisenform aufgestellt, die unten eine Lücke aufwies. In der Mitte stand eine weitere Reihe, sodass es von oben betrachtet wie ein riesiges W aussehen musste. Das W von Widerstand ist zwecklos. Oder der erste Buchstabe des Satzes Wir schaffen das!. Ein Motto, das ihnen noch jeder Direktor entgegengerufen hatte, wenn Krankheits- und Schwangerschaftsvertretungen sich häuften. Wobei das Kollegium die Zusatzarbeit zu stemmen hatte, nicht er. Seit ihrem ersten Tag saß Ruth am oberen rechten Ende dieses W, gleich an der Tür. Strategisch gesehen ein hervorragender Platz: Man war schnell bei seinem Stuhl, und noch viel wichtiger: ratzfatz wieder draußen.

Erleichtert, dass der Vertretungsplan keine Zusatzstunden für sie bereithielt, ging Ruth zur Kaffeemaschine. Während ihre Tasse sich füllte, betrachtete sie die Wartenden vor dem Kopierer. Mathe-Olaf vollzog einen Balztanz mit der langbeinigen Referendarin; Thea erzählte Horrorstorys über ihre Schwiegermutter und Harald zog über die Schüler einer ihm verhassten Klasse her. Nur Isa hielt schweigend ihren signalroten Aktenordner vor den Babybauch, als wollte sie das Ungeborene vor dem Geschwätz schützen.

Das brummende Gerät spuckte ein Blatt nach dem anderen aus. Doch jedes abweichende Geräusch ließ die Wartenden sofort aufhorchen. Alle wussten, wie launisch dieser Apparat war und welche Auswirkungen ein Papierstau auf die vorbereiteten Unterrichtsstunden haben konnte.

Es war Ruth schleierhaft, warum nicht schon zahlreiche Doktorarbeiten zum Thema »Biotop Lehrerzimmer« verfasst worden waren. Sie kannte keinen anderen Ort, an dem sich innerhalb kürzester Zeit so viele Daten zu bizarrem Verhalten zusammentragen und verwerten ließen. Die Recherche ließ sich sogar locker neben dem regulären Job erledigen. Mit anderen Worten: Die fertige Promotion lag quasi auf einem Silbertablett bereit.

Sie ging mit dem dampfenden Kaffee zu ihrem Stuhl zurück. Auch Ingrid, die Susannes Platz geerbt hatte, war inzwischen eingetroffen. »Und? Wie war euer Wochenende?« Sie sah Ruth neugierig an. »Wo seid ihr diesmal gelandet?«

»Der Anfang war filmreif.« Ruth erzählte von der geplatzten Revolution im russischen Schwarzwald und den Wanderungen, die sie unternommen hatten.

Ingrid lachte. »Schön, dass es Susanne so gut geht.«

Ruth nickte nachdenklich. Das stimmte durchaus. Doch etwas beunruhigte sie schon seit Längerem. Jeder vergaß mal ein Wort, aber einen Begriff wie Steuererklärung …

»Meinst du, man könnte sie überreden, mal in die Schule zu kommen?«, fragte Ingrid. »Die Schüler der Anti-Mobbing-AG planen einen Aktionstag und möchten Susanne über die Anfänge der Gruppe interviewen. Sie wüssten gern, ob es einen speziellen Grund gab, warum Susanne sie ins Leben gerufen hatte, und welche Probleme damals im Vordergrund standen. Als ihre Nachfolgerin würde mich das auch interessieren.«

»Schick ihr einfach eine Mail und frage sie«, sagte Ruth. »Wenn es sich machen lässt, kommt sie bestimmt.«

Während sie sich auf den Weg zur ersten Stunde machte, erinnerte sie sich daran, wie ungewohnt das erste Schuljahr ohne Susanne gewesen war. Noch immer ertappte sie sich an manchen Tagen dabei, dass sie sich freute, ihre Freundin gleich im Lehrerzimmer zu treffen, hielt auf der Treppe nach ihr Ausschau. Natürlich gab es auch andere Kollegen, mit denen sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, aber mit niemandem war es so, wie es mit Susanne gewesen war.

Mit diesen Gedanken war sie vor dem Klassenzimmer angekommen und scheuchte zwei Nachzügler hinein. Als sie die Tür hinter sich schloss und ihre Tasche auf das Pult stellte, wurde es ruhig im Raum. Die Arbeitswoche hatte begonnen.

Nach der Doppelstunde Kunst war Ruths Müdigkeit verflogen. Die Arbeit an den Clips hatte sowohl den Schülern als auch ihr großen Spaß gemacht und bestätigte erneut, dass sie den richtigen Beruf gewählt hatte. Geschickt kämpfte sie sich durch die ihr entgegenkommenden Schülerströme, die in Richtung Kiosk und Schulhof unterwegs waren.

Auch im Lehrerzimmer wurde die kurze Pause genutzt, um Hunger und Durst zu stillen. Ein spendierter Kuchen wurde freudig geplündert, dem großzügigen Geburtstagskind gratuliert.

»Eine Tasse Kaffee in der einen und ein Stück Kuchen in der anderen Hand – eine ausgeglichene Ernährung, wie ich sie schätze«, sagte Ruth, nachdem sie ihre Kollegin in die Arme geschlossen hatte.

»Da muss ich Ihnen widersprechen«, sagte Hajo Brose, der schulinterne Gesundheitsapostel. »Zucker ist die Geißel der modernen Gesellschaft. Doch auch ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, Frau Peetz. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen nicht die Hand schüttele. Zu dieser Jahreszeit ist mir das Risiko, einen Schnupfen zu bekommen, zu groß. Aber das dürfte Ihnen ja bekannt sein, nicht wahr?«

O ja, das wussten sie seit Langem. Jedes Jahr ritt Brose auf dieser Nummer herum und wohlweislich ging niemand mehr auf seine Ausführungen ein. Bis auf eine unwissende Referendarin, die ihn in eine leidenschaftliche Diskussion über die Kraft der Homöopathie verwickelte. Ruth wusste, dass diese es später bereuen würde, denn Brose verpasste keine Gelegenheit, über das Für und Wider von Schul- und Alternativmedizin aufzuklären und seinen Standpunkt mit zig kopierten Zeitungsartikeln zu untermauern.

Ruth nippte an ihrem Kaffee und dachte an eine Konferenz zurück, in der Susanne Brose in Angst und Schrecken versetzt hatte. Sie hatte ihm lange die Hand geschüttelt und unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einer hochansteckenden Krankheit berichtet, die gerade in ihrer Familie grassierte. Was es genau gewesen war, wusste Ruth nicht mehr. Wohl aber, dass Brose, der sonst zu ausufernden Kommentaren zu den einzelnen Schülerfällen neigte, die Schule an diesem Tag nicht schnell genug verlassen konnte.

Als die meisten Kollegen wieder in ihre Klassen verschwunden waren, setzte Ruth sich in die Bibliothek. Der Raum war leer, bis auf Huber, der verbissen auf die Tastatur einhackte. Statt ihren Gruß zu erwidern, brummte er wilde Verwünschungen Richtung Bildschirm. Ruth überlegte, ob sie ihm zur Besänftigung ein Stück Kuchen hinstellen sollte, doch sie verwarf die Idee. Menschen wie Huber waren unberechenbar. Es kam durchaus vor, dass er sich freundlich benahm. Doch meistens tat er so, als würde die gesamte Last der Menschheit auf seinen Schultern ruhen und nur er etwas arbeiten.

Aus diesem Grund beachtete Ruth ihn nicht weiter. Sie nahm einen Stapel Deutschaufsätze aus der Tasche und begann mit den längst fälligen Korrekturen. Es war jedoch schwer, sich zu konzentrieren, denn Huber redete immer ausfälliger auf den Monitor ein. Bis er mit Schwung eine Taste anschlug und auf den Drucker starrte. Nichts passierte.

»Das gibt es doch nicht!« Er fuhr so schnell hoch, dass sein Stuhl nach hinten umfiel. »Nie funktioniert hier etwas, wenn man in Eile ist!« Wieder schlug er auf die Taste ein. »Nie!«

Ruth dachte an ihre These zur Doktorarbeit. Sie machte sich nichts aus so einem Titel, aber wäre es nicht doch einen Versuch wert? Sie müsste hier nur etwas mehr Zeit verbringen und mitschreiben.

»Ist der Drucker überhaupt eingeschaltet?«

Ihre Frage ließ Huber herumfahren. »Ob der Drucker eingeschaltet ist?«, fauchte er. »Für wie dumm halten Sie mich denn? Dieser Drucker ist immer an! Immer!«

Ruth stand auf und besah sich das Gerät. Dann drückte sie einen Knopf an der Seite. Sekunden später war ein Brummen zu hören, und es dauerte nicht lange, bis mehrere Blätter im Ausgabefach lagen. Ohne Kommentar setzte sie sich wieder an ihren Platz. Huber griff sich die Seiten und rannte wütend zum Kopierer.

»Gern geschehen!«, rief Ruth ihm hinterher. Der Umgang mit Stress war definitiv ein wichtiger Aspekt für die Promotion. Sie öffnete ihren Laptop und googelte das Thema. Dabei stieß sie auf eine umfangreiche Tabelle, anhand derer sie ihren Kollegen der Kategorie der Kämpfer zuordnen konnte: Karrieremenschen, die ständig unter Strom stehen, bei Ärger laut werden können und sehr von sich und ihrer Leistung überzeugt sind. Volle Punktzahl für Huber! Es fielen ihr noch eine ganze Reihe andere Leute ein, die sich ständig unter Druck setzten, um sich und ihrem Vorgesetzten etwas zu beweisen. Auch Susannes Mann war einer gewesen, der nur schwer abschalten konnte und stets darauf bedacht gewesen war, keine Schwächen zu zeigen. Ruth erinnerte sich daran, dass er sogar phasenweise in der Kanzlei übernachtet hatte.

Interessiert las sie weiter. Bei den Souveränen war die Schul-Ausbeute wesentlich geringer, ihr Mann Gustav und Susanne zählten aber zu dieser Gruppe. Sie blieben meist ruhig und behielten den Überblick.

Die Gruppe der Flüchtlinge hingegen war im Lehrerzimmer gut vertreten. Dieser Typus schob alles gern auf die lange Bank, in der Hoffnung, die Sache würde sich irgendwann von selbst erledigen. Auch Susannes Sohn Paul war einer von ihnen.

Sie selbst war wohl eine bunte Mischung: Sie hatte eine perfektionistische Seite, verlor selten den Blick für Prioritäten und konnte in der Regel gut abschalten. Hinzu kam, dass sie ihren Alltag gern im Voraus plante. Dieser Punkt wurde jedoch nirgendwo aufgeführt. Wie auch immer. Anstatt ihre Zeit im Internet zu verplempern, sollte sie lieber diese Arbeiten korrigieren. Sonst würde ihr persönlicher Stresspegel bald ins Unermessliche wachsen …