Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

I. Kapitel

II. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

XXIV. Kapitel

XXV. Kapitel

XXVI. Kapitel

XXVII. Kapitel

XXVIII. Kapitel

XXIX. Kapitel

XXX. Kapitel

XXXI. Kapitel

XXXII. Kapitel

XXXIII. Kapitel

XXXIV. Kapitel

XXXV. Kapitel

XXXVI. Kapitel

XXXVII. Kapitel

XXXVIII. Kapitel

XXXIX. Kapitel

Nachwort des Autors:

Literaturverzeichnis:

 

 

 

 

 

Markus Herrmann

 

 

 

 

 

Meine Sommer mit Nietzsche

Die Erinnerungen der Sibylle von Rathingen an ihre Begegnungen mit dem Philosophen

Historischer Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


DeBehr

 

Copyright by: Markus Herrmann

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2019

ISBN: 9783957537447

Grafiken Copyright by AdobeStock © bill_17, © Erica Guilane-Nachez, © nickolae

 

 

Die reine Grenzlinie der hohen Alpen, ihre ruhig sichere Umschlossenheit und die blaue Kühle und abgedämpfte Farbenpracht der mittelländischen See, das ging ihm in Nerven und Worte über und gab der Sprache Schmelz und Glanz, wie noch kein philosophisches Schrifttum sie besessen hat.

Theodor Lessing über Friedrich Nietzsche

 

 

 

 

 

Über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien leuchtet und schimmert, kann der menschliche Geist nicht hinausgelangen.

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

 

 

 

 

 

Nietzsche ist an seiner Philosophie zugrunde gegangen, aber das ist kein Einwand gegen sie, sondern im Gegenteil ihr höchster Beweis.

 

Egon Friedell

 

 

 

 

 

Selbst wenn wir so toll wären, alle unsere Meinungen für wahr zu halten, so würden wir doch nicht wollen, dass sie allein existierten: ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre; mir genügte schon, dass sie eine große Macht habe. Aber sie muss kämpfen können und eine Gegnerschaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu erholen können – sonst wird sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns dazu auch machen.

 

Friedrich Nietzsche

 

I. Kapitel

 

Schon manche haben es unternommen, zu berichten von den Ereignissen, die sich unter uns zugetragen haben und das Leben und die Werke Friedrich Nietzsches betreffen. Seine Bücher, die er in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschaffen hat, gehen ihren Weg durch die Hände der Gebildeten, in die Stuben der Gelehrten, die Köpfe der Künstler und auch in die Regale der einfachen Leute, die sich mit geistigen Dingen abgeben. Und sein Leben erforschen schon manche und suchen die Spuren des Kometenphilosophen, wie sie ihn nennen, denn er erschien als ein Himmelszeichen, das eine neue Zeit ankündigt. Und so verstehen es auch seine Leser, die in diesem Jahr 1910, in dem ich diese Zeilen schreibe, eine Dekade nach seinem Ableben, längst an die Tausende zählen und immer mehr werden.

Doch er war auch der Einsiedler von Sils-Maria, wie er sich selbst nannte, siebenmal kam er im Sommer in die Hochalpen ins Engadin, um dort einsame Wanderungen zu unternehmen, sich dabei Notizen zu machen und in seiner Schreibstube an seinen Werken zu arbeiten. Nur manchmal fuhren Besucher zu ihm herauf, die den kauzigen Philosophen sprechen wollten und sich um ihn bemühten. Er selbst hatte noch Fäden in die alte Heimat nach Naumburg in Sachsen, wo seine Familie lebte, seine Mutter und seine Schwester, die ihm manchmal Essenspakete schickten, mit Würsten, Speck und anderen Köstlichkeiten und Briefe beilegten voller Sorgen um den Sohn und Bruder. Sein Vater war schon mit 36 Jahren gestorben an einer Hirnerkrankung und auch er steckte sich, wie wir inzwischen wissen, bei seinen wenigen Sexualkontakten mit Prostituierten während eines Italienaufenthaltes 1876/77 mit der Syphilis an, die schließlich seine geistige Umnachtung verursachte, an der er noch elf Jahre litt, bevor zu seinem Gott und Vater heimging. Ihm hatte er abgeschworen in seinem Leben und in seinen Werken.

Aber ich bin mir sicher, wer so mit seinem Gott ringt, dann wird ihm am Ende die ewige Freude zuteil, mögen die Leute reden, was sie wollen über den Gottesleugner und Propheten des Atheismus und was dergleichen Etiketten mehr sind.

Nun wird der geneigte Leser wissen wollen, wer es ist, der diese Aufzeichnungen verfasst hat. Mein Name ist Sibylle von Rathingen, ich stamme aus Frankfurt am Main, habe in Zürich promoviert im Fach Philosophie als eine der ersten Frauen in Europa, wie es dort noch manch andere meiner Geschlechtsgenossinnen getan haben. Und ich lernte damals in den 80er Jahren auch Lou Salomé kennen, die zeitweilige Freundin des Philosophen, die 17 Jahre jünger war als er und aus Russland kam und schon von sich reden gemacht hat als Schriftstellerin. In „Im Kampf um Gott“ gestaltete sie die Hauptfigur Kuno nach Friedrich Nietzsche. Dieser Mann im Roman findet die einzig würdige Haltung in der trotzigen Hinnahme des Schicksals – amor fati, wie der Lateiner sagt. In dieser Geisteshaltung findet er Erfüllung und Freude. Dieser Roman, noch zu Lebzeiten des Philosophen erschienen, fand Gefallen bei der Literaturkritik und auch ihre spätere Liaison mit dem Dichter Rainer Maria Rilke sorgte in Kunstkreisen für Aufsehen.

Sie begegnete Nietzsche zum ersten Mal ausgerechnet im Petersdom zu Rom, wo der Philosoph sie mit den berühmten Worten begrüßte: “Von welchen Sternen sind wir einander zugefallen?“ Das ist mal ein Wort, reif für die Philosophiegeschichtsbücher und Lou hat es mir selbst erzählt. Ich war ihre Freundin an der Universität, wo sie vor allem religionswissenschaftliche Veranstaltungen besuchte, aber auch Philosophie, Philologie und Kunstgeschichte hörte. Daneben entstanden weltanschaulich-inspirierte Gedichte, die auch ein Professor mit literarischer Vergangenheit „stark und schön“ fand. Doch musste sie die Stadt schon bald wegen des Ausbruchs einer Lungenkrankheit verlassen, um eben im Süden Heilung zu finden, aber sie kehrte noch manchmal nach Zürich zurück und dann trafen wir uns. Aber sie hat auch ein Sachbuch über Nietzsche geschrieben, in dem sie kenntnisreich und einfühlsam ihm und seinem Werk gerecht zu werden versucht. Außerdem verfasste sie als unbekannte Schriftstellerin auch Artikel in Zeitschriften und Zeitungen, so in der Sonntagsnummer der „Vossischen Zeitung“ und in der „Freien Bühne“, die sie ebenso bekannt machten. Nietzsches Verwandte und Freunde waren von diesen Veröffentlichungen peinlich berührt und warfen ihr „journalistische Ausbeutung“ ihrer Bekanntschaft mit dem Philosophen vor. Ich betone, dass mir, die ich Ähnliches unternehme, dies fernliegt, vielmehr will ich die unbekannten Seiten Nietzsches hervorheben.

Möglicherweise erscheint dem Leser die Einleitungsformel zu diesen Aufzeichnungen etwas überhöht, lehnt sie sich doch an die Anfangsworte des Lukasevangeliums an, denn dort heißt es auch: „Schon viele haben es unternommen...“ Aber ich habe diesen Satz absichtlich gewählt, denn Nietzsche tat ja das Ungeheure, dass er gleichsam ein neues Evangelium schreiben wollte, das die anderen vier ersetzen sollte, auch sein Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ war in vier Büchern abgefasst und sollte eine neue Bibel werden und deren Verbreitung übertreffen. Es sei das bei weitem wichtigste Buch, das der Menschheit bislang gegeben wurde, behauptete er. Was Lou mir verschwieg und ich erst später erfuhr, war, dass Nietzsche mit dem „Zarathustra“ eine Art Selbstheilung vornahm, die ihn über die Enttäuschung mit der Freundin hinweghalf und mit einem schöpferischen Akt dieses Kapitel in seinem Leben abschloss. Einer ihrer Bewunderer sagte über Lou, sie knüpfe eine leidenschaftliche Beziehung zu einem Mann an, und neun Monate später bringe dieser ein Buch zur Welt. Neben Nietzsche gab es auch noch andere ehemalige Liebhaber, auf die dies zutraf.

Ich war erstaunt und bestürzt zugleich über Lous Aussage, dass er die Bibel ersetzen wolle, erschrocken, denn ein Mensch, der solches unternimmt, der lädt sich gleichsam Berge auf den Rücken, wie sie in Sils-Maria emporragen, die ihn erdrücken können und so ist es auch mit Friedrich Nietzsche geschehen. Aber dies will ich sogleich vorweg sagen: Es sei mir ferne, dass ich die Geisteskrankheit des Philosophen als eine Strafe Gottes ansehe, wie es heute schon manche christlichen Ausleger tun, doch ich halte dies für zutiefst unmenschlich und als einen Frevel, so mit dem Philosophen umzugehen. Diese verwechseln ihren Zeigefinger mit dem Finger Gottes. Ich wiederhole, dass er mit dem Allerhöchsten gerungen hat wie wenige vor ihm und jemand nannte ihn schon den „Frömmsten unter den Gottlosen“, wie sich auch der Zarathustra selbst bezeichnet. Lou Salomé hielt ihn sogar für ein „religiöses Genie“, in welchen Lobruf ich durchaus einstimme, auch wenn meine weltanschaulichen Grundlagen im Christentum liegen. Ich habe also in Zürich studiert und sogar promoviert über die philosophischen Aspekte im Werk des heiligen Augustinus, des Bischofs von Hippo in Nordafrika, ich stelle hier aber klar, dass ich die Theologie nur als Nebenfach betreibe.

Ich habe mich also durchgerungen, einen Beitrag über den Philosophen Nietzsche zu verfassen, um ein ganzheitliches Bild über ihn zu ermöglichen. Dieses Werk soll wie ein Mosaikstein dazu sein. Ich habe ihm nämlich nach den Erzählungen Lou Salomés einen Brief geschrieben und ihn gefragt, ob ich ihn besuchen könne und er hat mich erhört und mir die Erlaubnis gegeben, zu ihm zu fahren. Das habe ich mehrmals getan und die Gespräche mit ihm sind mir unvergesslich und so gebe ich auch mir selbst Rechenschaft über meine Begegnung mit einem Geistesriesen, denn als einen solchen bezeichne ich ihn und die sich lawinenartig ausbreitenden Werke über ihn in unseren Tagen sprechen Bände. Viele Künstler lesen ihn, um seine Diagnose der Zeit, in der wir leben, zu verstehen und die Zeichen zu deuten, die da geschrieben sind.

Es kommt hinzu, dass seine Werke alles Andere als sperrig sind. Nietzsche gilt schon heute als großer Stilist, der seine Sprache an den Klassikern, vor allem Goethe, geschult hat, und durch beständige Lektüre auch verbessert und geschliffen hat, auch viele Werke über biologische und naturwissenschaftliche Themen gewälzt hat. Vor allem war er ja auch Professor für klassische Philologie in Basel und hat dort Vorlesungen an der Universität gehalten, und auch am Pädagogium, einem Gymnasium, unterrichtet. Zeitweise verloren sich bei seinen Vorlesungen nur wenige Zuhörer im Saal, wie ich gehört habe, bei seiner „Rhetorik des Aristoteles“ saßen zwei Studenten im Auditorium, bei seiner Vorlesung über griechische Literatur waren es immerhin elf. Er hatte auch einige Schüler, auf die er stolz sein konnte und mit Namen kannte. Auch erzählte er mir von einem jungen Mann, der nach Australien ging und sich vorher mit seinen Schriften versah. Aus Annaberg in Sachsen kamen zwei junge Musiker eigens, um ihn zu hören, darunter Heinrich Köselitz, der unter dem Namen Peter Gast einer seiner treuesten Freunde wurde. Auch wenn er gerne unterrichtet hat, wurde ihm dieses Leben aber mehr zur Last denn zur Lust. Und so hat er aber vor allem aus Krankheitsgründen nach zehn Jahren die Lehre aufgegeben und erhielt eine Pension, die ihn unabhängig machte. Aber gleichzeitig hatte er immer wieder um Verlängerung der Zahlungen zu ersuchen und auch dies hing wie ein Damoklesschwert über ihm.

So bin ich also mehrmals nach Sils-Maria gefahren, wo er sich immer im Sommer während seiner letzten Jahre vor der geistigen Umnachtung aufhielt, während er die Winter in Italien oder Südfrankreich verbrachte, in Nizza, Genua, Sorrent und anderswo. Die Franzosen mochte er nur wenig. Aber Nizza hat die meisten Sonnentage im Jahr. Er brauchte den blauen Himmel, die Lichtfülle, die trockene Luft, um arbeiten zu können. Immer war er ein Einsiedler, aber auch ein Ruheloser, der von Ort zu Ort pilgerte, der sich immer wieder neue Zimmer anschaute, bevor er sich entschied, zu bleiben. In Turin nannte ihn der Hauswirt „il professore“, und dort fand er ein wenig Kontakt zu den Einheimischen, bevor es zu einem Zusammenbruch kam, nachdem er ein Droschkenpferd umarmt hatte, das ein Kutscher mit einer Peitsche misshandelte. Nietzsche brach in Schluchzen aus und war fortan ein kranker Mann, der Pflege bedürftig. Ich bin unterrichtet über sein Schicksal, weil ich auch immer in Kontakt mit Lou Salomé blieb, die wiederum die Freunde Nietzsches kennt und so hielt ich mich auf dem Laufenden.

Was aber die Welt wissen sollte, habe ich in diesen Zeilen aufgeschrieben, und es liegt mir fern, gleichsam als Trittbrettfahrerin vom Ruhm dieses Kometenphilosophen etwas auf mich zu lenken, es geht mir darum, eine weitere Facette des Bildes von Nietzsche hinzuzufügen und meine Sicht des Mannes beizusteuern. Der geneigte Leser möge auch mehr von ihm erfahren, wenn er noch wenig über ihn weiß, und wer ihn schon kennt, wird möglicherweise neue Seiten an ihm kennenlernen. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, so trieben mich doch andere Gedanken dazu, mit Nietzsche Kontakt aufzunehmen.

Vor allem war es seine Absicht, ein neues Zeitalter anstelle des christlichen heraufzuführen. Er hatte ja auch die Vision, dass mit dem Erscheinen des „Zarathustra“ eine neue Zeitrechnung beginne, das Jahr 1881 sozusagen eine neue Stunde null bedeuten könne. Dieses Vorhaben beeindruckte mich zutiefst, erschien mir aber auch vermessen, ja verstiegen, aber ich bewunderte seinen Mut, das Unmögliche zu versuchen, dies wollte er aus seinem Leben machen. Er dachte in großen Dimensionen, war überzeugt, dass er berühmt werden würde, doch ging es ihm weniger um seine Person als vielmehr um sein Werk, seine Lehre, seine Bücher, die sich zur Zeit seiner bewussten Lebensjahre sehr schleppend verkauften. Die Zahlen der Verlage waren für ihn immer bedrückend und niederschmetternd. Nach 15 Jahren schriftstellerischer Tätigkeit hatten sich zusammengerechnet 500 Exemplare von seinen Büchern verkauft, wie er mir einmal erzählte.

Kurzum, er war also überzeugt, eine neue Epoche einzuläuten und mit dem „Zarathustra“ hatte er die Grundlagen dafür gelegt, mit seinem Gedanken von der „Ewigen Wiederkehr“, dem wiederholten Kreislauf aller Dinge, den zuletzt auch schon Heraklit gelehrt haben könnte. Diese Lehre bildet nach Auffassung von Lou Salomé sowohl das Fundament wie die auch die Krönung seines Gedankengebäudes. Hinzu kommt die Lehre vom Übermenschen, den er für den „römischen Caesar mit der Seele Christi“ hielt. Die Zukunft gehöre den Starken, den Rücksichtslosen, den Mächtigen an Geist und Körper, den Schöpfern neuer Werte. Sie streben nach Größe, nicht nach Glück. Das christliche Zeitalter neigte sich seiner Ansicht nach dem Ende entgegen, doch er eilte den Dingen voraus, in der „Fröhlichen Wissenschaft“ kommt ja der tolle Mensch und behauptet, wir hätten Gott getötet, der Höchste hat also gelebt, und dies haben die Wohlstandsbürger der liberalen Gesellschaft getan, durch ihre Gleichgültigkeit gegenüber allem, was historische Größe hat und sie herausfordert. Wie Nietzsche anderswo sagt, ist Gott an Mitleid mit den Menschen gestorben.

Deshalb also habe ich Nietzsche aufgesucht, ich wollte ihn von seinem Weg abbringen, und er war durchaus aufgeschlossen meinem Anliegen gegenüber, denn er lehnte es ab, Schüler, Bewunderer, Jünger um sich zu sammeln, wie er betonte. Wir sollten selbständig denkende Menschen sein. Doch er hatte auch einige gute Freunde, die ihn als edlen Menschen feierten, wie es Peter Gast tat, der ihn als „einen der erhabensten Geister der Menschheit“ bezeichnete, doch die Anerkennung für sein Werk blieb ihm lange versagt.

Nur einmal, ich erinnere mich, leuchteten seine Augen, dies war schon kurz vor seiner Umnachtung, als er die Nachricht erhielt, dass der bekannte Literaturkritiker Georg Brandes in Kopenhagen Vorlesungen zu Nietzsche anbot und es kamen beim zweiten mal 300 Zuhörer. Lou Salomé war es gewesen, die in Berlin den Kritiker auf den noch unbekannten Philosophen aufmerksam gemacht hatte, und ihr war also der beginnende europäische Ruhm Nietzsches zu verdanken. Da kündigte sich schon die künftige Wirkung an, und Nietzsche fand es bezeichnend, dass dies im Ausland geschah. Deutschland verweigerte ihm lange die Anerkennung, möglicherweise hatte er dessen Bewohner zu stark kritisiert, vor allem in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ und in der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, die noch altphilologisch ausgerichtet war, die aber den Beginn seiner Karriere als schriftstellernder Philosoph bezeichnete. Zu diesem Werk hatte ihn der Komponist Wagner ermuntert, der meinte, er solle etwas Kühnes in der Altphilologie wagen.

Ich betonte ihm gegenüber, dass ich Philosophin sei, meinen christlichen Hintergrund verschwieg ich zunächst. Sonst hätte er mir den Stuhl vor die Tür gesetzt, dessen bin ich sicher, und so trieb ich ein Versteckspiel und dies war mein Bestreben, eine Katastrophe aufzuhalten. Ich wollte, dass er das Christentum erneuerte anstatt es abzuschaffen, welch Letzteres wohl sein Motiv war und außerdem wollte er an seine Stelle eine neue Religion setzen. Er ahnte wohl meine tiefsten Absichten, doch fand er schon bei der ersten Begegnung Gefallen an mir, wie ich glaubte zu erkennen. Wir machten einen Spaziergang am See entlang und unterhielten uns über philosophische Fragen, wobei ich meine Unabhängigkeit vom Christentum herauskehrte.

Ich wollte von ihm wissen, warum er es abschaffen wollte, er sei doch Sohn eines Pastors und zwei Großväter und ein Urgroßvater hatten diesen Beruf, die Mutter war eine Pfarrerstochter, von ihren vielen Geschwistern ergriffen die meisten Brüder wieder diesen Beruf, wie mir Lou Salomé erzählt hatte. Sei seine Haltung eine Abwehr, ein Reflex, ein Sich-Absetzen, um einen selbständigen Standort zu gewinnen? Nietzsche lachte dabei, sein mächtiger Schnurrbart bewegte sich beim Sprechen auf und ab, hinter der Denkerstirn arbeitete es unablässig.

„Es stimmt, dass ich den Geruch eines evangelischen Pfarrhauses eingeatmet habe, die Bibel war unser Begleiter und es mag sein, dass ich hier schon meine Berufung erkannte, es ihr gleichzutun und sie sogar zu übertreffen. Lou Salomé hält mich für einen religiösen Denker, aber meine Distanz zur verfassten Kultur des Christentums ist eine denkbar große. Sicher, jeder Bär brummt nach der Höhle, aus der er stammt, sagte Goethe einmal. Ich habe mich zunächst dem Wunsch der Mutter gebeugt, die mich zum Pfarrer machen wollte. Ich sollte dem verstorbenen Vater nacheifern, aber nach einem Semester Theologie widmete ich mich ausschließlich der Altphilologie. Da habe ich mich geweigert, in den Semesterferien zum Abendmahl zu gehen. Meine Mutter ist in Tränen ausgebrochen, während meine Tante sie tröstete und meinte, alle großen Gottesmänner hätten Zweifel und Anfechtungen erlebt. Ja, da habe ich so Manches in meiner Erinnerung. Frauen haben mich erzogen und das Übermaß an Fürsorge hat dazu geführt, dass ich Schranken durchbrechen musste, um zur Selbständigkeit zu gelangen. Möglicherweise habe ich noch immer den Habitus, die Haltung eines Predigers, manch einer hält mich für einen Propheten, aber denen ist es oft übel ergangen im alten Israel. Die Tatsache, dass ich Deutschland verlassen habe, spricht Bände. Im eigenen Land gelte ich wenig, ich halte mich lieber in Italien auf oder hier in den Schweizer Bergen, wo wir auf den Süden hinuntersehen, und arbeite vor mich hin.“

Er erklärte mir weiter, dass es ihm derzeit gut gehe, er habe eine produktive Phase. Er sei ja Pensionist, wegen seiner Kopfschmerzen, eines Augenleidens und des zeitweiligen Erbrechens habe er den Beruf des Universitätsprofessors in Basel aufgeben müssen, aber so könne er sich nun der Philosophie widmen, die er als seine Berufung versteht. Er arbeite an der Fortentwicklung des „Zarathustra“, seinem Hauptwerk, mit dem er der Menschheit etwas Einmaliges zu geben hoffe. Er habe diese Figur gewählt, weil er ein Religionsstifter vor Christus gewesen sei und er habe sich in den Kopf gesetzt, etwas Besseres als das Christentum zu schaffen. Buddha hatte schon Schopenhauer in Anspruch genommen, er zeugte für die Göttlichkeit des Mitleids. Zarathustra war der Gegenprophet, der den ewigen Kampf ausgerufen hatte. Das Christentum sei eine Religion für die Schwachen, die Armen, die Kranken, die Mühseligen und Beladenen, wie es im Neuen Testament heiße, und an seine Stelle wolle er den starken, selbstbewussten Menschen setzen. „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss“ - das sei eine seiner Hauptideen im „Zarathustra“.

Wir gingen dann eine Weile schweigend entlang des Sees dahin, es war Juli, auch einige Kähne und Segelboote auf dem Wasser waren zu erkennen, das Taggestirn strahlte, Frauen liefen mit Sonnenschirmen umher, und die Bergriesen mit ihrem ewigen Schnee blickten auf uns herab. Nietzsche war unter ihnen tatsächlich ein Einzelgänger, doch die Tatsache, dass er meinen Brief beantwortete und mir sogar erlaubte, ihn zu besuchen, zeigte, dass er durchaus Gesellschaft suchte, Austausch mit Gleichgesinnten oder auch Andersdenkenden.

Doch es gab noch einen zweiten Beweggrund, der mich die Gesellschaft Nietzsches suchen hatte lassen, und dies war sein Verhältnis zu den Frauen. Er war in Lou Salomé verliebt gewesen, dies hatte sie mir gestanden und er hatte ihr über ihren gemeinsamen Freund Paul Rée damals einen Heiratsantrag gemacht, ohne zu wissen, dass dieser ähnliche Absichten hegte. Lou fand beide Männer anregend, ohne in sie verliebt zu sein. Rée war ruhiger und zuverlässiger, also für einen Dauerumgang geeignet. Nietzsche hingegen konnte im Gespräch mitreißen, berauschen, aber er war nur für ein kürzeres intensives Zusammensein ertragbar. Nietzsche hatte mit Lou einen ausgedehnten Spaziergang auf den Monte Sacro unternommen und sie dabei sogar geküsst. Dies Letztere war aber nur ein Gerücht und die Beteiligten schwiegen sich darüber aus. Doch Lou Salomé hatte ihm einen Korb gegeben. Sein Leben wäre von Grund auf anders verlaufen, wenn sie ihn erhört hätte, der Einsiedler hätte endlich die lang ersehnte menschliche Gesellschaft gefunden, hätte im Glücksgefühl eines liebenden Herzens Ruhe gefunden. Aber sie achtete schon damals sehr auf ihre Unabhängigkeit, wie sie es auch jetzt als Lou-Andreas Salomé tut, als verheiratete Frau. Aber es ist Tatsache, dass im Gefolge dieser Enttäuschung Nietzsche ein wenig zu einem Frauenverächter wurde. Jedenfalls haftet ihm dieser Ruf an und in seinen Schriften finden sich manche Belege für diese These.

Damals hatte sich dies schon angedeutet und auch dies wollte ich auf die Probe stellen, ob er tatsächlich ein solcher Mann war, der dem weiblichen Geschlecht eine mindere Rolle zugestand. Ich war natürlich anderer Meinung und wollte testen, ob er fähig wäre, eine normale Beziehung zu einer Frau einzunehmen. Von sexuellen Abenteuern hatte er genug, das machte er von Anfang an klar. Aber an Austausch mit dem anderen Geschlecht war ihm schon gelegen, das zeigten auch die Besuche von Resa von Schirnhofer, die wie ich in Philosophie in Zürich promoviert hatte über einen „Vergleich zwischen den Lehren Schellings und Spinozas“ und die mir ebenso wie Lou bekannt war. Ich erzählte bei der ersten Begegnung mit Nietzsche auch von ihr, die mir auch einige warme Worte mitgegeben hatte, als sie erfuhr, dass ich zu ihm fuhr.

„Versuche, auf ihn einzugehen, lies vorher einige seiner Schriften, damit du vorbereitet bist, denn er hängt sehr an seinem Werk, das ist ihm sein ein und alles. Sei vorsichtig mit Kritik daran, aber bilde Dir eine Meinung, davon hält er viel, wenn jemand selbständig denken kann. Möglicherweise erwischst Du eine gute Phase und er ist gesprächsbereit, er ist ein Einsiedler und doch auch wie fast jeder Mensch begierig nach Unterhaltung.“ Resa von Schirnhofer wusste, wovon sie redete, sie hatte schon zwei Besuche hinter sich, die jeweils kurz ausgefallen waren, weil Nietzsche wieder gesundheitliche Probleme hatte.

Ich erzählte ihm dann von meinen Studien, meiner Promotion, die ich mit einem „cum laude“ abgeschlossen hatte, also mit der Note zwei, was ihn erfreute. Er berichtete von seinen eigenen Studien:

„Ich habe selbst mehrere Arbeiten verfasst, die wir dann zu einer Dissertation zusammengefasst haben, verstreute Artikel nur, ich bin Professor geworden ohne eigentliche Promotion. Mein Lehrer Ritschl, dem ich von Bonn nach Leipzig gefolgt bin, hat mich für den Lehrstuhl in Basel vorgeschlagen, weil er mich für begabt hielt. Ich war 24 Jahre alt, als ich die Stelle antrat, zehn Jahre habe ich auf dem Katheder ausgeharrt, wenn ich so sagen darf. Ich habe damals schon Schriften veröffentlicht, die aber auf wenig Resonanz stießen. Einmal hat mich ein Altphilologe, Ulrich von Milamowitz-Moellendorff, in einer Zeitschrift scharf angegriffen, das hat mir viel Kopfzerbrechen bereitet. Aber ich bin meinen Weg weitergegangen.“

Nietzsche sprach sehr sachlich von seinen Erfahrungen, es war zu spüren, dass ihm sein Werk alles bedeutete, wie mir schon Resa gesagt hatte, und er war sehr enttäuscht, dass er bisher kaum Beachtung gefunden hatte, aber überzeugt, dass seine Zeit noch kommen werde.

 

II. Kapitel

 

Im Dorf Sils-Maria hatte sich herumgesprochen, dass ein pensionierter Professor sich dort aufhielt, doch er war mehr ein Außenseiter und hatte wenig Kontakt zu Einheimischen. Trotzdem fanden wir schon am ersten Tag einen Draht zueinander, die Tatsache, dass ich einen Doktorhut in Philosophie hatte, machte Eindruck auf ihn, der ja gelernter Altphilologe war, die Philosophie als Steckenpferd betrieb, auch wenn er diesen Ausdruck weit von sich gewiesen hätte. Er fragte mich auch bald, welche Werke ich von ihm gelesen hatte und ich nannte ihm „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“, „Die unzeitgemäßen Betrachtungen“, „Menschliches Allzumenschliches“ und den ersten Teil von „Also sprach Zarathustra“.

„Dann haben Sie ja den Vertrieb meiner Bücher mächtig angekurbelt“, lobte er mich lachend und ich freute mich darüber.

„Und welches Buch hat Ihnen am besten gefallen?“, wollte er wissen und ich war unentschieden in dieser Frage, ich hatte sie alle mit Gewinn gelesen und sagte ihm dies.

„Und was hat Ihnen daran behagt?“ bohrte er weiter, begierig, jedes Wort von mir aufzusaugen.

„Es steckt ein kluger Kopf dahinter, dachte ich mir“, sagte ich und blieb eher im Allgemeinen, fügte dann hinzu:

„Sie haben hohe Begriffe vom Menschsein, verlangen Einiges von Ihren Zeitgenossen, die Kulturkritik ist deutlich zu spüren und hebt sich deutlich ab von den allgemeinen Lobgesängen auf Deutschland und Europa, die einem oft auf die Nerven gehen“. Nietzsche schritt kräftig aus bei diesem Spaziergang, ich darf sagen, meine Anwesenheit schien ihn zu beflügeln. Aber er warnte mich immer wieder davor, seine Jüngerin oder Schülerin sein zu wollen, denn er wolle selbständig denkende Wesen um sich haben.

„Mit der Kulturkritik haben Sie recht“, stimmte er mir zu. „Ich halte dieses Gesäusel von der Überlegenheit Europas und Deutschlands für törichtes Geschwätz. Auch ein Richard Wagner hilft da wenig, zu dem ich einmal eine gute Beziehung hatte, als ich ihn und Cosima in Tribschen am Vierwaldstätter See von Basel aus besucht habe, aber er näherte sich in seiner Musik immer mehr einer christlichen Mystik an, was mir sehr widerstrebte. Ich habe mich vom Christentum gründlich gelöst, und mir erschien seine Ideenwelt, vor allem der Erlösungsgedanke in seinen Opern, als zutiefst lebensverneinend. So haben sich unsere Wege getrennt und ich habe dem auch in meinen Schriften Ausdruck gegeben.“ Wir sprachen dann weiter über seine Werke, die ich gelesen hatte, und ich betonte seinen für einen philosophischen Autor vorzüglichen Stil, der sich unterschied von Büchern von Geistesgrößen wie Immanuel Kant oder Georg Friedrich Hegel, deren Lektüre mir schwer fiel.

„Und was halten Sie von `Schopenhauer als Erzieher`, wie der Titel einer ´Unzeitgemäßen Betrachtung´ lautet?“ Damit begaben wir uns auf heikles Feld, aber ich wagte es, Schopenhauers Ethik mit seiner Betonung des Mitleids zu erwähnen, auch seine Vorliebe für den Buddhismus. Nietzsche blieb bei diesen Worten stehen und sah mir ins Gesicht:

„Verehrte Frau von Rathingen, Schopenhauer hat in mir den Philosophen erweckt, es war wie bei Augustinus im Garten, der die Stimme vernahm: `Nimm` und lies`. Die Lektüre in der Sofaecke war wie ein Umsturz, ein Durchgeschütteltwerden der ganzen Existenz. Aber ich habe mich von ihm wieder gelöst. Seine Hochschätzung der Upanischaden und des Buddhismus ist einleuchtend, aber seine Ethik halte ich für eine Abart des Christentums und missfällt mir.“ Dann setzte er mir auseinander, dass das Mitleid als Grundlage der Ethik, wie sie Schopenhauer sah, nur sehr wenig wert sei, und er meinte, manche machten aus ihm einen Beruf und eine Vollzeitbeschäftigung, anderer Leute Leben zu ordnen. Freilich halte er auch eine einzelne gute Tat für verdienstvoll, aber im Ganzen halte er das Mitleid als Ausdruck der Duckmäusermentalität des Christentums für verwerflich. Seine Aversion gegen das Mitleid sei weit entfernt von Herzlosigkeit, Rücksichtslosigkeit oder Gefühllosigkeit. Dem Mitleidigen komme die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden, es rieche nach Pöbel und sehe schlechten Manieren zum Verwechseln ähnlich. Hier machte ich manche Einwände, gab zu bedenken, dass Mitleid im Sinne Schopenhauers die Grenzen zwischen den Menschen auflöse, der Eine versetze sich in die Situation des Anderen und diese Empathie mache die Größe des Menschen aus. Nietzsche blieb bei diesen Worten wieder stehen, stampfte sogar mit dem rechten Fuß auf den Boden auf und schüttelte den Kopf.

Hier wurden nun zwischen uns erste Meinungsverschiedenheiten sichtbar, aber wir gingen am ersten Tag darüber hinweg. Ich darf sagen, Nietzsche fand auch an meiner äußeren Erscheinung Gefallen, wie ich bemerkte, ich hatte damals kastanienbraunes Haar und Korkenzieherlocken an den Schläfen, war durchaus noch schlank, trug auch elegante Kleider und eine Perlenkette um den Hals und Armringe. Doch meist waren es meine intellektuellen Vorzüge, denen die Männer huldigten, und so war es auch bei Nietzsche.

Wir setzten uns in das Touristenlokal des Ortes, und wir sprachen weiter. Es war für mich wie die Prüfung eines Studienstoffes, er wollte sich versichern, ob ich genug Interesse für sein Werk aufbrachte, aber ich zeigte mich sattelfest, da ich geistige Arbeit gewohnt war und mir Einiges aus seinen Büchern eingeprägt hatte, was mir nun weiter half. Ich wurde nun doch so etwas wie seine Jüngerin, auch wenn er diesen Begriff ablehnte und immer die Unabhängigkeit des Denkens betonte. Doch er sagte gleichzeitig, was er einmal geschrieben hatte: „Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen.“ Dieser Ausspruch verriet seine grundsätzliche Skepsis auch seiner eigenen Person gegenüber, wenn er auch vom Bewusstsein seiner Mission durchdrungen war.

Ich hatte schon fast mein Anliegen vergessen, weswegen ich ihn aufgesucht hatte, ihn nämlich von der Wahrheit des christlichen Glaubens zu überzeugen, ihn dazu zu bringen, die Religion zu erneuern anstatt sie abzuschaffen oder zu ersetzen. Dies rief ich mir nun wieder in Erinnerung, aber ich war schon froh, fürs erste die Sympathie des Meisters gewonnen zu haben und einen Fuß in der Tür zu haben. Dies war das Ergebnis des ersten Tages, und ich vermerkte es positiv. Wir hatten uns gut verstanden und er sagte mir zu, dass wir uns am nächsten Nachmittag wieder für ein oder zwei Stunden treffen könnten, wenn er sein Schreibpensum erledigt habe.

Nietzsche hatte in diesen Tagen eine gute Phase, die Kopf- und Augenschmerzen waren verschwunden, die Magenkrämpfe hatten ausgesetzt und so konnte er am Morgen schreiben. Im Moment sollte das Buch wieder aphoristisch werden, Gedankensplitter waren seine Stärke, oft entstanden sie, wenn er um Sils-Maria unterwegs war auf seinen Wanderungen. Er hatte immer ein Notizbuch dabei und so hatte er viele Ideen beim Gehen. Nur die ergangenen Gedanken haben Wert, behauptete er. Wohl fühlte er, dass er ein systematisches Werk anstatt der Aphorismen schreiben musste, aber auch diese waren reizvoll, sie berührten viele verschiedene Themen. Aber sie verkauften sich schlecht, manche sagten, sie seien mehr etwas für Feuilletonisten, aber weniger für einen ernsthaften Denker. Aber auch der „Zarathustra“ war ein zusammenhängendes Werk, eine Mischung aus Bericht und Sprüchen wie die Evangelien. Er brauchte eine Fortsetzung und auf diesen hielt er große Stücke.

Als wir uns am Nachmittag in einem Lokal trafen, war er äußerst gut gelaunt, er war vormittags produktiv gewesen, was ihn sehr freute, auch mein Besuch regte ihn offenbar an. Diesmal wollte er wissen, was ich nun beruflich vorhabe, als Doktorin der Philosophie. Ich legte die Stirn in Falten, legte Messer und Gabel neben den Teller und wurde ernst:

„Ich gedenke schon, auf diesem Weg als Philosophin weiterzumachen, ich habe gute Kontakte zu Fachzeitschriften, die eine Redakteurin gebrauchen können. Wohl ist dabei das Gehalt kärglich, aber das Interesse an Philosophie steigt, auch das Lesebedürfnis unserer Zeit ist groß und so hoffe ich, eine Anstellung zu finden.“ Ich war mir bisher kaum bewusst gewesen, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, ich stammte von reichen Eltern ab, mein Vater war Textilfabrikant in Frankfurt am Main, es hatte mich einige Mühe und Überredung gekostet, mich in Zürich studieren zu lassen, nun legte er mir nahe, mir eine Anstellung zu suchen, ich lag ihm wohl schon zu lange auf der Tasche. Nietzsche fand es gut, dass ich weitermachen wollte, Frauen in der Philosophie seien selten, aber er fragte mich auch, ob ich eine Familie gründen wolle, die Ehe sei doch ein sicherer Hafen. „Alles am Weibe ist ein Rätsel, und alles am Weibe hat eine Lösung: sie heißt Schwangerschaft“, wie er auch einmal geschrieben habe.

Ich biss bei diesen Worten auf die Unterlippe, dies hatten mir schon Andere nahegelegt, doch gerade dies hielt ich im Moment zumindest für den falschen Weg.

„Ich erinnere Sie an Lou Salomé, der die Männer zu Füßen liegen, aber sie verschmäht sie alle und manch einer scheint sich ihretwegen umbringen zu wollen, wie mir schon jemand erzählt hat. Sie war überall, wo sie hinkam, der lebendige Mittelpunkt, sprühend von Ideen und kühn in ihren Gedanken und zudem frei von Vorurteilen. Sie war blendend begabt und gut aussehend und hat alle bezaubert, und so kam es, dass sich alle Männer in sie verliebten. Aber sie wollte unabhängig bleiben und die Mutterschaft widerstrebte ihr, sie hat wie ich geistige Interessen und will sie weiter pflegen, auch wenn die gesellschaftlichen Konventionen dagegen sprechen. Als Heimchen am Herd sind wir uns zu schade, wir haben nur dieses Leben und sollten möglichst viel daraus machen. Der Wunsch vieler Frauen nach einem Kind ist mir verständlich, aber für mich hat das Zeit. Vorerst ist die Wissenschaft meine Leidenschaft, aber womöglich ändert sich dies auch einmal.“ Nietzsche hatte mit wachsendem Staunen zugehört, dies alles passte wenig zu seinem Frauenbild, doch er sagte, er respektiere meine Einstellung. Nun wollte ich zwischen dem Hauptgericht und dem Dessert von ihm wissen, warum er als Frauenverächter gelte. Nietzsches Mundwinkel zuckten bei diesem harten Wort, doch er schloss die Augen, lehnte sich zurück und sagte:

„Es mag mit der Geschichte mit Lou Salomé zu tun haben, sie war sicher eine der größten Enttäuschungen meines Leben und gleichzeitig sehr bereichernd, und so ist Manches wenig Schmeichelhafte über die Frauen in meine Schriften eingeflossen. Aber ich stehe dazu, meine Kritiker mögen daran herummäkeln, aber ich bin auch nur ein Mensch mit Gefühlen, auf denen herumzutrampeln auch Folgen hat.“ Ich nickte und brachte die Sprache auf das Lokal, in dem wir speisten, und Nietzsche sprach auch von Herrn Durisch, seinem Hauswirt, der Verständnis für ihn habe, ihm einen billigen Preis mache und auf seinen Wunsch hin auch das Zimmer grün tapeziert habe und eine gleichgetönte Tischdecke aufgelegt habe, weil Nietzsche diese Farbe gut tue und die Augen schone. Nur die niedrige Decke drücke auf ihm. Sils-Maria war ein unverfängliches Thema, wir streiften im Gespräch auch die Berge und den wunderbaren See und der Philosoph zeigte sich froh, diese Wirkungsstätte gefunden zu haben, er gedenke, im nächsten Sommer wiederzukommen. Zwar gebe es keine Musik, keine Bibliothek und kein Café, er hatte schon andere Orte ausprobiert, aber er bleibe den Menschen hier treu, weil sie ihm entgegenkommen etwa durch das Anlegen schattiger Spazierwege. So plauderten wir eine Weile über weniger ernste Themen, bis es dann aus mir herausbrach.

„Und welche Erfahrung haben Sie mit den Christen gemacht, dass Sie ihre Religion so angreifen, behaupten, sie hätten Gott umgebracht?“ Nietzsche kaute an seinem Rehbraten, den wir uns heute gönnten, sein Blick verfinsterte sich und er setzte zu einer Rede an:

„Ich werde meine Angriffe in den kommenden Werken noch verstärken, ich plane sogar eine Schrift mit dem Titel `Der Antichrist´, in dem ich mich als solcher bekenne und das Christentum als den einen Schandfleck der Menschheit bezeichne, den einen großen Fluch, die innerlichste Verdorbenheit. Jesus bezeichne ich darin als `Idiot´, aber nicht mit dem Beiklang des Blöden, sondern nur, um seine Realitätsferne auszudrücken. Wir leben in einem Zeitalter des Untergangs. Die Welt liegt im Argen, es werden Kriege kommen, die Europa im tiefsten erschüttern werden. Ich bin nur der Seismograph, der diese Erdbeben aufzeichnet, die Philosophen sind das böse Gewissen ihrer Zeit. Der Freund der Wahrheit darf es nicht auf Ruhe, Frieden und Glück abgesehen haben, denn sie könnte auch abscheulich und hässlich sein. Propheten haben es schon immer schwer gehabt. Ich habe gute Freunde, die an mich glauben, sogar Jacob Burckhardt ist darunter, der bedeutende Historiker. Noch bin ich selbst ein Niemand, aber mein Name wird dereinst durch Europa und die ganze Welt hallen. Ruhm ist mir unwichtig, doch ich will, dass die Menschen mich hören und verstehen, denn ich läute ein neues Zeitalter ein.

Das Christentum hat abgewirtschaftet, 1900 Jahre sind genug. In 100 oder 150 Jahren werden sich die Menschen meiner erinnern, der Prozess der Entchristlichung hat soeben eingesetzt, er wird weitergehen und sich verstärken, ich beobachte dies und sage es zugleich vorher. Ich bin fern von allem Groll, wenn ich auch sage, dass die Kirchen nur noch die Grabmäler und Grüfte Gottes sind, die immer leerer werden und eines Tages Museen sein werden, in denen sich die Menschen fragen, was das wohl einmal gewesen ist, eine Kirche.“ Ich saß wie versteinert da, eine Weile herrschte Schweigen, wir hörten das Ticken der Wanduhr. Ich trug mich mit dem Gedanken, die weiße Stoffserviette auf den Tisch zu schleudern, aufzustehen und zu gehen, den Kontakt mit diesem Ungeheuer abzubrechen, als das er mir in diesem Moment erschien, aber ich bezwang mich, sagte mir, auch dieser Mensch hat seine Gründe, warum er so denkt. Napoleon sagte einmal, um einen Menschen zu verstehen, müsse man die Welt kennen, in der er mit 20 Jahren lebte. Dieser Satz fiel mir ein und ich sprach ihn aus und Nietzsche erklärte, dass er in Schulpforta zur Schule gegangen sei, es habe ein unglaublicher Drill geherrscht, sie seien um fünf Uhr aufgestanden und der ganze Tag sei durchgeplant gewesen, die dortigen humanistischen Studien hätten ihn geprägt. Dann habe er in Bonn zunächst ein Semester Theologie studiert, auch er sollte Geistlicher werden wie so viele in seiner Familie, schon in der Schule habe man ihn wegen seines ernsten Wesens „der kleine Pastor“ genannt, doch dann habe er zur klassischen Philologie gewechselt und sei mit 24 Jahren Professor in Basel geworden.

„Das Christentum ist mir also geläufig, aber es ist meine Überzeugung, dass die Antike weitaus besser und glücklicher war als alle sich christlich nennenden Zeitalter nachher. Ich weiß dies, weil ich die klassischen Philosophen studiert habe. Die Zeit wird mir recht geben, davon bin ich durchdrungen, die ersten Anzeichen zeigen sich, ein Charles Darwin sagte selbst, er meine, er habe einen Mord an Gott begangen, indem er die Entwicklung der Arten erklärte und die Schöpfungsgeschichte der Bibel widerlegte.“ Ich runzelte die Stirn, als er Darwin erwähnte. Auch ich hatte von ihm gehört und entgegnete ihm nun, dass aus meiner Sicht die Schöpfungsgeschichte eigentlich eine Erzählung sei. Es sei ein Missverständnis zu glauben, dass alles so abgelaufen sei wie dort beschrieben, entscheidend sei nur der Gedanke, dass Gott der Schöpfer von allem sei, der Geist werde uns in die Wahrheit einführen, heiße es im Johannesevangelium und so sähe ich kaum einen Widerspruch zwischen Darwin und der Bibel.

Nietzsche erkannte, dass ich mich auch mit diesem Thema auseinandergesetzt hatte und lachte nur in sich hinein. Ich war ihm in manchen Fragen durchaus gewachsen, ein Doktortitel mochte wenig heißen und schützte auch vor Torheit kaum, machte aber Eindruck. Mein Gegenüber war mir gewogen und so brummte er und sagte nur: „Ist schon gut“. Er hatte trotz solcher Hakeleien Gefallen gefunden an mir, die ich da zu ihm hereingeweht war und seinen grauen Alltag bereicherte, wie er zugab. Möglicherweise hatte mich jemand zu ihm geschickt, vermutete er, aus eigenem Antrieb konnte ich kaum gekommen sein. Er legte die Hände an der Tischkante übereinander, lächelte und überlegte wohl, wer es gewesen sein konnte.

„In wessen Auftrag sind Sie hier? Sie sind gut vorbereitet und auf alles gefasst, dass ich meine, jemand habe Sie ausgeschickt. Es könnte meine Schwester Elisabeth sein oder Lou, die Sie ja auch kennen.“ Ich lächelte und entgegnete ihm:

„Sie können es sich kaum vorstellen, dass ich aus freien Stücken hierhergereist bin? Es ist richtig, dass Lou mich auf Ihre Fährte gebracht hat, ich habe daraufhin alles Erreichbare aus Ihrer Feder gelesen und ich darf sagen, dass es sich für mich gelohnt hat, hierher zu kommen, denn Sie sind ein sehr anregender Gesprächspartner, sehr geschickt und überdurchschnittlich begabt. Ich glaube, die Welt wird noch von Ihnen hören. Sicher haben Sie einmal von Thomas von Aquin gehört, dem mittelalterlichen Theologen, den jemand mal einen stummen Ochsen nannte und prophezeite, sein Gebrüll werde einmal die ganze Erde erfüllen, und so einer scheinen Sie mir auch zu sein, wenn Sie auch mehr reden als der Kirchengelehrte.“ Nietzsche lachte und er entgegnete:

„Diesen Vergleich haben Sie als erste angestellt, ich bin sicher Alles Andere als ein Kirchengelehrter. Freilich beschäftigt mich die Religion. Eher bin ich so etwas wie ein Antikirchenvater und so mancher Geistliche macht ein Kreuz, wenn er meine Schriften in die Hände bekommt. Die Gewässer der Religion fluten ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück, wie ich geschrieben habe. Ich läute den Kirchen das Totenglöcklein, ich beerdige sie erster Klasse und die Zeit wird es weisen, ob ich Recht habe.“

Nietzsche lachte wieder in sich hinein, noch immer amüsierte ihn der Vergleich mit Thomas von Aquin. Über all diesen Erwägungen war die Zeit wie im Flug vergangen, er sah auf seine Taschenuhr und bemerkte, dass es schon auf Drei zuging und er wollte noch ein wenig arbeiten. Er fragte mich, ob ich noch in Sils-Maria bleiben wolle, und ich erwiderte, ich sei gerne hier, der Ort sei zauberhaft und habe etwas Magisches, die Kette mit den Bergriesen und dem ewigen Schnee darauf beeindruckten mich und auch die sehr ursprünglichen Menschen, die in dieser Höhe auf 1800 Metern ihr Leben meisterten. Ich wollte also meinen Aufenthalt verlängern.

„Das freut mich“, sagte er. „Ich habe gerade eine produktive Phase. Die körperlichen Beschwerden, unter denen ich leide, haben ausgesetzt und diese Zeit will ich nutzen, um weiter zu arbeiten. Und so muss ich jetzt mich wieder hinsetzen und schreiben. Morgen habe ich wieder Zeit für einen kleinen Spaziergang etwa um 16 Uhr, dann können wir unser Gespräch fortsetzen.“ Ich strahlte, denn die Begegnung mit ihm hatte mir viel gegeben und so willigte ich ein. Wir verabschiedeten uns mit einem Händedruck, Nietzsche sah mir in die Augen und lächelte wieder. Er mochte einen Augenblick auch körperliches Verlangen nach mir gespürt haben, ich hatte ihm durchaus Paroli geboten, aber er glaubte wohl noch immer, jemand habe mich auf ihn angesetzt, um ihn auf den rechten Weg zu bringen. Er hatte einige Jahre lang den Gedanken gehabt, eine Familie zu gründen oder wenigstens zu heiraten, aber nach der Affäre mit Lou war für ihn dieses Thema erledigt. Er war nun schon fast 40 Jahre alt und immer noch Junggeselle. Wir hatten auch ein wenig geflirtet und er erwähnte sogar das Grübchen auf meinem Kinn. Dies mochte ihm auch noch durch den Kopf gehen, als er die Treppe zu seiner Stube hochging, und sich wieder an den Schreibtisch setzte.

 

III. Kapitel

 

Ich war hochbeglückt über die Begegnung mit Nietzsche, der Philosoph und Künstler zugleich war, und ich überlegte, welche Anteile bei ihm überwogen. Sein Schreibstil war gefällig und eingängig, seine Themen sachlich behandelt. Ich ging noch ein wenig spazieren, und ich kam auch an der kleinen evangelisch-reformierten Kirche des Dorfes vorbei, die nur wenige Meter von Nietzsches Haus entfernt war, und trat ein. Es fand gerade ein Gottesdienst statt, einige wenige Gläubige verloren sich in dem Raum und ich setzte mich auf einen Stuhl in der hintersten Reihe.

Als ich den Pastor in seinem Talar reden hörte, kam mir der Gedanke, dem Geistlichen von dem Philosophen zu erzählen und ein Treffen mit ihm zu arrangieren. Das müsste sich doch einrichten lassen. Es mochte sein, dass Nietzsche trotz seiner Beteuerungen, wie sehr er meine Gegenwart schätze, auch einen männlichen Widerpart brauchte, der ihm den Kopf gerade rückte. Denn irgendwie wohnte in mir der Gedanke, diesen selbsternannten Religionsgründer auf den Boden der Tatsachen zu holen und ihm klarzumachen, dass er auf dem Holzweg sei. Ich hatte seine Schriften mit wachsender Faszination gelesen, aber gleichzeitig immer wieder den Kopf über ihn geschüttelt. Ich hielt es für vermessen, ja verstiegen, was dieser Professor im Ruhestand von sich gab, er wolle die Weltgeschichte in zwei Teile schießen, hatte er einmal geäußert, und dabei an die Artillerie im Krieg gedacht. Er selbst war ja auch im deutsch-französischen Krieg als Sanitäter im Einsatz gewesen. Aber so war Nietzsche eben, er hatte immer einen Zug ins Große, Übermenschliche, als sei er ein neuer Messias. Ich wollte ihm diese Flausen, die sie aus meiner Sicht waren, austreiben, und dazu könnte ich einen starken Mann als Unterstützung brauchen, schwebte mir vor.

Und so blieb ich nach dem Gottesdienst in der Kirche, während die Besucher dem Ausgang zuströmten, und ich trat auf den Pastor zu. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich ihn sprechen wolle, doch er erwiderte, dass er gleich wieder einen Kranken besuchen wolle. Ich solle zu ihm ins Pfarrhaus ins etwa zehn Kilometer entfernte St. Moritz kommen, dort könne er mich am folgenden Vormittag empfangen. Ich war ein wenig enttäuscht über diese Auskunft, war aber entschlossen, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen und so bedankte ich mich und nahm mir vor, den nächsten Vormittag die Kutsche in die Stadt zu nehmen.

Und so fuhr ich nach St. Moritz, fragte mich zum evangelisch-reformierten Pfarrhaus durch und läutete die Glocke, die neben der Tür hing. Das Schellen war weithin zu hören und kurz darauf trat eine Frau mittleren Alters in weißer Schürze und mit hochgebundenen Haaren aus der Tür. Sie musterte mich kritisch und fragte, was mein Begehr sei.