Wer ist dieser rundliche Herr, der da fast ein Jahr lang jeden Nachmittag an derselben Stelle des Stadtparks erscheint und die Passanten in muntere Gespräche verwickelt? Ein Weiser, ein Sprücheklopfer, ein Clown, ein streitlustiger Philosoph? Viele schütteln den Kopf und gehen weiter, andere hören ihm zu, diskutieren mit ihm und finden sich immer wieder am selben Ort ein. Er selbst schreibt nichts auf, aber seine Hörer machen sich Notizen. Das kleine weiße Buch, das hier vorliegt und wie ein Taschenkalender aussieht, überliefert die Betrachtungen und Provokationen dieses sonderbaren Zeitgenossen, der genauso heißt wie der letzte Buchstabe des Alphabets.
Mit subversiver Energie und wenigen Sätzen untergräbt Herr Zett Dünkel, Größenwahn und falsche Autorität. Den Institutionen vertraut er ungern, und für »alternativlos« hält er gar nichts. Aber nicht alles, was er sagt, mag man für bare Münze nehmen. Er räumt Irrtümer ein und mit Urteilen auf.
Hans Magnus Enzensberger, geb. 1929 in Kaufbeuren, lebt in München.
Zuletzt sind von ihm im Suhrkamp Verlag erschienen: Blauwärts. Ein Ausflug zu dritt (2013), Gedichte 1950-2015 (st 4554) und Tumult (2014)
Herrn Zetts Betrachtungen,
oder
Brosamen, die er fallen ließ,
aufgelesen von seinen Zuhörern
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4553
© Suhrkamp Verlag 2013
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Einband nach einem Entwurf von Hans Magnus Enzensberger
eISBN 978-3-518-73439-1
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Herrn Zetts Betrachtungen,
oder
Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern
Man muß sich Herrn Zett als einen Menschen vorstellen, der seine Hintergedanken für sich behält, seine Sorgen mit Fassung trägt und auf das Gute ungern verzichtet. Von untersetzter, rundlicher Gestalt, wird er dem Betrachter nur durch seine Gelassenheit und dadurch auffallen, daß er verschwenderisch mit seiner Zeit umgeht. Falls er einen Beruf hat, so erwähnt er ihn nie.
Seine hechtgrauen Augen sind hellwach, doch wer ihn beobachtet, merkt ihm an, daß er kurzsichtig ist. Zu seinem altmodischen Anzug im Salz-und-Pfeffer-Muster trägt er eine braune Melone, die er gewöhnlich neben sich auf seine Bank legt.
Wenn das Wetter es zuließ, konnte man Herrn Zett fast ein ganzes Jahr lang nachmittags im Park antreffen, abseits von den Hauptwegen, an einem von Hainbuchenhecken geschützten Ort, an dem, abgesehen von ein paar hungrigen Staren, Ruhe herrschte.
Keiner von uns hätte erklären können, auf welche Weise wir zum ersten Mal mit Herrn Zett ins Gespräch gekommen waren. Wir soll hier eine zufällig zusammengewürfelte Menge von Passanten bedeuten, die ab und zu stehenblieben und ihm zuhörten. Die meisten gingen nach einer Weile kopfschüttelnd ihrer Wege. Andere stellten ihm Fragen oder verwickelten ihn in Diskussionen.
Am Ende waren nur noch drei von uns übrig. Warum haben wir beschlossen, einer Mitwelt, die nie von Herrn Zett gehört hat, von unseren Unterhaltungen Kunde zu geben? Er selber ist selbstverständlich der wirkliche Verfasser unseres Konvoluts, obwohl er, soweit wir wissen, nie einen seiner Sätze zu Papier gebracht hat. Freilich können wir uns für die Richtigkeit unserer Notizen nicht verbürgen. Zum einen, weil die Erinnerung, wie er uns mehr als einmal eingeschärft hat, trügt; zum andern aber, weil wir uns oft streiten.
War es die Schüchternheit oder der Hochmut, was bei Herrn Zetts Auftritten überwog? Hat er dies oder jenes wirklich gesagt? Das bildest du dir nur ein, sagt der eine. Ich weiß es genau, erwidert der andere, und der dritte schlägt einen Handel vor: Jeder von uns soll aufschreiben dürfen, was er will. Das hätte Herrn Zett gefallen; und darauf hat sich unsere Troika am Ende geeinigt.
1 Am ersten oder zweiten Tag unserer Begegnung, es war Anfang April und die Bäume schickten sich an, ihren langen Streik zu beenden, sagte Z., er frage sich, warum wir ihm eigentlich zuhörten. Er fühle sich nicht alt genug, um Jünger zu haben, und es liege ihm fern, sich für einen Meister zu halten. Um Mitbrüder könne es sich bei uns nicht handeln, da er mit denen, die sich hier eingefunden hätten, weder verwandt noch verschwägert sei. Auch sehe er sich nicht als Lehrer; denn das könnte bedeuten, daß er selbst nichts mehr zu lernen hätte. Man könnte ihn vielleicht für einen Redner halten, aber dazu fehle es ihm an Übung und an einer Tribüne. Er brauche kein Podium und sei bemüht, sich kurz zu fassen. Wer einen Anführer suche, sei hier ebenso fehl am Platz wie einer, der Anhänger um sich scharen wolle. Wir alle seien bloß Passanten, die sich in aller Freundschaft ein wenig unterhalten möchten.
2 »Wenn es euch gelingt«, sagte Z., »etwas zu finden, was eure Bewunderung verdient, spart nicht mit dieser angenehmen Regung.«
3 Z. sagte: »Widersprecht mir, vor allem aber widersprecht euch selbst. Nur an dem, was einer nicht sagt, sollte er stets festhalten.«
4 Einer von uns raffte sich zu einer Erwiderung auf. »Sie sprechen in Rätseln, und ich fürchte, daß das in Ihrer Absicht liegt. Für die anderen hier kann ich natürlich nicht sprechen, aber mir persönlich wäre es lieber, wenn Sie sich weniger zweideutig ausdrücken würden.«
»Sie haben mich durchschaut. Aber halten Sie die Ambiguität für eine bloße Marotte? Bedenken Sie bitte, daß wir Zweihänder sind. Links und rechts, das ist zwar leicht zu verwechseln, aber beileibe nicht dasselbe. Unsere Asymmetrie hat auch ihre Vorteile. Es gehören zwei Hände dazu, sich zu waschen, ein Baby zu wickeln oder einen Knopf anzunähen. Unsere Gesichtszüge sind nicht spiegelbildlich; wenn jemand Ihr Paßbild kopieren und die beiden Seiten vertauschen wollte, würden Sie sich in dieser Collage nicht wiedererkennen. Oder versuchen Sie einmal, sich zuerst das eine und dann das andere Auge zuzuhalten. Sie werden feststellen, daß Ihre Wahrnehmung stereoskopisch ist, und daß die Welt je nach Ihrer Perspektive anders aussieht. Auch das Gehirn soll ja, wie ich mir sagen ließ, zwei sehr verschiedene Hälften haben. Aus alldem schließe ich, daß das Streben nach Eindeutigkeit zwar verbreitet, aber zum Scheitern verurteilt ist.«
5 Während der Fragesteller, ein reizbarer jüngerer Akademiker, noch überlegte, wie er Z.s Volten parieren sollte, fing es am späten Nachmittag plötzlich an zu schneien. Darauf war im April niemand gefaßt, außer einer voluminösen Dame, die in einem Nerzmantel erschienen war. Die Frierenden schimpften, schlugen sich die Flocken von den Schultern und ergriffen die Flucht. Selbst der junge Gelehrte hatte keine Lust mehr, die Diskussion fortzusetzen, und so blieb Herr Z. allein sitzen. Nur die resolute Dame wich nicht von der Stelle. Auch ein schweigsamer Herr, der von Anfang an dabei war, gesellte sich zu den beiden. Er trug einen gutsitzenden Maßanzug und eine Sonnenbrille, die er nie abnahm. Nur eines störte seinen perfekten Auftritt: Sein meliertes Haar wallte ihm über den Nacken, als hätte er es versäumt, einen Friseur aufzusuchen. Obwohl er gut zu Fuß schien, ging er auf einen Spazierstock mit einer Krücke aus Elfenbein gestützt.
Die resolute Dame sah den beiden Männern wortlos zu. Der Schnee tanzte vor ihren Augen. Alle drei warteten geduldig, bis es wieder aufklarte.
6 Ein paar Tage später antwortete Z. auf die Frage, wie er über den Tod denke: »Da, wie ich sehe, keiner von uns dabei ist, zu sterben, ist es verfrüht, darüber zu reden.«
7 »Es heißt, wer A sagt, müsse auch B sagen, und so fort bis zum Ende des Alphabets. Bei der Befolgung dieser Regel«, sagte Z., »bitte ich von mir abzusehen.«
8 Über den Ruhm bemerkte Z.: »Nur in seinem eigenen Bus ist der Berühmte berühmt. Sobald er aussteigt, wird er feststellen, daß da draußen niemand von ihm gehört hat.«
9 Über die Kunst gab Z. zu bedenken: »Man kann der Jugend noch so dringend von ihr abraten – es wird nichts nützen.«
10 »Ich hoffe, meine Freunde, daß ihr mir keine Strategie zutraut«, erklärte uns Z. »Ich bin nicht euer Ohrenbläser. Vor Ratgebern sollte man sich hüten. Sie sind teuer, eingebildet und verfolgen ihre eigenen Ziele. Wie die Militärs im Generalstab glauben sie, man könne sich auf jede denkbare Situation vorbereiten. Ich hoffe, daß Sie mir nichts dergleichen zutrauen. Bei mir dürfen Sie sicher sein, daß ich meine Entscheidungen für mich behalte und die eurigen euch selber überlasse.«
11 Was hingegen die Taktik angeht, so zitierte Z. einen Chinesen aus dem vierten Jahrhundert vor Christus: »Wenn du stark bist, täusche Unfähigkeit vor; wenn du voller Energie bist, gib dich faul. Bring deinen Feind in Wut und verwirre ihn. Stell dich schwächer, als du bist, und nähre seinen Hochmut.«
12 An diesem späten Aprilnachmittag machte ein Regenschauer solchen Erörterungen ein rasches Ende. Wer einen Schirm dabeihatte, spannte ihn auf und bot seinen Nachbarn eine provisorische Zuflucht an. Auf diese Weise kamen sich einige der Zuhörer näher, die sich bis dahin nur vom Sehen kannten. Niemand dachte daran, Herrn Z. zu beschützen, der sich damit begnügte, seinen alten Hut aufzusetzen. Er steckte sich einen Zigarillo an und sah keinen Anlaß, seine Bank zu räumen.
13 Z. sagte: »Ohne die Illusion der Wichtigkeit auszukommen ist gesund.«
14 Gegen die Wahrsagerei sei nichts einzuwenden, erklärte Z., obwohl niemand sie angefochten hatte. Sie gehöre zu den ältesten Gewerben der Welt. »Die Sterndeuter und ihre heutigen Nachfolger sorgen für Abwechslung, dienen der Unterhaltung und sind selten dümmer als ihre Klienten. Ihre Kühnheit gefällt mir, und ihre Prognosen geben auch dann zu denken, wenn sie sich als falsch erweisen.«
15 Z. schärfte uns ein: »Weist mich zurecht, sobald ich gründlich zu werden drohe.«
16 Nach seiner Meinung über die Atheisten gefragt, antwortete Z.: »Was mich an ihnen stört, ist ihr Dogmatismus. Auch mißfällt mir, daß sie eine höhere Intelligenz als die unsrige für undenkbar halten. Diese Annahme scheint mir gewagter als jeder Gottesglaube.«
17 Zu den Übermütigen unter uns sagte Z.: »Wer sich einbildet, daß er zu den Siegern gehört, den wird sein Körper früher oder später eines Besseren belehren.«
18 Als jemand an ihm die ersten Anzeichen von Altersweisheit zu erkennen glaubte, sagte Z.: »Mag sein, aber ich gehe ihr nicht auf den Leim.«
19 »Auch wer leeres Stroh drischt, findet darin ab und zu ein Korn. Trotzdem«, sagte Z., »kann ich dieses Verfahren nicht empfehlen.«
20 »Die Vermeidung«, sagte Z., »ist eine hohe Kunst, die selten gelehrt und noch seltener beherrscht wird. Die meisten Menschen sind von der Menge des Entbehrlichen hoffnungslos überfordert.«
21 Als er unter uns einen Mißgünstigen entdeckte, ermahnte er ihn: »Dem Neidischen fehlt es an Phantasie. Er beschäftigt sich damit, was andere haben und tun, wie sie leben und wie sie aussehen. Damit schadet er sich selbst. Er treibt es mit der Selbstlosigkeit zu weit.«
22 Einmal brachte Z. eine dieser robusten osteuropäischen Taschen aus buntem Plastikstoff mit, aus der er einen Stapel von Büchern hervorholte. Es war das erste Mal, daß er etwas mitschleppte.
»Das sind alles heilige Schriften«, sagte er, »also Werke, denen es, schon ehe es Bestsellerlisten gab, nie an Lesern gefehlt hat. Woran mag das liegen? Darüber habe ich lange gegrübelt. Gewiß, die Lektüre ist abwechslungsreich. Man wird mit Wundern und phantastischen Erzählungen unterhalten. Manche Stellen sind tiefsinnig, andere blutrünstig. Die Literaturkritik prallt an ihnen ab. Der einsame Hotelgast findet sie in der Nachttischschublade, Erstdrucke sind auf Auktionen teuer und auf manchen Ständen in der Fußgängerzone gratis zu haben.«
»Wollen Sie uns etwa aus diesen Bänden vorlesen? Eine Bibelstunde hätten wir zuallerletzt von Ihnen erwartet.«
»Auf das Alte und das Neue Testament sollten wir uns nicht beschränken. Ich kann Ihnen nicht nur den schönen Reprint der Lutherübersetzung von 1545 zeigen, eine Ausgabe letzter Hand, äußerst empfehlenswert, sondern auch den babylonischen Talmud, einen Koran, die Reden des Buddha und sogar das Buch Mormon aus dem Jahr 1830, aber natürlich ist an Vollständigkeit nicht zu denken; man könnte fast sagen, heilige Schriften gebe es wie Sand am Meer.
Auffallend ist, daß jede von ihnen sich für die einzige hält und für die anderen wenig übrig hat. Die meisten überraschen durch eigentümliche Vorschriften und Verbote. Einmal heißt es, man dürfe Zauberinnen nicht am Leben lassen; als Mann müsse man sich auf vier Ehefrauen beschränken; Wein und Schweinefleisch seien zu meiden, und das Zicklein dürfe auf keinen Fall in der Milch seiner Mutter gekocht werden.
In manchen dieser Schriften wird Gott als unmittelbarer Urheber bezeichnet, andere lassen dagegen verschiedene Verfasser zu. Aufgeklärte Leser betonen, daß man solche Offenbarungen nicht wörtlich zu verstehen habe, und weisen auf die komplizierte Quellenlage hin. Nicht umsonst habe die Überlieferung durch Jünger, Hadithe, Kommentatoren und Konzilien bereits Apokryphes ausgeschieden und die Spreu vom Weizen getrennt. Strenggläubige Leser hören solche Erläuterungen ungern.«
23 Einige ältere Zuhörer monierten, daß aus Z.s Bemerkungen ein gewisser Unernst spreche. Nicht zum ersten Mal habe man das Gefühl, daß es ihm an dem gebotenen Respekt fehle.
»Es tut mir leid, daß Sie diesen Eindruck haben«, antwortete Z. Ihn zu widerlegen falle ihm schwer. Statt dessen möchte er sich mit einer Anekdote begnügen.
»Sie handelt von einem irischen Bekannten, der leider nicht hiersein kann, weil er viel unterwegs ist. Er arbeitet nämlich als Purser für eine große Fluggesellschaft. Vorher war er aber Stadtpfarrer, ich glaube sogar Prälat in der katholischen Kirche seiner Heimat, bis er unter skandalösen Umständen den Priesterrock ausziehen mußte. Die englische Sprache hat dafür den anmutigen Ausdruck he was unfrocked.
Er fragte mich, ob ich glauben könne, daß höhere Mächte den Religionen ihre Offenbarungen Wort für Wort in die Feder diktiert hätten.
›Warum sollte das nicht möglich sein?‹ erwiderte ich. ›Oder hältst du es für ausgeschlossen, daß es im Universum Geister gibt, die uns überlegen sind?‹
Doch damit wollte er sich nicht zufriedengeben.
›Diese Hypothese‹, behauptete er, ›würde die Sache nur noch schlimmer machen. Man müßte daraus schließen, daß die Offenbarungen, von denen du redest, eine Art göttlicher Jux wären, ein practical joke, ein Streich, den diese höheren Wesen der Menschheit spielen. Als weideten sie sich an unseren Bemühungen, die heiligen Schriften zu entziffern und zu deuten. Das würde wenigstens ihre Widersprüche erklären, ebenso wie den Umstand, daß sie stilistisch zwischen dürren Listen, herrlichen Gedichten, öden Kriegsberichten, pedantischen Bauvorschriften und fesselnden Familiendramen hin- und herpendeln.‹
Das kam nun wiederum mir frivol vor, und ich zog mich auf die Lehre des Erasmus zurück, die besagt: Das alles stört die frommen Leser nicht, und wir sollten sie, soweit sie nicht die Absicht haben, uns umzubringen, mit unseren Scherzen verschonen.«
24 Die Epikuräer zweifelten nicht an der Existenz der Götter; doch sie hielten dafür, daß ihnen das Los der Menschen gleichgültig sei. Dagegen wandte Z. ein: »In den Erzählungen der Griechen ist immer wieder vom Lachen der Götter die Rede. Das setzt immerhin voraus, daß die Menschheit ihnen zur Unterhaltung dient.«
25 »Das Ganze gibt es nicht. Weder unsere Wissenschaft noch unsere Phantasie wäre imstande, es zu fassen.« Auf diese These kam Z. des öfteren zurück.
Wenn er von der »Totalität« reden höre, werde ihm schlecht. Dahinter stecke stets eine unredliche Absicht von religiöser, politischer oder intellektueller Art. Er jedenfalls gebe sich mit dem Partiellen nicht nur zufrieden, er wisse es zu schätzen und erfreue sich seiner.
26 Als Z. anfing, vom Mehr oder Weniger zu sprechen, befürchteten wir einen längeren Sermon, also eher ein Mehr als ein Weniger. Die Grenze zwischen Überfluß und Mangel sei instabil; ein Gleichgewicht stelle sich nur ausnahmsweise ein. Ob Natur oder Ökonomie, das sei in diesem Zusammenhang Jacke wie Hose: überall gebe es Oszillation. Längere oder kürzere Wellen, stärkere oder schwächere Amplituden – darauf komme es an. Jeder für sich möge beobachten, wie leicht Begeisterung in Langeweile umschlägt, zum Beispiel jetzt beim Zuhören. Den prägnanten Moment exakt zu bestimmen sei nicht leicht, aber der Mühe wert.
27 Von seiner Neigung zur Vielfalt war Z. schwer abzubringen. So pries er, ohne daß er sie verstanden hätte, die chinesische Schrift mit ihren 80 000 Schriftzeichen. Auch lobte er die Erfinder der griechischen, lateinischen, arabischen und kyrillischen Alphabete samt ihren Ziffern und diakritischen Zeichen. Dieser Reichtum errege zwar den Mißmut von Ingenieuren, die den binären Code mit seiner Abfolge von Nullen und Einsen bevorzugen. Er allerdings habe keine Lust, sich mit Texten abzugeben, die nur für Maschinen von Interesse seien.
28 »Vereine sind etwas Schönes«, sagte Z. »Sie sorgen für Gemütlichkeit. Deshalb sind sie so zahlreich. Fleißige Soziologen haben sie unlängst gezählt. 555 000 soll es in Deutschland geben. Die Menge der Mitglieder übertrifft bei weitem die Zahl der Einwohner.« Er wisse zwar nicht, wie viele Innungen, Parteien, Fußball- und Automobilclubs, Firmen, Schützengilden, Stiftungen und Körperschaften des öffentlichen Rechts ihm offenstünden, doch halte er viel von der Freiwilligen Feuerwehr und von der Telephonfürsorge. Man sollte aber solchen Einrichtungen nicht nur beitreten, sondern aus ihnen, ohne Nachteile zu befürchten, auch wieder austreten können.
29 Als es langsam wärmer wurde, geriet Z. einmal ins Schwitzen. Er entledigte sich seiner alten grauen Jacke und saß fortan meist in Hemdsärmeln da. Nur von seinem Hut ließ er nicht ab.
»Unterhaltungen über das Wetter sind unvermeidlich, aber folgenlos. Man sollte sich von der Meteorologie nicht tyrannisieren lassen.«
Diesen Rat schien der soignierte Herr mit der Sonnenbrille für überflüssig zu halten; denn er folgte Z.s Beispiel nicht. Offenbar lehnte er es ab, im Hemd dazusitzen, ganz gleich, was das Thermometer anzeigte.
30 Segensreich nannte Z. die Erfindung des Rasierapparats. Sie erspare dem Überdrüssigen, der es leid ist, jeden Tag von neuem seinen Bart zu stutzen, die Versuchung, mit dem verlockenden Messer dieser Morgenroutine ein Ende zu machen. Er denke dabei an Adalbert Stifter, der sich eines Tages die Kehle durchschnitt, weil ihm die Idyllen, die er erfunden hatte, zum Hals heraushingen.
31 Z. sagte: »Wie oft haben meine Lehrer von mir verlangt, ich solle mich konzentrieren! Ich habe es vorgezogen, mich zu zerstreuen, oder, obwohl das wie ein schlechtes Wortspiel klingt, mich zu verzetteln.«
32 Über die Erziehung äußerte Z. sich wegwerfend. Als Notwehr gegen die Kinder möge sie ihre Berechtigung haben, aber ihr Nachteil bestehe darin, daß die Erwachsenen sich für klüger hielten als ihre Kinder. Das sei ein schwerer Irrtum, dem sich aber fast alle Eltern, Schullehrer und Professoren hingäben. Er tröste sich darüber mit einem Satz des Wissenschaftshistorikers Otto Neugebauer, der gesagt haben soll, es gebe kein der Menschheit bekanntes pädagogisches System, das fähig wäre, die Lebensgeister aller Kinder zu ruinieren.
33 Man solle weniger lesen, sagte Z. mürrisch. Das sei eine schlechte Gewohnheit und ebenso schädlich für die Gesundheit wie der Tabak. »Hätte ich selber nachgedacht, statt Bücher oder gar Zeitungen in die Hand zu nehmen«, fuhr er fort, »so wäre ich vermutlich gescheiter geworden.«
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