Vierzehntes Kapitel.
Schluß.

»Nun, Agnes, Du darfst vor dem Frühstücke nicht wieder so weite Spaziergänge machen,« sagte meine Mutter, als sie bemerkte daß ich eine Extratasse Kaffee trank, ohne aber etwas zu essen, wobei ich die Hitze des Wetters und die Ermüdung von meinem weiten Spaziergange zum Vorwande nahm.

Allerdings war ich müde und fieberisch.

»Du gehst immer aus einem Extrem zum andern über. Wenn Du jeden Morgen einen kurzen Spaziergang gemacht hattest und damit fortführest, so würde es Dir wohl thun.«

»Nun, Mama, ich will es thun.

»Dies ist aber schlimmer, als im Bette zu bleiben, oder über Deinen Büchern zu liegen; Du bist ordentlich fieberisch.«

»Ich will es nicht wieder thun,« sagte ich.

Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich ihr etwas von Mr. Weston sagen solle, denn sie mußte erfahren, daß er morgen kommen würde. Ich wartete jedoch bis das Frühstücksgeschirr abgeräumt war, und ich mehr Ruhe und Kaltblütigkeit erlangt hatte, und begann, nachdem ich mich zu meiner Zeichnung niedergesetzt hatte:

»Ich habe auf dem Strande heute einen alten Freund getroffen, Mama.«

»Einen alten Freund! — wer kann das sein?«

»Eigentlich zwei alte Freunde — der eine war ein Hund — und nun erinnerte ich sie an Snap, dessen Geschichte ich ihr früher erzählt, und berichtete sein plötzliches Erscheinen und merkwürdiges Erkennen; — »und der Andere,« fuhr ich fort, »war Mr. Weston, der Hilfspfarrer von Horton.«

»Mr. Weston! ich habe noch nie von ihm gehört.«

»Freilich hast Du das. Ich glaube, ich habe ihn mehrfach erwähnt, aber Du erinnerst Dich seiner nicht.

»Mr. Hatfield war der Pfarrer, und Mr. Weston der Adjunct; ich habe ihn mitunter im Gegensatz zu Mr. Hatfield und als einen nützlicheren Geistlichen erwähnt. Er befand sich jedoch heute früh mit dem Hunde auf den Dünen — er hatte ihn wahrscheinlich von dem Kammerjäger gekauft, und kannte mich eben so gut, wie das Thier — wahrscheinlich durch dessen Vermittelung, und ich harte ein kleines Gespräch mit ihm, in dessen Verlauf ich, da er nach Ihrer Schule fragte, mich verleiten ließ, etwas über Dich und Deine guten Einrichtungen zu sprechen, und er sagte, daß er Dich doch kennen möchte und fragte, ob ich ihn Dir vorstelle, wenn er sich die Freiheit nähme, morgen vorzusprechen, worauf ich antwortete, daß ich es wolle. — Habe ich recht gethan.«

»Natürlich. Was für eine Art von Mann ist er?«

»Meiner Ansicht nach ein sehr respektabler Mann; aber Du wirst ihn morgen sehen — er ist der neue Pfarrer von F., und da er erst seit wenigen Wochen dort ist. so scheint er noch keine Bekanntschaften gemacht zu haben und wird sich ein wenig nach Gesellschaft sehnen.«

Das Morgen kam. In welchem Fieber von Angst und Erinnerung war ich vom Frühstück bis zum Mittag, wo er erschien.

Nachdem ich ihn meiner Mutter vorgestellt hatte, trug ich meine Arbeit an das Fenster und setzte mich dort nieder, um das Resultat des Gespräches abzuwarten.

Sie kamen sehr gut mit einander aus, zu meiner sehr großen Zufriedenheit, da ich sehr ängstlich in Bezug auf das was meine Mutter von ihm denken würde, gewesen war. Er blieb an jenem Tage nicht lange, als er aber aufstand, um Abschied zu nehmen, sagte sie, daß sie sich freuen würde, ihn zu sehen, wenn es ihm gelegen sein würde, wiederzukommen, und als er fort war, freute ich mich, sie sagen zu hören:

»Nun, er scheint mir ein sehr vernünftiger Mann zu sein. Warum bist Du aber dort im Hintergrunde sitzen geblieben, Agnes,« fügte sie hinzu, »und hast so wenig gesprochen?«

»Weil Du so gut sprachst, Mama, daß ich glaubte, Du bedürfest keinen Beistand von mir, und übrigens war er Dein Besuch, und nicht der meine.«

Von nun an besuchte er uns oft — im Laufe einer Woche mehrere Male. Er richtete seine Bemerkungen meist an meine Mutter, und kein Wunder, denn sie verstand sich zu unterhalten. Ich beneidete sie fast um die ungefesselte Geläufigkeit ihres Gesprächs und den kräftigen Verstand, welchen Alles, was sie sagte, durchblicken ließ — aber doch that ich es nicht; denn wenn ich auch zuweilen, um seinetwillen meine Mängel bedauerte, so machte es mir doch das grüßte Vergnügen, dazusitzen und zu hören, wie die beiden Wesen, welche ich vor allen anderen liebte und ehrte, so freundschaftlich, so weise und so gut mit einander redeten.

Ich war jedoch nicht immer stumm, auch wurde ich nicht vernachlässigt. Man nahm von mir gerade so viel Notiz, wir ich es wünschte, und es mangelte nicht an freundlichen Worten und noch freundlichen Blicken und die zarten Aufmerksamkeiten, welche zu fein, um mit Worten umfaßt zu werden, und die daher unbeschreiblich sind, welche man aber tief im Herzen fühlt, nahmen kein Ende.

Die Ceremonien hörten zwischen uns bald auf. Mr. Weston kam als erwarteter Gast, der zu aller Zeiten willkommen war, und uns nie in der Verrichtung unserer häuslichen Arbeiten störte. Er nannte mich sogar Agnes — anfangs hatte er den Namen schüchtern gesprochen, schien ihn aber, als er fand, daß derselbe nirgends Anstoß erregte, der Benennung Miß Grey bedeutend vorzuziehen, und ebenso ging es auch mir.

Wie langweilig und traurig waren die Tage, an welchen er nicht kam, und doch waren sie nicht unglücklich, denn ich wurde durch die Erinnerung an den letzten Besuch und die Hoffnung auf den nächsten erheitert. Wenn aber zwei bis drei Tage vergingen, ohne des ich ihn sah, so war ich sicher sehr ängstlich — bis u einem abgeschmackten, unvernünftigen Grade, denn natürlich hatte er seine Geschäfte und die Angelegenheiten seines Kirchspiels zu besorgen und ich fürchtete mich vor dem Ende der Freien, wo meine Geschäfte ebenfalls beginnen und ich zuweilen unfähig sein würde, ihn zu sehen, und zuweilen auch, wenn meine Mutter im Schulzimmer war, genöthigt sein würde, mit ihm allein zu sein, was ich keineswegs wünschte, d. h. im Hause, denn ihn im Freien zu treffen und mit ihm spazieren zu gehen, war mir keineswegs unangenehm vorgekommen.

Eines Abends, in der letzten Ferienwoche, kam er — unerwartet — da ein starkes, anhaltendes Gewitter, welches den Nachmittag über gedauert, meine Hoffnungen, ihn jenen Tag zu sehen, fast vernichtet hatte. Jetzt war aber der Sturm vorüber und die Sonne schien glänzend.

»Ein schöner Abend, Miß Grey,« sagte er beim Eintreten. »Agnes, ich möchte mit Ihnen einen Spaziergang machen, — nach — (er nannte einen Punkt der Küste, wo ein steiler Hügel nach der See einen schroffen Abgrund bildete, von dessen Gipfel man eine herrliche Aussicht genießt) — der Regen hat den Staub gelöscht, und die Luft abgekühlt und geklärt; die Aussicht wird prächtig sein. Wollen Sie mitkommen.«

»Darf ich, Mama?«

»Ja, freilich.«

Ich ging in mein Zimmer und war in wenigen Minuten wieder unten, wiewohl ich mir natürlich mit meinem Anzuge etwas mehr Mühe gegeben hatte, als wenn ich bloß allein in einen Kaufladen hätte gehen wollen.

Das Gewitter hatte einen höchst wohlthätigen Einfluß auf das Wetter geübt, und der Abend war köstlich. Mr. Weston gab mir seinen Arm — er sagte, während unseres Weges durch die menschenvollen Straßen, nur wenig, ging aber sehr schnell und schien ernst und zerstreut sein.

Ich war neugierig, was er wohl haben möge, fühlte zugleich aber auch seine unbestimmte Furcht, daß ihm etwas Unangenehmes auf dem Geiste lasten möge und formlose Vermuthungen über das, was es sein könne, beunruhigten mich nicht wenig und machten mich ernst und schweigsam genug. Diese Phantasien verschwanden jedoch, als wir die ruhigen Vorstädte erreichten, denn sobald wir die ehrwürdige, alte Kirche und den Hügel, mit dem tiefblauen Meere dahinter, zu Gesicht bekamen, fand ich, daß mein Gefährte ganz munter war.

»Ich fürchte zu schnell für Sie gegangen zu sein, Agnes,« sagte er; »in meiner Ungeduld, aus der Statt zu kommen, vergaß ich Ihre Bequemlichkeit zu Rathe zu ziehen; jetzt aber wollen wir so langsam gehen. wie es Ihnen beliebt, ich sehe an jenen leichten Wolken im Westen, daß wir einen schönen Sonnenuntergang haben werden und wir kommen noch gerade Zeit genug um, wenn wir auch sehr mäßigen Schritt halten, seinen Effekt auf das Meer zu beobachten.«

Als wir etwa halbwegs hinauf gekommen waren, versanken wir wieder in eine Stille, welche er, wie gewöhnlich, zuerst unterbrach.

»Mein Haus ist noch öde, Miß Grey,« bemerkte er lächelnd, »und ich kenne nun alle Damen in meinen Kirchspiel und mehrere in dieser Stadt und eine Menge anderer dem Ansehen und Gerücht nach; aber keine von allen will mir zu einer Gefährtin passen — kurz, es giebt nur eine Person auf der Welt, die dazu taugt, und das sind Sie und ich verlange Ihre Entscheidung zu wissen.«

»Sprechen Sie im Ernst, Mr. Weston?«

»Im Ernst! Wie könnten Sie denken, daß ich über einen solchen Gegenstand scherzen würde!

Er legte seine Hand auf die meine, welche auf seinem Arme ruhte, er muß gefühlt haben, wie sie zitterte, jetzt aber machte es nicht viel aus.

»Ich will hoffen, daß ich nicht zu übereilt gewesen bin,« sagte er ernsten Tones; Sie müssen gewußt haben, daß es nicht meine Art war zu schmeicheln, und schön klingenden Unsinn zu schwatzen, oder selbst die Bewunderung, welche ich fühlte, auszusprechen, und daß ein einziger Blick und ein Wort von mir mehr zu bedeuten hatte, als die Honigreden und glühenden Betheuerungen der meisten anderen Menschen.«

Ich sagte etwas darüber, daß ich meine Mutter nicht zu Verlassen wünsche und nichts ohne ihre Zustimmung thun wolle.

»Ich habe mit Mrs. Grey Alles abgemacht, während Sie Ihren Hut aufsetzten,« antwortete er. »Sie sagte, daß Sie mit mir einverstanden sei, wenn ich Ihre Zustimmung erlangen könne, und ich bat sie, falls ich so glücklich sein würde, zu uns zu ziehen — denn ich war überzeugt, daß Ihnen dies am liebsten sein würde; aber sie weigerte sich, indem sie sagte, daß sie es jetzt bestreiten könne, eine Hilfslehrerin zu bitten und die Schule fortsetzen werde, bis sie im Stande sei, eine Leibrente zu kaufen, die hinreichend sein würde sie in einer bequemen Wohnung zu erhalten. Bis dahin werde sie die Ferien abwechselnd bei uns und ihrer Schwester zubringen und vollkommen zufrieden sein, wenn Sie glücklich wären. Hiermit hätte ich also die Einwendungen in dieser Beziehung besiegt, haben Sie deren sonst noch?«

»Nein — keine einzige.«

»Sie, lieben mich also?« sagte er mit einem warmen Händedrucke.

»Ja.«

Hier höre ich auf; mein Tagebuch, aus welchem ich diese Blätter zusammengetragen habe, geht nicht weiter; ich könnte noch Jahre lang fortfahren, mich aber damit begnügen, daß ich hinzufüge: werde nie jenen herrlichen Sommerabend vergessen, mich stets mit Entzücken des steilen Hügels und Abgrundrandes erinnern, wo wir beisammen standen, den wunderschönen Sonnenuntergang auf der ruhigen Wasserwelt zu unsern Füßen abgespiegelt sahen, unsere Herzen von Dankbarkeit gegen den Himmel Glück und Liebe erfüllt, und fast zu voll zum Sprechen waren.

Wenige Wochen nachher, als meine Mutter sich mit einer Hilfslehrerin versehen hatte, wurde ich Eduard Westons Gattin und habe nie Ursache gehabt, es zu bereuen und bin überzeugt, daß ich nie eine solche erhalten werde. Wir haben Prüfungen gehabt und wissen, daß wir deren wieder haben müssen, aber wir ertragen sie zusammen gut und versuchen uns selbst uns einander auf die letzte Trennung, jenes größte aller Kümmernisse für den überlebenden Theil, vorzubereiten; wenn wir aber das Auge auf den Himmel werfen, wo wir Beide wieder zusammentreffen werden, und Sünde und Schmerz unbekannt sind, so läßt sich auch dies ertragen, und bis dahin bemühen wir uns, zum Ruhme dessen zu leben, welcher so vielen Segen auf unsern Pfad gestreut hat.

Eduard hat durch seine eifrigen Anstrengungen erstaunliche Reformen in seinem Kirchspiele bewirkt und wird von den Bewohnern desselben geschätzt und geliebt, wie er es verdient — denn was auch seine Fehler als Mensch sein mögen (und es mangelt Keinem gänzlich an solchen), so biete ich doch Jedem Trotz, als Seelenhirt, als Gatte oder Vater Tadel auf ihn zu werfen.

Unsere Kinder Eduard, Agnes und die kleine Mary versprechen Gutes; ihre Erziehung ist für jetzt mir hauptsächlich anvertraut und es soll ihnen an nichts Guten mangeln, was die Fürsorge einer Mutter gewähren kann.

Unser bescheidenes Einkommen ist für unsere Bedürfnisse reichlich genug und durch Uebung der Sparsamkeit, welche wir in schlechteren Zeiten gelernt haben und gänzlicher Vermeidung des Bestrebens, unsern reicheren Nachbarn nachzuahmen, genießen wir nicht nur selbst Behaglichkeit und Zufriedenheit, sondern haben auch noch alljährlich etwas für unsere Kinder bei Seite zu legen, und etwas an Bedürftige abzugeben.

Und nun glaube ich genug gesagt zu haben.

Erster Theil


Erstes Kapitel.
Das Pfarrhaus.

Alle wahren Geschichten enthalten Belehrung, wenn auch bei manchen der Schatz schwer zu finden sein mag und wenn man ihn findet, von so geringfügiger Quantität ist, daß der trockene, verschrumpfte Kern kaum die Mühe des Knackens der Nuß lohnt. Ob dies bei meiner Geschichte der Fall ist, oder nicht, bin ich kaum befähigt zu beurtheilen. Mitunter denke ich, daß sie für die Einen nützlich und für Andere unterhaltend sein dürfte, die Welt mag es aber selbst ausmachen — durch meine Dunkelheit und die seitdem verstrichenen Jahre und einige falsche Namen geschützt, fürchtete ich nicht, mich herauszuwagen und will dem Publikum dasjenige aufrichtig vorlegen, was ich meinem vertrautesten Freunde nicht enthüllen würde.

Mein Vater war ein Geistlicher im Norden von England, der von Allen, die ihn kannten, mit Recht geachtet wurde und in seinen jüngeren Tagen sehr behaglich von dem Einkommen einer kleinere Pfarrei, in Verbindung mit einem eigenen hübschen Vermögen, lebte. Meine Mutter, die ihn gegen den Wunsch ihrer Freunde geheirathet hatte, war die Tochter eines reichen Gutsbesitzers und eine Frau Von Muth. Umsonst stellte man ihr vor, daß sie, wenn sie den armen Pfarrer nähme, ihre Equipage und Kammerjungfer und alle Ueppigkeiten und Genüsse des Wohlstandes aufgeben müsse, welche für sie fast Lebensbedürfnisse waren. Ein Wagen und eine Kammerjungfer waren sehr bequeme Dinge, aber sie hatte, Gott sei Dank, Füße, die sie tragen und Hände, die ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen konnten. Ein elegantes Haus und geräumige Anlagen waren nicht zu Verachten, aber sie wollte lieber mit Richard Grey in einer Hütte, als mit einem andern Manne auf Erden in einem Palaste leben.

Da ihr Vater fand, daß alle Gründe nutzlos waren, sagte er endlich den Liebenden, daß sie einander heirathen könnten, wenn sie wollten, daß seine Tochter aber dadurch ihr Vermögen gänzlich verwirken werde. Er erwartete, daß dies die Gluth Beider abkühlen würde, hatte sich aber verrechnet.

Mein Vater kannte den hohen Werth meiner Mutter zu gut, um nicht zu wissen, daß sie allein schon ein großes Vermögen aufwog und sagte, daß er, wenn nur einwilligen wolle, seinen bescheidenen Heerd zu verschönern, froh sein würde, sie unter jeder Bedingung zu nehmen, während sie ihrerseits es vorzog, mit eigenen Händen zu arbeiten, als von dem Manne, welchen sie liebte, getrennt zu werden, für dessen Glück zu wirken es ihre Freude sein würde, und der bereits an Herz und Seele Eins mit ihr war. Das ihr bestimmte Vermögen vermehrte also das einer klügeren Schwester, die einen reichen Nabob geheirathet hatte und sie vergrub sich, zur Verwunderung und dem mitleidigen Bedauern Aller, die sie kannten, in der einfachen Dorfpfarre in den Hügeln von — und trotz alledem, und trotz der Hartnäckigkeit meiner Mutter und der Launen meines Vaters,« glaube ich doch, daß man ganz England hätte durchsuchen können, ohne ein glücklicheres Paar zu finden.

Von sechs Kindern waren meine Schwester Mary und ich die einzige, welche die Gefahren der Kindheit überlebten. Ich, die nur fünf bis sechs Jahre jünger war, wie jene, wurde stets als das Kind und das Spielzeug der Familie betrachtet — Vater, Mutter und Schwester, Alle vereinigten sich, mich zu verziehen, — nicht mich durch thörichte Nachsicht ungehorsam und Widerspenstig, sondern durch unermüdliche Güte mich zu hilflos und von Anderen abhängig, zu ungeeignet in dem Kampf mit den Sorgen und Mühen des Lebens zu machen.

Mary und ich wurden in der strengsten Abgeschlossenheit erzogen. Meine Mutter, die an Kenntnissen und Fertigkeiten reich war und die Beschäftigung liebte, nahm die ganze Last unserer Erziehung auf sich, mit Ausnahme des Lateinischen, welches uns mein Vater lehrte, so daß wir nicht einmal eine Schule besuchten und da die Nachbarschaft keine Gesellschaft bot, bestand unser ganzer Umgang mit der Welt in einer dann und wann stattfindenden, steifen Theegesellschaft mit den vornehmsten Gutsbesitzern und Geschäftsleuten der Umgegend, um zu vermeiden, als zu stolz, um mit unsern Nachbarn umzugehen, verschrieen zu werden, und einen jährlichen Besuch bei unserm Großvater, väterlicher Seits, wo er, unsere gute Großmama, eine unverheirathete Tante und zwei bis drei ältliche Damen und Herren, die einzigen Personen waren, die wir je erblickten. Zuweilen erzählte uns unsere Mutter Geschichten und Anekdoten aus ihrer jüngeren Zeit, die während sie uns ungemein belustigten, häufig, in mir wenigstens, einen unbestimmten, geheimen Wunsch, etwas mehr von der Welt zu sehen, erweckten.

Ich dachte, daß sie sehr glücklich gewesen sein müsse; aber sie schien die Vergangenheit nie zu betrauern. Mein Vater, dessen Gemüthsart von Natur nicht ruhig und heiter war, grämte sich jedoch oftmals übermäßig, wenn er an die Opfer dachte, welche seine liebe Frau für ihn gebracht und setzte sich eine Menge von Plänen zur Vermehrung seines kleinen Vermögens, um ihret- und unsertwillen, in den Kopf. Umsonst versicherte ihm meine Mutter, daß sie vollkommen zufrieden sei, und daß wir Alle, wenn er nur etwas für die Kinder bei Seite legen wolle, jetzt und in Zukunft unser reichliches Auskommen haben würden; aber das Sparen war meines Vaters schwache Seite. Er wollte keine Schulden machen — wenigstens sorgte meine Mutter dafür, daß er es nicht that — solange er aber Geld hatte, mußte er es ausgeben; er sah gern sein Haus behaglich und seine Frau und Töchter gut gekleidet und bedient, und überdies war er zur Wohltätigkeit geneigt und gab den Armen nach seinen Mitteln, oder, wie vielleicht Manche dachten, mehr als es diese erlaubten.

Endlich schlug ihm jedoch ein guter Freund ein Mittel vor, um sein Privatvermögen mit einem Schlage zu verdoppeln und es später bis zu einer unermeßlichen Höhe zu vermehren. Dieser Freund war ein Kaufmann, ein Mann von unternehmendem Geiste und unbezweifelten Talenten, der aus Mangel an Kapital in seinen merkantilischen Geschäften etwas gehemmt war, sich aber großmüthig erbot, meinem Vater einen billigen Antheil von seinem Gewinn zu geben, wenn er ihm nur das, was er entbehren könne, anvertrauen wolle und glaubte, daß er ihm sicher versprechen könne, daß jede Summe, die ihm Letzterer anvertraue, hundert Procent einbringen werde. Das kleine Erbtheil wurde schnell verkauft und der ganze Erlös desselben den Händen des freundlichen Kaufmanns anvertraut, welcher eben so schnell daran ging seine Ladung einzuschiffen und sich auf seine Reise vorzubereiten.

Mein Vater und wir Alle waren über unsere glänzenden Aussichten entzückt; für den Augenblick waren wir allerdings auf das geringe Einkommen der Pfarre beschränkt, aber mein Vater schien zu denken, daß es nicht nöthig sei, unsere Ausgaben skrupulös auf dieses zu beschränken, so daß wir eine Rechnung bei Mr. Jackson, eine andere bei Mr. Smith und eine dritte bei Mr. Hobson auslaufen ließen, und selbst noch behaglicher, als vorher, lebten, wiewohl meine Mutter behauptete, daß wir am besten thun würden, uns einzuschränken, da unsere Aussichten auf Reichthum doch nur precär seien und daß mein Vater sich, wenn er nur Alles ihrer Leitung anvertrauen wolle, nie beschränkt fühlen solle. Diesmal aber war er unverbesserlich.

Welche glückliche Stunden verlebten Mary und ich, wenn wir mit unserer Arbeit am Feuer saßen, oder auf den Haidehügeln umherwanderten oder unter der Trauerkirche — dem einzigen bedeutenden Baume im Garten — verweilten, von künftigem Glücke für uns und unsere Eltern und dem, was wir thun und sehen und besitzen wollten, sprachen, ohne für unser schönes Luftschloß eine festere Grundlage zu haben, als die Reichthümer, welche von dein Erfolge der Spekulationen des wackern Kaufmanns auf uns einströmen sollten. Unser Vater trieb es eben so schlimm, wie wir, nur daß er es nicht so ernstlich zeigte und drückte seine glänzenden Hoffnungen und sanguinischen Erwartungen in Scherzen und neckischen Einfällen aus, die mir stets ausnehmend witzig und angenehm vorkamen. Unsere Mutter lachte entzückt, als ihn so hoffnungsvoll und glücklich sah, fürchtete aber doch, daß er sein Herz zu sehr auf die Sache sitze und einmal hörte ich sie als sie das Zimmer verließ flüstern:

»Gott gebe, daß er sich nicht täuscht. Ich weiß nicht, wie er es ertragen würde.«

Er wurde getäuscht und das bitter. Es traf uns Alle wie ein Donnerschlag, daß das Schiff, welches unser Vermögen enthielt, gescheitert und mit seiner ganzen Ladung, einigen Mitgliedern der Mannschaft und dem unglücklichen Kaufmann selbst untergegangen war. Ich war über den Sturz aller unserer Luftschlösser betrübt, erholte mich aber mit der Elasticität der Jugend bald wieder von dem Schlage.

Wenn auch der Reichthum seine Reize hatte, so besaß doch die Armuth für ein unerfahrenes Mädchen, wie mich, keine Schrecken. Die Wahrheit zu gestehen, lag sogar etwas Erheiterndes in der Idee, in Bedrängnis zu gerathen und auf unsere eigenen Hilfsquellen angewiesen zu sein. Ich wünschte nur, daß meine Eltern und Mary desselben Sinnes sein möchten, dann konnten wir Alle, statt vergangenes Unglück zu beklagen, heiter ans Werk gehen, um ihm abzuhelfen, und je größer die Schwierigkeiten, je härter unsere gegenwärtigen Entbehrungen waren, desto größer sollte auch unsere Heiterkeit sein, um die letzteren zu ertragen und unsere Kraft, um gegen die ersteren anzukämpfen.

Mary klagte nicht, aber sie brütete beständig über unserem Unglück und versank in eine Niedergeschlagenheit, aus welcher ich sie durch nichts zu reißen vermochte. Ich konnte sie nicht so weit bringen, die Sache, wie ich es that, von ihrer hellen Seite zu betrachten und fürchtete so sehr, einer kindischen Frivolität beschuldigt zu werden, daß ich sorgfältig die meisten von meinen heiteren Ideen und ermunternden Ansichten für mich behielt.

Meine Mutter dachte nur daran, meinen Vater zu trösten und unsere Schulden zu bezahlen und unsere Ausgaben auf jede mögliche Weise einzuschränken; aber mein Vater wurde völlig von dem Unglück zu Boden geschlagen, Gesundheit, Kraft und Lebensmuth stürzten unter dem Streiche in Trümmern und er erlangte sie nie wieder. Umsonst bestrebte meine Mutter sich, ihn durch Berufungen an seine Frömmigkeit, an seinen Muth, an seine Neigung zu ihr und uns zu erheitern; gerade diese Neigung war seine größte Qual, — um unsertwillen, hatte er sich so glühend gesehnt, sein Vermögen zu vermehren — es war unser Vortheil, welcher seinen Hoffnungen solchen Schimmer verliehen hatte und dies erfüllte seinen gegenwärtigen Schmerz mit solcher Bitterkeit. Jetzt quälte er sich mit Reue über die Vernachlässigung des Rathes meiner Mutter, welcher ihn wenigstens vor der weiteren Last der Schulden gerettet haben würde — er machte sich fruchtlos Vorwürfe darüber, daß er sie von der Würde; der Behaglichkeit, dem Luxus ihres früheren Standes herabgezogen hatte, um mit ihm die Sorgen und Mühen der Armuth zu erdulden. Es war Galle und Uebermuth für seine Seele, die schöne, hochgebildete Frau in eine thätige, sparsame Haushälterin umgewandelt zu sehen, deren Hände und Kopf beständig mit häuslichen Arbeiten und Sorgen beschäftigt waren. Selbst die Bereitwilligkeit, womit sie diese Pflichten erfüllte, die Heiterkeit, womit sie ihren Glücksumschlag ertrug und die Güte, welche sie abhielt, ihm den mindesten Tadel hören zu lassen, wurden von dem scharfsinnigen Selbstquäler in weitere Verschlimmerungen seiner Leiden verwandelt. Und so nagte der Geist am Körper und brachte das Nervensystem in Unordnung, worauf dieses wiederum die Sorgen des Geistes vermehrte; bis durch Wirkung und Gegenwirkung seine Gesundheit ernstlich benachtheiligt wurde — und ihn keine von uns überzeugen konnte, das Aussehen unserer Angelegenheiten nicht halb so düster, noch lange nicht so ganz so hoffnungslos sei, wie es seine krankhafte Einbildungskraft ausmalte.

Der nützliche Pony-Phaëton wurde verkauft und ebenso der kräftige wohlgenährte Pony — der alte Liebling, den wir einst beschlossen hatten, seine Tage in Frieden beenden und nie aus unseren Händen zu lassen; die kleine Nemise und der Stall wurden vermiethet, der Aufwartsbursche und die nützlichere, aber kostspieligere von den beiden Mägden fortgeschickt. Unsere Kleider wurden bis an den äußersten Rand des Anständigen ausgebessert, gewendet und gestopft, unsere stets einfache Nahrung, mit Ausnahme der Lieblingsgerichte meines Vaters, bis zu einem unerhörten Grade vereinfacht, mit den Steinkohlen und Lichtern äußerst sparsam umgegangen — die zwei Lichter auf dem Tische auf eines reducirt, und dieses auf das Sparsamste gebraucht, die Kohlen sorgfältig in den halbausgebrannten Kamin zusammengescharrt, besonders wenn mein Vater in Amtsverrichtungen ausgegangen oder durch Krankheit auf sein Bett beschränkt war — wo wir dann mit den Füßen auf dem Kamingitter saßen, von Zeit zu Zeit die verlöschenden Kohlen zusammenscharrten und mit unter eine kleine Quantität von dem Staube und den zerbröckelten Kohlen darauf schütteten, um sie nur in Gluth zu erhalten. Was unsere Teppiche betraf so wurden sie mit der Zeit bis zur Fadenscheinigkeit abgetragen und selbst noch mehr ausgebessert und gestopft, als unsere Kleider.

Um die Kosten eines Gärtners zu ersparen, übernahm es Mary und ich den Garten in Ordnung so halten, und alle Küchen- und Hausarbeit, die nicht leicht von einer Magd besorgt werden konnte, wurde von meiner Mutter und Schwester verrichtet, wobei ich ihnen zuweilen einige Hilfe leistete, aber nur eine sehr geringe, weil ich zwar, meiner eigenen Schätzung nach, ein Weib, in ihren Augen aber doch noch ein Kind war, und meine Mutter, wie die meisten thätigen Hausfrauen, nicht mit sehr thätigen Töchtern begabt war, aus dem einfachen Grunde, daß sie, die selbst so Geschickte und Fleißige, sich nie versucht fühlte, ihre Angelegenheiten einer Andern anzuvertrauen, sondern im Gegentheil für Andere ebenso gern handelte und dacht, wie für sich selbst, und welches Geschäft sie auch vorhaben mochte, meistentheils doch glaubte; daß Niemand es so gut thun könne, wie sie. Wenn ich mich also erbot, ihr Beistand zu leisten; so erhielt ich Antworten wie: — Nein, liebes Kind, das kannst Du wirklich nicht. — Hier giebt es für Dich nichts zu thun, geh und hilf Deiner Schwester oder bewege sie dazu, mit Dir spazieren zu gehen — sage ihr, daß sie nicht so viel sitzen und nicht so fortwährend im Hause bleiben dürfe, wie sie es thut — es ist kein Wunder, daß sie mager und niedergeschlagen aussieht.

»Mary, die Mama sagt, daß ich Dir helfen oder Dich überreden soll, mit mir auszugehen. Sie sagt, daß es kein Wunder ist, daß Du mager und niedergeschlagen aussiehst, wenn Du so viel zu Hause sitzest.«

»Helfen kannst Du mir nicht, Agnes, und ausgehen kann ich mit Dir auch nicht, ich habe viel zu viel zu thun.«

»Dann laß mich Dir helfen.«

»Das kannst Du wirklich nicht, liebes Kind. Geh und übe Dich in der Musik oder spiele mit der Katze.«

Es war beständig sehr viel zu nähen, aber man, hatte mir kein einziges Kleidungsstück zuschneiden gelehrt, und ich wußte, außer dem Säumen und Steppen, selbst in dieser Beziehung nur wenig zu thun, denn Beide behaupteten, daß es weit leichter sei, die Arbeit selbst zu thun, als sie mir herzurichten und überdies war es ihnen viel lieber, wenn sie mich meine Studien verfolgen oder mich belustigen sahen, — es sei Zeit genug, über meine Arbeit gebeugt dazusitzen, wie eine gesetzte Matrone, wenn mein kleines Lieblingskätzchen eine gesetzte, alte Katze geworden sein würde.

Unter solchen Umständen war mein Müssiggang, wenn ich auch nicht viel mehr Nutzen brachte, als die Katze, doch nicht ganz ohne Entschuldigung.

Bei aller unserer Noth hörte ich meine Mutter doch nur ein einziges Mal über unsern Mangel an Geld Plagen. Als sich der Sommer näherte, bemerkte sie gegen Mary und mich:

»Wie schön würde es sein, wenn Euer Papa auf ein paar Wochen in ein Bad gehen könnte. Ich bin überzeugt, daß die Seeluft und die veränderten Umgebungen von unberechenbarem Nutzen für ihn sein würde. Leider aber seht Ihr, daß kein Geld da ist,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu.

Wir wünschten Beide ungemein, daß sich die Sache thun lassen möge und beklagten sehr, daß sie unmöglich war.

»Nun, nun,« sagte sie, »das Klagen ist nutzlos, vielleicht ließe sich am Ende doch etwas thun, um den Plan zu befördern. Mary, Du zeichnest ja so schön; was sagst Du dazu, noch ein paar Bilder in Deiner besten Manier zu malen und sie mit den Aquarellbildern, die Du bereits gemacht hast, einrahmen zu lassen und sie wo möglich an einen freigebigen Bilderhändler zu verkaufen, der Verstand genug hat, um ihre Vorzüge zu erkennen.«

»Mama, ich würde es mit Freuden, wenn Du denkst, daß sie verkauft werden könnten und etwas der Mühe werthes dafür zu erhalten wäre.«

»Auf jeden Fall ist es der Mühe werth, einen Versuch zu machen, liebes Kind; schaffe Du Dir Zeichnungen und ich werde mich bemühen, einen Käufer zu finden.«

»Ich wollte, ich könnte etwas thun,« sagte ich.

»Du, Agnes! Nun, wer weiß! Du zeichnest auch so leidlich; wenn Du einen einfachen Gegenstand wählst, so wirst Du vielleicht nach im Stande sein, etwas hervorzubringen, was wir Alle stolz sein würden, aufzuzeigen.«

»Aber ich habe einen anderen Plan im Kopfe, Mama und zwar schon seit langer Zeit, ich wollte ihn nur nicht erwähnen.«

»Wirklich? — nun, laß hören, was es ist.«

»Ich möchte Gouvernante werden.«

Meine Mutter stieß einen Ruf des Erstaunens aus und lachte. Meine Schwester ließ überrascht ihre Arbeit fallen und rief:

»Du — eine Gouvernante. — Was träumst Du nur?«

»Nun, ich sehe nichts so sehr Außerordentliches darin; ich mache keine Ansprüche darauf, große Mädchen unterrichten zu können, aber sicherlich könnte ich doch kleine belehren — und ich möchte es so gern thun — ich habe die Kinder so lieb — bitte, laß mich Mama!«

»Aber, mein liebes Kind, Du hast bis jetzt noch nicht auf Dich sahst Acht heben gelernt, und die Leitung kleiner Kinder erfordert weit mehr Urtheilskraft und Erfahrung, als die der älteren.«

»Aber, Mama, ich bin schon Achtzehn gewesen und vollkommen fähig, mich und Andere in Ordnung zu halten. Du kennst nicht die Hälfte der Weisheit und Vorsicht. die ich besitze, weil ich noch nie auf eine Probe gestellt worden bin.

»Denke nur,« sagte Mary, was würdest Du in einem Hause voller Fremden anfangen, wo Du weder Mich noch die Mama hättest, um für Dich zu sprechen oder zu handeln — wo Du außer Dir noch auf eine Bande Kinder achten müßtest, und Niemanden hättest, von dem Du Rath erwarten könntest? Du würdest ja nicht einmal wissen, was für Kleider Du anziehen solltest.«

»Ihr denkt, daß ich kein eigenes Urtheil habe, weil ich stets thue, was Ihr mir heißt; aber versucht es nur mit mir, weiter verlange ich nichts, und Ihr sollt sehen, was ich thun kann.«

In diesem Augenblicke trat mein Vater ein und der Gegenstand unserer Diskussion wurde ihm auseinandergesetzt.

»Was, meine kleine Agnes seine Gouvernante?« rief er und begann, trotz seiner Niedergeschlagenheit, über die Idee zu lachen.

»Ja. Papa, sage Du nur nichts dagegen; ich würde es so gern thun und ich bin überzeugt, daß ich das Amt vortrefflich versehen könnte.«

»Aber mein Herzenskind, wir könnten Dich nicht entbehren,« und in seinem Auge schimmerte eine Thräne, als er hinzufügte:

»Nein, nein, so tief wir auch darniedergedrückt sind, so weit ist es mit uns doch gewiß noch nicht gekommen.«

»,O nein,« sagte meine Mutter, »es ist nicht die mindeste Nothwendigkeit für einen solchen Schritt vorhanden, es ist nur eine Laune von ihr. Du mußt als den Mund halten, Du böses Mädchen, denn wenn Du auch so bereit bist, uns zu verlassen, so weißt Du doch recht gut, daß wir Dich nicht hergeben können.«

Ich wurde auf jenen Tag und auf eine Menge anderer zum Schweigen gebracht, gab aber meinen Lieblingsplan doch nicht völlig auf.

Mary nahm ihr Zeichnungsmaterial vor und ging eifrig ans Werk, ich das meine ebenfalls; aber ich dachte während des Zeichnens an andere Dinge.

Wie herrlich würde es sein, eine Gouvernantenstelle zu bekleiden! In die Welt hinauszukommen, ein neues Leben anzutreten, für mich selbst zu handeln, meine ungebrauchten Fähigkeiten zu üben, meine unbekannten Kräfte zu priesen, meinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und vielleicht noch etwas dazu, um es meinem Vater behaglicher zu machen und ihm beizustehen, und ihn, sowie meine Mutter und Schwester, von der Last zu befreien, mir Nahrung und Kleidung zu verschaffen, dem Papa zu zeigen, was seine kleine Agnes thun könne, der Mama und Mary zu beweisen, daß ich nicht ganz das hilflose, gedankenlose Ding war, wofür sie mich hielten; und dann, wie reizend mußte es sein, mit der Erziehung von Kindern betraut zu werden; Andere mochten sagen, was sie wollten, ich fühlte, daß ich für die Aufgabe vollkommen befähigt war, die klare Erinnerung an meine eigenen Gedanken und Gefühle aus meiner frühen Kindheit würden ein sicherer Führer sein, als die Unterweisung der gereiftesten Rathgeber. Ich brauchte mich nur von meinen Schülerrinnen zu mir selbst in ihrem Alter zu wenden, und dann mußte ich sogleich wissen, wie ich ihre Neigung und ihr Vertrauen erringen, wie ich die Reue der Irrenden erwecken, wie die Schüchternen ermuthigen und die Betrübten trösten konnte, wie ich die Tugend ausführbar, die Belehrung Wünschenswerth und die Religion liebenswürdig und verständlich darstellen konnte.

Von so vielen Beweggründen getrieben, beschloß ich auszuharren, wenn mich. auch die Furcht, meiner Mutter zu mißfallen oder die Gefühle meines Vaters zu verletzen, auf mehrere Tage verhinderte, den Gegenstand wieder aufzunehmen. Endlich erwähnte ich ihn nochmals Privatim gegen meine Mutter und brachte sie mit einiger Mühe dahin, daß sie mir versprach, mir, so viel sie konnte, beizustehen. Hierauf verschaffte ich mir die widerstrebende Zustimmung meines Vaters und dann sah sich meine liebe; gute Mutter, obwohl Mary immer noch mißbilligend seufzte, nach einer Stelle für mich um. Sie schrieb an die Verwandten meines Vaters und sah in den Zeitungsanzeigen nach — mit ihren Verwandten hatte sie längst schon allen Verkehr aufgehoben — sie hatte seit ihrer Verheirathung nur noch einige förmliche Briefe mit ihnen gewechselt und würde sich unter keinerlei Umständen in einem Falle dieser Art an sie gewendet haben.

Meine Eltern hatten aber so lange in völliger Abgeschiedenheit von der Welt gelebt, daß viele Wochen vergingen, ehe eine passende Stelle für mich zu erlangen war. Endlich wurde zu meiner großen Freude entschieden; daß ich die Aufsicht über die junge Familie einer gewissen Mrs. Bloomfield, die meine gute Tante Grey in ihrer Jugend gekannt hatte und; wie sie behauptete, eine sehr nette Frau war, übernehmen sollte.

Ihr Mann hatte sich von den-Geschäften zurückgezogen und ein recht hübsches Vermögen erworben, war aber nicht zu bewegen, der Lehrerin seiner Kinder einen höhern Gehalt als fünfundzwanzig Pfund zu geben. Ich nahm dies jedoch mit Freuden an, um nicht diese erste Stelle ausschlagen zu müssen, wozu mir meine Eltern eigentlich riethen.

Zuerst mußten aber noch einige Wochen auf Vorbereitungen verwendet werden. Wie ewig lang erschienen mir diese Wochen — und doch waren sie in der Hauptsache glückliche, hoffnungs- und erwartungsvolle. Mit welcher eigenthümlichen Freude half ich bei der Anfertigung meiner neuen Kleider und später dem Packen meines Koffers.

Mit der letzten Beschäftigung vermischte sich aber doch ein Gefühl von Bitterkeit — und als Alles beendet, als Alles zu meiner Abreise für den nächsten Tag bereit war und die letzte Nacht im Elternhause nahte, schien eine plötzliche Pein mein Herz zu erfüllen. Meine theure Familie sah so trübe aus und sprach so freundlich, daß ich mir kaum das Wasser aus den Augen zu halten vermochte; dessen ungeachtet aber that ich, als ob ich heiter wäre. Ich hatte mit Mary meinen letzten Spaziergang auf der Haide durch den Garten und um das Haus gemacht, ich hatte mit ihr zum letzten Male unsere Tauben gefüttert, die hübschen Geschöpfe die wie gezähmt hatten, daß sie ihr Futter aus unserer Händen pickten. Ich hatte ihnen, als sie sich auf Meinem Schooße zusammendrängten, zum Lebewohl den seidenweichen Rücken gestreichelt, ich harte zärtlich meine Lieblinge, das Paar rein schneeweißen Pfauentauben, geküßt; ich hatte meine letzte Melodie auf dem alten Familienklavier gespielt und dem Papa mein letztes Lied vorgesungen, nicht des letzte, wie ich hoffte, sondern das letzte auf, wie es mir vorkam, eine lange, lange Zeit, und wenn ich diese Dinge wieder vornahm so würde es vielleicht mit andern Gefühlen geschehen. Die Umstände konnten sich verändert heben und dieses Haus nie wieder meine feste Heimath sein.

Meine liebe, kleine Freundin, das Kätzchen, mußte sich dann sicher verändert haben; sie wurde bereits zu einer schönen Katze und hatte, wenn ich, sei es auch nur zu einem kurzen Weihnachtsbesuche, zurückkehrte, sicherlich schon ihre Spielkameradin und ihre lustigen Sprünge vergessen. Ich hatte zum letzten Male mit ihr gespielt und als ich ihr weiches, glänzendes Fell streichelte, während sie auf meinem Schooße lag und sich in den Schlaf schnurrte, that ich es mit einem Gesichte der Trauer, welches ich nicht leicht verbergen konnte. Und dann, als ich mich am Abend mit Mary in unsere stille, kleine Kammer begab, wo bereits meine Kommode ausgeräumt und mein Antheil am Bücherregale leer war, und wo sie von nun an, wie sie sich ausdrückte, in öder Einsamkeit schlafen mußte; fiel mir der Muth mehr als je; es war mir; als ob es selbstsüchtig und unrecht gewesen wäre, als ich darauf bestand, sie zu verlassen, und als ich noch einmal an unserm kleinen Bett kniete, betete ich für sie und meine Eltern inniger, als ich es je gethan hatte.

Um meine Bewegung zu verhehlen, begrub ich mein Gesicht in meinen Händen, die bald in Thränen gebadet waren. Als ich aufstand, bemerkte ich, daß sie ebenfalls geweint hatte; wir sprachen aber nicht, sondern begaben uns stumm zur Ruhe und schmiegten uns im Bewußtsein, daß wir so bald von einander scheiden müßten dichter an einander.

Der Morgen brachte aber neue Hoffnung und erhöhten Muth. Ich sollte zeitig abreisen, damit der Wagen, welcher mich fortbrachte, — ein von Mr. Smith, dem Tuch- und Spezereihändler des Dorfes, gemiethetes Gig — noch an demselben Tage zurückkehren konnte. Ich stand auf, wusch mich, kleidete mich an, genoß ein hastiges Frühstück, empfing die zärtlichen Umarmungen meiner Eltern meiner Schwester, küßte die Katze, zum großen Skandal Sally's der Magd, drückte dieser die Hand, stieg in das Gig, zog den Schleier über mein Gesicht herab und brach dann, aber erst dann, in einen Strom von Thränen aus.

Das Gig rollte vorwärts — ich schaute zurück — meine gute Mutter und Schwester standen noch an der Thür, schauten mir nach und schwenkten mit den Taschentüchern ihr Lebewohl zu. Ich erwiederte ihren Gruß und betete von Herzen, daß sie Gott segnen möge; wir fuhren den Hügel hinab und ich konnte sie nicht mehr sehen.

»Es ist ein kalter Morgen für Sie, Miß Agnes,« bemerkte Smith, »und der Himmel sieht häßlich aus. Vielleicht kommen wir oben hin, ehe es stark zu regnen anfängt.«

»Ja, ich hoffe es,« antwortete ich; so ruhig ich konnte.

»Es hat gestern Abend auch recht geregnet.«

»Ja.«

»Aber dieser kalte Wind wird es vielleicht nicht dazu kommen lassen.«

»Vielleicht wird er das.«

Hiermit endete unser Gespräch. Wir fuhren durch das Thal und begannen den entgegengesetzten Hügel zu ersteigen. Als wir langsam hinausfahren, blickte ich noch einmal zurück: der Dorfkirchthurm und das alte graue Pfarrhaus jenseits desselben wurden von einem Sonnenstrahle erhellt — es war nur ein schwacher Strahl, aber das Dorf und die es umgebenden Hügel lagen alle im dunkeln Schatten und ich begrüßte ihn als seine günstige Vorbedeutung für mein Elternhaus. Ich flehte mit gefalteten Händen Segen auf seine Bewohner herab und wendete mich hastig hinweg, denn ich sah, daß der Sonnenschein verschwand und vermied es sorgfältig, mich wieder umzuschauen, um es nicht in düsterm Schatten zu erblicken, wie den übrigen Theil der Landschaft.


Zweites Kapitel.
Erste Lektionen in der Erziehungskunst.

Unterwegs belebte sich meine gute Laune von Neuem und ich wendete mich mit Vergnügen der Betrachtung des neuen Lebens, welches ich antrat, zu; wiewohl es aber noch nicht weit über die Mitte des Septembers hinaus war, verbanden sich doch die schweren Wolken und der heftige Nordostwind, den Tag äußerst kalt und traurig zu machen und die Reise schien sehr lang zu sein, denn die Wege waren, wie Smith bemerkte, sehr tief und sein Pferd war äußerst schwerfällig, es kroch die Hügel hinauf und schlich dieselben hinab und ließ sich nur dann herab, sich zu einem Trabe aufzumuntern, wenn die Straße völlig eben oder sehr sanft abhängig war, was in dieser gebirgigen Gegend selten vorkam, so daß es fast ein Uhr wurde, ehe wir an unsern Bestimmungsort gelangten. Als wir aber durch das hohe Eisenthor gelangten; als wir sanft den glatten, gut gehaltenen Fahrweg hinausfahren, wo zu beiden Seiten grüne Rasenplätze mit jungen Bäumen besetzt waren und uns dem neuen, aber stattlichen Herrenhause von Wellwood näherten, welches sich über seine winzigen Pappelhaine erhob, sank mir der Muth und ich wünschte, daß es noch ein paar Meilen weiterhin liegen möchte — ich mußte zum ersten Male in meinem Leben allein stehen — jetzt galt kein Rückzug mehr — ich mußte in jenes Haus und vor dessen fremde Bewohner treten — aber wie sollte es geschehen! Allerdings war ich beinahe Neunzehn, aber ich wußte recht gut, daß in Folge meines zurückgezogenen Lebens und der schützenden Fürsorge meiner Mutter und Schwester, manches Mädchen von fünfzehn und noch weniger Jahren. größere Fähigkeit, sich unter Fremden zu bewegen, und mehr Ruhe und Hoffnung besaß, als ich. Wenn Mrs. Bloomfield aber eine gute, mütterliche Frau war, konnte ich mich doch am Ende noch recht wohl befinden, und was die Kinder betraf, so hoffte ich natürlicher Weise, mich unter ihnen bald einheimisch zu machen — und mit Mr. Bloomfield erwartete ich nur wenig zu thun zu haben.