Nalini Singh
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Nora Lachmann
Titel
Widmung
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Epilog
Impressum
Nalini Singh
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Nora Lachmann
Für meine wundervolle Lektorin Cindy Hwang und meine fabelhafte Agentin Nephele Tempest, die dieses Buch von Anfang an mit ihrer Begeisterung getragen haben. Und natürlich wieder für meine Familie: Ihr wart immer für mich da.
Prolog
Silentium
Um die außergewöhnlich hohe Zahl an Geisteskranken und Serienmördern innerhalb ihrer Population in den Griff zu bekommen, verabschiedete der Rat der Medialen 1969 ein drastisches Programm namens Silentium. Die Medialen sollten von Geburt an konditioniert werden und lernen, niemals in Zorn zu geraten.
Bald musste der Rat jedoch feststellen, dass man dieses Gefühl nicht von den anderen Emotionen trennen konnte. Nach einer zehn Jahre währenden Debatte unter den unzähligen im Medialnet verbundenen Gehirnen wurden die Ziele des Programms verändert. Seine neue Aufgabe bestand darin, junge Mediale so zu konditionieren, dass sie gar keine Gefühle mehr empfanden. Keinen Zorn, keine Eifersucht, keinen Neid, kein Glück und ganz gewiss auch keine Liebe.
Das war der Durchbruch für Silentium.
Schon fünf oder sechs Generationen später, im Jahr 2079, erinnert sich niemand mehr daran, dass Mediale je anders waren. Man hält sie allgemein für kühl und kontrolliert, unmenschlich sachlich und völlig unfähig zu Gewalt in jeglicher Form.
Sie besetzen die Spitzenpositionen in Regierung und Wirtschaft und schließen die von ihren animalischen Trieben beherrschten Menschen und Gestaltwandler davon aus. Aufgrund ihrer überragenden geistigen Fähigkeiten auf den Gebieten der Gedankenübertragung, Vorhersage, Telekinese und Parapsychologie glauben die Medialen, sie ständen auf einer höheren Entwicklungsstufe der Evolution.
Es entspricht ihrem Wesen, alle Entscheidungen aus rein logischen und pragmatischen Gründen zu treffen. Dem Medialnet zufolge liegt ihre Fehlerquote nahezu bei null.
Die Medialen haben Silentium perfektioniert.
1
Sascha Duncan konnte keine einzige Zeile des Berichts entziffern, der über den Bildschirm ihres Pocket Organizers flimmerte. Angst verschleierte ihren Blick und ihre Gedanken entfernten sich aus der nüchternen, effizienten Umgebung des Büros, in dem ihre Mutter arbeitete. Selbst als Nikita einen Anruf entgegennahm, drang deren Stimme kaum an Saschas betäubte Sinne.
Sie war zu Tode erschrocken.
An diesem Morgen war sie wimmernd und zusammengerollt wie ein Embryo in ihrem Bett aufgewacht. Normalerweise wimmerten Mediale nicht, sie hatten keine Gefühle und demzufolge zeigten sie auch keine. Aber Sascha hatte schon als Kind gewusst, dass sie nicht normal war. Sechsundzwanzig Jahre lang hatte sie diesen Defekt erfolgreich verborgen, doch nun lief irgendetwas schief. Sehr schief sogar.
Ihr Verstand verfiel dermaßen schnell, dass sich schon körperliche Nebenwirkungen bemerkbar machten – Muskelkontraktionen, Zittern, ein beschleunigter Puls und immer wieder unkontrolliert aufsteigende Tränen überkamen sie nach diesen Träumen, an die sie sich nie erinnern konnte. Bald würde es unmöglich sein, die Risse in ihrem Verstand noch länger zu verbergen, und dann würde man sie im Zentrum einsperren. Natürlich nannte es niemand Gefängnis, der Fachausdruck war „Rehabilitationsanstalt“. Dorthin sonderten die Medialen äußerst effizient und brutal die Schwachen in ihren Reihen aus.
Wenn sie im Zentrum mit ihr fertig waren, wäre sie mit etwas Glück nur noch eine sabbernde Masse ohne jeden Verstand. Und wenn sie Pech hatte, blieben ihr lediglich genügend Denkstrukturen übrig, um irgendwo in der weitverzweigten Unternehmenswelt der Medialen als Drohne zu dienen, als Maschine mit gerade noch genügend neuronalen Aktivitäten, um die Post zu sortieren oder die Böden zu fegen.
Saschas Hand schloss sich fester um den Organizer und sie kehrte in die Gegenwart zurück. Wenn es einen Ort gab, an dem sie nicht zusammenbrechen durfte, dann hier in diesem Zimmer vor den Augen ihrer Mutter. Sascha war zwar ihr eigen Fleisch und Blut, aber Nikita Duncan gehörte auch dem Rat der Medialen an. Sascha wusste nicht, ob sie am Ende nicht doch ihre Tochter opfern würde, um den Sitz im mächtigsten Gremium der Welt zu behalten.
Mit verbissener Entschlossenheit machte Sascha sich daran, die verborgenen Winkel ihres Verstandes mit stärkeren Schutzschilden zu versehen. Wenigstens darin war sie immer besser als alle anderen gewesen, und als ihre Mutter das Gespräch beendete, strahlte Sascha etwa so viel Gefühl aus wie eine aus arktischem Eis gehauene Skulptur.
„In zehn Minuten haben wir eine Besprechung mit Lucas Hunter. Bist du bereit?“ Nur nüchternes Interesse stand in Nikitas mandelförmigen Augen.
„Natürlich, Mutter.“ Sascha zwang sich, diesem Blick standzuhalten, und schob den Gedanken beiseite, ob ihre Augen wohl genauso viel verbargen wie die ihrer Mutter. Zum Glück hatte sie, im Gegensatz zu Nikita, die nachtschwarzen Augen einer Kardinalmedialen – unergründlich wie der Nachthimmel und übersät mit klitzekleinen weißen Sternen, in denen kaltes Feuer funkelte.
„Hunter ist ein Alphatier der Gestaltwandler, also unterschätze ihn bloß nicht. Er denkt wie ein Medialer.“ Nikita wandte sich ab und ließ den flachen, in der Tischplatte versenkten Bildschirm hochfahren.
Sascha rief die relevanten Daten in ihrem Organizer auf. Das kleine Gerät enthielt alles Notwendige für die Besprechung und sie konnte es bequem in der Jackentasche verschwinden lassen. Wenn Lucas Hunter sich ebenso wie andere seiner Rasse verhielt, dann würde er von allem einen Ausdruck dabeihaben.
Ihren Informationen nach hatte Hunter mit dreiundzwanzig die alleinige Führungsrolle im DarkRiver-Leopardenrudel übernommen. In den folgenden zehn Jahren war das Rudel zur mächtigsten Raubtiergruppe in San Francisco und Umgebung aufgestiegen. Gestaltwandler von außerhalb, die hier lebten, arbeiteten oder sich auch nur kurz aufhalten wollten, mussten bei den DarkRiver-Leoparden eine Erlaubnis einholen. Taten sie das nicht, traten die Territorialgesetze der Leoparden in Kraft, mit brutalen Folgen für die Betroffenen.
Etwas hatte Sascha bei der ersten Durchsicht der Unterlagen in Erstaunen versetzt: Die DarkRiver-Leoparden hatten einen Nichtangriffspakt mit dem SnowDancer-Wolfsrudel geschlossen, das im übrigen Kalifornien herrschte. Diese Tatsache hatte in Sascha Zweifel am zivilisierten Bild der DarkRiver-Leoparden geweckt, denn die SnowDancer-Wölfe waren bekannt für ihre gnadenlose Grausamkeit, wenn es jemand wagte, in ihrem Territorium nach der Macht zu greifen. Man konnte dort nicht überleben, wenn man nett war.
Ein leiser Glockenschlag ertönte.
„Wollen wir, Mutter?“ Nikitas Verhalten Sascha gegenüber war nicht mütterlich, das war es nie gewesen. Aber die Etikette verlangte eine familiäre Anrede.
Nikita nickte und richtete sich zu ihrer vollen Größe von anmutigen ein Meter siebenundsiebzig auf. Mit ihrem schwarzen Hosenanzug und dem weißen Hemd entsprach sie auch äußerlich von Kopf bis Fuß dem Bild einer erfolgreichen Geschäftsfrau. Ihr schlichter Haarschnitt, der knapp unter den Ohren endete, stand ihr ausgezeichnet. Sie war schön. Und sie konnte tödlich sein.
Selbst wenn sie so wie jetzt nebeneinander gingen, würde niemand sie für Mutter und Tochter halten. Sie waren zwar gleich groß, aber das war auch die einzige Ähnlichkeit. Nikita hatte den asiatischen Schnitt der Augen, das glatte Haar und den Porzellanteint ihrer Mutter geerbt, die zur Hälfte Japanerin gewesen war. Bei Sascha machten sich diese Gene nur noch durch eine leichte Schrägstellung der Augen bemerkbar.
Ihre Haare waren nicht glatt und glänzten auch nicht blauschwarz wie Nikitas, sondern hatten die Farbe von dunklem Ebenholz, schluckten das Licht wie Tinte und kräuselten sich so wild, dass Sascha die ungebärdigen Locken jeden Morgen zu einem strengen Zopf nach hinten binden musste. Der dunkle Honigton ihrer Haut war wohl den Genen ihres unbekannten Vaters zuzuschreiben. In Saschas Geburtsunterlagen stand, dass er angloindischer Herkunft gewesen sei.
Sascha ließ sich etwas zurückfallen, als sie sich dem Besprechungszimmer näherten. Zwar stand sie der offenen Emotionalität der Gestaltwandler nicht so ablehnend gegenüber wie die meisten Medialen, aber sie traf trotzdem nur ungern mit ihnen zusammen. Es kam ihr so vor, als ob sie Bescheid wüssten. Irgendwie konnten sie wahrnehmen, dass Sascha nicht so war wie die anderen, dass sie einen Defekt hatte.
„Mister Hunter.“
Sascha blickte auf. Sie befand sich in Reichweite des gefährlichsten männlichen Wesens, dass sie je zu Gesicht bekommen hatte. Ihr fiel kein anderes Wort dafür ein. Er war mindestens ein Meter neunzig groß und sein Körper schien nur aus roher Muskelkraft und höchster Anspannung zu bestehen, eine zum Kampf bereite Maschine.
Das schulterlange schwarze Haar machte ihn nicht weicher, sondern verriet eher die Leidenschaft und den Hunger des Leoparden, der unter seiner Haut steckte. Sascha zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie einem Raubtier gegenüberstand.
Er drehte den Kopf und nun sah sie die rechte Seite seines Gesichts. Die Klauen einer großen Bestie hatten vier gezackte Linien auf der blassgoldenen Haut hinterlassen. Trotz seiner hypnotisierend grünen Augen waren es diese Male, die Saschas Aufmerksamkeit fesselten. Sie war noch nie einem Jäger der Gestaltwandler so nahe gewesen.
„Miss Duncan.“ Er hatte eine tiefe, etwas raue Stimme, die entfernt an ein Knurren erinnerte.
„Das ist meine Tochter Sascha. Sie wird bei diesem Projekt die Verbindung zu Ihnen halten.“
„Sehr erfreut, Sascha.“ Er nickte mit dem Kopf in ihre Richtung und sein Blick ruhte einen Moment länger auf ihr als unbedingt notwendig.
„Ebenfalls.“ Konnte er ihren aus dem Takt geratenen Herzschlag hören? Stimmte es, dass die Sinne eines Gestaltwandlers denen aller anderen Rassen überlegen waren?
„Bitte!“ Er wies auf den Tisch mit der großen Glasplatte und wartete, bis die beiden Frauen dahinter Platz genommen hatten, ehe er sich auf einen Stuhl direkt gegenüber von Sascha setzte.
Sie ließ sich von der ritterlichen Geste nicht täuschen und blieb weiter auf der Hut, wobei sie sich zwang, seinen Blick zu erwidern. Jäger waren geübt darin, verletzliche Beute aufzuspüren. „Wir haben uns Ihr Angebot angesehen“, eröffnete sie die Verhandlungen.
„Was halten Sie davon?“ Seine Augen waren erstaunlich klar und ruhig wie ein tiefer See. Aber sein Blick war weder kalt noch sachlich, was Saschas ersten Eindruck einer gerade noch im Zaum gehaltenen ungestümen Kraft nur bestätigte.
„Bekanntermaßen funktionieren Geschäftsbeziehungen zwischen Medialen und Gestaltwandlern nur selten. Entgegengesetzte Prioritäten.“ Im Vergleich zu Lucas’ Stimme hörte sich Nikitas fast monoton an.
Sein Lächeln war so unverschämt, dass Sascha nicht wegschauen konnte. „Ich glaube aber, dass wir in diesem Fall dieselben Prioritäten haben. Sie brauchen Hilfe bei der Planung und Durchführung von Wohnungsbauprojekten, die für Gestaltwandler attraktiv sind. Ich möchte einen Insider-Zugang zu neuen Projekten.“
Sascha wusste, dass noch mehr dahinterstecken musste. Sie brauchten ihn, aber er brauchte sie nicht, jedenfalls nicht, wenn die DarkRiver-Leoparden bei ihren Geschäften inzwischen in Konkurrenz zu medialen Unternehmen standen. Die Welt änderte sich genau vor ihrer Nase, die Rassen der Menschen und Gestaltwandler gaben sich nicht länger damit zufrieden, in zweiter Reihe zu stehen. Es war nur ein Zeichen von Arroganz, dass die meisten Medialen diese langsame Verschiebung der Machtverhältnisse nicht wahrnahmen.
So nahe neben der geballten Kraft eines Lucas Hunter fragte sie sich, wie ihre Brüder und Schwestern bloß so blind sein konnten. „Wenn wir mit Ihnen Geschäfte machen, erwarten wir die gleiche Zuverlässigkeit wie von medialen Konstruktions- und Planungsbüros.“
Lucas Hunter sah die eisig perfekte Sascha Duncan an und hätte gerne gewusst, was zum Teufel an ihr so aufregend war. Der Panther in seinem Kopf lief im Käfig fauchend auf und ab, bereit, jeden Augenblick herauszuspringen und an ihrem strengen dunkelgrauen Hosenanzug zu schnuppern.
„Selbstverständlich“, sagte er und schaute fasziniert auf die funkelnden weißen Sterne in ihren dunklen Augen.
Er hatte noch nicht sehr oft die Gelegenheit gehabt, einer Kardinalmedialen nahe zu sein. Sie waren selten, gaben sich nicht mit der breiten Masse ab und bekleideten im reiferen Alter hohe Posten im Rat. Sascha war noch jung, hatte aber nichts Unfertiges an sich. Sie wirkte genauso rücksichtslos wie der Rest ihrer Rasse, genauso gefühllos und kalt.
Sie könnte einen Mörder decken.
Jeder von ihnen könnte das. Deshalb hatten sich einige DarkRiver-Leoparden seit Monaten an die Fersen hoher Medialer geheftet und versucht, ihre Abwehr zu durchbrechen. Das Duncan-Projekt bot ihnen eine unglaubliche Gelegenheit. Denn Nikita war nicht nur selbst sehr mächtig, sondern saß noch dazu im Rat und gehörte somit den engsten Regierungskreisen an. Wenn Lucas an diese Stellen herankam, könnte er den sadistischen Medialen, der einer Leopardenfrau das Leben genommen hatte, ausfindig machen … und hinrichten.
Ohne Gnade. Ohne Vergebung.
Sascha Duncan sah auf den Bildschirm des schmalen Pocket Organizers. „Wir können Ihnen sieben Millionen anbieten.“
Ein Cent wäre ihm genug gewesen, wenn er dadurch einen Einblick in die geheime Welt der Medialen erhalten hätte, aber er durfte sie nicht misstrauisch machen.
„Ladys“, sagte er mit sinnlicher Stimme, denn Sinnlichkeit war ebenso ein Teil von ihm wie das wilde Tier. Die meisten Gestaltwandler und Menschen hätten auf diesen verführerischen Tonfall reagiert, doch diese beiden Frauen blieben ungerührt. „Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass dieser Vertrag mindestens zehn Millionen wert ist. Hören wir also auf, Zeit zu verschwenden.“ Er hätte schwören können, dass etwas in Saschas nachtschwarzen Augen aufblitzte und ihm verriet, dass sie die Herausforderung annahm. Der Panther antwortete mit einem leisen Knurren.
„Acht. Und jede Phase des Projekts bedarf unserer Zustimmung.“
„Zehn.“ Er behielt den weichen Tonfall bei. „Ihre Forderung wird beträchtliche Verzögerungen verursachen. Ich kann nicht effizient arbeiten, wenn ich wegen jeder kleinen Änderung hier aufkreuzen muss.“ Vielleicht halfen ihm die häufigen Besuche, die kalte Fährte des Mörders wieder aufzunehmen, aber er bezweifelte das. Es war unwahrscheinlich, dass Nikita vertrauliche Ratspapiere herumliegen lassen würde.
„Einen Augenblick, bitte.“ Die ältere der beiden Frauen wandte sich der jüngeren zu.
Seine feinen Nackenhaare stellten sich auf. Das geschah immer, wenn Mediale in seiner Gegenwart ihre Energien einsetzten. Telepathie war nur eine ihrer Fähigkeiten, eine sehr nützliche bei geschäftlichen Verhandlungen, das musste er zugeben. Doch ihre Begabungen machten sie auch blind. Die Gestaltwandler hatten schon lange gelernt, ihre Vorteile daraus zu ziehen, dass die Medialen sich für überlegen hielten.
Nach etwa einer Minute wandte sich Sascha wieder an ihn. „Es ist für uns wichtig, bei jedem Schritt die Kontrolle zu behalten.“
„Es ist Ihr Geld und Ihre Zeit.“ Er bemerkte, dass sie ihn dabei beobachtete, wie er die Fingerspitzen auf der Tischplatte aneinanderlegte. Interessant. Bisher hatte er noch nie erlebt, dass Mediale auf die Körpersprache achteten. In der Regel verhielten sie sich, als ob sie nur Gehirne wären, eingeschlossen in der Welt ihres Verstandes. „Aber wenn Sie auf dieser Art von Beteiligung bestehen, kann ich nicht garantieren, dass wir den Zeitplan einhalten können. Ich kann Ihnen sogar versichern, dass es unmöglich sein wird.“
„Wir haben einen Vorschlag, um dem entgegenzuwirken.“ Pechschwarze Augen sahen ihn an.
Er hob eine Augenbraue. „Ich bin ganz Ohr.“ Auch der Panther in ihm war aufmerksam. Sowohl Mann als auch Tier waren von Sascha Duncan auf eine Weise gefesselt, die keiner von beiden verstand. Ein Teil von ihm wollte sie streicheln … und der andere wollte zubeißen.
„Wir würden gern Seite an Seite mit den DarkRiver-Leoparden zusammenarbeiten. Der Einfachheit halber möchte ich Sie bitten, mir ein Büro in Ihrem Gebäude zur Verfügung zu stellen.“
Jede Faser seines Körpers stand unter Spannung. Er würde eine Kardinalmediale fast rund um die Uhr zur Verfügung haben. „Sie wollen also auf meinem Schoß sitzen, Schätzchen. Meinetwegen.“ Die Stimmung im Raum veränderte sich ein wenig, aber noch bevor er herausfinden konnte, was geschehen war, war der Moment auch schon wieder vorbei. „Sind Sie denn befugt, die Änderungen abzusegnen?“
„Ja. Aber selbst wenn ich meine Mutter um Rat fragen müsste, könnte ich an Ort und Stelle bleiben.“ Das rief ihm wieder in Erinnerung, dass sie eine Mediale war und einer Rasse angehörte, die alles Menschliche schon lange aufgegeben hatte.
„Wie weit reichen die Signale einer Kardinalmedialen?“
„Weit genug.“ Sie drückte auf ihren kleinen Bildschirm. „Also einigen wir uns auf acht Millionen?“
Bei diesem Versuch, ihn zu überlisten, musste er grinsen, die beinahe katzenhafte Gerissenheit erheiterte ihn. „Zehn, oder ich gehe und Sie müssen mit minderer Qualität vorliebnehmen.“
„Sie sind da draußen nicht der einzige Experte auf dem Gebiet der Vorlieben und Abneigungen von Gestaltwandlern.“ Sie lehnte sich ein wenig nach vorn.
„Das stimmt.“ Beeindruckt von ihrer Fähigkeit, offenbar sowohl ihren Kopf als auch ihren Körper einzusetzen, ahmte er vorsichtig ihre Bewegung nach. „Aber ich bin der Beste.“
„Neun.“
Er konnte es sich nicht leisten, dass sie ihn für schwach hielt. Die Medialen respektierten nur kalte, erbarmungslose Stärke.
„Neun, mit der Option auf eine weitere Million, wenn alle Häuser vor der offiziellen Einweihung verkauft sind.“
Wieder trat Schweigen ein. Und wieder stellten sich seine Nackenhaare auf. In Lucas’ Kopf schlug das Tier mit den Pranken durch die Luft, als ob es die Energiefunken fangen wollte. Die meisten Gestaltwandler konnten die Energieströme der Medialen nicht wahrnehmen, aber für ihn hatte sich diese Begabung schon oft als nützlich erwiesen.
„Wir sind einverstanden“, sagte Sascha. „Ich nehme an, Sie haben einen Ausdruck der Verträge dabei.“
„Selbstverständlich.“ Er schlug einen Hefter auf und schob ihnen Kopien des Dokuments zu, das sie zweifellos auch auf ihren Bildschirmen hatten.
Sascha nahm die Verträge und gab ihrer Mutter eine Ausfertigung.
„In elektronischer Form wäre es sehr viel bequemer.“
Das hatte er schon unzählige Male von den verschiedensten Medialen gehört. Reiner Trotz war ein Grund, warum die Gestaltwandler nicht auf der Welle des technologischen Fortschritts mitschwammen, der andere waren Sicherheitsbedenken, denn seine Rasse hackte sich schon seit Jahrzehnten in die Datenbanken der Medialen ein. „Ich mag es, etwas in den Händen zu halten, es zu berühren und daran zu riechen. Ich mag es, wenn all meine Sinne befriedigt werden.“
Er bezweifelte nicht, dass sie diese Anspielung verstand, doch er wartete auf eine Reaktion von ihr. Nichts. Sascha Duncan war genauso eiskalt wie alle anderen Medialen, die er bisher getroffen hatte. Also würde er sie erst auftauen müssen, um zu erfahren, ob die Medialen einen Serienkiller in ihren Reihen verbargen.
Der Gedanke, sich mit ihr zu messen, war eigenartig verlockend für ihn, obwohl er alle Medialen bis zu diesem Augenblick nur für gefühllose Maschinen gehalten hatte. Dann hob sie den Kopf, und als sie ihn anblickte, riss der Panther sein Maul auf und fauchte.
Die Jagd hatte begonnen. Und Sascha Duncan war die Beute.
Zwei Stunden später schloss Sascha die Wohnungstür hinter sich und kontrollierte im Geiste die Räumlichkeiten. Nichts. Da ihre Wohnung im selben Gebäude wie das Büro lag, verfügte sie über einen ausgezeichneten Sicherheitsstandard. Trotzdem hatte Sascha die Räume noch mit einem zusätzlichen Schutz versehen. Das erforderte zwar eine Menge ihrer dürftigen energetischen Kräfte, aber sie brauchte einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen konnte.
Erleichtert darüber, dass niemand in ihre Wohnung eingedrungen war, überprüfte sie systematisch ihre innere Abwehr gegen das weitverzweigte Medialnet. In Ordnung. Niemand konnte ohne ihr Wissen in ihren Kopf gelangen.
Jetzt erst erlaubte sie sich, auf dem eisblauen Teppich zusammenzusinken. Die kalte Farbe jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Computer: Temperatur um fünf Grad erhöhen!“
„Wird ausgeführt.“ Die Stimme war völlig ohne Modulation, aber das war auch nicht anders zu erwarten. Es war nur die mechanische Antwort der mächtigen Maschine, die dieses Gebäude in Gang hielt. In den Häusern, die sie mit Lucas Hunter bauen würde, würde es keine solchen Computer geben.
Lucas.
Ihr Atem ging stoßweise, als sie ihrem Verstand gestattete, von den Gefühlen überflutet zu werden, die sie während der Besprechung zurückgehalten hatte.
Angst.
Heiterkeit.
Hunger.
Begierde.
Sehnsucht.
Verlangen.
Sie löste die Haarspange und fuhr mit den Fingern durch die weich herabfallenden Locken. Dann zog sie das Jackett aus und warf es achtlos auf den Boden. Ihre Brust spannte schmerzhaft unter dem festen BH. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich nackt gegen etwas Heißes, Hartes, Männliches zu pressen.
Ein Wimmern stieg in ihrer Kehle auf, als sie sich vor und zurück wiegte und versuchte, die aufsteigenden Bilder zurückzudrängen. Das hier durfte nicht geschehen. Auch wenn sie vorher schon oft die Kontrolle verloren hatte, so schlimm, so sexuell aufgeladen, war es noch nie gewesen. Dieses Eingeständnis glättete die Wogen ein wenig und befreite Sascha aus den Klauen der Begierde.
Sie stand auf und holte sich in der Kochnische ein Glas Wasser. Als sie trank, fiel ihr Blick auf den dekorativen Spiegel neben dem Einbaukühlschrank. Er war das Geschenk eines Gestaltwandlers, der sie bei einem anderen Projekt beraten hatte, und sie hatte ihn trotz der erhobenen Augenbraue ihrer Mutter behalten. Als Rechtfertigung hatte sie angeführt, sie wolle die andere Rasse besser kennenlernen. In Wahrheit hatte ihr einfach der wild gemusterte, farbenprächtige Rahmen gefallen.
Doch nun wünschte sie, dass sie ihn nicht behalten hätte. Er zeigte ihr nur zu deutlich, was sie gar nicht sehen wollte. Das dunkle Durcheinander ihrer Haare verriet tierische Leidenschaft und Begierde, Dinge, die kein Medialer kennen sollte. Ihr Gesicht war wie vom Fieber gerötet, ihre Wangen hatten rote Flecken und ihre Augen … um Gottes willen, sie waren vollkommen mitternachtsschwarz.
Sie stellte das Glas ab und strich ihre Haare zurück. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Kein einziger Funke leuchtete in den dunklen Pupillen. Dieses Phänomen konnte nur hervorgerufen werden, wenn Mediale große geistige Energien aufwandten.
Ihr war es noch nie passiert.
Nach den Augen zu urteilen war sie vielleicht eine Kardinalmediale, aber ihr Zugang zu deren Fähigkeiten war beschämend gering. So gering, dass sie immer noch nicht auf einen Posten gewählt worden war, der direkt dem Rat unterstand.
Das Fehlen handfester mentaler Kräfte hatte ihre Trainer verwirrt. Alle hatten immer gesagt, es gäbe ein unglaubliches, ungeformtes Potenzial in ihrem Verstand – mehr als genug für eine Kardinalmediale –, das sich aber noch nie gezeigt hätte.
Bis zu diesem Augenblick.
Sascha schüttelte den Kopf. Sie hatte keine geistigen Energien angewandt, also musste etwas anderes die vollkommene Dunkelheit hervorgerufen haben, etwas, das andere Mediale nicht kannten, weil sie nichts fühlten. Ihre Augen hefteten sich auf die Kommunikationskonsole an der Wand neben der Küchenzeile. Eins war sicher: So konnte sie nicht ausgehen. Jeder, der sie in diesem Zustand sah, würde sie sofort in die Rehabilitationsanstalt einweisen.
Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Solange sie in Freiheit war, konnte sie vielleicht eines Tages einen Ausweg finden, eine Möglichkeit, ihre Verbindung zum Medialnet zu kappen, ohne dass ihr Körper in Starre verfiel oder starb. Vielleicht gelang es ihr sogar, den sichtbaren Defekt wieder auszumerzen. Aber wenn man sie ins Zentrum einlieferte, würde ihre Welt in Dunkelheit versinken. In einer endlosen, stillen Dunkelheit.
Vorsichtig nahm sie die Abdeckung von der Konsole und bastelte an den Schaltkreisen herum. Dann setzte sie die Abdeckung wieder auf und gab Nikitas Code ein. Ihre Mutter wohnte einige Stockwerke höher im Penthouse.
Die Antwort kam nur Sekunden später: „Dein Bildschirm ist abgeschaltet, Sascha.“
„Hab ich gar nicht mitbekommen“, log Sascha. „Warte mal!“ Sie machte eine Kunstpause und holte tief Luft. „Ich glaube, es ist eine Störung. Ich werde einen Techniker kommen lassen.“
„Warum rufst du an?“
„Ich muss leider unsere Verabredung zum Abendessen absagen. Gerade habe ich noch ein paar Dokumente von Lucas Hunter bekommen, die ich gerne durchgehen würde, bevor ich mich morgen mit ihm treffe.“
„Ziemlich fix für einen Gestaltwandler. Wir sehen uns dann morgen Nachmittag zur Lagebesprechung. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Mutter.“ Die Leitung war schon tot. Das tat weh, auch wenn Nikita sich nie mütterlicher verhalten hatte als der Hauscomputer. Aber heute Abend wurde der Schmerz darüber von viel gefährlicheren Gefühlen verdrängt.
Sie hatte kaum angefangen, sich zu entspannen, als die Konsole einen Anruf anzeigte. Da die Identifikationsanzeige mit dem Bildschirm ausgeschaltet worden war, wusste sie nicht, wer der Anrufer war. „Sascha Duncan“, sagte sie und versuchte, nicht in Panik zu geraten, weil Nikita es sich vielleicht doch anders überlegt hatte.
„Hallo, Sascha!“
Beim Klang der honigsüßen Stimme, die sich jetzt mehr wie ein Schnurren anhörte, bekam sie weiche Knie. „Mister Hunter.“
„Lucas, bitte. Wir sind doch jetzt Kollegen.“
„Was wünschen Sie?“ Streng sachlich, das war die einzige Möglichkeit, mit ihren Achterbahn fahrenden Gefühlen umzugehen.
„Ich kann Sie nicht sehen, Sascha.“
„Bildschirmstörung.“
„Das ist ja nicht besonders effizient.“ Amüsierte er sich vielleicht darüber?
„Sie haben doch nicht angerufen, um mit mir zu plaudern.“
„Ich wollte Sie für morgen früh zur Teambesprechung einladen.“ Seine Stimme war geschmeidig wie Seide.
Sascha wusste nicht, ob Lucas immer wie eine Aufforderung zur Sünde klang oder ob er sich bemühte, sie durcheinanderzubringen. Dieser Gedanke brachte sie wirklich durcheinander. Wenn er auch nur vermutete, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, dann konnte sie auch gleich ihr eigenes Todesurteil unterzeichnen. Die im Zentrum Internierten waren ja nichts anderes als lebende Tote.
„Wann?“ Sie schlang die Arme fest um ihren Körper und zwang sich, ruhig zu sprechen. Die Medialen achteten sehr darauf, dass niemand ihre Defekte bemerkte. Niemand hatte sich je erfolgreich im Rat gegen den Vorschlag einer Rehabilitationsmaßnahme wehren können.
„Halb acht. Passt Ihnen das?“
Wie schaffte er es bloß, eine einfache Geschäftseinladung wie die reine Versuchung klingen zu lassen? Vielleicht fand das alles nur in ihrem Kopf statt – vielleicht verlor sie langsam den Verstand. „Wo?“
„In meinem Büro. Wissen Sie, wo das ist?“
„Selbstverständlich.“ Die DarkRiver-Leoparden hatten sich in einem Bürogebäude in unmittelbarer Nähe des chaotischen Treibens von Chinatown niedergelassen. „Ich werde da sein.“
„Ich warte auf Sie.“
Für ihr erhitztes Gemüt klang das nicht wie ein Versprechen, sondern wie eine Drohung.