Franz Schuh

Sämtliche
Leidenschaften

Paul Zsolnay Verlag

ISBN 978-3-552-05709-8

Alle Rechte vorbehalten

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

Umschlag: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eins Fotos von © Markus Krottendorfer

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

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Ich hab’ mich verändert, indem ich mich abgeschafft habe und doch nicht abgeschafft habe.
Da sehen Sie, dass auf der Welt nichts wegkommt.

Wolfgang Neuss

Ich glaube (sagte ich, auf dem Floß unruhig auf und ab gehend. Der Fluss dagegen war ruhig, nicht eine Welle war zu sehen. Es war ein heißer Sommertag, und auf der anderen Seite des Ufers war die Wiese von der Sonne grell beleuchtet. Auf das Floß fiel um diese Tageszeit noch der Schatten des Waldes) –, ich glaube, wer etwas von der Individualität hält, von der Individualität der Menschen (davon, dass Menschen dadurch wichtig sind, dass sie als Einzelne vorkommen), muss notgedrungenermaßen auch etwas vom Tod halten. Es gibt ja die Möglichkeit – diese Chance ist jedem Einzelnen eingeräumt –, den Tod zu hassen und zu sagen: Der Tod nimmt all diesen Versuchen, am Leben gewesen zu sein, die Kraft und am Ende auch den Sinn. Es ist … irgendwie … (ich setzte mich an den Rand des Floßes, die Füße baumelten im Wasser, das Wasser war eiskalt), durch den Tod, durch den Tod erfolgt eine Nichtigkeitserklärung an alle menschlichen, einzelnen Unternehmungen. Ja, die Gattung lebt weiter und ist anscheinend auf viele Individuen angewiesen, aber des Einzelnen bedarf die Gattung um ihrer selbst nicht (unbedingt). Vielleicht manche Einzelne, die der Gattung außerbiologisch einen historischen Sinn gegeben haben; sie existieren dann weiter im Gedächtnis, sie konstituieren zusammen mit einigen Lebenden einen menschlichen Zusammenhang ganz unsicherer Natur: die Menschheit, die Kultur.

Angesichts des Todes verschwindet der Einzelne auch aus dem Leben der Gattung – und die Gattung tut weiter wie bisher, als ob ich nicht gewesen wär. Die Frage nach dem Tod, vor allem die nach dem eigenen Tod, ist eine Variante der Eitelkeit oder, vielleicht besser, sie ist ein Endpunkt der Eitelkeit: Man ist unversöhnlich mit dem eigenen Nicht-Sein, das man gar nicht denken kann. Aber Denken ist nicht alles: Ich zum Beispiel (sagte ich unter der Sonne) habe den Sinn für die Negation körperlich und geistig eingebaut. Vernichtet zu sein ist mir vertraut, ich spüre durch das Dickicht des Daseins hindurch das Ende (von Jugend an), und ich glaube auch, dass der Tod der anderen, von dem man lernen und den man ganz und gar unegoistisch leidend erleben kann, irgendwann erst recht zurückschlägt in die eitle Unversöhnlichkeit mit dem eigenen Nicht-Sein: Ihr Wegsein macht einem das eigene Wegsein vor. Sowas wie eine Gattung plaudert ständig aus, dass alle zu ihr gehören, dass bloß du und du und auch du (und auch ich) im Einzelnen für ihren Bestand gar nicht nötig sind. Unnötige Einzelexemplare, denen eh nichts anderes übrigbleibt als die Zugehörigkeit zu ihrer Gattung, die am Ende mehr oder wenig höhnisch signalisiert, auf euch kann man verzichten, ihr seid ersatzlos zu streichen.

Der Tod ist das Geschehen, das sich an Leib und Leben vollzieht, abspielt (ja, dachte ich, das ist eine Banalität, auf die man bauen kann), Sterben ist der Anfang von diesem Schluss-Akt, der diesen Leib und dieses Leben absolut relativiert. Und was war es doch für ein Leben und was für ein Körper, nämlich der eigene, ihn reklamierte das Individuum zwanghaft für sich. Das Individuum war mit diesem Zwangskörper verschmolzen, hat ihn bis ans Ende durchgetragen, bis zu dem Augenblick, von dem an es wirklich nicht mehr weiterging – und auch wenn das Individuum seinen Körper zu Lebzeiten hasste, es musste ihn verbrauchen, es hatte zum höchstpersönlichen Verbrauch ja nichts anderes als diesen einen Körper, ob es ihn nun hasste oder hätschelte, und wenn ein junger Körper durch einen Unfall zu Tode kam, also noch unverbraucht verstarb, steht der Körper gerade durch den unerwarteten Tod erst recht im Mittelpunkt: Körper aus, alles aus (oder hier setzt das Theorem von einem Weiterleben nach dem Tode ein, eine der Glaubensfragen, mit denen man Endgültigkeiten wettmachen, wegmachen will).

Jeder Körper (der nicht in Abgründen versank, wegspült oder verbrannt wurde) hat immerhin für die Überlebenden noch die Leiche übriggelassen, die aber als Mensch nicht mehr mitspielt. Ich habe mir die Leiche meines Vaters, der mir als Mensch mitgespielt hat, nicht angesehen. Es wäre noch in der Leichenhalle ein Schaukampf gewesen. Überbleibsel gibt es auf der Welt von jedem Einzelnen, sie sind nur in Ausnahmefällen bekannt, identifizierbar, denn dass einer nach seinem Tode in eine der vielen Arten von Museen zur höheren Ehre der Menschen, die überlebt haben, auffährt, ist eben nichts als Ausnahme. Aber die Menschheit (das muss man gerührt, also verlogen aussprechen) ist eine Familie, selbst die Sackgassen, die zu nichts führten, verschmieren sich mit dem Weiterleben, mit dem Leben der Weiterlebenden. Eine ungeheure Mehrheit weiß nicht, auf welchen annihilierten Individuen ihr Dasein im Augenblick beruht: jeder ein Parasit, von dem eines Tages andere parasitieren werden.

Ja, andererseits, diese Individualität: Irgendwann ist mir klar geworden (ausgerechnet mir, und zwar an einem der Oktobernachmittage von der Art, die mich mein Leben lang erstaunt haben: Wie kann im Herbst so ein Sommertag sein?), eines schönen Oktobers ist mir klar geworden, die Menschen stehen einander mit all ihren Lebensentwürfen im Wege, und wenn das sich verändern soll, wenn das Leben jenen Charakter annehmen soll, den es angeblich hat, nämlich dass es sich ändert, dass es im Fluss ist (und ich blickte, um nicht die Idee einer Illustration aufkommen zu lassen, nicht auf den Fluss), dann kann es nicht sein, dass die Einzelnen mit ihren eingespielten Arten, auf der Welt zu existieren, bleiben. Sie müssen in irgendeiner Form, zum Beispiel förmlich, tot, nicht mehr da sein. Sie müssen Platz machen für Entwürfe und Lebenskämpfe anderer Einzelner. Wie ähnlich diese Kämpfe auch sein mögen und wie sehr die Gesellschaft, also die Arena, in der die Kämpfe stattfinden, auch jeden Einzelnen uniformiert, nivelliert – es ist noch genug Substanz in diesen Körpern, die unterschiedliche Schicksale erleiden, um wenigstens die Erinnerung an Individualität zu verkörpern: die Gesichter unverwechselbar, die Haltung, die moralische und die physische, unverwechselbar, im Grunde aber doch bei allen anders.

Die Andersheit beruht auf Zufällen, auch wenn selbst die Zufälle in einer Gesellschaft, in einer Zeit im Rahmen bleiben und nicht aus dem Rahmen fallen dürfen: Der Rahmen, das ist die jeweils herrschende Ethik: ihre Regeln und die Verletzungen dieser Regeln. Die unnötigen Einzelexemplare, also Menschen wie ich und du, haben den Sinn, den sie ihrem Leben gegeben haben oder nicht gegeben haben (also auch die Sinnlosigkeit), ins Absolute hinaufstilisiert: Jeder Einzelne ist sich selbst ein Schicksal. Ein Schicksal mit Mehrwert: Ein Lebenslauf ist immer mehr als das, was er ist – er hat zum Sein noch eine Bedeutung und Zeiten und Orte, in denen Lebensläufe von vornherein nur über Hürden führen, an denen man sich das Genick bricht, werden abgelehnt, als zerstörerisch gekennzeichnet. Die, die keine Aussichten im Leben haben, müssen ihren Aufstand selber machen; es ist immer zu wenig, was wir, die halbwegs fein raus sind, für sie tun können, tun wollen. Man lehnt aussichtslose Lebensumstände in erster Linie für sich ab, die andern bedauert man, dass das, was sie führen müssen (obwohl es ihnen bloß zustieß), kein Leben ist. Lebensläufe, durch die das Leben der Einzelnen keine Bedeutung hat, werden abgelehnt, zurechtgewiesen, vom Leibe gehalten, und es wird als Faktum behauptet, was doch nur eine ethische Norm ist (zu der wir uns allerdings alle beglückwünschen dürfen), dass nämlich das Leben jedes Einzelnen der höchste Wert ist. Der Tod und die Weltpolitik und so manches mir feindlich gesinnte Individuum, jeder meiner Todfeinde, erkennt diesen höchsten Wert nicht an, und wenn einer von uns den Tod anerkennt, gerät er vielleicht in Versuchung, den höchsten Wert, also dieses Leben, auch nicht anzuerkennen: alles vergänglich, alles todgeweiht, alles eitel.

Ein bisschen (der Mann mit der Kamera kniet jetzt vor mir. Es ist zwar ein passender Augenblick, aber mit der Kamera hat man ganz andere Sorgen als solche, die man zur Sprache bringen kann. Der Mann mit der Kamera will den Himmel mit ins Bild bringen, ohne mich aus dem Bild zu werfen. Auch das ist nur mit Verrenkungen möglich. Die Regisseurin lässt den Haltungswechsel ohne weiteres zu. Unmut zeigt nur der Tontechniker. Er hängt buchstäblich an der Kameraführung und muss ebenfalls in die Knie), ein bisschen Angst habe ich, denn mein Argument, dass die Einzelnen gehen müssen, damit die anderen ihre Individualität durchsetzen können, klingt so, als wäre es vom Sozialdarwinismus inspiriert, der in die Metaphysik transponiert wird; dass also aus metaphysischen Gründen nicht alle Menschen gleichzeitig auf der Welt sein können, weil sie sonst einander und dem Fortschritt im Wege stünden. Gäbe es in diesem Stirb und Werde nur den geringsten ökonomischen Sinn, dann müsste ich zum Beispiel allein deshalb auf der Welt bleiben, weil ich jetzt allmählich anfange, Johann Gottlieb Fichte zu verstehen, allerdings noch auf eine Art, die ich anderen nicht erklären kann. Ja, es ist die alte Geschichte –, ein Chor singt sie, und die Lyrics lauten: Jetzt hab ich mein Leben lang die Weisheit mit dem großen Löffel gefressen, und auf einmal muss ich den Löffel abgeben! Das ist doch, berechnet am Nutzen meiner Errungenschaften, nicht ökonomisch. Eine zweite Stimme, auch im Chor, könnte dazu singen, dass es sich vielleicht doch rechnet, weil mit jedem Individuum nicht nur seine Errungenschaften verschwinden, sondern auch seine ganz persönlichen Fälschungen, die intimen Verdrehungen seiner Aneignungen. Mein Fichte.

Ich kann erklären, dass ich schon als Student über Fichte gearbeitet habe und dass sein Grundsatz »Das Ich setzt sich selbst« auf Tausende Arten in mich eingegangen ist. Aber jetzt erst, allmählich, verstehe ich dieses Gesetz und Geheiß, ohne dass ich wie ein Anhänger dem Philosophen Fichte Recht geben müsste. Aber ich verstehe die Not und die Überbrückung der Not, aus der der Satz »Das Ich setzt sich selbst« stammt, auch wenn der Satz ohne Not, triumphierend und im Stil einer Wissenschaftslehre vorgetragen wurde: Jetzt sind wir, sagte Fichte, die Philosophen, endlich Wissenschaftler, und zwar einzig und allein durch mich, durch diesen Fichte … Ich verstehe, dass Fichtes Gesetz eben kein Gesetz wie ein Naturgesetz ist, aber eben auch keine Unverbindlichkeit, die einem alles erlaubt. Weder ein Gesetz, dem man sich unterwerfen muss, noch eine Anomie, die einen von allem entlastet – ja, das glaube ich begriffen zu haben. Und ich habe das Gefühl (kann daraus keine Wissenschaftslehre machen), dass dies das individuelle Leben in der Zeit ausmacht. Dem Ich-Gesetz kann man sich gar nicht unterwerfen, auch wenn das schön wäre. Es ist als Gesetz paradox. Es handelt nämlich von einer maßgeblichen Freiheit, also von einer, die die Regel gibt. Jeder ist ebenso frei, wie er auch ganz und gar determiniert ist. Die einseitige Illusion von der vollständigen Determiniertheit feiert derzeit fröhliche Urständ. »Die meisten Menschen«, hat aber schon Fichte gesagt, »würden leichter dahin zu bringen seyn, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten.« »Seyn« ist fein, ist die alte Schreibweise eines Wortes, dessen Wichtigkeit man weder übertreiben noch mit dem gleichsetzen sollte, was es ist: nämlich ein Hilfszeitwort. Man muss etwas aus sich machen (das ist das Gesetz), es bleibt einem gar nichts anderes übrig, da hilft einem keiner, am Schluss ist man der Mensch gewesen, den man aus sich gemacht hat. Und das Gemeine ist, dass man sich nicht mit Willkür hat formen können – nicht zuletzt die anderen in Form des Nicht-Ich waren immer auf der Lauer und haben in dir den Stoff gefunden, durch den sie sich auch selber formten. Aber auch dein Wille war gebunden, abhängig von einer Natur, gegen die keiner etwas kann, abhängig von einer Gesellschaft, einer Zeit (die einen – zumindest zu meiner Lebenszeit – mehr beeinflussen, als man sie beeinflusst) und von Neurosen, die man sich in Gemeinschaftsarbeit mit anderen (mit dem Vater, mit der Mutter!) erwirbt.

Im Sinne dieser verwordakelten Souveränität (»verwohrt« ist Mittelhochdeutsch und bedeutet im schönsten Hochdeutsch: verwirkt. Im dürren Hochdeutsch bedeutet »verwordakelt« verunstaltet, windschief), in dieser sich dauernd selbst negierenden Freiheit zelebriere ich verstört mein Dasein und suche Gesetze, an die ich mich halten kann, und finde solche, mit denen einen die anderen festhalten. Das sehe ich in Fichte hinein – sprachlos, denn was ich darüber sagen kann, ist höchstens ein Schatten meiner (vermeintlichen) Einsicht. Mir fehlen die Worte. Aber es ist unheimlich und unökonomisch, dass jetzt in diesem Augenblick irgendwo im deutschen Sprachgebiet ein junger Mensch sitzt, gebeugt über Fichtes Schriften, und so ein junger Mensch muss sich alles, woran ich fast ein Leben lang arbeitete, von neuem erwerben. Warum? Na, um der Individualität willen, damit er seinen ganz eigenen Fichte auf die Beine stellt. Aber wer braucht denn so was? Ich nicht, mir genügt mein Fichte, ein für alle Mal. Nur Fichte scheine ich nicht zu genügen. Ich bin nicht der Endpunkt der Auslegekunst, die ihm widerfuhr.

Den alten grauschwarzen Strohhut nahm ich an dieser Stelle vom Kopf. Während ich von Fichte erzählte, hatte ich mich mehre Male gefragt, ob ich nicht, um wenigstens eine kurze Strecke zu schwimmen, ins Wasser springen sollte. Das wäre eine Szene für den Film gewesen! Aber man hätte sie schneiden müssen. So blieb ich ohne Erfrischung sitzen. Ich sah hinüber auf das gegenüberliegende Ufer: Im Juli, manchmal schon in den letzten beiden Juniwochen, stehen dort die Zelte einer zahlenmäßig ausufernden Pfadfinder-Gruppe, ich glaube, aus Wien-Währing. Diese gläubigen Menschen aus Wien haben extra ein kleines Areal umzäunt und mit selbst gebastelten Holzbänken ausgestattet. Dort feiern sie an Sonntagen die heilige Messe. Der Priester wurde von ihnen aus der Stadt herausgebracht. Das Dasein der Pfadfinder, die – auf freundliche Art – unter sich sein und autark und lautstark sein wollen, verändert fundamental das Leben am Fluss. Während es sonst in sich ruht, wirkt es während der Pfadfinder-Tage von ganz und gar naturfremden Zwecken überschwemmt – vom Lagerfeuer bis zur Messe. Die Zivilisation bricht aus. Auch Gesang erklingt, die Kultur bricht aus. Die Pfadfinder haben am Fluss einen kleinen Stamm, ebenfalls mit künstlerischen Einsprengseln, gegründet. Der Stamm trotzt jedem Wetter. Manchmal regnet es während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts, die Zelte scheinen ihnen davonzuschwimmen, aber niemals verstummt ihr Gesang auf Dauer, und kein Sonntag kann so verregnet sein, dass er ohne heilige Messe vorüberginge.

Jetzt sind sie schon ein paar Wochen fort, aber ihre Anwesenheit gehört das ganze Jahr über zu diesem Ort. Sie werden – in anderer Besetzung – wiederkommen, und es wird mit ihnen so sein, wie es immer mit ihnen war. Dass sie jetzt nicht da sind, kann ich aus der Stille, die von ihrem Ufer ausgeht, heraushören. Ich drehe meinen Strohhut mit beiden Händen im Kreis, im Sitzen auf den Knien im Kreis, es ist eine bescheidene Geste (ich kenne sie aus Filmen, in denen die Knechte, ängstlich ihre Hüte in den Händen drehend, die Befehle des Herrn erwarten). Im Alten Testament wird etwas zur Voraussetzung erhoben, was vielleicht post festum aus der Erfahrung und aus der Zurechtlegung unseres Lebenskampfes stammt (jaja, der Lebenskampf, sagt man, ist höchstens ein Lebenskrampf, nichts Schlimmes, in so gelungenen Welten wie der unseren, in der besten aller Welten, aber manche – das leugnet niemand – beutelt es auch hier genug, und sie kommen, wenn überhaupt, nur knapp über die Runden). Im Rückblick will man glauben (auch bloß weil man so weit gekommen ist), dass eh alles gut war, zumindest dass es zur rechten Zeit geschah. »Ein jegliches hat seine Zeit«, sagt der Prediger, »und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Stein zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit.«

Und diese Zeitgerechtigkeit (die nicht ein jeder gleich lange überlebt) gilt auch für die Individuen. Mein Gott, was wäre ein Bismarck, der es schon zu seiner Zeit mit sich nicht leicht hatte, in der Massendemokratie? Bismarck hatte eine Zeit lang Fressanfälle, und er musste so viel weinen, als ihm ein Hund starb. Ich, sowieso ein weicher Mensch, will mich mit dem Eisernen Kanzler nicht vergleichen, bloß weil ich auch viel weine und Fressanfälle habe. Ich werde, ganz anders als Bismarck, nicht zu den tradierten Individuen gehören, die die Menschen sich um ihrer selbst willen merken. Nicht alle Menschen merken was, sondern einige, aber sie doch stellvertretend für alle. Von Bismarck sind sogar die Haustiere tradiert. Tyras, einer der sogenannten Reichshunde, zerriss dem russischen Außenminister das Hosenbein. Das ist ja auch eine Definition für Kultur, dass spezifische Einzelne nicht in Vergessenheit geraten und dass dafür Sorge getragen wird, indem man nicht zuletzt materielle Mittel zur Verfügung stellt, um die Erinnerung an sie wachzuhalten.

Heute, in dieser Gegenwart, existieren so viele Zeiten auf einmal und durcheinander … und schließlich wird man, wie man sagt, ja eines »auch noch sagen dürfen«: Was ist, wenn es eines Tages eine technische Lösung gegen den Tod gibt, wenn dann – in der Tat – alle überleben können? Eine Art Superphysiotherapie zur Einleitung der Unsterblichkeit des Individuums. Fürs Erste wird nichts anders sein, denn es wird ein furchtbarer Krieg darüber herrschen, wer überleben darf und wer nicht. In diesem Krieg werden viele zu Tode kommen. Schließlich, stellen wir uns vor, nach vielen Opfern, setzt sich die »Demokratie der Errettung vor dem Tode« durch, die DET: Alle können überleben. Ein jeder kommt in den Genuss der für immer lebensrettenden Physiotherapie. Was das für den Einzelnen bedeutet, wage ich mir gar nicht auszudenken, weil seine Endlichkeit dann eben weg wäre, und diese Endlichkeit, die ist wesentlich an dieser Individualität beteiligt: Alle Existenzen werden dadurch, dass sie gleichartig überleben, gleichgültig. Die Jahrtausende stapelten sich in den Individuen auf. Sie hätten miteinander alte Rechnungen zu begleichen, sie wären nicht umzubringen, … bis in alle Ewigkeit.

Also wie man’s dreht und wendet: Der Tod hat schon was, und das ist nicht nur schrecklich und furchtbar, sondern es ist etwas, das die Umstände auch klarlegt, klarmacht. Der Tod ist – zumindest auf der Welt – eine Grenze, an der es heißt: bis hierher und nicht weiter. Keine alten Rechnungen mehr, Sterblicher, oder noch deutlicher, Verstorbener. (Ich trank einen Schluck Wasser und brachte, nachdem mein Durst gelöscht war, durch den Versuch aufzustehen, das Floß ins Schaukeln). Ja, des war’s, jetzt brauch i eigentlich nix mehr sagen … das ist eine furchtbare Geschichte. Wenn man drüber nachdenkt, sagte der Tontechniker, der die lange Stange mit dem Mikrophon balancierte, will man es wieder einmal der Welt mitteilen (und es folgte ein skandalöser Aphorismus aus der Todesindustrie): »Was wollt ihr denn, ihr Hunde? Wollt ihr ewig leben?«

Das Team hatte sich in ein paar Sterbliche verwandelt, jeder auf seinen Tod bedacht. »Niemand will sterben«, hatte Steve Jobs gesagt, und man hätte sich damals, 2005, denken können, das würden sie ihm ins Grab nachrufen: »Sogar die, die in den Himmel wollen, wollen nicht sterben, um dorthin zu gelangen. Aber der Tod ist das Schicksal, das wir alle teilen. Niemand ist ihm jemals entkommen. Und so soll es auch sein, denn der Tod ist sehr wahrscheinlich die beste Erfindung des Lebens. Er ist der Motor des Wandels des Lebens. Er beseitigt das Alte und schafft Raum für das Neue. Jetzt seid ihr das Neue, aber eines nicht sehr fernen Tages werdet ihr nach und nach das Alte und werdet dann beseitigt. Es tut mir leid, so dramatisch zu sein, aber das ist die Wahrheit.« – »… death is very likely the single best invention of life.« Das ist eine der klassischen Bejahungen des Todes, mit deren Hilfe man mit ihm packelt, weil er sich nicht verhindern lässt. Zum Merkwürdigen am Tod gehört, dass man ihn nicht ein Leben lang sprachlos erwarten will. Man will von ihm rechtzeitig gesprochen haben. Deshalb sollte man alle Banalitäten, die es über ihn gibt, wertschätzen. Man erleichtert sich das Sterbenlernen, indem man vertrauensvoll von ihm spricht. Der Kumpel Tod. Steve Jobs stellte das Vertrauen zum Tod her, indem er ihn zu dem ernannte, was er, Jobs, selber war: Er war ein genialer Erfinder. Die alten Computer benötigt man nicht mehr, auch der Tod beseitigt das Alte und schafft Raum für etwas Neues. So pragmatisch ist in Amerika selbst der Tod. Aber egal, was man über ihn sagt und wie man ihn findet, es scheint, als könnte man dem Tod das letzte Wort nicht nehmen.

»Da bis zum Tode

Liebe nur Leiden ist,

oh, Amalia,

weine, wenn du singst!«

Fado

Schwankende Ansichten über den Tod, solange man noch ein Floß und daher Oberwasser hat. Vorsicht!, warne ich, wenn mich der Geist anweht, und der weht, wo er will, ohne dass er im Geringsten ein Demokrat wäre. Er ist ein Willkürherrscher – mit einer Riesenmacht einerseits und ganz und gar ohnmächtig andererseits. Wir Idioten bezeugen beides – im Spiegel des Geistes sieht man’s ja: die Dummheit und was Klugheit sein könnte, wäre sie nur da. Da bedarf es der Begriffsschmieden, der Einsichtsfabriken, der zusammengelegten Intelligenz. Ohne Zweifel habe ich mich mit Lili Fichte gerne zusammenlegt. Lili Fichte, die dann später in deutlicheren Umrissen vorkommt, wird sagen, nachdem sie den Film mit mir am Floß gesehen hat: Du lässt aber den Tod schön über die Klinge springen. Vorsicht, mahne ich als Kind des Geistes, Kinder des Geistes mahnen, ja sogar die Maniker unter ihnen, fiel mir Lili Fichte ins Wort. Damals fiel sie mir ins Wort – ist schon lange her, ja, wann handelt denn das alles, fragt der Verleger: In der Gegenwart? In der vergangenen Gegenwart, sage ich. Wann also, in den siebziger Jahren, in den Achtzigern? Nein, es handelt gestern noch. Also heute. Auch heute. Aber was heißt dann vergangen? Na ja, kaum ist die Rede davon, ist es schon weg. Was heißt das? Naja, die die Ausnahmen sind … Maniker sind eben, die aus… Vorsicht vor jedem, der nicht schwankende Ansichten vom Tod hat – nicht schwankende Ansichten vom Tod hat nur der, der von der Gewissheit des Todes lebt und die Gewissheit oder den Tod selbst verbreitet. Sterbenskrank noch im gesündesten Zustand, das ist doch sicher, da versteht fast jeder das eigene Wort. Ich sage: Wenn man sich nicht mehr bücken kann, sollte man zusehen, danach trachten, dass einem nichts runterfällt: eben auch nicht die Zehnschillingmünze im Gasthausgarten, die der Kellner gerade herausgegeben hat. Es war der Schilling noch in Umlauf. Ich saß, als dies mit der Münze geschah, die heute nicht mehr zählt, in einem ganz engen Sessel, ein Gefühl ist das – ich kenne es von den Flugzeugen, wo mir die Sicherheitsgurte zu eng sind. Up, up and away. Das Weite suchen, in der Enge, beengt sich über alles erheben. Wenn man aus der Kabine des Fliegers, der seinem Zweck entsprechend über das Land fliegt, nach unten sieht, liegt einem, falls keine Wolken dazwischen sind, die Welt zu Füßen, aber die Welt ist darunter eine Landkarte: eine Abbreviatur. Kurz, kürzer abgekürzt: Durch die Geschwindigkeit kürzt man die Weg ab, aber eben bloß man – man selbst ist frei und nicht dabei, also, ich war nicht anwesend, als die Geschwindigkeit sich steigerte. Es ist schnell, also bin ich nicht. Ja, geschwind um die Ecke, das könnte schon eher ich gewesen sein, aber im Fluge alles Überfliegen und die Sehnsucht nach Licht (oder sollte es besser heißen: der Abscheu, der Horror vor dem Grau, vor dem Allerweltsdunkel), das könnten schon viel eher ich und viele andere mit mir gewesen sein.

Die ersten Toten, die ich sah, lagen auf der Straße: ein Verkehrsunfall. Sie waren in billige Plastiksäcke gewickelt, und der Tod war die Reglosigkeit von Leichen. Ich war ein Kind. Ich befand mich (wie im Märchen) auf dem Weg zur Großmutter, die in einer kleinen, unschönen, aber beherbergenden Siedlung wohnte. Die Großmutter war eine fette Frau, alt, das hieß für das Kind unsterblich: Die Großmutter war unsterblich, als hätte ich, das Kind, damals gewusst: Alt werden heißt Tote hinter sich gelassen haben und selbst noch nicht gestorben sein. Mein eigener Vater, ein eigener Vater, hat weniger Tote hinter sich gelassen, nicht weil er nicht steinalt geworden wäre und es in diesem Augenblick noch ist, nämlich steinalt, sondern weil er eine Technik hatte, alles was neben ihm lebte, im selben Moment zu vergessen, und als er dann steinalt war, wie ein Stein war und alt, sagte er und sagte er sich: Da ist nichts, da war nichts. Wird irgendjemand helfen, den Söhnen, den Vätern, den Toten, den Großmüttern, die Frage nach der Hilfe erhebt sich, allein schon das Wort Hilfe ist ein Trost, erhebt dich und die Familie in alle Erhabenheit. Über allem ist ein Hauch von Würde, der schlechte Mundgeruch der Geschichte. Keinem Mund sieht man es an, dass er zum Beispiel gesagt hat: Und Hitler wird doch siegen.

Die Einzelteile der Menschen sind so unschuldig wie ganze Leichen. Ich erinnere mich nicht an die Lichtverhältnisse, als ich die ersten Leichen meines Lebens sah, doch jetzt fällt mir auf, ich habe die Leichen ja gar nicht gesehen, sondern wie gesagt, sie lagen verpackt auf der Straße. Im grauen Alltag gestorben, und ich erinnere mich nicht an die Lichtverhältnisse, als die unbekannten Toten da lagen. Allerletzte Station des Daseins: tot daliegen, bereits anonym für die Zufallspassanten. Ich kam die Straße herauf, und da lagen sie schon, fertig vorbereitet für die diesbezüglichen Sätze, das heißt, den Unfall habe ich auch nicht gesehen. Ich sah beamtetes, für Unfalltote zuständiges Personal, es machte sich zu schaffen. Sie leisteten Hilfe. Die Toten waren schon fertig verpackt, in einer Schutzumhüllung – wem war mit der Hülle geholfen, ihnen, denen nicht mehr geholfen werden musste, dem Publikum, das keineswegs zahlreich erschienen war, ich war allein, als Einziger an diesem Tag allein die Straße hochgekommen, die Straße hoch!, auf der ich die ersten fertig verpackten Toten sah, die mir halfen, eine Erfahrung zu machen, oder half sich das beamtete Personal mit der Umhüllung, oder half es schlicht gar nichts, überhaupt nichts.

Später, viele Jahre, nachdem ich die ersten Toten ebenso gesehen wie nicht gesehen hatte, hat dann auch zu mir jemand gesagt, freilich ich liebe dich, nein, genauer, jemand hat gesagt: Ich hab dich lieb, und wenn ich mich recht erinnere (es gibt auch Erinnerungen, zu denen man kein Recht hat, vergiss mich sofort, sagen diese potentiellen Erinnerungen in einer Gegenwart, in der sie erst zukünftig Erinnerungen sind, das heißt: sein werden), und wenn ich mich recht erinnere, antwortete ich: Ich liebe dich, das ist was anderes als: Ich hab dich lieb, eben etwas Erhabenes, und deine Liebe liegt wie ein verpackter Leichenhaufen auf einer unauffindbaren Straße, für die es noch keine Landkarte gibt. Aber bitte, was sollte ich sagen, sozusagen antworten auf etwas, das gar nicht in eine Frage gekleidet ist, das mir aber mehr als fragwürdig vorkommt – ich und mir in meinem beengenden Gartensessel: Hätte ich nachdenken sollen, was dein »Ich-hab-dich-lieb« bedeutet, was du damit sagen willst, es wäre ein Schlager gewesen: Ich sitze nachts am Bettrand, nachdenklich geworden, und die innere Stimme schweigt sich nicht darüber aus, was es denn bedeuten soll, dass das Ohr von außen gehört hat, jemand, von mir selbst genannt du, hätte gesagt: freilich ich dich? Darüber hätte ich mir den Kopf zerbrochen, die ganze Nacht lang. Außerdem, um den Schlussstrich zu ziehen: Mich kann man nicht lieben, aber ich – habe ich zum Beispiel meine Großmutter geliebt?

Wilde Delphine, hätte meine Großmutter sagen können, falls sie eine Delphinforscherin, allgemeiner, eine Meeresbiologin gewesen wäre, wilde Delphine sprechen ihre Artgenossen individuell an: Indem sie den Ruf eines anderen Tieres imitieren, können sie noch gezielt mit Gesprächspartnern kommunizieren, die 600 Meter weit entfernt sind. Mit dir, meine Geliebte, habe ich die Delphinprobe gemacht. Ich stellte mich 600 Meter von meiner Liebe weg und bat sie, mich individuell anzusprechen. Meine Liebe imitierte mich gezielt, und ich habe alles mitbekommen. Wir verstanden einander eben ausgezeichnet, auch auf 600 Meter Entfernung warst du mir ganz nahe. Noch nach Jahrzehnten werde ich mich nach dieser Nähe sehnen, wusste ich schon damals, als ich diese Nähe zu dir noch empfand. Verloren, verloren. Die Entfernung zum eigenen Leben kann ein jeder Mensch messen. Indem er alles, was an Nähe verloren ging, zusammenstückelt. Indem er die Länge dessen, was ihm an Nähe durch die Lappen ging, zusammenrechnet. Indem er kalt die Verluste kalkuliert. Es gibt Erinnerungen, die sich von der Großmutter, von der ich hauptsächlich weiß, dass sie keine Meeresbiologin, geschweige denn eine Delphinforscherin war, wegschleichen: Großmutters Garten, eine blumige Übertreibung der Langeweile jener Sonntagnachmittage, an denen ich meine ersten Toten gesehen und zugleich nicht gesehen habe – die Zäune, mit denen sich Gartenbewohner voreinander beschirmen, und die wechselnden Lichtverhältnisse durch den Zaun hindurch, ins Licht getaucht, und ich, der Zuseher, denn in meinem Alter damals war ich noch kein Akteur, sondern ein Zuseher, ein bloßer Zuseher, und ich, der Zuseher, muss auch ins Licht getaucht gewesen sein oder von Dunkelheit befallen, wenn ein Gewitter bevorstand.

1999 schließlich war die große Sonnenfinsternis, ich hatte geschworen, meinen Blick nicht zum Himmel zu wenden. Unglücklicherweise aber befand ich mich im Freien, als es plötzlich finster wurde. Ich kam, in einem engen Gartensessel sitzend, aus dem inneren Gleichgewicht, das offenkundig von den äußeren Lichtverhältnissen abhängig ist. Es war wie ein Kreislaufschaden, und dann heiterte plötzlich alles wieder auf. Die schaulustigen Idioten, eine halbe Weltgemeinschaft, lenkten ihre Blicke wieder auf die Erde zurück. Die Weltraumbehörde schickt Raketen aus, die mit einer nutzlosen Geschwindigkeit um die Erde jagen. Die Jägerschaft. Mein unerhörter Blick senkt sich auf die Erde: Zwischen mir und der Erde stehen meine Schuhe. Sie sitzen fest an meinen Füßen. Die Selbstbeschreibung: ein großer Stiller, dessen Stimme durchaus Gewicht hat; kein Eigenbrötler, überhaupt kein Brötler; Fleischfresser, der Gattung entsprechend. In diesem Moment wandte sich ein Hilfsbedürftiger mir zu. Du sollst mir den Rücken stören, sagte er. Er muss etwas geahnt haben, denn er hätte natürlich sagen wollen: Du sollst mir den Rücken stärken. Seitdem störe ich die Rücken. Hilfe. Im steinalten Menschen vergreist das Jahrhundert. Alles, was er erfahren hat, was er gelernt hat, ist abgemeldet. Es ist eine andere Zeit, und Zeit ist Welt, und er ist der Alte geblieben. Heute Morgen beobachtete er seine Frau beim Frühstück. Da ist doch etwas, dachte er, und da ist doch etwas heißt: Da stimmt doch etwas nicht. Die umnachtete Greisin kaute an diesem Tag seltsam. Er sah ihr in den Mund. Sie hatte keine Zähne. Wo hast du deine Zähne?, fragte der Greis. Die Greisin verstand ihn nicht. Er machte sich auf die Suche nach ihren Zähnen, und schon sah das Jahrhundert alt aus.

Sie hat keinen Sinn fürs Beißen; sie ahmt mit ihrem Mund die Bewegung nach, die sie oder besser, die ihr Mund mit Essen zusammendenkt. Während der Kopf den Gedanken, dass etwas im Mund fehlt, nicht mehr fassen kann, sucht der Greis die Wohnung nach ihren Zähnen ab. Das Leben ist in diesen Augenblicken mit der Suche nach den Zähnen seiner Frau identisch. Die Taubheit der Alten schützt sie vor dem Lärm der Renovierungen: Im Haus sind einige Bohrer eingeschaltet. Sie treiben Löcher in den Beton, an dem Vorrichtungen aufgehängt werden, die das kommende Jahrhundert lebenswerter machen. Sie bauen an der Epochenschwelle, und die, die hören können, werden heute vom Lärm schwer verwundet. Aufhören! Einige Menschen zeigen bei diesem Lärm ihr wahres Gesicht. Als ich vor der Tür der Alten stand, die keine Epochenschwelle mehr überschreiten werden und deren Überschreitungen veraltet sind, ganz und gar vergessen, läutete ich mit dem rechten Daumen an der Glocke der Wohnungstür, während ich mit der linken Hand mein Mobiltelefon bediente und immer wieder dieselbe Nummer wählte. Vom Inneren der Wohnung her hörte man, dass ich richtig gewählt hatte; das Telefon schrillte, aber niemand hob ab; die Türklingel schrillte, aber niemand öffnete. Plötzlich sah ich im Halbstock die Füße; sie waren halbnackt, nur mit japanischen Badeschlapfen bekleidet. Die Füße rührten sich nicht von der Stelle; es waren Männerfüße, ein Nachbar, kein Freund. Der Nachbar von oben roch den Tod. Er, dessen Zehen mit dem Kunststoff seiner Schlapfen angeregt spielten, hätte sich weiter vorgewagt, hätte man die beiden Alten oder auch nur die eine oder den anderen herausgetragen, am besten tot. So aber verhielt er sich, vom Lärm angelockt, abwartend. Es ging schlecht für ihn aus, denn plötzlich öffnete die Alte die Tür, und schon war ich im angestammten Ort meiner Familiengeschichte verschluckt.

Eine solche Sehnsucht nach Musik:123123