Der reinste Wirtschaftsthriller
»Freier Handel« klingt gut, aber in Wahrheit geht es darum, wer künftig das Heft des Handelns in die Hand nimmt
Wie wird Deutschland, wie wird Europa in zehn Jahren aussehen? Wie wird unsere Demokratie beschaffen sein? Werden wir Deutschland, Europa und die Demokratie dann noch wiedererkennen?
Diese Fragen klingen sehr dramatisch, geradezu reißerisch. Eine Staatengemeinschaft, die einigermaßen heil durch die Finanzkrise gekommen ist, könnte doch zuversichtlich in die Zukunft blicken und auf ihre Stärke vertrauen. Die europäische Demokratie hat sich allen gewaltigen Problemen und Widrigkeiten zum Trotz als Staatsform bewährt und gezeigt, dass sie allen Angriffen standhalten kann.
Oder etwa nicht?
Man kann sich die Zukunft aber auch als Apokalypse vorstellen. In dieser Zukunft werden die Menschen überrascht werden von Milliardensummen an Schuldenzahlungen, die sie als Steuerzahler aufzubringen haben. Geheimtribunale haben das so beschlossen, Widerspruch ist unmöglich. Demokratische Regierungen haben lange genug immer kompliziertere Gesetze erfunden – damit ist nun Schluss, das Recht wird jetzt schnell und unkompliziert durchexerziert.
Ziel allen menschlichen Strebens ist nämlich die Steigerung der Unternehmensgewinne geworden. Dem hat sich alles andere unterzuordnen. Verbote von Waren, weil sie möglicherweise irgendjemandem schaden? Warum denn das? Solange nichts erwiesen ist, ist das doch nicht nötig! Vorsicht ist schön und gut, aber nicht, wenn sie Profite verhindert. Was man früher Verbraucherschutz nannte, ist nämlich nur ein Hindernis für eine florierende Wirtschaft. Ähnlich verhält es sich mit dem Datenschutz. Das alles kann doch schließlich auch der Markt regeln. Der will es sich mit seinen Kunden ja nicht verderben und wird deshalb nichts tun, was nicht auf Akzeptanz stößt. Und seien wir mal ehrlich: Rücken die Leute inzwischen nicht selbst privateste Daten freiwillig raus?
Dann ist da noch die Frage, ob es in der Wirtschaft wirklich solch frühsozialistischer Instrumente bedarf wie etwa Tarifverträge, die landesweit gelten. Eigentlich sind solche Vereinbarungen doch ungerecht: Den einen geben sie zu viel, den anderen zu wenig – je nachdem, wo man lebt. Viel sinnvoller wäre es doch, die Entlohnung am jeweiligen Standort von Arbeitgebern und Arbeitnehmern frei aushandeln zu lassen, das würde dem Unternehmen nützen und den Beschäftigten. Da muss man einfach nur dem freien Spiel der Kräfte vertrauen.
Das sollte man sowieso grundsätzlich tun, damit alles gut wird. Der Mensch muss nicht glauben, dass er immer alles besser weiß und alles regeln kann. Das macht der Markt schon selber. Qualität setzt sich letztlich immer durch.
Das ist auch in der Kultur so. Ist das kulturelle Leben in den USA etwa unterentwickelt im Vergleich zu den Verhältnissen hierzulande, auch wenn es dort kaum staatliche Subventionen gibt, kaum einmal ein städtisches Theater, keine Buchpreisbindung und keine Filmförderung? Na also!
Manch einer dürfte eine leichte Unruhe verspüren beim Lesen dieser Zeilen. Es handelt sich hier um die Argumentation von Marktliberalen – oder sollte man besser sagen: Marktradikalen? –, wie es sie in dieser reinen Form und vor allem in dieser Ballung nur selten gibt. Selbst der knochenhärteste Neoliberale würde wohl im wahren Leben vor einer derartigen Konsequenz zurückschrecken und zugestehen, dass gewisse Beschränkungen schon nötig sind.
Und doch stehen wir vor einer gewaltigen Umwälzung, an deren Ende der zügellose Markt stehen könnte. Einer Umwälzung, nach der unsere westlichen Demokratien nicht mehr dieselben sein werden. Freiheiten, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg mühsam erkämpft werden mussten, könnten dann mit einem Schlag nichts mehr wert sein. Und das alles nur, weil ein paar hundert Wirtschaftsvertreter mit Brüsseler und Washingtoner Beamten und einer Handvoll Politiker ganz im Geheimen die größte Freihandelszone der Welt aus dem Boden stampfen und handstreichartig verwirklichen wollen. Nein: Eigentlich wollen sie sich die ganze Welt zur Beute machen.
Ein Weltstaatsstreich der Konzerne
Das klingt wie der Plot eines Wirtschaftsthrillers. Schlimmer noch: Es ist auch einer. Was unter dem Siegel »Transatlantic Trade and Investment Partnership«, abgekürzt TTIP oder gelegentlich auch TAFTA (für »Trans-Atlantic Free Trade Agreement«), beschlossen werden soll, ist weit mehr als ein Rahmenprogramm zur Abschaffung von Zöllen und Handelshindernissen zwischen Europa und den USA. Es ist ein Vertragswerk, das unser aller Leben grundlegend verändern könnte, wenn wir nicht aufpassen. Es ist Teil eines Weltstaatsstreichs der internationalen Wirtschaftsverbände und der großen Konzerne, man kann es nicht anders sagen. Ein Regelwerk soll geschaffen werden für den größten Wirtschaftsraum der Welt, in dem 820 Millionen Menschen leben, in dem nahezu die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts erwirtschaftet und ein Drittel des globalen Handels abgewickelt wird. Dieses Regelwerk soll vor allem der Wirtschaft dienen – und zwar noch weit mehr, als man das von einem Handelsabkommen vernünftigerweise erwarten dürfte.
Das transatlantische Freihandelsabkommen ist Teil eines Geflechts von Verträgen, die alle ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Umsetzung einer neoliberalen Agenda, welche die Wirtschaft weltweit von all den Schikanen befreien will, die sich Regierungen so einfallen lassen, um Unternehmen vom ungestörten Handel abzuhalten. Dazu gehört das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada, in gewisser Weise eine Vorwegnahme von TTIP, weil darin viele Maßnahmen wie im Testlauf erprobt werden. Ebenso das Abkommen TiSA, still und heimlich zwischen 50 Nationen ausgehandelt, das sich mit dem riesigen Markt der Dienstleistungen befasst. Und schließlich das transpazifische Abkommen TTP, mit dem die USA den asiatischen Markt aufrollen und den Chinesen Paroli bieten wollen.
Möglicherweise können unsere Demokratien schon in wenigen Jahren keine Gesetze mehr verabschieden, die Umweltverschmutzung verhindern oder soziale Mindeststandards festschreiben. Es könnte dann nämlich sein, dass große Unternehmen sich dadurch eingeschränkt fühlen in ihren Möglichkeiten. Sie könnten dann mit privaten Anwälten besetzte, geheime Schiedsgerichte anrufen und Schadensersatz in Milliardenhöhe erwirken.
Das klingt ziemlich undemokratisch und gar nicht nach unabhängiger Justiz. Aber genau das droht Wirklichkeit zu werden. Dieses zutiefst undemokratische Vorhaben trägt den harmlos scheinenden Titel »Streitschlichtungsverfahren«.
Es könnte zum Beispiel angewendet werden, wenn die Europäische Union oder auch nur einzelne Mitgliedsstaaten weiterhin der Ansicht sind, sie müssten besonders darauf achten, welche Art von Lebensmitteln auf ihrem Gebiet verkauft werden darf. Sie wollen zum Beispiel keine Nahrung haben oder nicht einmal Saatgut, zu deren Entstehung Gentechnik beigetragen hat. Oder sie wollen nicht, dass Fleisch mithilfe von Chemie konserviert und verschönert wird oder dass in ihren Lebensmitteln Nanotechnologie zum Einsatz kommt. Möglicherweise bestehen sie auch einfach nur auf ihrem Reinheitsgebot für Bier, das es in manchen Regionen seit vielen hundert Jahren gibt.
All das wird sich dann aber möglicherweise nicht mehr halten lassen. Weil sich die Regulierer diesseits und jenseits des Atlantiks nämlich darauf geeinigt haben, dass man dafür keine Regeln mehr brauche und der Markt sich ganz von allein darum kümmere.
Das ist die Übersetzung dessen, was die politischen Amtsträger und die Interessenvertreter der großen Unternehmen »Freihandel« nennen, wenn sie für die Öffentlichkeit sprechen. Warum aber sollten sich die Regierenden in den Demokratien der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union eigentlich in so vielen Bereichen das Heft aus der Hand nehmen lassen? Warum sollten sie ein solches Schreckensszenario wie das eben skizzierte eigentlich zulassen? Nur, um sagen zu können, es gehe darum, Arbeitsplätze zu schaffen, und den Unternehmen zu ermöglichen, Gewinne zu generieren?
Der Sinn von Freihandelsabkommen
Dies ist das eigentliche Ziel von Freihandelsabkommen. Es geht um den »Abbau von Zöllen«, aber auch um »nicht-tarifäre Handelshemmnisse«, um die »Harmonisierung« der Regelungen in beiden Wirtschaftsräumen. Angleichung und Vereinfachung lautet die Devise, und dagegen ist ja wenig einzuwenden.
Früher, vor der Erfindung des Neoliberalismus und der Globalisierung, richteten die Staaten untereinander allerlei Hürden auf, um ihre heimischen Produkte vor der Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen. Zölle wurden eingeführt, zum Teil in beträchtlicher Höhe. Um die europäische Landwirtschaft vor Dumpingpreisen im Agrarhandel zu bewahren, hatte die EU zeitweise sogar Einfuhrzölle von mehr als 200 Prozent. Unterhalb von Zöllen gibt es eine Fülle weiterer Maßnahmen zum Schutz einheimischer Produkte. Das sind dann die sogenannten »nicht-tarifären Handelshemmnisse«, zum Beispiel die mengenmäßige Beschränkung von Einfuhren – bis Ende 2008 etwa durfte China nur eine bestimmte Menge T-Shirts in die EU einführen, um die hier ohnehin schon darniederliegende Textilindustrie nicht ganz kaputt zu machen. Aber es gibt noch viele weitere Beschränkungen, angefangen bei den Namensrechten, wonach etwa Champagner nur aus der Champagne oder Nürnberger Rostbratwürste nur aus Nürnberg kommen dürfen, bis hin zu Sicherheitsstandards, Umweltschutz- und Arbeitsgesetzen oder Regelungen zum Schutz der sozialen Sicherheit. Genau genommen gibt es wenige Gesetze und Verordnungen, bei denen man sich hundertprozentig sicher sein kann, dass sie keine oder kaum Auswirkungen auf den Handel mit Waren und Dienstleistungen haben. Vielleicht noch die kommunale Hundesteuer. Auch wenn sich die Tierfutterproduzenten da auf den Standpunkt stellen könnten, die stelle ein Hemmnis bei der Anschaffung von Haustieren dar und mindere somit auch den Umsatz mit Tierfutter.
So weit, so absurd. Aber diejenigen, die das transatlantische Freihandelsabkommen unbedingt wollen, haben natürlich auch ein paar sehr einleuchtende Argumente. Ist es nicht wirklich unsinnig, dass Schuhe aus Europa in den USA mit einem Einfuhrzoll von 56 Prozent belegt werden? Und Bekleidung generell mit 32 Prozent, andere Arten von Textilien gar mit 42 Prozent? Und dass für Chemikalien, Medizinartikel und Transportausrüstungen auf beiden Seiten des Atlantiks immer noch relativ hohe Zölle zu bezahlen sind? Oder dass die Blinker von Autos in Europa orange blinken, in den USA aber rot, und dass – auch deshalb – für den jeweils anderen Markt verschiedene Versionen gebaut werden müssen? Dass bereits ausgiebig getestete Pharmazeutika, die ein umständliches Genehmigungsverfahren in den USA durchlaufen haben, in der EU noch einmal völlig neu genehmigt werden müssen, mit einem ebenso umständlichen und umfänglichen Prüfungsverfahren?
Vieles davon ist schlicht unnötig und überflüssig und verteuert die Waren lediglich, ohne dass irgendjemand einen größeren Nutzen davon hat.
Aber ist es wirklich nötig, wegen solcher Einzelfälle über Jahre hinweg unter größter Geheimhaltung ein Vertragswerk auszuhandeln, das multinationalen Konzernen umfangreiche Sonderrechte gegenüber demokratischen Staaten einräumt, das die Grundlagen der Verbraucherpolitik hier wie dort infrage stellt und wichtige staatliche Entscheidungsrechte heimlich kassiert? Man könnte natürlich auch einfach die 56-Prozent-Zölle auf Schuhwerk abschaffen, eine einheitliche Blinkerfarbe festsetzen und die Sicherheitsprüfungen wechselseitig anerkennen – und alles wäre gut. Dazu muss man eigentlich nicht gleich die Welt in ihren Grundfesten erschüttern.
Die wahren Absichten der Verhandler
Aber man ahnt es schon: Es geht natürlich um etwas anderes.
Es geht darum, mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen im größten Wirtschaftsraum der Welt die globalen Standards für die Zukunft zu setzen und beispielsweise der mittlerweile größten Wirtschaftsmacht, China, Einhalt zu gebieten. Es geht darum, die Regeln zu bestimmen, nach denen gehandelt werden kann. Deshalb ist es wichtig, dass es schnell geht. Und deshalb nimmt man auch gerne Kollateralschäden an der Demokratie in Kauf.
Die aber gibt es zwangsläufig, wenn man globale Standards mit einer immer noch weiter reichenden Liberalisierung der Märkte erreichen will. Denn die Interessen der Bevölkerung eines Staates sind oft nicht die Interessen der Unternehmen. Und Regeln, die Regierungen aufstellen, sind manchmal recht hinderlich beim Handel. Die Wirtschaft möchte gern Regeln, die wenig stören bei der Arbeit.
Die Ziele von Freihandelsabkommen sind in den vergangenen Jahrzehnten immer anspruchsvoller geworden. War man vor 50 Jahren noch damit zufrieden, Schutzzölle zwischen den Ländern in ihrer Höhe zu begrenzen oder gleich ganz abzuschaffen, so stehen heute viele kleine Details auf der Wunschliste.
Die finden sich dann beispielsweise auch bei den Verhandlungsmandaten der EU für das transatlantische Abkommen, für TiSA, CETA und so weiter. Das TTIP-Verhandlungsmandat ist an die Öffentlichkeit gelangt, obwohl es von der EU-Kommission eigentlich als geheim eingestuft worden ist. Man fragt sich allerdings, warum: Denn es enthält im Grunde die üblichen Forderungen großer Wirtschaftsverbände, wie sie nur allzu gern von den Regierungen übernommen werden. Klar ist: Handel und Investitionen zwischen den Staaten sollen so leicht wie nur möglich gemacht werden, »unnötige Regulierungsschranken« sollen verschwinden, neue Regelungen sollen verhindern, dass derartige Schranken einfach wieder errichtet werden – wie es einer neu gewählten Regierung gerade so passt.
Natürlich steckt der Teufel im Detail. Zölle sind ja längst nicht mehr das große Problem. Jetzt geht es um die »Handelsbarrieren hinter den Zollgrenzen«, die eingerissen werden sollen: Rechtsvorschriften, die Einfuhren erschweren, Gesundheits- und Sicherheitsstandards, die eingehalten werden müssen, wenn man seine Waren oder Dienstleistungen im Ausland an den Kunden bringen will, oder auch Umweltschutzrichtlinien. Auch die sogenannte »Dienstleistungsfreiheit« wird eine Rolle spielen. Das bedeutet nichts anderes, als dass öffentliche Dienstleistungen künftig nach Möglichkeit privatisiert werden sollen – zum Beispiel die Wasserversorgung, die Müllabfuhr und andere Dienste, die bisher noch vielerorts von kommunalen Stadtwerken geleistet werden. Eigentlich sollen nur wenige hoheitliche Aufgaben, wie Polizei und Armee, beim Staat verbleiben. So stellen sich Marktradikale das jedenfalls vor.
Verhandelt wird auch über die »Kapitalverkehrsfreiheit«, womit gemeint ist, dass die Staaten sich möglichst nicht mit Regelungen in die Finanzwirtschaft einmischen sollen. Darunter fallen eine Finanztransaktionssteuer, Einschränkungen für die Banken oder auch das Verbot von ungedeckten Leerverkäufen – also etwa der Verkauf von Aktien, die man noch gar nicht besitzt und auf die man auch keinen Anspruch hat. Derlei Regelungen werden in Europa besonders von Großbritannien mit seinem Finanzzentrum London bekämpft und sollen nun mittels TTIP endgültig verhindert werden.
Der Staat soll weichen
Es wird im Freihandelsabkommen aber auch um Subventionsverbote gehen: Staaten sollen künftig nicht mehr einzelne Wirtschaftssegmente finanziell stützen, etwa Kulturbetriebe wie Theater oder Filmproduktionen. Zwar hat Frankreich bei TTIP ein Veto eingelegt, und deshalb wird der Bereich der »audiovisuellen Medien«, sprich: die Filmwirtschaft, erst einmal ausgespart. Aber hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Eine Rolle werden darüber hinaus auch die Patentrechte und der »Schutz des geistigen Eigentums« spielen. Dabei geht es allerdings weniger um künstlerische Erzeugnisse, etwa das Recht von Schriftstellern, Musikern oder Malern an dem von ihnen geschaffenen Werk, sondern vor allem um die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen, die sich wirtschaftlich verwerten lassen. Es handelt sich um die Patentrechte auf dem Gebiet der Medizin, der Pharmazie oder auch der Genforschung, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Das führt bis zum Patent auf Leben und zu der Frage, ob es möglich sein soll, Pflanzen und Tiere als Patent anzumelden, wenn einzelne Gene verändert wurden.
Einer der größten Brocken aber ist das Investitionsrecht, das mit dem transatlantischen Freihandelsabkommen völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben werden soll. Im Wesentlichen heißt das: Firmen, die Geld im Ausland investieren, sollen sich dieser Investitionen und vor allem der Gewinne daraus sicher sein. Der betreffende Staat soll nicht die Möglichkeit haben, ihnen Nachteile aufzubürden. Nach allem, was bisher bekannt geworden ist, sollen international tätige Unternehmen in weiten Bereichen geschützt werden vor Eingriffen des Staates und vor Gesetzen, die sich finanziell nachteilig für sie auswirken könnten. Begnügte man sich früher damit, Firmen im Falle einer Enteignung oder einer Verstaatlichung zu entschädigen, so soll es in Zukunft auch möglich sein, gegen »entgangene Gewinne« zu klagen, wenn beispielsweise ein neues Sozial- oder Umweltgesetz die Produktion einer Firma behindert und deren Profite schmälert. Dagegen kann die Firma aus dem Ausland dann künftig klagen, um Schadensersatz in Form von Steuergeldern zu bekommen. Sie muss das nicht vor einem nationalen Gericht tun, sondern kann vor ein Schiedsgericht in Washington ziehen, das nach einem sehr vereinfachten Verfahren entscheidet und eine Art Paralleluniversum des Rechts darstellt.
Freier Handel schränkt die Handlungsfreiheit ein
Das alles klingt nach einer süßen Träumerei von Wirtschaftsliberalen und Marktradikalen. Diese Träumerei würde freilich Wirklichkeit werden, wenn sich die Strategen hinter dem transatlantischen Handelsabkommen durchsetzen, und danach sieht es aus. Unabhängig davon, was man von dieser Ideologie des Marktes hält und ob man sie als Segen für die Menschheit betrachtet oder nicht, ist eines klar: Die globalen Standards, die durch das TTIP-Abkommen und andere vergleichbare Verträge geschaffen werden sollen, kollidieren mit demokratischen Grundprinzipien und der Gestaltungsfreiheit von demokratisch gewählten Regierungen auf beinahe allen Ebenen.
Man kann es auch so formulieren: Ausgerechnet der freie Handel wird die Handlungsfreiheit von Völkern und Regierungen erheblich einschränken.
Bisher ist das noch nicht ganz so, auch wenn viele Regierungen und die Vertreter der internationalen Wirtschaftsverbände sich seit 20 Jahren darum bemühen. Man kommt einfach nicht so recht voran, nicht in der Welthandelsorganisation und auch nicht in anderen übernationalen Gremien. Viele nationale Regierungen, insbesondere die der Schwellen- und Entwicklungsländer, wollen auf Mitsprache- und Einspruchsrechte nicht verzichten, wenn es um globale Standards in Sachen Ernährung, Landwirtschaft, Gesundheit, Umwelt und Investitionen auf ihrem Territorium geht.
Weil das so ist, gehen die führenden Wirtschaftsnationen einen Umweg und schneidern einen Flickenteppich aus lauter einzelnen Handelsabkommen. Zusammen ergeben diese dann wiederum einen weltweiten Standard – vor allem, wenn es gelingt, in all diesen Verträgen einheitliche oder zumindest doch vergleichbare Regelungen unterzubringen. Trotz mancher Rückschläge ist man hier schon sehr weit vorangekommen.
Freihandelsabkommen, die hauptsächlich dem Abbau von Einfuhrzöllen dienen, gibt es schon seit Längerem. Insgesamt beläuft sich ihre Zahl nach Angaben der Welthandelsorganisation inzwischen auf gut 300. Allein die Bundesrepublik Deutschland hat etwa 100 solcher Abkommen geschlossen, dabei sind die Länder der EU schon mit eingerechnet.
Die Flickenteppich-Strategie erklärt auch, warum es beim transatlantischen Freihandelsabkommen in Wirklichkeit gar nicht um amerikanische und europäische Blinklichter und teure Export-Schuhe geht und warum dieses Abkommen beispielsweise die Einsetzung von Investitionsschiedsgerichten vorsieht, die auf den ersten Blick völlig absurd erscheinen. Weil es eben um viel mehr geht als um die Anpassung von Regelungen an die Wirklichkeit. Es geht darum, wer künftig in der Weltwirtschaft das Sagen hat: die Politik oder die großen Konzerne.
Im Grunde hat das der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Juni 2013 schon zum Auftakt der Verhandlungen recht deutlich ausgesprochen, als er sagte: »Das derzeitige Wirtschaftsklima zwingt uns, unsere Kräfte zu bündeln und mit weniger Aufwand mehr zu erreichen. Und, was noch wichtiger ist, wir müssen unsere Rolle als starke Global Player behalten, die die Standards und die Regeln für das 21. Jahrhundert festlegen.«1
Das TTIP und seine »Schwester«-Abkommen sollen also als neue Blaupause für die Regeln des internationalen Handels dienen. Und wenn die beiden großen Wirtschaftsblöcke sich erst einmal auf ein gemeinsames Regelwerk geeinigt haben, dann dürfte es bald weltweit gültig sein.
Natürlich geschieht das alles wieder einmal nur zu unserem Besten. So lautet jedenfalls die Botschaft. Aber sie kommt von falschen Freunden, die uns vorgaukeln, sie wollten den allgemeinen Wohlstand sichern und Arbeitsplätze schaffen. Wofür sie offenbar große Gefahren für die westlichen Demokratien in Kauf nehmen, ja sogar bereit sind, die Demokratie in erheblichem Umfang handlungsunfähig zu machen, weil die Folgen des Handelns irgendwann unbezahlbar werden könnten. Denn wenn jede politische Entscheidung zu milliardenschweren Schadensersatzzahlungen führen kann, trauen sich Regierungen bald gar nichts mehr. Die Folgen des Regierungshandelns würden dann irgendwann unbezahlbar. Die falschen Freunde aber haben ihre ganz eigenen Interessen, die sie nicht verfolgen können, wenn wir sie nicht gewähren lassen. Und wir haben eine Fülle von Gründen, warum wir uns nicht blenden lassen und warum wir sie nicht gewähren lassen sollten.
Die Diktatur der falschen Freunde
Wer aber sind die falschen Freunde? Die Antwort ist gar nicht so einfach. Die einen sagen: Es sind die bösen Amerikaner, die den guten Europäern ihren Willen aufzwingen wollen – heimlich, still und leise, sodass sie es nicht merken. Andere sagen: Es sind die Europäer und die Amerikaner, die ihren westlichen Lebensstil allen anderen aufoktroyieren wollen und den gut verkäuflichen Einheitsbrei in allen Lebensbereichen durchsetzen wollen, ohne Rücksicht auf regionale Traditionen und althergebrachte Gewohnheiten. Wieder andere sagen, hinter TTIP stünden die Interessen des Großkapitals, das die Herrschaft der Mega-Konzerne durchsetzen wolle. Nicht nur das gesamte Wirtschaftsleben soll kontrolliert werden, sondern am besten auch gleich noch das politische System und die Vertreter der diversen Parteien, damit Letztere nach der ökonomischen Pfeife tanzen. Das Freihandelsabkommen ist in dieser Sichtweise nichts anderes als das letztes Mosaiksteinchen in einer Art Diktatur der multinationalen Konzerne.
Alle diese Sichtweisen setzen – man ahnt es – auf grobe Vereinfachungen. Aber ganz so grob und einfach ist die Wirklichkeit dann doch nicht.
Die falschen Freunde, die gibt es. Aber es sind nicht die bösen Amerikaner auf der anderen Seite des Atlantiks, es sind nicht die Über-einen-Kamm-Scherer und Gleichmacher in den politischen Machtzentren der Europäischen Union, es sind nicht irgendwelche finsteren Weltverschwörer und auch nicht überlebensgroße Industriemagnaten in fernen Konzernzentralen, welche die Weltherrschaft an sich reißen wollen, um uns noch schlechtere und sinnlosere Produkte verkaufen zu können, als sie es ohnehin schon tun.
Die falschen Freunde sind jene, die aus den unterschiedlichsten Gründen, und sei es nur aus Naivität, einer verhängnisvollen Ideologie anhängen. Der Ideologie nämlich, dass das Wirtschaftswachstum allein schon ein Wert an sich ist, dass ein zu erwartender hoher Profit beinahe jede Aktion rechtfertige. In ihrer abgemilderten Form kommt diese Ideologie mit dem Argument daher, sie sei die einzige, die Arbeitsplätze schaffe, und schon deshalb »alternativlos«.
Es sind sehr einfache Rezepte, die uns die falschen Freunde da präsentieren. Scheinbar jeder kann sie verstehen und nachvollziehen: Wachstum schafft Profite, und Profite schaffen Arbeitsplätze. Das ist so ungefähr die primitivste Grundregel des Wirtschaftslebens. Völlig falsch ist sie nicht. Auch wenn man inzwischen in den Chefetagen ganz versiert darin ist, gute Profite mit immer weniger Arbeitsplätzen zu erwirtschaften.
Das Problem beginnt dort, wo sich alles andere dem Primat der Wirtschaft unterzuordnen hat. Wenn es nämlich egal ist, wie wir arbeiten, um zu überleben, und wenn es egal ist, was wir essen und was wir trinken, und wenn nur noch zählt, was wir zum Wachstum der Unternehmen beitragen, mit denen wir in unserem Leben auf die eine oder andere Art zu tun haben. Wir haben diesen Weg längst eingeschlagen, und wir sind auf diesem Weg schon ziemlich weit gekommen. Am Ende aber steht eine mehr oder minder sanfte, dabei aber alle Lebensbereiche umfassende Diktatur der Wirtschaft.