Staatsanwältin Regina Flint und Kriminalpolizist Bruno Cavalli haben es mit ihrem bislang schwierigsten Fall zu tun: Ein brutaler Frauenmord weist auf den »Metzger« hin – aber der sitzt bereits im Gefängnis. Der Täter muss also über Insiderwissen verfügen. Wem können Flint und Cavalli noch trauen?
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.
Zur Webseite von Petra Ivanov.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Tiefe Narben
Flint und Cavalli ermitteln gegen einen Insider
Kriminalroman
Ein Fall für Flint und Cavalli (5)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument
Die Erstausgabe erschien 2010 im Appenzeller Verlag, Schwellbrunn.
Die Autorin dankt der Stadt Dübendorf für die Förderung ihrer Arbeit an diesem Buch.
© by Petra Ivanov 2010
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Jack Sparrow
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30638-7
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 02.08.2020, 13:20h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
http://www.unionsverlag.com
mail@unionsverlag.ch
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
»Po gjdo ndihm tash asht per mu von.«
(»Aber jede Hilfe kommt für mich zu spät.«)
Aus »Ushtari« von Driton Palushi, Juni 2008
Für Stephanie
Ein letztes Mal kontrollierte er die schwere Eisentür. Rüttelte daran. Stieß mit der Schulter dagegen. Sie bewegte sich keinen Millimeter. Genau wie geplant. Zufrieden strich er mit der Hand über den roten Lack. Nirwana hatte jemand mit eckigen Buchstaben ins Metall geritzt. Erleuchtung. Wörtlich übersetzt: Erlöschen. Sie würde es nicht als Weg zum Glück betrachten, zumindest nicht zu Beginn. Doch wenn sie ihr bisheriges Leben auslöschte, wenn sie in einen Zustand der Zustandslosigkeit kam, würde er die Leere füllen. Dann sähe sie ein, warum es sein musste. Einsicht, dachte er. Nirwana ist Einsicht.
Seine Kopfhaut kribbelte, als er den Vorrat an Kabelbindern überprüfte. Diese Aufgabe mochte er am wenigsten, doch es war unumgänglich. Manche Frauen mussten zur Einsicht gezwungen werden. Auch vom Klebeband machte er nur ungern Gebrauch. Die Erstickungsgefahr war ihm zu groß. Lange hatte er deshalb nach einem abgelegenen Versteck gesucht, wo niemand ihre Schreie würde hören können. Schließlich hatte er aufgegeben. Die Schweiz war zu dicht besiedelt. Nirgends war man allein. Außer unter Menschen.
Im Winter könnte es hier kühl werden. Er hoffte, dass sie bis dahin so weit sein würde. Sonst müsste er eine Heizung installieren. Das würde zwar teuer, stellte ihn aber nicht vor zu große technische Probleme. Die Sommerhitze war unbedenklich, die dicken Mauern sorgten dafür, dass die Luft angenehm kühl blieb. Etwas feucht vielleicht, doch deshalb hatte er den Teppich verlegt. Die Rottöne des Blumenmusters sollten Geborgenheit vermitteln. Er hatte an alles gedacht. Nichts konnte schieflaufen. Heute Nacht würde sie einziehen. Genau wie geplant.
Aufgeregt schob er eine CD in die Anlage und drehte die Lautstärke aufs Maximum, wie jeden Dienstag-, Donnerstag- und Samstagabend in den letzten fünf Monaten. Er legte sich aufs schmale Bett und schloss die Augen. Ausnahmsweise ließ er die Bilder zu, die ihn immer begleiteten, einer chronischen Krankheit gleich. Wie sie vor ihm stand, die Brüste vom langen, dunklen Haar verdeckt, das sie tagsüber in einem engen Knoten gefangen hielt. Wenn er brav war, teilte sie die Strähnen, damit ihre Brustwarzen zum Vorschein kamen. Dann musste er ganz still liegen, die Hände an die Seiten gepresst. Die kleinste Bewegung genügte, und sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. Wenn sie aber zufrieden mit ihm war, zog sie ihn aus. Langsam, die Finger leicht wie Schmetterlingsflügel. Die großen, braunen Augen auf ihn gerichtet. Ihre Haarspitzen kitzelten seine nackte Haut, ihre Brüste schaukelten hin und her.
Er hatte nicht gemerkt, dass er die Hose aufgeknöpft hatte. Sich tadelnd zog er die Hand zurück. Er durfte die Kontrolle nicht verlieren. Alles war genau durchdacht, aber sein Plan verlangte, dass er jeden Schritt so ausführte wie vorgesehen. Schon wieder machte sie ihm einen Strich durch die Rechnung. Er hörte sie in Gedanken lachen, dieses kehlige, abschätzige Lachen, das ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte, und er ballte die Hände zu Fäusten. Nicht jetzt, schrie es in ihm. Nicht jetzt. In zehn Minuten musste er los. Genau wie geplant.
JAM BA TASH GATI ME DAL PREJ SHPIS
KUNDËR ARMIKUT ME LUFTU JAM NIS
Dash murmelte die Worte, die er notiert hatte, und ließ seinen Bleistift fallen. Mit Schwung stieß er sich vom Schreibtisch ab, der Drehstuhl wirbelte um die eigene Achse. Als er sich nicht mehr bewegte, legte Dash die Hand auf die Computertastatur. Er stellte den Beat ein, wiederholte den Reim.
NANEN BABEN MOTREN GRUN EDHE FMIN
I SHOF ME LOT NË SY, SEPSE MʼERDH KOHA ME SHKU, E DIN
Wie weiter?
Er fuhr sich mit der Hand durchs stachelige Haar, vergaß, dass er sich bereits zum Ausgehen frisiert hatte. Seine Handfläche glänzte vom noch feuchten Gel. Er fluchte.
»Dash!«, mahnte Bajram Selmani.
Sein Vater hörte alles. Obwohl er meist nur dasaß, den Blick auf eine Zeitung gerichtet, die er nicht las.
Dash klappte mit der sauberen Hand den Laptop zu und ging in die Küche. Dort schnippte er mit den Fingern.
SYT ME LOT KREJT, JUVE JU THAM LAMTUMIR
NANA DHE BABA MʼTHOJN DO TʼPRESUM O BIR
Laut rappte er die neuen Strophen.
Sein Vater sah auf, drehte das kantige Gesicht in seine Richtung, ohne ihn wahrzunehmen. Leise bat er ihn aufzuhören.
»Was?« Dashs Fuß gab immer noch den Rhythmus vor.
»Über den Krieg zu singen, steht dir nicht zu«, sagte sein Vater.
Dash wollte widersprechen, doch Baba widersprach man nicht. Schon gar nicht, wenn er in dieser Stimmung war. Obwohl Bajram Selmani noch nie die Hand gegen seinen Sohn erhoben hatte, fürchtete sich Dash vor ihm. Vor der Leere in seinen Augen. Vor seiner gebückten Haltung, dem Hinken. Auch jetzt, wo er nur dasaß, vor sich ein halbes Kilogramm Lammfleisch in verschweißter Folie.
Verstohlen blickte Dash auf die Uhr. Es war schon halb zehn. Um zehn hatte er sich in der Stadt verabredet. Wenn er nicht rechtzeitig erschien, würden seine Kollegen ohne ihn losfahren. Seit Wochen freute er sich aufs Konzert; es kam nicht oft vor, dass Etno Engjujt in der Schweiz auftrat.
Bajram Selmani stand auf. Wortlos holte er eine CD des Pianisten Desar Sulejmani, die er Dash reichte.
»Das ist richtige Musik«, sagte er.
Dash wippte ungeduldig mit dem Fuß.
»Geh, hör sie dir an«, befahl sein Vater.
»Ich muss los.« Dash bewegte sich rückwärts zur Tür.
»Hör sie dir an«, wiederholte sein Vater.
»Später.«
»Jetzt.«
Dash kam sich vor wie ein Insekt in einem Spinnennetz. Hilflos starrte er in die leeren Augen seines Vaters. Er schluckte mühsam. Wandte seinen Blick vom dünnen Mann ab, der vor ihm saß. Von dem sie sagten, er sei sein Vater.
Der Vater, den Dash in Erinnerung hatte, war stark gewesen. Mit geradem Rücken hatte er am Kopfende des Tisches gesessen, den Erzählungen seiner Kinder aufmerksam zuhörend. Ab und zu hatte er Fragen gestellt, um zu prüfen, ob sie im Schulunterricht tatsächlich aufgepasst hatten. Sie sollten es besser haben als er, studieren, etwas aus ihrem Leben machen. Seine feurigen Reden hallten Dash immer noch in den Ohren. Als die Repressionen der serbischen Behörden zunahmen, unterrichtete Bajram Selmani seine Söhne und die Kinder seiner Brüder selbst. Dash war damals erst sieben gewesen, das lange Zuhören war ihm schwergefallen. Manchmal holte ihn seine Mutter, und er durfte in der Küche helfen. Seinem Vater erklärte sie, sie brauche Dash, damit er Holz hole und anfeuere. Dass er in Wirklichkeit Äpfel schälte, verschwieg Nana. Das war Frauenarbeit.
In seinem Zimmer schob Dash die CD ins Laufwerk und klickte auf Play. Als Klaviertöne aus dem Laptop perlten, holte er seinen MP3-Player hervor. Er steckte die Stöpsel in die Ohren und wählte seinen Lieblingsrap. Mit geschlossenen Augen ließ er sich aufs Bett fallen, die Frisur war ihm egal.
MOTRA: VLLA ALLAHU DOT NDIHMOJ
GRUJA ME LOT NE SY: KURR SDO TË HARROJ
Er schrieb den Reim auf.
Große, braune Augen blickten ihn über den Rand des Weinglases hinweg an. Rehaugen, dachte er. Wie ihre. Er hatte gut gewählt.
Musik rieselte aus verborgenen Lautsprechern, ein Paar tanzte eng umschlungen. Nackte Arme und Beine ineinander verkeilt. Ein Mann gesellte sich dazu, stellte sich hinter die Frau und sah ihren Partner fragend an. Als dieser kaum merklich den Kopf schüttelte, versuchte er es bei einem anderen Paar.
»Ich glaube, das hintere Zimmer ist frei«, flüsterte sie ihm zu, mit der Zunge über sein Ohrläppchen fahrend.
In einem Zug leerte er sein Glas, setzte eine einstudierte, bekümmerte Miene auf.
»Du bekommst nicht etwa kalte Füße?«, scherzte sie. Als er nicht antwortete, verschwand das Lächeln auf ihrem Gesicht. »Im Ernst? Ist es dein erstes Mal?«
Er senkte den Blick. »Wird jemand zusehen?«
»Schon möglich. Ist dir das unangenehm?«
Er wand sich auf dem Barhocker.
»Warum bist du hier?«, fragte sie.
»Ich dachte … die Vorstellung … aber jetzt …«
Sie strich ihm über den Arm. Fast nachsichtig, als tröste sie ein Kind, das sich zu weit von seiner Mutter entfernt hatte. »Zu mir nach Hause können wir nicht.«
Er ließ sich nicht anmerken, dass er über ihre Ehe Bescheid wusste. Scheu bemerkte er, dass er in der Nähe wohne.
Genau wie geplant.
Zusammen traten sie in die Nacht hinaus. Die Personen, denen sie begegneten, starrten zu Boden. Niemand wollte erkannt werden.
Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten. Im eigenen Revier zu jagen, war gefährlich, doch wie erwartet hatte gerade die geringe Distanz sie überzeugt. Erst als sie die Metalltür sah, wurde sie misstrauisch. Er beobachtete, wie sich eine Ahnung in ihren Blick schlich. Damit hatte er gerechnet. Zuerst würde sie ihr Unbehagen verdrängen, sich einreden, dass ihre Fantasie mit ihr durchgehe. Wenn sie dann begriff, dass sie ihrem Instinkt hätte folgen müssen, wäre es zu spät.
Hinter den Fenstern der Nachbarhäuser brannten keine Lichter. Das einzige Lebewesen, das sich mit einem leisen Schnurren bemerkbar machte, war eine schwanzlose Katze, die ihm um die Beine strich. Er hatte nie begriffen, warum er Katzen anzog. Weder fütterte noch kraulte er sie. Geräuschlos glitt der Schlüssel ins geölte Schloss.
»Wohnst du hier?«, fragte sie misstrauisch.
Rasch stieß er die Tür auf.
Sie zögerte. »Das ist doch kein …«
Mit der Hand packte er sie am Oberarm und schob sie in den Raum. Als sie den Mund zu einem Schrei öffnete, hatte er die Tür bereits zugeschlagen. Der hohe Ton, der die Stille zerriss, fuhr ihm in die Knochen. Als wäre der Schrei förmlich aus ihr herausgerissen worden. Weit aufgesperrte braune Augen starrten ihn an.
Erst jetzt merkte er, dass sie die Lippen zusammenpresste. Gleichzeitig traf ihn die Erkenntnis, dass der Schrei nicht von ihr, sondern von der Katze stammte, die er in der Tür eingeklemmt hatte.
Sie reagierte schneller als er. Bevor er die Tür richtig schließen konnte, schob sie den Fuß in den Spalt. Er spürte den Widerstand, als er mit aller Kraft dagegen stieß. Das schwere Metall prallte auf die Knochen, die unter dem Druck zerbrachen. Ein weiterer Schrei erfüllte die Dunkelheit, diesmal ein menschlicher. Er schien in seinen Ohren zu explodieren, hallte von den Wänden wider. Lange Fingernägel bohrten sich in seinen Hals, kratzten die Haut auf.
So hatte er das nicht geplant.
Die Wut erfasste ihn wie eine Sturmböe.
Er packte sie an den Haaren, riss sie an sich und begann, auf sie einzuschlagen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Tür offen stand. Er musste sie schließen. Sein Blick fiel auf die Dessous, die er extra für sie gekauft hatte. Größe 36. Rote Seide, die ihr dunkles Haar und ihre braunen Augen am besten zur Geltung brachte. Er griff nach dem Büstenhalter, wickelte ihn um ihren Hals. Zog daran, bis sie nur noch röchelte. Selber schuld, dachte er, er hatte viel Angenehmeres damit vorgehabt. Mit gestrecktem Bein versuchte er, die Tür zu erreichen, streifte sie aber nur mit den Zehenspitzen. Er trat einen Schritt näher, hörte sie immer noch röcheln. Jetzt schaffte er es, doch er setzte zu viel Kraft ein, und die Tür sprang wieder auf. Noch einen Schritt. Seine Hand berührte das Metall. Er hörte ein Klicken, als die Tür ins Schloss fiel. Dunkelheit umhüllte ihn. Er tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Dabei kannte er diesen Raum genau, jeden Winkel hatte er eigens für sie gestaltet. Unzählige Wochen Arbeit investiert. Die sie innerhalb von Sekunden zunichtegemacht hatte. Er stolperte über etwas, fiel hin. Landete weich und warm. Sie röchelte nicht mehr. Sorgfältig löste er den Büstenhalter. Sie regte sich nicht.
Dash schlug die Augen auf, desorientiert und verwirrt. Sein Blick fiel auf den Laptop, der in den Standby-Modus übergegangen war. Da fiel ihm das verpasste Konzert ein. Fluchend setzte er sich auf, zu spät erinnerte er sich daran, dass sein Vater alles hörte. Es kam keine Zurechtweisung. Die Luft war stickig, die Jeans klebte ihm an den Beinen. Er öffnete das Fenster und lauschte. Zu Hause, in Kosovo, war die Nacht vom Bellen der Hunde erfüllt gewesen. Dash hatte keine Ahnung, woher sie alle gekommen waren. Tagsüber versteckten sie sich; kaum ging der Mond auf, krochen sie hervor. Herrenlose, streunende Hunde, die in allen Tonhöhen kläfften, jaulten, heulten. Das Echo hallte durch die Berge. Obwohl sie nie bissen, war er froh gewesen um die schützenden Wände um ihn herum. Um das sanfte Atmen seiner Brüder, die mit ihm das Zimmer teilten.
Die Stille in der Schweiz war ihm zu still.
Er kratzte sich am Kopf, wo das Gel sein Haar in eine pampige Masse verwandelt hatte. Das Display seines MP3-Players zeigte 02:54 Uhr.
VET JU KAM LAN, KAM THAN
QË DOT KTHEHNA PRAP
Ihr dürft ihn nie vergessen, hatte seine Mutter gesagt. Sie schien zu wissen, dass sie Baba nicht wiedersehen würde. Dash hatte geglaubt, Nana habe den Tod seines Vaters in den Sternen gelesen, wenn sie nachts wie er in den Himmel starrte. Aber es war nicht Baba, der starb. Sondern Nana.
UNE BESEN DOT JAV JAP
DO TʼJU PERCJELL NË GJDO HAP
Leise schlich Dash in die Küche. Sein Vater saß immer noch am Küchentisch, den Kopf auf die Zeitung gebettet. Ein dünner Speichelfaden rann aus Bajram Selmanis Mundwinkel, verschmierte die schwarzen Buchstaben. Dash legte ihm die Hand auf die Schulter, doch er rührte sich nicht. Er holte einen zweiten Stuhl, der überhaupt nicht zu jenem passte, auf dem sein Vater saß. Genauso wenig, wie sie zueinanderpassten. Er stellte den Stuhl im gleichen Winkel hin, setzte sich neben seinen Vater und legte den Arm auf den Tisch. Als sein Kopf bequem lag, rutschte er näher an den schlafenden Mann heran, bis er ihn auch am Oberschenkel berührte. Die Wärme, die von seinem Vater ausging, war ihm nicht so vertraut wie das Bellen der Hunde.
DAL PERJASHT, KREJT JAN TUM PRIT
PERMAS I LA FAMILJEN, JAN TU MERZIT
I KQYRI EDHE NIHER PERMAS NISA MU NGUSHTU
PO SYT ME LOT JO NUK MI SHE TI MU
Heute
Das hier dürfte euch am meisten interessieren«, sagte Uwe Hahn. Der Rechtsmediziner zeigte auf zwei Knochenstücke. »Brustbein und Rippen.« Er richtete die Lampe so aus, dass sie die Bruchkanten entlang der Rippen beleuchtete, und legte weitere Knochenstücke daneben. Sie passten perfekt zusammen. »Fernando, die Lupe bitte.«
Der Präparator reichte Hahn eine Lupe. Dünne, graue Haarsträhnen fielen dem Rechtsmediziner in die Stirn, als er sich über die Knochen beugte. Er winkte Bruno Cavalli zu sich. Neben dem hellen Rechtsmediziner fiel die indianische Abstammung des Kriminalpolizisten stärker auf als sonst. Seine Haare, die er kürzlich bis auf wenige Millimeter abgeschnitten hatte, glänzten schwarz im künstlichen Licht.
Mit langem Haar hatte er ihr besser gefallen, dachte Regina Flint. Die Staatsanwältin stand etwas abseits, die Hand auf dem Bauch, als wolle sie das wachsende Leben in sich vor dem Tod schützen. Im Institut für Rechtsmedizin war der Tod allgegenwärtig, nicht nur auf den Sektionstischen, sondern auch in den silbernen Kühlfächern der Aufbahrung nebenan oder einen Stock höher, wo trauernde Angehörige empfangen wurden.
»Wie sind die Brüche entstanden?«, fragte Cavalli.
»Es sind keine Brüche«, antwortete Hahn. »Sondern Schnitte. Wenn du die Knochen zusammenfügst, siehst du v‑förmige Scharten. Die Rippen wurden entlang der Knorpelknochengrenze durchtrennt.«
»Eine Säge?«
Hahn verneinte. »Keine Längsspuren oder Kerben.«
»Also auch kein Schlag?«
»Nein.«
Cavalli richtete sich auf. Ungeduldig zog er eine Augenbraue hoch. »Sondern?«
Neben ihm beugte sich Martin Angst über das Skelett. Mit einer Taschenlampe beleuchtete der Kriminaltechniker die Seiten der Knochen. Hahn reichte ihm die Lupe.
»Hast du etwas für mich gefunden?«, fragte Angst.
Hahn verneinte. »Nur biologisches Material.«
»Womit wurden die Rippen nun durchtrennt?«, wollte Cavalli wissen.
»Mit einer Gartenschere.« Hahns Stimme zitterte leicht.
Am Tisch nebenan nahm ein Sektionspfleger eine Niere von einem Tablett. Er spülte sie ab und legte sie in eine Waagschale. Das regelmäßige Rauschen des Wassers löste bei Regina Harndrang aus. Sie fixierte einen grünen Aufkleber am Kasten gegenüber. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Wie oft schon hatte sie während ihrer dreizehn Jahre als Staatsanwältin Hahn am »grünen«, »roten« oder »blauen« Tisch gegenübergestanden? Erst jetzt begriff sie die Bedeutung der Farben. Der Aufkleber des FC St. Gallen wies darauf hin, dass die Behältnisse im Kasten zum grünen Tisch gehörten. Ihr Blick wanderte zum Kasten daneben. Blau. FC Luzern. Sie lächelte.
»Regina?« Hahns Stimme klang besorgt.
»Eine Gartenschere?«, wiederholte sie.
»Soll ich dir einen Stuhl holen?«
»Postmortal?«, fragte Cavalli.
»Unglücklicherweise behält Knochengewebe noch einige Zeit nach dem Tod seine physikalischen und biochemischen Eigenschaften. Deshalb lassen sich Verletzungen, die kurz vor dem Tod entstanden sind, nicht von späteren unterscheiden. Dazu müsste ich die Organe untersuchen.« Hahn musterte die Leiche. »Aber von ihnen ist kaum etwas übrig geblieben. Trotzdem wissen wir, dass es sich um frische Knochen handelt und nicht um ein Skelett aus einem früheren Jahrhundert. Das ist an der unregelmäßigen Bruchkante zu erkennen, die auf eine noch intakte Verbindung von Kristallstruktur und organischem Gewebe hinweist.«
Plötzlich wurde Regina kreideweiß. »Eine Gartenschere?«
Hahn schwieg.
»Der ›Metzger‹?«, flüsterte sie.
»Möglicherweise«, sagte Hahn.
»Aber er sitzt seit vier Jahren im Gefängnis!«
»Die Leiche lag einige Jahre in ihrem Erdgrab«, erklärte Hahn.
»Dann hat der ›Metzger‹ also mehr als eine Frau auf dem Gewissen?« Regina schauderte.
Obwohl das Herbstsemester offiziell schon angefangen hatte, würden die ersten Vorlesungen erst in einer Woche beginnen. Ohne Studenten wirkte das Gelände der Universität Irchel leer. Am künstlichen See setzten sich Regina und Cavalli auf eine Bank. Regina schob sich ein Darvida in den Mund und kaute mechanisch. Cavalli war in den USA gewesen, als der »Metzger«, wie er von den Medien genannt wurde, im Sommer 2001 eine Frau brutal ermordet und aufgeschnitten hatte. Geschlachtet, hätte sie fast gesagt, doch sie versuchte, neutral zu berichten.
Sie war damals noch nicht bei der Staatsanwaltschaft IV gewesen, die auf Gewaltdelikte spezialisiert ist, kannte die Ermittlungen deshalb nur vom Hörensagen. Trotzdem stiegen Bilder in ihr auf, während sie erzählte. Sie sah einen Teich vor sich, dessen Wasseroberfläche mit Seerosen bedeckt war, hörte die Frösche quaken. Die steilen Hänge der ehemaligen Kiesgrube, wo die Leiche gefunden worden war, schirmten das Naturschutzgebiet gegen außen hin ab.
Niemand hatte etwas gesehen. Oder gehört.
Spielende Kinder hatten die Hand zuerst für einen Fisch gehalten.
»Die Kiesgrube in der Nähe des Mattenhof-Quartiers?«, fragte Cavalli. »In Schwamendingen?«
Regina nickte. Die Bilder hatten sich ihr ins Gedächtnis eingegraben, weil sie selbst schon an diesem Teich gestanden war. Sie wohnte in Gockhausen, nur wenige Kilometer entfernt. Auf einem Spaziergang hatte sie den verwachsenen Eingang in die ehemalige Kiesgrube entdeckt, war dem schmalen Pfad gefolgt. Der versteckte Teich war ihr wie ein magischer Ort vorgekommen. Seit dem Leichenfund hatte sie die Kiesgrube gemieden.
Die Rippen der jungen Frau im Teich waren mit einer Gartenschere aufgetrennt, der Schädel mit einem spitzen Gegenstand aufgebrochen worden wie eine Kokosnuss. Das Großhirn hatte Hahn in der Bauchhöhle des Opfers gefunden. Regina erinnerte sich, dass der Rechtsmediziner wochenlang ungewöhnlich schweigsam gewesen war.
Cavalli hörte zu. Als Regina verstummte, krempelte er die Ärmel seines Hemdes hoch und stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab. Er versuchte, sich die Leiche im Wasser vorzustellen. Seine Jeans roch nach Desinfektionsmittel, stellte er fest. Unauffällig schnupperte er an seinem Hemd. Schweiß. Seit der Schussverletzung, die er sich vor sieben Monaten zugezogen hatte, schwitzte er schon bei der kleinsten Anstrengung. Inzwischen galt er wieder als voll arbeitsfähig. Insgeheim zweifelte er jedoch daran, dass er es je wieder sein würde. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, manchmal fürchtete er, wichtige Hinweise zu übersehen. Die drei Wochen, die er nach seiner Verletzung in einem georgischen Gefängnis zugebracht hatte, hatten die Heilung zusätzlich verzögert.
»Cava?« Reginas Stimme kam von weit weg.
»Hm?«
»Ich muss Landolt davon erzählen.«
Einen Moment begriff Cavalli nicht, was sie ihrem Vorgesetzten erzählen wollte. Sein Blick fiel auf ihre Hand, die auf ihrem flachen Bauch ruhte.
»Meine Vertretung muss organisiert werden«, sagte sie.
Cavalli schwieg.
»Hahn weiß, dass ich schwanger bin.«
»Du hast es ihm erzählt?«
Regina schüttelte den Kopf. »Er hat ein feines Gespür für Körper. Auch für lebende.«
Cavallis Blick folgte einem Jungen, der mit seinem Dreirad über den unebenen Weg fuhr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Rad kippte. »Wer leitete 2001 die Ermittlungen?«
Regina schluckte den Ärger hinunter, den Cavallis Themenwechsel in ihr auslöste. Jedes Mal, wenn sie ihr gemeinsames Kind ansprach, wich er aus. Beharrte sie darauf, über die Zukunft zu reden, so endete das Gespräch immer in einem Streit. Sie hatte einsehen müssen, dass Cavalli im Moment weder psychisch noch physisch in der Lage war, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Er schaffte es kaum, nach seinem verletzungsbedingten Urlaub im Beruf Fuß zu fassen. Doch während sie sich wöchentlich mit ihrer Therapeutin traf, um die schrecklichen Erlebnisse in Georgien zu verarbeiten, lehnte Cavalli jede Hilfe ab.
Cavalli wiederholte seine Frage.
»Silvio Tozzi«, antwortete Regina.
Cavalli verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Ich weiß«, sagte Regina.
Ihr Abteilungsleiter war nicht bekannt für seinen Arbeitseifer. Wenn sie es mit einem weiteren Opfer des »Metzgers« zu tun hatten, käme sie jedoch nicht darum herum, mit ihm zusammenzuarbeiten. Warum hatte sie ausgerechnet diese Woche Brandtour? Wäre die Leiche zwei Tage später entdeckt worden, hätte Tozzi selbst den Fall übernehmen müssen.
Eine Frau, hatte Hahn gesagt. Um die dreißig Jahre alt. Weitere Äußerungen waren dem Rechtsmediziner nicht zu entlocken gewesen. Über den Todeszeitpunkt wollte er nicht spekulieren. Sie würden sich gedulden müssen, bis die Laborresultate eintrafen. In der Zwischenzeit würde Cavalli die Vermisstenanzeigen durchgehen. Seltsam fand Regina, dass der »Metzger« nie ein weiteres Opfer erwähnt hatte. Er hatte sich freiwillig gestellt und ein vollumfängliches Geständnis abgelegt. In der Strafanstalt Pöschwies saß er eine lebenslängliche Strafe ab.
Das Dreirad kippte, als der Junge den Lenker nach rechts riss. Das Kind stieß einen lauten Schrei aus. Cavalli drehte ihm den Rücken zu.
»Muss ich sonst noch etwas wissen?«, fragte er.
Regina stand auf. »Ich lass dir alle Unterlagen zukommen. Tozzi ist heute Nachmittag am Gericht. Ich werde vermutlich erst morgen mit ihm reden können.«
Nachdem Cavalli Regina am Helvetiaplatz abgesetzt hatte, fuhr er zum Kripogebäude und bog in die Tiefgarage ein. Dort schaltete er den Motor aus und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Sofort sah er vor sich, wie Regina die Hand auf den Bauch gelegt hatte, ganz ruhig, als wolle sie dem Ungeborenen versichern, dass es nicht alleine war. Obwohl ihr die Wochen im Gefängnis genauso zugesetzt hatten wie ihm, lag bereits wieder ein Leuchten in ihren blauen Augen. Dass sie sich auf das Kind freute, war offensichtlich. Dabei hatte sie immer behauptet, ihr Beruf fülle sie voll aus. Er kannte keine andere Staatsanwältin, die ihre Fälle so ernst nahm. Sie nutzte nicht nur ihr Fachwissen, sondern auch ihren Verstand und ihr Einfühlungsvermögen. Angeschuldigten, Zeugen und Opfern begegnete sie respektvoll, versuchte, sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen. Den Vorwurf, sie grenze sich zu wenig ab, quittierte sie mit einem Schulterzucken.
Wie würde sie das mit einem Kind schaffen? Bis jetzt hatte sie keine Forderungen an ihn gestellt. Erwartete sie, dass er sich an der Betreuung beteiligte? Oder lediglich einen finanziellen Beitrag leistete? Er wollte es gar nicht wissen, gestand er sich ein. Nicht, bevor er sich darüber im Klaren war, wie sein Leben weitergehen sollte.
Mit Zeigefinger und Daumen massierte er seinen Nasenrücken. Vor vier Wochen hatte sein Sohn eine Kochlehre begonnen. Im März würde Christopher achtzehn werden. Zehn Tage vor dem voraussichtlichen Geburtstermin von Reginas Kind. Von seinem Kind.
Es klopfte an die Scheibe. Cavalli schreckte auf. Sein Vorgesetzter, Mathias Hug, runzelte besorgt die Stirn. Cavalli ließ die Scheibe hinunter. Ende Jahr würde Hug pensioniert. Lange waren Cavallis Mitarbeiter davon ausgegangen, dass er Hugs Nachfolge als Chef des Dienstes Kapitalverbrechen antreten würde. Seit seiner Verletzung zweifelten jedoch viele daran, dass er die nötigen Fähigkeiten mitbrachte. Cavalli hatte sich zwar immer gegen reine Führungsaufgaben gewehrt, doch nun käme ihm eine Beförderung zum Adjutanten mehr als gelegen. Die Gehaltserhöhung würde er brauchen, um die Alimente zu bezahlen, dachte er grimmig. Deshalb hatte er sich trotz Bedenken um die Stelle beworben.
»Alles in Ordnung?«, fragte Hug.
»Die Knochen stammen mit großer Wahrscheinlichkeit von einem weiteren Opfer des ›Metzgers‹«, sagte Cavalli.
Hug erstarrte. »Der ›Metzger‹ sitzt in der Pöschwies!«
»Die Leiche lag einige Jahre begraben«, erklärte Cavalli.
Hug seufzte erleichtert auf. »Ich dachte schon, wir hätten es mit einem Nachahmungstäter zu tun!«
»Die Schnittspuren an den Knochen decken sich mit jenen am ersten Opfer. Es wurde wiederum eine Gartenschere benutzt, um die Rippen zu durchtrennen.« Als Hug nicht antwortete, fragte Cavalli: »Stand der ›Metzger‹ nie unter Verdacht, weitere Frauen ermordet zu haben?«
»Nicht ernsthaft. Er legte sofort ein Geständnis ab. Ich habe die polizeilichen Ermittlungen damals geleitet. Wir waren verblüfft, zweifelten zuerst an seiner Glaubwürdigkeit. Als die DNA aber übereinstimmte, war der Fall klar.«
»Regina hat nichts von DNA-Spuren gesagt.«
»Im Mund des Opfers wurde ein Eichenblatt gefunden. Es konnte genügend DNA isoliert werden, um die Spur auszuwerten. Das Blatt wurde eindeutig einem Baum zugeordnet, der neben dem Wohnblock des ›Metzgers‹ in Wetzikon stand.«
»Wie kam die Leiche in die Kiesgrube?«
»Das haben wir nie herausgefunden.«
An der Art, wie Hug die Ellenbogen anwinkelte, erkannte Cavalli, dass ihm die Frage unangenehm war.
»Zuerst dachten wir an einen Komplizen«, erzählte Hug. »Aber nichts deutete darauf hin. Lies dich ein. Es ist viel Material vorhanden.«
Cavalli nickte. »Ich möchte mir zuerst den Fundort der Knochen ansehen. Die Leiche lag im Keller eines Bauernhauses, das abgerissen wird.«
»Mach das. Und lass dir Zeit.«
Cavalli ärgerte sich über den Rat, der zwar freundlich gemeint, aber ein Hinweis darauf war, dass Hug ihn noch nicht für gesund hielt. Zweifelte er daran, dass Cavalli dem Fall gewachsen war? Wortlos ließ Cavalli die Scheibe hinauf und startete den Motor. Die Ermittlungsakten würde er später holen.
Der Weiler Stettbach lag hinter einem Hügel am Stadtrand. Wer nur den gleichnamigen Bahnhof kannte, würde nie vermuten, dass sich zweihundert Meter entfernt ein idyllisches Bauerndorf versteckte. Vor hundertfünfzig Jahren hatten Kutschen in Stettbach haltgemacht, bevor sie den Zürichberg überquerten. Heute fuhren hauptsächlich Radfahrer durch den Ort, auf dem Weg zum nahe gelegenen Greifensee.
Vor seiner Verletzung war Cavalli ab und zu an Stettbach vorbeigejoggt, wenn er Regina besucht hatte. Als er die Baustelle im Dorfkern sah, merkte er, wie lange das zurücklag. Vom alten Bauernhaus waren nur noch die Außenmauern übrig; wo einst eine Scheune gestanden hatte, setzten Arbeiter Fenster in neue Reihenhäuser ein. Auch hinter dem Dorfbrunnen ragte ein Baugerüst in die Höhe. Investoren hatten die günstige Lage Stettbachs erkannt. Offensichtlich verdienten sie mehr, wenn sie die alten Gebäude abbrachen, statt sie zu renovieren, dachte Cavalli.
In der Bauruine erblickte er rot-weißes Absperrband; dort hatte man die menschlichen Überreste gefunden. Cavalli stieg durch eine Fensterlücke ein, erstaunt, dass sich weder Baumaschinen noch Arbeiter in der Nähe befanden. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet, der Polizeifotograf den Fundort dokumentiert. Bald dürften die Bauarbeiten wieder aufgenommen werden. Nichts deutete darauf hin, dass das geschehen würde.
Der Wind wehte Cavalli einen pulvrigen Geruch zu, der ihn an Zitronenbrausetabletten erinnerte. Es dauerte einen Moment, bis er den Zusammenhang zur Firma Givaudan herstellte, die an der Glatt Riechstoffe und Aromen produzierte. Er ging in die Knie, bis er nur noch die Bauruine roch.
Aus dem Augenwinkel nahm Cavalli eine Bewegung auf der Mauer wahr. Als er sich umdrehte, sah er eine schwanzlose Katze. Sie marschierte scheinbar gleichgültig über die Backsteine. Regina liebte Katzen, schoss es Cavalli durch den Kopf. Nur die Vernunft hielt sie davon ab, sich eine anzuschaffen. Sie sei zu oft weg, habe nicht die Zeit, sich um ein Haustier zu kümmern, behauptete sie. Vielleicht würde sich das ändern, wenn das Kind da war. Cavalli stellte sich vor, wie sie auf dem Sofa vor dem Schwedenofen saß, das Kind im Arm, eine Katze zu ihren Füßen. Nur er selbst fehlte auf dem Bild.
Im Haus schräg gegenüber hörte er eine Tür ins Schloss fallen, kurz darauf bog eine ältere Frau um die Ecke. Mit einem Sprung durch die Fensteröffnung verließ Cavalli die Bauruine.
»Wohnen Sie hier?«, fragte er, während er seinen Polizeiausweis hervorholte.
»Seit elf Jahren. Davor im Mattenhof.« Die Frau zeigte Richtung Naturschutzgebiet, wo die erste Leiche im Teich gefunden worden war.