May Man Prevail?
An Inquiry into the Facts and Fictions of Foreign Policy
Erich Fromm
(1961a)
Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel
Erstveröffentlichung unter dem Titel May Man Prevail? An Inquiry into the Facts and Fictions of Foreign Policy, New York 1961 (Doubleday & Company, Inc.); die deutsche Erstausgabe erschien bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, und in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zehn Bänden im Jahr 1981.
Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band V, S. 43-197.
Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.
Copyright © 1961 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.
Die verantwortlichen politischen Führer stimmen darin überein, dass die Vereinigten Staaten und die gesamte westliche Welt zurzeit eine sehr gefährliche Phase durchmachen.[1] Bestehen auch gewisse Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Größe dieser Gefahren, so ist man doch weithin der Überzeugung, dass das Bild, welches wir uns von der Situation machen, klar und realistisch ist, dass wir der Situation angemessen begegnen und dass uns kein prinzipiell anderer Kurs möglich wäre. Auf folgenden Voraussetzungen gründet sich diese Auffassung über die allgemeine Weltlage:
Der Kommunismus, wie ihn die Sowjetunion und China repräsentieren, ist eine revolutionär-imperialistische Bewegung, die zum Ziel hat, sich die Welt mit Gewalt oder durch politischen Umsturz zu unterwerfen. Die industrielle und militärische Entwicklung hat das kommunistische Lager und speziell die Sowjetunion zu einem mächtigen Rivalen gemacht, der in der Lage ist, unser menschliches und industrielles Potenzial bis zu einem beträchtlichen Grad zu vernichten. Man kann diesen Machtblock an der Durchführung seines Willens, sich die Welt zu erobern, nur hindern, indem man ihm zu verstehen gibt, dass auf jeden derartigen Versuch ein Gegenschlag erfolgen würde, der auch sein menschliches und wirtschaftliches Potenzial vernichten oder aufs Schwerste schädigen würde. In dieser Abschreckungsmöglichkeit liegt die einzige Hoffnung, den Frieden zu erhalten, da Russland nur aus Angst vor unserem Gegenschlag von seinen Welteroberungsplänen Abstand nehmen wird. Solange wir daher über eine ausreichende Abschreckungsmacht verfügen und auf der ganzen Welt militärische Verbündete haben, ist der Frieden gesichert.
Innerhalb dieses Gesamtkonzepts weichen die einzelnen Ansichten allerdings weit voneinander ab. Einige sind der Meinung, dass in einem Atomkrieg zwar 60 bis 70 Millionen Amerikaner ums Leben kommen könnten, dass unser Lebensstil jedoch hierdurch nicht zerstört oder ernstlich verändert würde. Andere meinen, die Annahme von 100 bis 150 Millionen Todesopfern sei realistischer.
Manche treten für Abrüstungsverhandlungen aus einer Position der Stärke heraus ein, während wieder andere in Abrüstungsverhandlungen irgendwelcher Art nur eine nutzlose Propagandaübung sehen. Manche sind auch für eine schrittweise durchzuführende begrenzte Rüstungskontrolle, etwa für die Einstellung der Atomversuche, während andere in [V-046] einem derartigen Schritt nur eine Gefährdung unserer Sicherheit sehen. Die einen treten für eine atomare Gegenstrategie ein, die sich gegen die gegnerischen Raketenbasen richtet, andere sind für die beständige Abschreckungsstrategie eines „zweiten Schlags“, welche die Ballungsgebiete der Bevölkerung zum Ziel hat, und wieder andere möchten beide Strategien kombiniert wissen (obgleich eine solche Kombination beide Methoden ihrer angeblichen Vorteile berauben könnte). Meinungsverschiedenheiten herrschen auch bei den verschiedenen Gruppen, die bei uns Politik machen. Unter Eisenhower verfolgten das State Department und der Präsident in Bezug auf die Einstellung der Atomversuche und die Rüstungskontrolle eine etwas konziliantere Linie, während das Militär und die Atomenergie-Kommission damals wie heute auf einem weniger konzilianten Standpunkt stehen. Auch die verschiedenen Waffengattungen weichen in ihren strategischen Konzeptionen voneinander ab. Jede von ihnen vertritt eine Auffassung, die ihr selbst den größten Entfaltungsspielraum gibt und gleichzeitig zu gewissen Kompromissen mit ihren beiden konkurrierenden Waffengattungen bereit ist.
Trotz dieser Differenzen jedoch scheinen die meisten politischen Führer und der größte Teil der Bevölkerung von der Richtigkeit der Grundvoraussetzungen unserer Politik überzeugt und bereit zu sein, den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Sie sind sogar gewiss, dass kein anderer Kurs möglich ist, und dass jede andere Politik effektiv eher zum Krieg führen würde als der von uns verfolgte Weg. In dieser Einstellung werden sie noch durch ihre Überzeugung bestärkt, dass unsere Politik nicht nur die einzige ist, bei der wir hoffen können, physisch zu überleben, sondern dass sie auch aus moralischen und religiösen Überlegungen heraus als einzige vertretbar ist. Sie sind der Ansicht, dass wir und unsere Verbündeten die Repräsentanten von Freiheit und Idealismus seien, während die Russen und deren Verbündete Sklaverei und Materialismus repräsentieren. Dabei gilt prinzipiell, dass man sogar das Risiko von Krieg und Vernichtung auf sich nehmen müsse, weil der Tod immer noch besser sei als die Sklaverei.
Wer eine solche Politik verfolgt, wird es zwar schweren Herzens tun, sofern er erkennt, welche Gefahren eine solche Politik für uns und die ganze Welt in sich birgt, doch werden ihm kaum Zweifel kommen. Er wird überzeugt sein, dass wir das Bestmögliche tun und dass es keinen anderen Weg gibt, auf dem wir vor Krieg und Versklavung besser geschützt wären.
Sollten die Voraussetzungen, auf die sich unsere Politik gründet, jedoch falsch sein, so würden wir in der Tat einen Kurs verfolgen, den zu empfehlen kein Mensch wagen kann, der auch nur ein wenig Verantwortungs- und Pflichtgefühl hat. Daher haben wir die intellektuelle und moralische Verpflichtung, die Richtigkeit dieser Voraussetzungen immer wieder zu überprüfen. Zu dieser Überprüfung möchte auch ich meinen Teil beitragen. Ich will versuchen, die Gründe für meine Überzeugung darzulegen, dass viele der Voraussetzungen, die unserer Politik zugrunde liegen, falsch sind, dass viele unserer Annahmen fiktiv oder verzerrt sind, und dass wir daher wie in einer Art geistiger Verwirrung in die schwerste Gefahr für uns selbst und für die gesamte übrige Menschheit hineinrennen.
Manche meiner Behauptungen und Schlussfolgerungen werden viele Leser [V-047] überraschen und schockieren. Ich verlange nichts weiter von ihnen, als dass sie meine Argumente möglichst unvoreingenommen nachvollziehen und sich dabei möglichst wenig von Emotionen beeinflussen lassen. Schließlich haben wir ein gemeinsames Anliegen: Wir wollen nicht die totale Zerstörung durch Krieg und wir wollen, dass die Idee der menschlichen Würde und des Individualismus auf Erden lebendig bleibt. Ich möchte zu zeigen versuchen, dass Friede immer noch möglich ist und dass die humanistische Tradition noch immer eine Zukunft hat.
Meinen Dank möchte ich Roger Hagan sagen. Er hat mir nicht nur dabei geholfen, das historische Material zu sammeln, sondern auch viele wichtige kritische und konstruktive Vorschläge insgesamt gemacht. Michael Maccoby möchte ich für seine wertvollen Hilfen danken, vor allem im Kapitel über die Abrüstung. Harrop Freeman gilt mein Dank, dass er sich auch noch die Zeit genommen hat, das Manuskript sehr sorgfältig zu lesen, und dass er wichtige Vorschläge gemacht hat. David Riesman und Stewart Meacham haben die Druckfahnen gelesen. Für ihre wichtigen Kritiken und Verbesserungen sei hier herzlich gedankt.
E. F.
Gesellschaften haben ihr eigenes Leben und gründen sich auf das Vorhandensein von bestimmten Produktivkräften, von gewissen geographischen und klimatischen Bedingungen, von Produktionsmethoden, von Ideen und Werten und auf einen bestimmten Typ des menschlichen Charakters, der sich unter diesen Bedingungen entwickelt. Sie sind so organisiert, dass sie in eben jener Gesellschaftsform, der sie sich angepasst haben, weiter leben wollen. Die Menschen jeder Gesellschaft glauben gewöhnlich, ihre Art zu leben sei die einzig natürliche und sei unvermeidlich. Sie sehen kaum eine andere Möglichkeit und neigen zu der Überzeugung, eine prinzipielle Veränderung ihrer Lebensweise müsse zu Chaos und Zerstörung führen. Sie sind allen Ernstes davon überzeugt, dass ihr Weg der einzig richtige und der von den Göttern und den Gesetzen der menschlichen Natur sanktionierte ist, sodass die einzige Alternative zur Fortsetzung der bestehenden speziellen Lebensform nur Destruktion sein kann. Dieser Glaube ist nicht einfach das Ergebnis eines ideologischen Drills, sondern im affektiven Teil des Menschen verwurzelt: Er gründet in seiner Charakterstruktur, die von sämtlichen gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen derart geprägt wird, dass der Mensch genau das zu tun wünscht, was er tun muss. Seine psychische Energie wird so kanalisiert, dass sie eben jener Funktion gerecht wird, die ein Mensch als nützliches Glied der Gesellschaft hat.[2] Da die Modelle des Denkens in den Modellen des Fühlens wurzeln, sind die Denkmodelle derart dauerhaft und gegen jegliche Veränderung resistent.
Dennoch verändern sich Gesellschaften. Viele Faktoren, wie neue Produktivkräfte, wissenschaftliche Entdeckungen, politische Eroberungen, Bevölkerungsexpansion usw., führen zu Veränderungen. Zu diesen objektiven Faktoren kommt hinzu, dass der Mensch sich seiner Bedürfnisse und seiner selbst in wachsendem Maße bewusst wird und dass er vor allem ein wachsendes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit hat. Auch hierdurch werden ständig Veränderungen in seiner historischen [V-049] Situation herbeigeführt, von der Lebensweise des Höhlenbewohners bis zum Weltraumfahrer der nahen Zukunft.
Wie aber kommt es zu diesen Veränderungen? Meistens entstanden sie gewaltsam auf Grund von Katastrophen. Führer wie Geführte der meisten Gesellschaften waren unfähig, sich freiwillig und friedlich völlig neuen Bedingungen anzupassen, indem sie durch vorausschauendes Handeln die notwendigen Veränderungen trafen.[3] Sie wollten lieber mit dem fortfahren, was sie gelegentlich poetisch als „Erfüllung ihrer Sendung“ bezeichneten, und versuchten, das Grundmuster ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens mit nur geringen Veränderungen und Abwandlungen beizubehalten. Selbst dann, wenn Umstände eintraten, die in völligem und flagrantem Widerspruch zu ihrer Gesamtstruktur standen, setzten solche Gesellschaften ihren Versuch blindlings fort, an ihrer Lebensweise festzuhalten, bis es schließlich nicht mehr ging. Dann wurden sie von anderen Völkern erobert und vernichtet, oder sie starben langsam aus, da sie nicht mehr in der Lage waren, ihr Leben in der gewohnten Weise weiterzuführen.
Die erbittertsten Gegner einer fundamentalen Veränderung waren stets die Eliten, die von der bestehenden Ordnung am meisten profitierten und daher nicht gewillt waren, ihre Privilegien freiwillig aufzugeben. Aber die materiellen Interessen der herrschenden und privilegierten Gruppen waren nicht der einzige Grund für die Unfähigkeit vieler Kulturen, die notwendigen Veränderungen durch vorausschauendes Handeln zu treffen. Eine andere, ebenso wichtige Ursache ist psychologischer Natur. Da Führer wie Geführte ihre Art zu leben gerne hypostasieren und verabsolutieren, kommt es zu einer starren Bindung an ihre jeweiligen Denkformen und Wertvorstellungen. Daher sehen sie sich bereits bei nur geringfügig abweichenden anderen Auffassungen in größte Verwirrung gestürzt und erblicken in ihnen feindliche, teuflische, wahnwitzige Angriffe auf das eigene „normale“, „gesunde“ Denken.
Für die Anhänger Cromwells waren die Papisten vom Teufel besessen; für die Jakobiner waren es die Girondisten, für die Amerikaner sind es die Kommunisten. Offenbar verabsolutiert der Mensch in jeder Gesellschaft die von seiner Kultur erzeugte Lebens- und Denkweise und ist eher bereit zu sterben als etwas zu verändern, da er die Veränderung mit dem Tod gleichsetzt. So ist die Menschheitsgeschichte ein Friedhof großer Kulturen, die in der Katastrophe endeten, weil sie sich als unfähig erwiesen zu einer geplanten, vernünftigen, freiwilligen Reaktion auf eine Herausforderung.
Dennoch gibt es in der Geschichte auch nicht-gewaltsame Veränderungen auf Grund vorausschauenden Handelns. Die Befreiung der Arbeiterklasse aus ihrem Status, nur Objekt gewissenloser Ausbeutung zu sein, zu einem einflussreichen wirtschaftlichen Partner in der westlichen Industriegesellschaft, ist ein Beispiel für eine nichtgewaltsame Veränderung in den Klassenbeziehungen innerhalb einer Gesellschaft. Die Bereitschaft der britischen Labour-Regierung, Indien die Unabhängigkeit zu gewähren, bevor sie dazu gezwungen wurde, ist ein Beispiel im Bereich der internationalen Beziehungen. Aber solche vorausschauenden Lösungen waren in der bisherigen Geschichte eher die Ausnahme als die Regel. Zum religiösen Frieden kam es in Europa erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, in England erst nach gegenseitigen gewalttätigen und grausamen Verfolgungen, bei denen Papisten und Antipapisten einander in [V-050] nichts nachstanden. Im Ersten und Zweiten Weltkrieg schloss man erst Frieden, nachdem auf beiden Seiten Millionen von Männern und Frauen sinnlos getötet worden waren, noch nachdem der Ausgang des Krieges bereits klar war. Wäre es nicht ein Gewinn für die Menschheit gewesen, wenn die schließlich erzwungenen Entscheidungen von beiden Seiten freiwillig akzeptiert worden wären, bevor sie erzwungen wurden? Hätte nicht ein vorausschauender Kompromiss schreckliche Verluste und eine allgemeine Brutalisierung verhindert?
Heute stehen wir wieder einmal vor einer schicksalhaften Entscheidung, eine gewaltsame Lösung zu suchen oder eine Lösung auf Grund vorausschauenden Handelns. Die Entscheidung kommt der zwischen allgemeiner Vernichtung oder fruchtbarem Wachstum unserer Zivilisation gleich. Unsere heutige Welt ist in zwei Blöcke aufgeteilt, die sich voller Hass und Misstrauen gegenüberstehen. Beide Blöcke sind in der Lage, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, dessen Größe unvorstellbar und unermesslich ist. (Schätzungen über die von den Vereinigten Staaten zu erwartenden Verluste variieren zwischen einem Drittel bis praktisch der Gesamtzahl der Bevölkerung für den Fall eines Atomkrieges; ähnliche Schätzungen gelten für die Sowjetunion.) Beide Blöcke sind bis zu den Zähnen bewaffnet und auf den Krieg vorbereitet. Sie misstrauen einander, und jeder verdächtigt den anderen, er wolle ihn überwältigen und vernichten. Das gegenwärtige Gleichgewicht von Misstrauen und Drohung auf der Basis eines destruktiven Potenzials kann noch eine Weile erhalten bleiben. Aber auf die Dauer sind die einzigen Alternativen entweder ein Atomkrieg mit all seinen Konsequenzen oder die Beendigung des Kalten Krieges. Dies setzt jedoch Abrüstung und politischen Frieden zwischen den beiden Blöcken voraus.
Die Frage ist, ob die Vereinigten Staaten (einschließlich ihrer westlichen Verbündeten) und die Sowjetunion sowie das kommunistische China jeder für sich ihren gegenwärtigen Kurs bis zum bitteren Ende weiterverfolgen müssen, oder ob beide Seiten vorausschauend gewisse Änderungen vornehmen und auf diese Weise zu einer Lösung gelangen, die historisch möglich ist und gleichzeitig jedem Machtblock optimale Vorteile bietet.
Die Frage ist im wesentlichen die gleiche, der sich auch andere Gesellschaften und Kulturen gegenübergestellt sahen: Ob wir fähig sind, unsere historischen Einsichten in politisches Handeln umzusetzen. (Vgl. R. L. Heilbronner, 1960.)
An dieser Stelle erhebt sich eine zusätzliche Frage: Was macht eigentlich eine Gesellschaft lebensfähig und was ermöglicht es ihr, auf Veränderungen richtig zu reagieren? Hierauf gibt es keine einfache Antwort, sicher ist jedoch, dass die Gesellschaft vor allem fähig sein muss, zwischen ihren primären Werten und ihren sekundären Werten und Institutionen zu unterscheiden. Dies ist deshalb schwierig, weil unsere sekundären Systeme sich ihre eigenen Werte schaffen, die mit der Zeit ebenso wesentlich erscheinen wie die menschlichen und sozialen Bedürfnisse, denen sie ihre Entstehung verdanken. In dem Maße wie das Leben der Menschen mit Institutionen, Organisationen, Lebensstilen, Produktions- und Konsumformen usw. verflochten ist, werden diese Menschen bereit sein, sich und andere für das Werk ihrer Hände zu opfern, ihre eigenen Schöpfungen in Idole zu verwandeln und diese Idole anzubeten. Außerdem erweisen sich Institutionen im allgemeinen als resistent gegen Veränderungen. Aus [V-051] diesem Grund fällt es Menschen, die sich diesen Institutionen eng verbunden fühlen, nicht leicht, vorausschauend zu verändern. Für eine Gesellschaft wie unsere gegenwärtige liegt das Problem daher darin, ob die Menschen die grundlegenden menschlichen und sozialen Werte unserer Zivilisation wieder zu entdecken vermögen und ob sie in der Lage sind, ihre Ergebenheit – um nicht zu sagen religiöse Verehrung – denjenigen ihrer institutionellen (oder ideologischen) Werte zu entziehen, die zu einem Hindernis geworden sind.
Ein großer Unterschied zwischen der Vergangenheit und unserer Gegenwart macht dies zu einem dringenden Problem. Die gewaltsame, nicht-vorausschauende Lösung wird in unserem Fall nicht zu einem schlechten Frieden führen, wie das 1919 oder 1945 für Deutschland der Fall war; sie wird nicht dazu führen, dass einige unserer Landsleute oder einige Russen in Gefangenschaft geraten, wie dies den vom Römischen Reich besiegten Völkerschaften widerfuhr, sondern es wird höchstwahrscheinlich zur physischen Vernichtung der meisten jetzt lebenden Amerikaner und Russen und zu einem barbarischen, entmenschlichten diktatorischen Regime über die Überlebenden führen. Diesmal ist die Wahl zwischen einem gewalttätig-irrationalen und einem vorausschauend-rationalen Verhalten eine Wahl, bei der es um die Menschheit und ihr kulturelles, wenn nicht gar physisches Überleben geht.
Bis jetzt sind die Chancen gering, dass es zu einem solchen rationalen vorausschauenden Handeln kommen wird. Und dies nicht etwa, weil es bei der realen Lage der Dinge keine Möglichkeit zu einem solchen Ausgang gäbe, sondern weil auf beiden Seiten eine Denkbarriere aus Klischeevorstellungen, ritualistischen Ideologien und einem guten Teil allgemeinem Wahnsinn errichtet wurde, welche die Menschen – Führer wie Geführte – daran hindert, klar und realistisch zu erkennen, wie die Dinge liegen, Fakten von Fiktionen zu unterscheiden und alternative Lösungen zur Gewalt zu suchen. Eine solche vernünftige, vorausschauende Politik erfordert vor allem eine kritische Überprüfung unserer Vorstellungen – beispielsweise vom Wesen des Kommunismus, von der Zukunft der Entwicklungsländer, vom Wert der Abschreckung zur Vermeidung eines Krieges. Sie erfordert auch eine ernsthafte Überprüfung unserer eigenen Vorurteile und gewisser halb pathologischer Denkformen, die unser Verhalten bestimmen.
Nach einem Prozess von rund tausend Jahren vom Beginn der Feudalisierung des Römischen Reiches bis zum ausgehenden Mittelalter – einem Zeitraum, in dem Europa durch das Christentum von den Ideen des griechischen, hebräischen und arabischen Denkens durchdrungen wurde –, entstand eine neue Kultur. Der westliche Mensch entdeckte die Natur als ein Objekt intellektueller Spekulation und ästhetischen Genusses; er schuf eine neue Naturwissenschaft, die innerhalb weniger Jahrhunderte zur Grundlage für eine Technik wurde, welche die Natur und das praktische Leben des Menschen auf eine Weise umformen sollte, wie er sich dies bis dahin nicht hätte [V-052] träumen lassen. Er entdeckte sich als ein Individuum, das mit fast unbegrenzten Energien und Kräften ausgestattet war.
Die neue Epoche erzeugte auch die neue Hoffnung auf einen besseren, ja vollkommenen Menschen. Die Hoffnung, dass der Mensch bereits auf dieser Erde vollkommen sein und eine „gute Gesellschaft“ errichten könnte, gehört zu den ganz charakteristischen und einzigartigen Merkmalen westlichen Denkens. Es ist eine Hoffnung, welche sowohl die Propheten des Alten Testaments wie die griechischen Philosophen erfüllte. Sie wurde dann von den transhistorischen Idealen der Erlösung und der vom christlichen Denken propagierten Vorstellung von der wesensmäßigen Verderbtheit des Menschen überschattet – wenn sie auch nie ganz verlorenging. Neuen Ausdruck fand sie in den Utopien des sechzehnten und siebzehnten und in den philosophischen und politischen Ideen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.
Parallel zum Aufleben einer neuen Hoffnung nach der Renaissance und der Reformation verlief die explosionsartige wirtschaftliche Entwicklung des Westens, die erste industrielle Revolution. Organisatorisch nahm sie die Form des kapitalistischen Systems an, das durch Privatbesitz in Bezug auf die Produktionsmittel, durch die Existenz politisch unabhängiger Lohnempfänger und die Regulierung sämtlicher ökonomischer Aktivitäten nach dem Prinzip der Kalkulation und der Maximierung des Profits gekennzeichnet ist. 1913 war die industrielle Produktion siebenmal so groß wie 1860 und war fast ausschließlich in Europa und Nordamerika lokalisiert. (Weniger als 10 Prozent der Weltproduktion kamen nicht aus diesen beiden Bereichen.)
Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist die. Menschheit in eine neue Phase eingetreten. Die kapitalistische Produktionsweise hat eine tief greifende wesensmäßige Veränderung erfahren. Neue Produktivkräfte (Verwendung von Öl, Elektrizität und Atomenergie) sowie technische Entdeckungen haben die materielle Produktivität im Vergleich zu den Verhältnissen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts um ein Vielfaches erhöht.
Die neuen technischen Entdeckungen brachten eine neue Form der Produktion mit sich. Diese war gekennzeichnet durch die Zentralisierung in großen Fabrikbetrieben, durch die dominierende Position der großen Unternehmen, durch von Managern geleitete Bürokratien, die diese Unternehmen verwalten, sie aber nicht besitzen, und durch eine Produktionsweise, bei der Hunderttausende von Arbeitern und Büroangestellten reibungslos zusammenarbeiten. Dabei werden sie von starken Gewerkschaften gestützt, die oft denselben bürokratischen Aufbau haben wie die großen Konzerne. Zentralisation, Bürokratisierung und Manipulation sind die charakteristischen Merkmale der neuen Produktionsform.
Die Anfangsperiode der industriellen Entwicklung, in der es darum ging, die Schwerindustrie auf Kosten der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Arbeiter aufzubauen, führte zu einer extremen Verarmung der Millionen von Männern, Frauen und Kindern, die im neunzehnten Jahrhundert in den Fabriken arbeiteten. Als Reaktion auf ihre Not, aber auch als Ausdruck des Glaubens an die Würde des Menschen verbreitete sich die sozialistische Bewegung über ganz Europa und drohte die alte Ordnung zu stürzen und durch eine andere zu ersetzen, die sich zum Wohl der breiten Massen auswirken würde. [V-053]
Die Organisation der Arbeit in Verbindung mit dem technischen Fortschritt und die sich daraus ergebende größere Produktivität verschafften der Arbeiterklasse einen ständig wachsenden Anteil am Nationalprodukt. An die Stelle äußerster Unzufriedenheit mit dem System, wie sie für das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnend war, trat nun ein Geist der Kooperation innerhalb des kapitalistischen Systems. Eine neue Partnerschaft entwickelte sich zwischen der Industrie und den in den Gewerkschaften organisierten Arbeitern, und es entstanden (außer in den Vereinigten Staaten) starke sozialistische Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg war es in Europa – außer in Russland, dem wirtschaftlich rückständigsten Land unter den Großmächten – mit der Tendenz zu gewaltsamen Revolutionen zu Ende.
Während die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen innerhalb der westlichen Industrienationen (und langsam auch in Russland) wesentlich schmaler geworden ist, ist die Kluft zwischen den „reichen Ländern“ von Europa und Nordamerika einerseits und den „armen Ländern“ in Asien (mit Ausnahme Japans), in Afrika und Lateinamerika so groß, wie sie vormals innerhalb eines Landes war, und wird ständig noch größer. Aber während die Kolonialvölker zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Ausbeutung und Armut hinnahmen, erleben wir jetzt um die Mitte dieses Jahrhunderts den Befreiungskampf dieser armen Länder. Genauso wie die Arbeiter innerhalb des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert sich weigerten, noch weiterhin daran zu glauben, dass ihr Schicksal eine göttliche Fügung oder eine unabänderliche soziale Gegebenheit sei, so weigern sich jetzt die armen Völker, ihre Armut hinzunehmen. Sie fordern nicht nur politische Freiheit, sondern einen mit dem der westlichen Welt vergleichbaren Lebensstandard und zur Erreichung dieses Zieles eine rasche Industrialisierung. Zwei Drittel der Menschheit sind nicht mehr gewillt, eine Situation zu akzeptieren, in der ihr Lebensstandard nur zwischen 10 bis weniger als 5 Prozent des Lebensstandards des reichsten Landes – der Vereinigten Staaten – liegt, welche mit nur 6 Prozent der Weltbevölkerung heute etwa 40 Prozent der Güter dieser Welt produzieren.
Die koloniale Revolution wurde von vielen Faktoren beschleunigt, unter anderem von der Schwächung Europas auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet nach den beiden Weltkriegen; außerdem von der nationalistischen und revolutionären, aus dem Europa des neunzehnten Jahrhunderts überkommenen Ideologie, sowie von den neuen Produktionsformen und der sozialen Organisation, die den Slogan, „den Westen einzuholen“, zu einer realen Möglichkeit machte.
China, das sich die kommunistische Ideologie und die wirtschaftlichen und sozialen Methoden von Sowjetrussland entlieh, ist zum ersten Kolonialland geworden, welches spektakuläre wirtschaftliche Erfolge aufzuweisen hat und eine der großen Weltmächte zu werden beginnt, indem es durch Beispiel, Überredung und wirtschaftliche Unterstützung versucht, zum Anführer der kolonialen Revolution in Asien, Afrika und Lateinamerika zu werden.
Während die Sowjetunion seit 1923 endgültig die Hoffnung auf eine Arbeiterrevolution im Westen aufgegeben und seitdem tatsächlich versucht hat, alle westlichen revolutionären Bewegungen zu reglementieren, hatte sie auf Unterstützung durch die nationalistischen Revolutionen im Osten gehofft. Nachdem sie jedoch inzwischen [V-054] selbst zu den „reichen“ Nationen gehört, fühlt sie sich von dem wachsenden Ansturm der unterentwickelten Länder unter Führung Chinas bedroht und erstrebt eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten, ohne indessen aus dieser Verständigung eine Allianz gegen China machen zu wollen.
In jeder Beschreibung der Haupttendenzen der Geschichte des Westens in den letzten vierhundert Jahren würde ein wesentliches Element fehlen, wollte man den tief greifenden Wandel auf geistigem Gebiet außer Acht lassen. Während der Einfluss des christlichen theologischen Denkens seit dem siebzehnten Jahrhundert dahinschwand, fand die gleiche spirituelle Wirklichkeit, die zuvor in den Vorstellungen dieser Theologie zum Ausdruck gekommen war, einen neuen Ausdruck in philosophischen, historischen und politischen Formulierungen. Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts waren, wie Carl Becker (1932) dargelegt hat, nicht weniger Männer des Glaubens als die Theologen des dreizehnten Jahrhunderts. Sie drückten ihr Erlebnis nur in einem anderen begrifflichen Rahmen aus. Das explosionsartige Anwachsen des Reichtums und der technischen Möglichkeiten im neunzehnten Jahrhundert brachte eine fundamentale Veränderung in der Einstellung der Menschen mit sich. Nicht nur war „Gott tot“, wie Nietzsche verkündete, der Humanismus, den die Theologen des dreizehnten Jahrhunderts – genau wie die Philosophen des achtzehnten – vertraten, verkümmerte langsam. Zwar bediente man sich auch weiterhin der Formeln und Ideologien von Religion und Humanismus, aber das echte Erlebnis dahinter wurde immer dünner, bis es schließlich fast jede Realität verlor. Es war, als ob der Mensch sich an seiner eigenen Macht berauschte und die materielle Produktion, die einst ein Mittel zum Zweck eines menschenwürdigeren Lebens gewesen war, zum Selbstzweck gemacht hätte.
Großunternehmen, staatliche Intervention, Kontrolle der Produktionsmittel – die wichtiger wird als deren Besitz –, all das sind Kennzeichen unseres heutigen industriellen Systems. Das kapitalistische System des Westens besitzt zwar noch viele Merkmale des Kapitalismus des vorigen Jahrhunderts, hat aber so viele der neuen Kennzeichen in sich aufgenommen, dass es sich gegenüber dem früheren System stark verändert hat. Die drei heute bekannten Formen des Sozialismus, die weit drastischer mit der Kontinuität der früheren ökonomischen Phase gebrochen haben, weisen in unterschiedlichem Grad und mit unterschiedlicher Betonung die neuen Tendenzen auf: 1. der Chruschtschowismus, ein System einer völlig zentralisierten Planwirtschaft und Verstaatlichung von Industrie und Landwirtschaft; 2. der chinesische Kommunismus, besonders seit 1958, ein System der totalen Mobilisierung seines wichtigsten Aktivpostens, seiner sechshundert Millionen Menschen bei einer totalen Manipulation ihrer physischen und emotionalen Energie und Gedanken ohne Rücksicht auf ihre Individualität; 3. der humanistische Sozialismus, dessen Ziel es ist, ein unumgängliches Minimum an Zentralisation, staatlicher Intervention und Bürokratie mit einer größtmöglichen Dezentralisation und möglichst viel Individualismus und Freiheit zu vereinigen. Dieser dritte Typ des Sozialismus ist in verschiedenen Formen von Skandinavien bis Jugoslawien, Burma und Indien zu finden.
Aufgrund der Erkenntnis dieser historischen Tendenzen möchte ich folgende These aufstellen, bzw. mit Beispielen erhärten: Die Sowjetunion unter Führung [V-055] Chruschtschows ist ein konservatives, staatlich kontrolliertes Industrie-Managertum und kein revolutionäres System; sie ist interessiert an Gesetz und Ordnung und darauf bedacht, sich gegen den revolutionären Ansturm der Nationen der Besitzlosen zu verteidigen. Aus diesem Grund sucht Chruschtschow die Verständigung mit den USA, die Beendigung des Kalten Krieges und eine weltweite Abrüstung. Er will weder den Krieg, noch kann er ihn brauchen. Chruschtschow kann jedoch seine kommunistisch-revolutionäre Ideologie nicht aufgeben und sich auch nicht gegen China wenden, ohne sein eigenes System zu unterminieren. Daher muss er vorsichtig manövrieren, um das russische Volk ideologisch im Griff zu behalten und sich sowohl gegen seine Gegner innerhalb Russlands wie auch gegen China und dessen potenzielle Verbündete von außerhalb verteidigen zu können. Falls sein Versuch, den Kalten Krieg mit dem Westen zu beenden, scheitert, wird er (oder sein Nachfolger) in ein enges Bündnis mit China und in eine Politik hineingedrängt werden, bei der nur wenig Hoffnung auf Frieden bleibt.
Die Entwicklung der früheren Kolonialvölker wird sich anders gestalten als die kapitalistische Entwicklung, weil für sie dieses System aus psychologischen, sozialen und ökonomischen Gründen weder durchführbar noch attraktiv ist. Die Frage lautet nicht, ob sie sich dem kommunistischen oder dem kapitalistischen System anschließen werden. Die wirkliche Alternative ist, ob sie die chinesische oder die russische Form des Kommunismus annehmen und auf diese Weise mit dem einen oder dem anderen dieser beiden Länder in enge Verbindung treten werden, oder ob sie eine der verschiedenen Formen des demokratischen, dezentralisierten Sozialismus annehmen und zu Verbündeten des neutralen Blocks werden, wie er von Tito, Nasser und Nehru repräsentiert wird.
Die Vereinigten Staaten stehen deshalb vor der Alternative, entweder unter Fortsetzung des Wettrüstens weiter gegen den Kommunismus zu kämpfen – mit der sich daraus ergebenden Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges – oder auf der Basis des Status quo eine politische Verständigung mit der Sowjetunion, eine allgemeine Abrüstung (unter Einschluss Chinas) und die Unterstützung neutraler demokratisch-sozialistischer Regime in der kolonialen Welt anzustreben. Letztgenannte Lösung würde zu einer multi-polaren Welt führen, die aus dem westlichen Block unter Führung der Vereinigten Staaten und Europas, aus dem Sowjetblock unter Führung der Sowjetunion, aus China, aus dem demokratisch-sozialistischen Block unter jugoslawisch-indischer Führung und dem Block anderer neutraler Nationen außerhalb der oben angeführten Gruppen bestünde. Tatsache bleibt, dass die beiden von Russland-China und von den Vereinigten Staaten-Westeuropa repräsentierten Systeme in der heutigen Welt miteinander konkurrieren. Jeder Versuch eines dieser Systeme, das andere mit Waffengewalt zu besiegen, wird nicht nur fehlschlagen, sondern zur Vernichtung beider Systeme führen. Es gibt für die Vereinigten Staaten nur eine Möglichkeit, mit dem Kommunismus zu konkurrieren, nämlich zu zeigen, dass es möglich ist, den Lebensstandard in den Entwicklungsländern bis zu einem Grad anzuheben, der mit dem durch totalitäre Methoden erreichten vergleichbar wäre, ohne Methoden einer Zwangsreglementierung anzuwenden.
Ob eine Welt mit vielen Zentren möglich sein wird, hängt vom Akzeptieren des [V-056] gegenwärtigen Status quo durch alle Mächte und von einer wirksamen allgemeinen Abrüstung ab. Die durch das atomare Wettrüsten verursachte Spannung und das hierdurch erzeugte Misstrauen erlauben keine politische Verständigung; die ungelöste politische Situation erlaubt keine Abrüstung. Sowohl Abrüstung als auch politische Verständigung sind aber notwendig, wenn der Frieden erhalten bleiben soll.
Um diese Schritte aber zu ermöglichen, sind zuvor einige andere Schritte notwendig:
Verwandt mit dieser Alternative in der Außenpolitik ist eine andere, die kaum weniger wichtig ist. Die Vereinigten Staaten haben genau wie der Westen (und Russland), als sie die Armut besiegten und zu Reichtum gelangten, einen Geist des Materialismus angenommen, bei dem Produktion und Konsum zum Selbstzweck wurden, anstatt das Leben menschlicher und kreativer zu machen. Die meisten Menschen haben die Fähigkeit eingebüßt, zwischen diesen institutionellen, zweitrangigen Zielen und Werten und den primären Zielen des Lebens zu unterscheiden. Ganz abgesehen von allen Gefahren, die uns von außen drohen, wird unsere innere Leere und unsere tief eingewurzelte Hoffnungslosigkeit schließlich zum Untergang der westlichen Zivilisation führen, falls nicht eine echte Renaissance des westlichen Geistes an die Stelle der gegenwärtigen Gleichgültigkeit, Resignation und Verwirrung tritt. Diese Renaissance müsste genau das sein, was die Renaissance des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts war – eine belebende Erneuerung der humanistischen Prinzipien und Bestrebungen der westlichen Kultur.
Um noch einmal zusammenzufassen: Was wir heute erleben, ist im wahrsten Sinn des Wortes eine rasch voranschreitende Weltrevolution, eine Revolution, welche vor vierhundert Jahren im Westen begonnen hat. Sie führte zu einem neuen Produktionssystem, das zunächst Europa und Amerika zu den führenden Nationen der Welt machte. Es machte aus den arbeitenden Massen in Europa Nutznießer des Systems, wodurch die Revolution der Massen in Europa (mit Ausnahme Russlands) und in Nordamerika friedlich war. Augenblicklich entwickelt sich ein neues Stadium der Weltrevolution, die Revolution der unterentwickelten Länder in Asien, Afrika und [V-057] Lateinamerika. Die Frage ist, ob diese Revolution ebenfalls friedlich verlaufen wird, wozu die Möglichkeit zu bestehen scheint, falls die großen Industriemächte den historischen Trend akzeptieren, sich zu adäquaten vorausschauenden Schritten zu entschließen. Tun sie dies nicht, werden sie der kolonialen Revolution keinen Einhalt gebieten können, selbst wenn es ihnen einen kurzen historischen Augenblick lang gelingen sollte, sie zurückzuschlagen. Aber bei einem solchen Versuch, die koloniale Revolution hinauszuschieben, werden zwischen den beiden sich mit Atomwaffen gegenüberstehenden Großmächten Spannungen entstehen, die uns kaum eine Hoffnung auf Frieden und auf ein Überleben der Demokratie lassen.
Die Idee, dass die Sowjetunion ein konservativer und kein revolutionärer Staat ist, und dass die demokratisch-sozialistische Entwicklung der unterentwickelten Länder von den Vereinigten Staaten nicht bekämpft, sondern begrüßt werden sollte, steht zu der diesbezüglichen Meinung der meisten im Widerspruch. Dieser Widerspruch ist nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein emotionaler. Je nach der Einstellung des Lesers klingen solche Gedanken ketzerisch, unsinnig oder subversiv. Daher erscheinen mir einige Bemerkungen über den bei diesen Reaktionen wirksamen psychologischen Mechanismus angebracht, damit man das, was ich in den nächsten Kapiteln zu sagen habe, besser versteht.
Die eigene Gesellschaft und Kultur zu verstehen, ist genau wie das Verständnis des eigenen Ich Aufgabe der Vernunft. Aber die Hindernisse, welche die Vernunft zu überwinden hat, um die eigene Gesellschaft zu verstehen, sind nicht geringer als die ungeheuren Hindernisse, die – wie Freud gezeigt hat – den Weg zum Verständnis von uns selbst blockieren. Diese von Freud als „Widerstand“ bezeichneten Hindernisse beruhen keineswegs auf intellektuellen Mängeln oder fehlender Information. Sie beruhen vielmehr auf emotionalen Faktoren, die unsere Denkinstrumente derart stumpf machen oder verformen, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr taugen. In jeder Gesellschaft sind sich die meisten der Existenz dieser Verformung nicht bewusst. Sie bemerken eine Entstellung nur dann, wenn es sich um eine Abweichung von der Einstellung der Mehrheit handelt. Andererseits sind sie davon überzeugt, dass die Meinungen der Mehrheit vernünftig und „gesund“[4] sind. (Vgl. E. Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft, 1955a, GA IV, S. 52.) Das ist ein Irrtum. Genauso wie es eine folie à deux gibt, gibt es auch einen Wahn von Millionen, und ein Konsens im Irrtum verwandelt den Irrtum noch nicht in Wahrheit. Spätere Generationen können Jahre nach dem Ausbruch des Massenwahns die Verrücktheit einer solchen Einstellung klar erkennen, obwohl sie von fast allen geteilt wurde. So kommen einem erst nach langer Zeit gewisse extreme psychische Reaktionen, etwa die auf den Schwarzen Tod im Mittelalter, die Hexenjagden zur Zeit der Gegenreformation, der religiöse Hass in England im siebzehnten Jahrhundert oder der Hass gegen die „Hunnen“ im Ersten Weltkrieg wie pathologische Erscheinungen vor. Im allgemeinen ist man sich jedoch des pathologischen Charakters von vielem, was unter dem Begriff „Denken“ läuft, im Augenblick des [V-058] Geschehens kaum bewusst. Ich möchte auf den nächsten Seiten einige der wichtigsten Formen des pathologischen Denkens im Bereich der Innen- und vor allem der Außenpolitik skizzieren, weil ich es für äußerst wichtig halte, dass wir über ein einwandfreies Instrumentarium verfügen, wenn es gilt, die politischen Ereignisse unserer Zeit zu verstehen.
Ich beginne mit der Beschreibung einer der extremen Formen pathologischen Denkens, dem paranoiden Denken. Die Psychiater – wie auch die meisten Laien – kennen den Fall des an paranoischen Wahnideen leidenden Menschen. Jemand, der zu uns sagt, dass jeder „hinter ihm her“ sei, dass seine Kollegen, Freunde, ja selbst seine Frau sich verschworen hätten, ihn umzubringen, wird von den meisten als wahnsinnig erkannt. Aus welchem Grund? Offensichtlich nicht deshalb, weil die Beschuldigungen, die er äußert, unmöglich wären. Es könnte ja sein, dass seine Feinde, seine Bekannten und sogar seine Familie sich zusammengetan hätten, um ihn umzubringen; so etwas kommt tatsächlich vor. Wir können dem unglücklichen Patienten, wenn wir bei der Wahrheit bleiben wollen, nicht sagen, was er da vermute, sei unmöglich. Wir können nur argumentieren, es sei höchst unwahrscheinlich, und dies deshalb, weil solche Dinge sich im allgemeinen nur selten ereignen und weil der Charakter seiner Frau und der seiner Freunde es besonders unwahrscheinlich mache.
Trotzdem werden wir den Patienten nicht überzeugen. Seine Realität gründet sich auf die logische Möglichkeit und nicht auf Wahrscheinlichkeit. Eben diese Einstellung liegt seiner Krankheit zugrunde. Sein Zugang zur Realität ruht auf der schmalen Basis ihrer Vereinbarkeit mit den Gesetzen des logischen Denkens und bedarf keiner Untersuchung der realistischen Wahrscheinlichkeit. Der Paranoiker bedarf ihrer nicht, weil er zu einer solchen Untersuchung gar nicht in der Lage ist. Wie bei jedem psychotischen Patienten ist auch bei ihm der Kontakt mit der Realität äußerst dünn und brüchig. Realität ist für ihn hauptsächlich das, was in seinem eigenen Inneren existiert, seine eigenen Emotionen, Ängste und Wünsche. Die Außenwelt ist der Spiegel oder die symbolische Repräsentation der inneren Welt.
Im Gegensatz zum Schizophrenen ist jedoch bei vielen Paranoikern ein Aspekt des gesunden Denkens erhalten: die Frage nach dem logisch Möglichen. Sie haben nur den anderen Aspekt, den der realistischen Wahrscheinlichkeit, fallengelassen. Wenn etwas nur möglich zu sein braucht, um wahr zu sein, ist Gewissheit leicht zu erlangen. Muss aber etwas wahrscheinlich sein, so gibt es nur Weniges, dessen man unbedingt gewiss sein kann. Das ist es, was das paranoide Denken so „attraktiv“ macht trotz der Leiden, die es verursacht. Es erspart uns den Zweifel und garantiert uns ein Gefühl der Gewissheit, das in den meisten Fällen stärker ist als bei Einsichten, zu denen uns gesundes Denken hinführen kann.
Es fällt nicht schwer, paranoides Denken im individuellen Fall eines paranoischen Psychotikers zu erkennen. Aber paranoides Denken dann zu erkennen, wenn es von Millionen geteilt und von den Autoritäten, die sie führen, gebilligt wird, ist schwieriger. Dies trifft zum Beispiel auf die herkömmlichen Ansichten über Russland zu. Heutzutage denken die meisten Amerikaner über Russland auf paranoide Weise, indem sie sich nämlich fragen, was möglich ist und nicht, was wahrscheinlich ist. Natürlich ist es möglich, dass Chruschtschow uns gewaltsam überwältigen will. Es ist [V-059] möglich, dass er Friedensvorschläge macht, um uns über die Gefahr hinwegzutäuschen. Möglich ist auch, dass seine ganze Argumentation mit den chinesischen Kommunisten über Koexistenz nur ein Trick ist, um uns glauben zu machen, er wolle den Frieden, und um uns dann umso besser überraschen zu können. Wenn wir nur an Möglichkeiten denken, haben wir in der Tat keine Chance für ein realistisches und vernünftiges politisches Handeln.
Gesundes Denken bedeutet, nicht nur an Möglichkeiten zu denken, die in der Tat immer relativ leicht zu erkennen sind, sondern auch Wahrscheinlichkeiten zu erwägen. Das heißt, dass man die realen Situationen untersucht, um das vermutliche Verhalten des Gegners bis zu einem gewissen Grade voraussagen zu können, und dies mit Hilfe einer Analyse aller Faktoren und Motivationen, die sein Verhalten beeinflussen könnten. Um mich ganz klar auszudrücken: Wenn ich hier gesundes Denken dem paranoiden gegenüberstelle, ist damit nicht behauptet, dass die Russen nicht alle die erwähnten verborgenen irreführenden Pläne haben könnten. Ich möchte nur nachdrücklich darauf hinweisen, dass wir die Tatsachen gründlich und ohne Emotionen untersuchen sollten und dass die logische Möglichkeit als solche nichts beweist und wenig bedeutet.