Cover

Kathy Reichs

Durch Mark und Bein

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Klaus Berr

Die Originalausgabe FATAL VOYAGE
erschien bei Scribner, New York


Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.


Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.


Copyright © 2001 der Originalausgabe
by Temperance Brennan, L.P.
Copyright © 2002 der deutschsprachigen Ausgabe
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung und Motiv: © Hauptmann & Kompanie
Werbeagentur, Zürich
Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12746-6
V004


www.heyne.de

DANKSAGUNGEN

Wie immer schulde ich vielen Menschen Dank:

Ira J. Stimson, P.E., und Captain John Gallagher (a.D.) für Informationen über Flugzeugbau und Unfallforschung. Hughes Cicoine, C.F.E.I., für seine Ratschläge zur Untersuchung von Brandherden und Explosionen. Ihre Geduld war erstaunlich.

Paul Sledzik, M.S., National Museum of Health and Medicine, Armed Forces Institute of Pathology, für seine Ausführungen über Geschichte, Struktur und Funktionsweise des DMORT-Systems; Frank A. Ciaccio, M.P.A., Office of Government, Public and Family Affairs, United States National Transportation Safety Board, für Informationen über DMORT, die NTSB und den Family Assistance Plan, das Programm zur Unterstützung und Betreuung der Angehörigen von Unfallopfern.

Arpad Vass, Ph. D., Forscher an den Oak Ridge National Laboratories, für einen Schnellkurs über volatile Fettsäuren.

Special Agent Jim Corcoran von der Charlotte Division des Federal Bureau of Investigation für Einblicke in die Arbeit des FBI in North Carolina; Detective Ross Trudel (a.D.), Communauté Urbaine de Montréal Police, für Informationen über Explosivstoffe und die sie betreffenden gesetzlichen Vorschriften; Sergeant-Detective Stephen Rudman (a.D.), Communauté Urbaine de Montreal Police, für Details über Polizeibegräbnisse.

Janet Levy, Ph. D., University of North Carolina, für Einzelheiten über das North Carolina Department of Cultural Resources, und für ihre Antworten auf meine archäologischen Fragen; Rachel Bonney, Ph. D., University of North Carolina-Charlotte, und Barry Hipps, Cherokee Historical Association, für Informationen über die Cherokee.

John Butts, M. D., Chief Medical Examiner, State of North Carolina, Michael Sullivan, M. D., Mecklenburg County Medical Examiner, und Roger Thompson, Direktor des Charlotte-Mecklenburg Police Department Crime Laboratory.

Marilyn Steely, M. A., die mich auf den Hell Fire Club hinwies, Jack C. Morgan Jr., M.A.I., C.R.E., bei dem ich mich über Grundbücher, Karten und Steuerdaten kundig machen konnte; Irena Bacznsky, für ihre Hilfe bei den Namen von Fluggesellschaften.

Anne Fletcher, die uns bei unserem Abenteuer in den Smoky Mountains begleitete.

Ein spezieller Dank geht an die Leute von Bryson City, North Carolina, darunter Faye Bumgarner, Beverly Means und Donna Rowland von der Bryson City Library; Ruth Anne Sitton und Bess Ledford vom Swain County Tax and Land Records Office; an Linda Cable, Swain County Administrator; Susan Cutshaw und Dick Schaddelee vom Swain County Chamber of Commerce; Monica Brown, Marty Martin und Misty Brooks vom Fryemont Inn; und, vor allem, an Chief Deputy Jackie Fortner vom Swain County Sheriff’s Department.

Merci an M. Yves St. Marie, Dr. André Lauzon und alle meine Kollegen am Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médicine Légale; an Chancellor James Woodward von der University of North Carolina-Charlotte. Ihre beständige Unterstützung weiß ich sehr zu schätzen.

An Paul Reichs für seine wertvollen Kommentare zum Manuskript.

An meine erstklassigen Lektorinnen Susanne Kirk und Lynne Drew.

Und natürlich an meine Wunder wirkende Agentin Jennifer Rudolph Walsh.

Ohne die Hilfe meiner Freunde und Kollegen könnten meine Geschichten nie das sein, was sie sind. Ich danke ihnen. Und wie immer sind sämtliche Fehler allein die meinen.

NACHWORT

Als ich damit begann, Durch Mark und Bein zu schreiben, hatte ich keine Ahnung davon, was für ein Grauen am 11. September über uns hereinbrechen würde. Die Wirklichkeit jenes Tages übertraf alles, was ich mir als Romanschriftstellerin hätte ausdenken können. Wie Tempe Brennan bin ich durchaus vertraut mit dem Tod und dem, was nach ihm kommt. Als forensische Anthropologin arbeite ich an zwei verschiedenen Standorten für coroner, für staatliche Leichenbeschauer also. Vor dem UN-Tribunal zum Genozid in Ruanda habe ich als Sachverständige ausgesagt, und ich war an den Arbeiten in einem Massengrab im Hochland Guatemalas beteiligt. Mein Interesse und mein Engagement gelten nicht nur den physischen Opfern – sprich, den Toten –, sondern auch den emotionalen Opfern, denjenigen also, die überlebt oder Angehörige verloren haben.

Wie Tempe bin ich Mitglied von DMORT, einer staatlichen Katastrophen-Einsatzgruppe. In dieser Eigenschaft wurde ich nach New York gerufen, um bei den Bergungsarbeiten am World Trade Center mitzuarbeiten. Doch obwohl ich von Berufs wegen gelernt habe, mit Trauer und Verlust umzugehen, war ich nicht vorbereitet auf die emotionale Wucht dieser Erfahrungen. Manchmal fühlte ich mich wie zerschmettert vom Ausmaß der Verwüstung, manchmal überwältigt von Traurigkeit. Trost und neue Energie kamen oft von kleinen Dingen: von der Karte einer Schülerin, von einem Gebet, das die Klasse einer Sonntagsschule verfasst hatte, vom liebevoll gezeichneten Transparent einer Pfadfindergruppe. Ich bezog Kraft aus der Kraft meiner Landsleute. Vor allem aber war ich stolz, ein kleiner Teil eines unglaublichen Teams von Männern und Frauen zu sein, die alle ihr Letztes geben, um Hilfe und Trost zu spenden und wenigstens die Chance einer Bewältigung zu schaffen – für die Familien der Opfer, für eine Stadt und eine ganze Nation.

Kathy Reichs, im Oktober 2001.

1

Ich starrte die Frau an, die aussah, als würde sie durch die Bäume fliegen. Ihr Kopf war erhoben, das Kinn vorgereckt, die Arme nach hinten gestreckt wie bei der kleinen Chromgöttin auf dem Kühlergrill eines Rolls Royce. Aber die Dame in den Bäumen war nackt, und ihr Körper endete an der Taille. Blutbeschmierte Blätter und Zweige rankten sich um den leblosen Torso.

Ich sah mich um. Bis auf den schmalen Kiesweg, auf dem ich mein Auto abgestellt hatte, gab es nichts als dichten Wald. Bei den Bäumen handelte es sich vorwiegend um Kiefern, und die wenigen Harthölzer waren wie Kränze, die den Tod des Sommers markierten; ihr Laub leuchtete in allen Schattierungen von Rot, Orange und Gelb.

Obwohl es jetzt, Anfang Oktober, in Charlotte noch heiß war, herrschte in dieser Höhe angenehmes Frühherbstwetter. Doch es würde bald kühl werden. Ich holte eine Windjacke vom Rücksitz, stand dann still da und lauschte.

Vogelgezwitscher. Wind. Das Rascheln kleiner Tiere. Dann, in der Entfernung, ein Mann, der einem anderen etwas zurief. Eine gedämpfte Antwort.

Ich band mir die Jacke um die Taille, schloss das Auto ab und machte mich auf den Weg in Richtung der Stimmen. Unter meinen Sohlen raschelten totes Laub und Fichtennadeln.

Nach zehn Metern kam ich an einem sitzenden Mann vorbei, der, die Knie gegen die Brust gedrückt, einen Laptop neben sich, an einem moosbewachsenen Stein lehnte. Ihm fehlten beide Arme, und ein Porzellankännchen ragte aus seiner linken Schläfe.

Auf dem Computer lag ein Gesicht, die Zähne von einer Spange umschlossen, die eine Braue von einem feinen Goldring durchstochen. Die Augen waren offen und die Pupillen geweitet, was dem Gesicht einen Ausdruck der Bestürzung verlieh. Ich musste schlucken und ging schnell weiter.

Nach wenigen Metern entdeckte ich ein Bein, der Fuß noch in einem Wanderstiefel. Das Glied war an der Hüfte abgerissen worden, und ich fragte mich, ob es zu dem Rolls-Royce-Torso gehörte.

Hinter dem Bein saßen nebeneinander und noch in ihren Sitzen angeschnallt zwei Männer, deren Hälse nur noch rote Stümpfe waren. Der eine hatte ein Bein übers andere geschlagen, als würde er eine Zeitschrift lesen.

Ich wanderte tiefer in den Wald hinein, und der Wind trug mir immer wieder zusammenhanglose Rufe zu. Ich musste Äste zurückbiegen und über Felsen und umgestürzte Bäume klettern, um mir einen Weg zu bahnen.

Gepäckstücke und Metallfragmente lagen zwischen den Bäumen. Die meisten Koffer waren aufgeplatzt, der Inhalt lag in zufälligen Mustern verstreut. Kleidungsstücke, Lockenstäbe und Elektrorasierer lagen zwischen Tuben und Fläschchen mit Handcreme, Shampoo, Rasierwasser und Parfum. Eine kleine Reisetasche hatte hunderte von stibitzten Hoteltoilettenartikeln ausgespuckt. Der Geruch von Drogerieprodukten mischte sich mit dem Duft von Kiefern und Bergluft. Aus der Entfernung kam eine Andeutung von Rauch.

Ich bewegte mich in einer tief eingeschnittenen Rinne, durch deren dichtes Blätterdach das Licht nur in Sprenkeln auf den Waldboden fiel. Es war kühl im Schatten, trotzdem stand mir der Schweiß auf der Stirn und klebte mir die Kleidung an die Haut. Mein Fuß verfing sich an einem Rucksack, ich stürzte und riss mir an einem von fallenden Trümmern abgetrennten Ast den Ärmel auf.

Einen Augenblick lag ich mit zitternden Händen da, mein Atem kam in abgehackten Stößen. Obwohl ich gelernt hatte, Emotionen zu unterdrücken, spürte ich, wie Verzweiflung in mir hochstieg. So viele Tote. Lieber Gott, wie viele werden es wohl sein?

Ich schloss die Augen, riss mich zusammen und stand wieder auf.

Eine Ewigkeit später stieg ich über einen verrottenden Baumstamm, umkreiste ein Rhododendrongebüsch, und da ich den entfernten Stimmen noch kein Stückchen näher gekommen zu sein schien, blieb ich stehen, um mich zu orientieren. Das gedämpfte Jaulen einer Sirene sagte mir, dass sich die Einsatzkräfte irgendwo hinter einem Kamm im Osten versammelten.

Wird Zeit, dass du dich ein bisschen besser über die Örtlichkeiten informierst, Brennan.

Aber ich hatte auch keine Zeit gehabt, viele Fragen zu stellen. Normalerweise sind diejenigen, die bei Flugzeugabstürzen oder ähnlichen Katastrophen als Erste zur Stelle sind, zwar voller guter Absichten, aber jämmerlich schlecht darauf vorbereitet, mit einem Unglück dieses Ausmaßes umzugehen. Ich war unterwegs gewesen von Charlotte nach Knoxville und bereits knapp vor der Staatsgrenze, als mich die Bitte erreichte, so schnell wie möglich zu dieser Unfallstelle zu kommen. Ich hatte auf dem I-40 gewendet, war nach Süden in Richtung Waynesville und dann westlich durch Bryson City gefahren, einem kleinen Ort in North Carolina, fast dreihundert Kilometer westlich von Charlotte, über achtzig Kilometer östlich von Tennessee und achtzig nördlich von Georgia. Dann war ich einer geteerten Bezirksstraße bis zu dem Punkt gefolgt, wo die staatliche Zuständigkeit endete, und schließlich über Kies bis zu einem Waldweg des Forest Service gefahren, der sich den Berg hochschlängelte.

Ab hier ging ich zu Fuß. Obwohl die Anweisungen, die man mir gegeben hatte, präzise gewesen waren, vermutete ich, dass es eine bessere Route gab, einen kleinen Wirtschaftsweg vielleicht, der einen näher an das angrenzende Tal heranbrachte. Ich überlegte, ob ich zum Auto zurückkehren sollte, beschloss dann aber weiterzugehen. Vielleicht waren diejenigen, die jetzt schon an der Unfallstelle waren, auch zu Fuß durch den Wald marschiert, wie ich es jetzt tat. Der Weg des Forest Service hatte ausgesehen, als würde er nur bis zu der Stelle führen, wo ich mein Auto abgestellt hatte.

Nach mühevoller Kletterei die Schluchtflanke hoch klammerte ich mich an den Stamm einer Douglas-Tanne, stellte einen Fuß auf den Rand und stemmte mich auf den Kamm. Als ich mich aufrichtete, starrte ich in die Knopfaugen einer Raggedy Ann. Die Puppe hing kopfüber, ihr Kleid hatte sich in den unteren Zweigen der Tanne verfangen.

Das Bild der Raggedy Ann meiner Tochter blitzte vor mir auf, und ich streckte die Hand nach der Puppe aus.

Halt!

Ich ließ den Arm sinken, denn ich wusste, dass jeder Gegenstand vor der Entfernung kartografiert und registriert werden musste. Erst dann konnte jemand dieses traurige Souvenir einfordern.

Von meiner Position auf dem Bergkamm hatte ich einen klaren Blick auf das, was vermutlich die Hauptabsturzstelle war. Ich sah eine halb in Erdreich und Trümmern vergrabene Turbine und kleinere Teile, die wahrscheinlich Fragmente von Landeklappen waren. Ein Teil des Rumpfs lag mit aufgeplatzter Unterseite da, sodass es fast aussah wie eine Schnittskizze in einem Handbuch für Modellflugzeuge. Durch die Fenster konnte ich Sitze erkennen, einige besetzt, die meisten leer.

Trümmer und Leichenteile bedeckten die Landschaft wie achtlos weggeworfener Müll. Von meinem Standpunkt aus hoben sich die mit Haut bedeckten Körperteile grellbleich von dem Hintergrund aus Waldboden, Eingeweiden und Flugzeugteilen ab. Gegenstände hingen in den Bäumen oder lagen verdreht und verbogen auf Zweigen und Laubwerk. Gewebe. Drähte. Blechteile. Isolierung. Spritzgussplastik.

Die örtlichen Behörden waren bereits zur Stelle, sicherten die Unfallstelle und suchten nach Überlebenden. Ich sah Gestalten, die mit gesenkten Köpfen zwischen den Bäumen umhergingen, und andere, die am äußeren Rand des Schrottfelds Absperrbänder spannten. Sie trugen gelbe Jacken mit der Aufschrift Swain County Sheriff’s Department auf dem Rücken. Wieder andere wanderten einfach herum oder standen in Gruppen beisammen und rauchten, redeten oder starrten ins Leere.

Auf der mir entgegengesetzten Seite sah ich rote, blaue und gelbe Lichter durch die Bäume blitzen. Dort also musste der Zufahrtsweg sein, den ich nicht gefunden hatte. Ich stellte mir vor, wie schon morgen früh diese Straße verstopft sein würde von Polizeiwagen, Feuerwehrautos, Bergungslastern und den Fahrzeugen von freiwilligen Helfern.

Der Wind drehte sich, und der Rauchgeruch wurde stärker. Ich drehte mich um und sah eine dünne schwarze Rauchsäule hinter dem nächsten Kamm aufsteigen. Mein Magen zog sich zusammen, denn ich war nahe genug am Geschehen, um einen anderen Geruch zu bemerken, der sich unter den scharfen, beißenden Rauchgestank mischte.

Als forensische Anthropologin ist es meine Aufgabe, gewaltsame Todesfälle zu untersuchen. Im Auftrag von coroners und medical examiners, so genannten MEs, den obersten beamteten Leichenbeschauern der diversen Countys, habe ich hunderte von Brandopfern untersucht, ich kenne also den Geruch von verkohltem Fleisch. In der Nachbarschlucht brannten Menschen.

Ich schluckte und konzentrierte mich wieder auf die Bergungsarbeiten. Einige, die bis jetzt tatenlos herumgestanden hatten, bewegten sich nun über das Gelände. Ich sah einen Deputy des Sheriffs, der sich bückte und den Schrott zu seinen Füßen untersuchte. Er richtete sich wieder auf, und in seiner linken Hand blitzte ein Gegenstand. Ein anderer Deputy hatte angefangen, Trümmer zu einem Haufen zu stapeln.

»Scheiße!«

Ich suchte mir einen Weg nach unten, wobei ich mich an Büschen festhielt und im Zickzack zwischen Felsen und Bäumen hin und her lief, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Abhang war steil, und jedes Stolpern konnte einen Sturz bedeuten.

Zehn Meter vom Talboden entfernt trat ich auf ein Blech, das unter mir wegrutschte, sodass ich durch die Luft segelte wie ein Snowboarder bei einem Sprung. Ich landete hart und kullerte den Abhang hinunter, in meinem Schlepptau eine kleine Lawine aus Kieseln, Ästen, Blättern und Kiefernzapfen.

Um meinen Sturz zu bremsen, grapschte ich nach einem Halt, schürfte mir dabei die Handflächen auf und brach mir ein paar Fingernägel ab, bevor meine Hand etwas Festes traf und die Finger sich darum schlossen. Ich spürte einen Stich im Handgelenk, als mein Körpergewicht und die Wucht der plötzlichen Verzögerung daran zerrten.

Einen Augenblick lang hing ich so da, drehte mich dann zur Seite, zog mich mit beiden Händen hoch und brachte mich in eine sitzende Position. Ohne den Griff meiner Hände zu lockern, schaute ich nach oben.

Der Gegenstand, an den ich mich klammerte, war eine lange Eisenstange, die von einem Felsen an meiner Hüfte hochragte zu einem gekappten Baum etwa einen Meter über mir. Ich stellte die Füße auf, prüfte die Festigkeit des Untergrunds und zog mich in eine aufrechte Position. Dann wischte ich mir die blutigen Hände an der Hose ab, verknotete die Jacke neu und kletterte weiter abwärts.

Am Talboden beschleunigte ich meine Schritte. Obwohl sich meine terra alles andere als firma anfühlte, war zumindest die Schwerkraft jetzt auf meiner Seite. Am abgesperrten Bereich hob ich das Band und kroch hindurch.

»He, Lady. Nicht so schnell.«

Ich blieb stehen und drehte mich um. Der Mann, der das gesagt hatte, trug eine Jacke des Swain County Sheriff’s Department.

»Ich gehöre zum DMORT.«

»Was zum Teufel ist DMORT?« Barsch.

»Ist der Sheriff vor Ort?«

»Wer will das wissen?« Das Gesicht des Deputys war starr, sein Mund zu einer harten, schmalen Linie zusammengekniffen. Eine orangefarbene Jagdkappe hatte er tief über die Augen gezogen.

»Dr. Temperance Brennan.«

»Wir brauchen hier keine Ärzte mehr.«

»Ich soll die Opfer identifizieren.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Bei derartigen Katastrophen hat jede Regierungsbehörde spezifische Aufgaben. Das Office of Emergency Preparedness, OEP, quasi die Aufsichtsbehörde bei Notfalleinsätzen, organisiert und führt das National Disaster Medical System, NDMS, den nationalen Dienst für Notfallmedizin, der sich sowohl um medizinische Versorgung wie um Opferidentifikation und den Komplex der Leichenbeschau kümmert, falls Tote in großer Zahl zu beklagen sind.

Um diese Aufgabe erfüllen zu können, hat das NDMS das Disaster Mortuary Operational Team, DMORT, also das Leichenbeschauungsteam für den Katastropheneinsatz, und das Disaster Medical Assistance Team, DMAT, also das Medizinische Hilfsteam für den Katastropheneinsatz, geschaffen. Bei offiziell erklärten Katastrophen kümmert sich das DMAT um die Bedürfnisse der Lebenden, während das DMORT sich mit den Toten beschäftigt.

Ich zog meinen NDMS-Ausweis aus der Tasche und gab ihn dem Deputy.

Er musterte die Karte und nickte dann in die Richtung des Flugzeugrumpfs.

»Der Sheriff ist bei den Einsatzleitern der Feuerwehr.« Seine Stimme klang brüchig, und er wischte sich mit der Hand über den Mund. Dann senkte er den Blick und ging davon; offensichtlich war es ihm peinlich, dass er Gefühle gezeigt hatte.

Das Verhalten des Deputys überraschte mich nicht. Auch die zähesten und fähigsten Polizisten und Bergungsspezialisten sind mental nie auf ihren ersten »Großen« vorbereitet, so umfangreich ihre Ausbildung und ihre Erfahrung auch sein mögen.

»Große« – Großunfälle, so nennt die National Transportation Safety Board, NTSB, die Nationale Verkehrssicherheitsbehörde, solche Abstürze. Ich war mir nicht ganz sicher, welche Bedingungen ein Notfall erfüllen musste, um als »Großer« zu gelten, aber ich hatte bei mehreren mitgearbeitet und wusste eins mit Bestimmtheit: Jeder war ein Horror. Auch ich war nie darauf vorbereitet und spürte wie der Deputy das Entsetzen. Nur hatte ich gelernt, es nicht zu zeigen.

Auf meinem Weg zum Rumpf kam ich an einem Deputy vorbei, der eben eine Leiche zudeckte.

»Nehmen Sie das weg«, befahl ich.

»Was?«

»Decken Sie sie nicht zu.«

»Wer sagt das?«

Ich zeigte auch ihm meine Karte.

»Aber sie liegen alle offen da.« Seine Stimme klang tonlos, wie von einem Computer.

»Alles muss so bleiben, wie es ist.«

»Wir müssen etwas tun. Es wird langsam dunkel. Bären werden diese –«, er suchte nach dem richtigen Wort, » – Leute wittern.«

Ich hatte gesehen, was Bären mit einer Leiche anrichten konnten, und hatte durchaus Verständnis für die Sorgen des Mannes. Trotzdem musste ich ihn stoppen.

»Alles muss fotografiert und registriert werden, bevor man etwas verändern kann.«

Mit schmerzhaft verkniffenem Gesicht knüllte er die Decke mit beiden Händen zusammen. Ich wusste genau, was er empfand. Den Drang, etwas zu tun, ohne recht zu wissen, was. Das Gefühl der Hilflosigkeit inmitten einer überwältigenden Tragödie.

»Bitte geben Sie die Anweisung aus, dass alles genau so bleiben muss. Und dann suchen Sie nach Überlebenden.«

»Das soll wohl ein Witz sein.« Sein Blick wanderte über die Szene um uns herum. »So etwas kann doch niemand überleben.«

»Falls noch irgendjemand am Leben ist, hat derjenige mehr von den Bären zu befürchten als diese Leute hier.« Ich deutete auf die Leiche zu seinen Füßen.

»Und den Wölfen«, fügte er mit dumpfer Stimme hinzu.

»Wie heißt der Sheriff?«

»Crowe.«

»Welcher ist es?«

Er schaute zu einer Gruppe in der Nähe des Rumpfes.

»Da drüben. Groß, grüne Jacke.«

Ich ließ ihn stehen und eilte auf Crowe zu.

Der Sheriff studierte mit einem halben Dutzend Feuerwehrmännern, die, ihren Uniformen nach zu urteilen, aus mehreren Countys kamen, eine Karte.

Trotz gesenkten Kopfes überragte Crowe noch alle anderen. Die Schultern unter der Jacke wirkten breit und hart und ließen auf regelmäßiges Krafttraining schließen. Ich hoffte, dass ich nie mit Sheriff Gebirgsmacho aneinander geraten würde.

Als ich mich näherte, hielten die Feuerwehrmänner inne und schauten in meine Richtung.

»Sheriff Crowe?«

Crowe drehte sich um, und ich sah sofort, dass Machismo hier kein Problem sein würde.

Sie hatte hohe, breite Wangen und eine zimtfarbene Haut. Die Haare, die unter ihrem flachkrempigen Hut hervorlugten, waren kraus und karottenrot. Was mich aber vor allem faszinierte, waren ihre Augen. Die Iris hatte die Farbe des Glases alter Colaflaschen. Betont von orangebraunen Lidern und Brauen und in prägnantem Kontrast zu ihrer dunklen Haut war dieses blasse Grün ganz außerordentlich. Ich schätzte sie auf etwa vierzig.

»Und Sie sind?« Die Stimme war tief und rau und ließ darauf schließen, dass ihre Besitzerin keine Mätzchen duldete.

»Dr. Temperance Brennan.«

»Und Sie haben einen Grund, hier zu sein?«

»Ich gehöre zum DMORT.«

Wieder mein Ausweis. Sie musterte die Karte und gab sie mir dann zurück.

»Ich hörte die Nachricht von dem Absturz auf dem Weg von Charlotte nach Knoxville. Als ich Earl Bliss anrief, den Leiter des Region-Vier-Teams, bat er mich, hierher zu fahren und nachzusehen, ob Sie Hilfe brauchen.«

Ein bisschen diplomatischer formuliert als Earls eigentliche Aussage.

Einige Sekunden erwiderte die Frau überhaupt nichts. Dann wandte sie sich wieder den Feuerwehrmännern zu, sagte ein paar Worte, und die Männer zerstreuten sich. Sie schloss die Lücke zwischen uns und streckte die Hand aus. Ihr Griff konnte Knochen brechen.

»Lucy Crowe.«

»Bitte nennen Sie mich Tempe.«

Sie spreizte die Füße, verschränkte die Arme und betrachtete mich mit ihren Colaflaschen-Augen.

»Ich glaube nicht, dass eine der armen Seelen noch medizinische Hilfe benötigt.«

»Ich bin forensische Anthropologin, keine Ärztin. Sie haben nach Überlebenden gesucht?«

Sie nickte mit einem einfachen Hochreißen des Kopfes, eine Geste, wie ich sie in Indien gesehen hatte. »Ich dachte mir schon, dass so etwas eine Herzensangelegenheit des MEs ist.«

»Das ist allen eine Herzensangelegenheit. Ist das NTSB schon da?« Die Verkehrssicherheitsbehörde war immer ziemlich schnell zur Stelle.

»Sind unterwegs. So ziemlich jede Behörde und jeder Verein auf dem Planeten haben sich angemeldet. MTSB, FBI, ATF, Rotes Kreuz, FAA, Forest Service, Tennessee Valley Authority, Innenministerium. Würde mich nicht überraschen, wenn der Papst selbst über den Wolf Knob da hinten geritten kommen würde.«

»Innenministerium und Tennessee Valley Authority

»Der Großteil des Landes hier ist Staatsgrund, ungefähr fünfundachtzig Prozent als Nationalpark, fünf Prozent als Reservat. Wir sind auf dem Big Laurel, wie man die Gegend hier nennt. Bryson City liegt im Nordwesten, dahinter der Great Smoky Mountains National Park. Das Reservat der Cherokee liegt im Norden, das Nantahala Game Land and National Forest im Süden.«

Ich schluckte, um den Druck in meinen Ohren zu lösen.

»Wie hoch sind wir hier?«

»Vierzehnhundert Meter.«

»Ich will Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Arbeit tun müssen, Sheriff, aber es gibt einige Leute, die Sie vielleicht lieber draußen ha –«

»Den Versicherungsvertreter und den Winkeladvokaten, ich weiß schon. Lucy Crowe lebt zwar auf einem Berg, aber sie kommt auch manchmal runter.«

Das bezweifelte ich nicht. Ich war mir außerdem sicher, dass bei Lucy Crowe niemand eine freche Lippe riskierte.

»Dürfte wahrscheinlich auch gut sein, die Presse draußen zu halten.«

»Wahrscheinlich.«

»Sie haben Recht wegen des MEs, Sheriff. Er wird bald hier sein. Aber der Notfallplan von North Carolina verlangt bei einem ›Großen‹ einen Einsatz des DMORT.«

Ich hörte einen gedämpften Knall, gefolgt von lauten Befehlen. Crowe nahm den Hut ab und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn.

»Wie viele Feuer brennen noch?«

»Vier. Wir kriegen sie alle gelöscht, aber es ist knifflig. Der Berg ist zu dieser Jahreszeit ziemlich trocken.« Sie klopfte sich mit dem Hut auf einen Schenkel, der so muskulös war wie ihre Schultern.

»Ich bin mir sicher, dass Ihre Teams ihr Bestes geben. Sie haben das Areal gesichert und kümmern sich um die Feuer. Wenn es keine Überlebenden gibt, kann man sonst nichts tun.«

»Für so etwas sind sie eigentlich gar nicht ausgebildet.«

Über Crowes Schulter sah ich, dass ein alter Mann in einer Jacke, die ihn als freiwilligen Helfer auswies, in einem Haufen Schrott stocherte. Ich entschied mich für den taktvollen Weg. »Ich bin mir sicher, Sie haben Ihren Leuten gesagt, dass eine Absturzstelle behandelt werden muss wie der Tatort eines Verbrechens. Nichts darf verändert werden.«

Sie zeigte mir ihr typisches, nach oben gerichtetes Nicken.

»Sie sind wahrscheinlich frustriert, weil sie helfen wollen, aber nicht so recht wissen, wie. Eine Erinnerung kann nie schaden.«

Ich deutete zu dem Stocherer.

Crowe fluchte leise und ging dann mit Schritten wie eine Olympionikin zu dem Freiwilligen. Der Mann ging davon, und gleich darauf war der Sheriff wieder bei mir.

»So etwas ist nie einfach«, sagte ich. »Wenn das NTSB eintrifft, werden sie die Verantwortung für die ganze Operation übernehmen.«

»Ja.«

In diesem Augenblick klingelte Crowes Handy. Ich wartete, während sie sprach.

»Der Nächste, der hiervon Wind bekommen hat und sich ankündigt«, sagte sie und hakte das Handy an den Gürtel. »Charles Hanover, Vorstandsvorsitzender der TransSouth Air.«

Ich war zwar noch nie mit der TransSouth geflogen, hatte aber von ihr gehört, eine kleine regionale Fluggesellschaft, die ungefähr ein Dutzend Städte in den Carolinas, Georgia und Tennessee mit Washington, D. C., verband.

»Ist das eine ihrer Maschinen?«

»Flug 228 verließ mit Verspätung Atlanta mit dem Ziel Washington, D. C. Stand vierzig Minuten auf dem Rollfeld, startete um zwölf Uhr fünfundvierzig. Die Maschine befand sich in einer Höhe von ungefähr fünfundzwanzigtausend Fuß, als sie um ein Uhr sieben von den Radarschirmen verschwand. Mein Büro wurde gegen zwei alarmiert.«

»Wie viele an Bord?«

»Die Maschine war eine Fokker-100 mit zweiundachtzig Passagieren und sechs Mann Besatzung. Aber das ist noch nicht das Schlimmste.«

Ihre nächsten Worte kündigten den Albtraum der kommenden Tage an.