Ammianus-Verlag
Der Autor
Michael Kuhn M.A., Jahrgang 1955, studierte in Aachen Geschichte und Politische Wissenschaften. Im Anschluss war er in unterschiedlichen historischen Projekten involviert und organisierte in eigenen Unternehmen geschichtliche Events. Zurzeit arbeitet er neben seiner Tätigkeit als Autor in der Archöologie.
Das Anliegen, bei seinen Mitmenschen Interesse und Verständnis für die faszinierende Welt der Geschichte zu wecken, durchzieht seine bisherige Vita wie ein roter Faden.
So steht der vorliegende Band am Beginn einer Buchreihe, die den Leser mit Spannung und Information auf eine Zeitreise in die aufregendsten Epochen unserer Vergangenheit mitnimmt.
Zurzeit schreibt Michael Kúhn an der Fortsetzung der abenteurerlichen Lebensgeschichte des römischen Offiziers Marcus Junius Maximus.
Michael Kuhn
Marcellus - Der Merowinger
Band I
Impressum
Ebook basiert auf erster Auflage von 2011
Copyright © by Michael Kuhn
Ammianus Verlag, Aachen
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, Tonträger jeder Art, fotomechanische Wiedergabe und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Soweit durch Hinweis oder Verlinkung auf andere Websites zusätzliche Informationen zugänglich gemacht werden, erfolgt hiermit der Hinweis darauf, dass keine Inhaltskontrolle stattfindet und jegliche Haftung für den Inhalt dieser Seiten ausgeschlossen ist.
Umschlaggestaltung und Bildbearbeitung: Thomas Kuhn
(Helmabbildung Cover: Bügelhelm aus dem Fürstengrab von Planig. Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Landesmuseums Mainz, Inv. Nr. 39/9)
Zeichnungen und Kartenmaterial: Tatjana Lehnen
Fotos: wenn nicht anders angegeben, Michael Kuhn und Lars Neger
Kartenerstellung: Till Stoletzki
E-Book-Gestaltung: Michael Mingers
Ebook-ISBN: 9783945025253
Print-ISBN: 978-3-9812285-3-3
www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich all denen Dank sagen, die am Gelingen des Buches ihren Anteil hatten.
Thomas Kuhn bearbeitete das Fotomaterial und gab dem Cover seine künstlerische Gestalt.
Heike Breimes, Sabine und Torsten Goesch, Rainer Schulz, Hannelore Kuhn, Lars Neger, Susanne Birkner und Tatjana Lehnen wurden nicht müde, durch unermüdliches Lesen des gerade vorliegenden Materials viel zur dramaturgischen Dichte und Spannung der Romanhandlung beizutragen.
Tanja Baumgart M.A. für ihre Mithilfe an der Spurensuche.
Tatjana Lehnen für ihr künstlerisches Engagement bei der Erstellung von Zeichnungen und Karten.
Danken möchte ich zum Schluss all denen, die mich wissenschaftlich beraten und mit wertvollem Material zur frühmittelalterlichen Geschichte unterstützt haben:
Frau Dr. Imke Ristow, Köln, für Informationen zum spätantiken Vicus Marcomagus
Dr. Salvatore Ortisi, Köln, für Informationen zum spätantiken Vicus Marcomagus
Dr. Sebastian Ristow, Köln, für Informationen zum spätantiken und frühmittelalterlichen Köln
Dr. Cliff A. Jost, Generaldirektion kulturelles Erbe Rheinland – Pfalz,
Direktion Landesarchäologie, Außenstelle Koblenz
Frank Brünninghaus, Direktion kulturelles Erbe Rheinland – Pfalz,
Direktion Landesarchäologie, Außenstelle Koblenz zur Grabung in Andernach
Dr. Lutz Grunwald, VAT Mayen Für Informationen zum frühmittelalterlichen Leben am Mittelrhein
Andreas Schaub, Stadtarchäologie Aachen, für Informationen zum frühmittelalterlichen Aachen
Marcell Perse, Stadtgeschichtliches Museum Jülich, für Informationen zum spätantik - frühmittelalterlichen Jülich
Gilbert G. C. Soeters, Stadtarchäologie Maastricht, für Informationen zum spätantik – frühmittelalterlichen Maastricht.
Frau Dr. Iris Hofmann – Kastner, Thermenmuseum Zülpich, für Informationen zu spätantik – frühmittelalterlichen Zülpich
Sollte ich jemanden an dieser Stelle nicht bedacht haben, so bitte ich dieses zu entschuldigen.
Wimdung
Für
Heike und Juliana
Dramatis Personae
Die Gefährten am Hofe Sigiberts
Marcellus: Romane aus Arduena an der Mosel
Folmar: Franke und bester Freund des Marcellus’
Pippin: fränkischer Jungkrieger
Sebastianus: Romane aus der Treveris
Quirinus: Romane aus Bodobriga
Das Königshaus der Merowinger
Chlodwig*: der Merowinger
Klothilde: Chlodwigs Gemahlin, Tochter Chilperichs (Chrotichilde)* von Burgund
Theuderich*: ältester Sohn des Merowingers
Remigius*: Bischof von Reims und Berater am Hofe Chlodwigs
Hortarius: Chlodwigs erster Militär und Ratgeber
Hilka: Vertraute Klothildes
Die fränkischen Kleinkönige und ihr Gefolge
Sigibert*: König der Rheinfranken, Marcellus’ Gefolgsherr
Kloderich: „der Parasit“, Sigiberts Sohn und (Chloderich)* Thronfolger
Hinkmar:„die Ratte“, Kloderichs rechte Hand
Hatto: Krieger und Gefolgsmann Hinkmars
Hagen: Gefolgsmann Sigiberts und älterer Bruder Hinkmars
Bertha: „Verhältnis“ wider Willen
Ragnachar*: König von Cameracum
Chararich*: König von Bononia
Die Gesandtschaft der burgundischen Prinzessin
Silinga: Nichte König Gundobads von Burgund
Rotrudis: Silingas Begleiterin
Wulfram: Beschützer Silingas
Die Alamannen
Vadomar: alamanischer König
Chnodomar: Führer einer alamannischen Streifschar
Griso: alter Krieger im Dienste Chnodomars
* Historische Persönlichkeiten
Zum besseren Verständnis der handelnden Personen ist eine Genealogie der fränkischen und burgundischen Königshäuser beigefügt (siehe Seite 316 - 317).
Prolog
Es geschah wenige Tage nach den Kalenden des März.
Die Sonne hatte den ganzen Morgen vergeblich versucht, die tief hängende Wolkendecke aufzulösen, aus der es in kurzen Abständen kalt herabrieselte. Ein einziges Mal hatte sich eine Lücke aufgetan, aus der die wärmenden Strahlen eine Ahnung von Frühling über die erdbraune Ebene warfen.
In ihre Wollmäntel oder Filzüberzüge gehüllt warteten einige hundert Krieger auf das Erscheinen ihres Königs, der zur alljährlichen Versammlung des Heeres aufgerufen hatte.
Viele hatten gemurrt, sich aber schließlich kopfschüttelnd gefügt, dass die Wahl Chlodwigs auf Tungrus und nicht auf die neue Residenz Suessonis oder die alte Hauptstadt Turnacum gefallen war. Eine mit Bedacht getroffene Entscheidung des jungen Königs, die den östlichsten Verwaltungsbezirk seines Reiches hervorheben sollte. Was wiederum Sigibert, den König der Rheinfranken in der Colonia, in Unruhe versetzt hatte. Dieser Truppenaufmarsch seines Vetters, dem man Gelüste an einer Machterweiterung auf Kosten der anderen fränkischen Teilreiche nachsagte, musste seinen Argwohn erregen. Weshalb er auch nicht gezögert hatte, eine Delegation mit kostbaren Geschenken an den Ort der Heeresversammlung zu entsenden.
Eilfertige Knechte hatten die schlammigsten Stellen des Ackers mit Fuhren voller Stroh bedeckt, um ein halbwegs trockenes Verweilen zu ermöglichen. Aber es waren zu viele Füße in derben Stiefeln oder Schuhen, die herbeigeeilt waren, einen guten Platz zu ergattern. Bei jedem Schritt quoll braunes Wasser blasig durch die Schüttung und spritzte hoch bis zu den mit Lederstreifen umwickelten Unterschenkeln.
Ein knappes Jahr war vergangen, seit der Merowinger einen seiner größten Widersacher, den Rex Romanorum Syagrius, den König der Römer, und seine Scharen bei Suessonis geschlagen hatte. Die meisten der hier auf dem Feld vor der Stadt Tungrus versammelten Männer waren dabei gewesen, als der Widerstand der verzweifelt kämpfenden Bucellarier des letzten römischen Generals auf gallischem Boden gebrochen wurde.
Sie hatten sich erst dann ergeben, als Syagrius verstört das Schlachtfeld verlassen hatte, um sich zu Alarich II., den König der Westgoten zu flüchten. Ein sinnloses Unterfangen, denn der Arm des Franken war stark genug, ihn aus seinem Asyl hervorzuzerren. Alarich lieferte den Schutzbefohlenen aus, dem die Häscher darauf in einem moderigen Verlies den Kopf von den Schultern hieben.
Viele ehemalige Söldner des Syagrius, zumeist Franken wie ihre Bezwinger, hatten sich ebenfalls hier eingefunden. Nach der Niederlage hatte sie der Merowinger in sein Heer eingereiht und als wäre es nie anders gewesen, scherzten und schwatzten sie mit ihren neuen Waffenbrüdern.
„Pass doch auf, Marcellus“, herrschte ein untersetzter, zur Dicklichkeit neigender Halbwüchsiger seinen um einen halben Kopf größeren Kameraden an. Der hatte, seiner klammen Füße wegen, begonnen unwillkürlich auf der Stelle zu treten, was erdige Spritzer auf den Mänteln der Umstehenden hinterließ.
„Jetzt hab dich nicht so, Kloderich“, gab der Gescholtene unbeeindruckt zurück, und wischte sich eine Strähne seines aschblonden Haares von der nassen Stirn.
Wegen seiner blauen Augen und der blassen Haut sah man dem elf-jährigen Jungen seine romanische Herkunft nicht an. Er war auch größer gewachsen und kräftiger gebaut, als man es von einem typischen Mosellaner erwarten konnte. Auffällig waren seine sich andeutenden energischen Gesichtszüge und eine leichte Schrägstellung des Nasenrückens, die von einem kräftigen Schlag ins Gesicht herrührte, den er bei einer Rauferei eingesteckt hatte.
Ein Jahr hielt er sich nun am Hofe König Sigiberts auf, wohin sein Vater ihn auf Anraten des Familienrates gegeben hatte. Als ältester Sohn und zukünftiger Stammhalter sollte er sich zum Wohle seines Geschlechtes frühzeitig die Gunst der neuen Herren sichern, die seit zehn Jahren die Geschicke an Rhein und Mosel bestimmten. König Sigibert hatte Gefallen an dem aufgeweckten Jungen gefunden und ihn bald in sein Herz geschlossen.
Ein Umstand, der seinem Sohn Kloderich nicht entgangen war. Eifersüchtig beäugte der untersetzte Rotschopf die Fortschritte, die der junge Mosellaner machte, dessen vordringliche Aufgabe darin bestand, ihm Sprache und Kultur der Romanen nahezubringen. Trotz aller Bemühungen war es dem Thronfolger bisher nur un-zureichend gelungen, sich das Lesen und Schreiben des ihm un-gewohnten Idioms anzueignen.
Eines Tages hatte er sich dann dazu hinreißen lassen seinem Kumpan Hinkmar einen Solidus zu versprechen, falls dieser dem Marcellus eine Tracht Prügel verabreichte. Hinkmar, von vielen die Ratte genannt, nahm die Goldmünze und führte seinen Auftrag so gewissenhaft aus, dass dem Gesicht des Mosellaners ein bleibendes Andenken verblieb. Trotz aller Bemühungen des Medicus hatte die Nase ihre ursprüngliche Gestalt nicht zurückerhalten.
„Willst du deine Freundschaft zu Hinkmar auffrischen?“, warnte Kloderich mit tückischem Grinsen. „Wenn er noch einmal zuschlägt, wächst deine Nase vielleicht wieder gerade zusammen.“
„Er hat dir nichts getan“, fiel der kleine Theuderich seinem Vetter zweiten Grades ins Wort. „Wenn du das tust, sage ich es deinem Vater.“
Der siebenjährige Sohn Chlodwigs, ein zierliches, hübsches Kind mit hellblonden Locken hatte sich zu den beiden Jungen gesellt, die er anlässlich eines Besuches in der Colonia im letzten Herbst kennen gelernt hatte. Seine Mutter, die aktuelle Geliebte Chlodwigs hatte ihn mitgenommen, als sie Verwandte in ihrer Heimatstadt besucht hatte. Dass die Königshäuser der Merowinger und Rheinfranken miteinander verwandt waren, hatte dem Besuch einen offiziellen Charakter verliehen, weshalb sie von Sigibert mit allen Ehren empfangen wurden.
„Das wagst du nicht, du hässliche Kröte“, hob Kloderich die Hand und ließ sie augenblicklich wieder sinken. Theuderich war zwar ein Bastard, aber der älteste Sohn Chlodwigs, den dieser abgöttisch liebte.
„Ich habe nur gescherzt“, beschwichtigte er den Kleinen und gab ihm einen holzigen Apfel, den er im Zelt seines Vaters hatte mitgehen lassen.
„Mit so was werden bei uns nicht einmal die Pferde gefüttert“, empörte sich Theuderich und schlug nach der Hand des Vetters, so dass die kümmerliche Frucht zu Boden fiel. Der wütende Kloderich trat nach dem Apfel, der in weitem Bogen davonflog und an den Schild eines Kriegers krachte, der sich irritiert zu den Jungen umdrehte. Dann bückte sich der bärtige Soldat kopfschüttelnd, wischte den Apfel an seiner Hose sauber und biss herzhaft hinein.
Das schrille Wiehern eines Pferdes lenkte die Aufmerksamkeit der Jungen auf eine Gruppe gepanzerter Männer, die sich zwanzig Schritte entfernt angeregt unterhielten.
„Das sind die Könige Ragnachar und Chararich und mein Vater Sigibert, der mächtigste von allen“, plusterte sich Kloderich beim Anblick der Gewappneten auf.
„Aber keiner ist so mächtig wie mein Vater“, trotzte Theuderich ungehalten. „Er wird sie alle davonjagen, wenn sie es wagen sich gegen ihn zu stellen.“
„So, so“, spottete Kloderich. „Hat er das gesagt, dein Vater?“ Argwöhnisch blinzelte er das Kind Chlodwigs an, das ängstlich einen Schritt zurückwich, sich umdrehte und zurück zu seiner Mutter stürmte, die auf der Suche nach ihm, den Rand des wüsten Ackers abschritt.
Ohne sich um den ihm aufgezwungenen Gefährten zu kümmern, schaute Marcellus zur Seite, wo die grauen Mauern in den verregneten Morgen ragten. Er seufzte leise bei dem Gedanken an ihr Quartier, das sie am frühen Morgen verlassen hatten.
Man hatte König Sigibert und seinem engsten Gefolge ein leer stehendes, geräumiges Steinhaus überlassen, dessen schadhaftes Ziegeldach mit Strohbündeln ausgebessert worden war. Es roch muffig in den Hallen und Zimmern des einstigen Palastes, von dessen Wänden die Stuckbemalung herabbröckelte. Der Geruch kam aus den Hohlräumen der stillgelegten Boden- und Wandheizung, deren Hohlziegel an einigen Stellen aufgeplatzt waren. Trotzdem war es warm, sauber und vor allem trocken. Marcellus taten die nicht so hochgestellten Teilnehmer der Heeresversammlung leid, die entweder in zugigen Schuppen oder noch schlimmer in klammen Zelten vor den Mauern der Stadt hausen mussten.
„Gibt es einen Grund, warum uns der Merowinger so lange warten lässt?“
„Vielleicht ist es gestern Abend spät geworden und er schläft noch seinen Rausch aus, Chararich“, mutmaßte der hochgewachsene Mann mit dem dunklen Schnauzbart, der buschig bis auf das Kinn herabhing.
Ragnachar, König von Cameracum, trug einen dunklen Pelzmantel, der über dem sorgfältig geputzten Schuppenpanzer von einer protzigen Zwiebelkopffibel zusammen gehalten wurde. Seinen aufwändig gearbeiteten Spangenhelm, an dessen Spitze ein rostroter Pferdeschweif befestigt war, trug er wie seine Begleiter lässig unter dem Arm. Den Aufzug des als Schlemmer und Weiberhelden berüchtigten Hünen vervollständigte eine wollene Hose und Halbstiefel, deren Schäfte unter den Wadenwickeln endeten. Die typische Ausrüstung eines fränkischen Edlen. Auffällig war der Sax, der in einer almadinbesetzten Scheide steckte und die Goldgriffspatha, vermutlich die Arbeit eines alamannischen Waffenschmiedes.
Der neben ihm stehende Sigibert, König der Rheinfranken, war ähnlich gekleidet und gewappnet, trug aber an Stelle eines wärmenden Pelzes einen elegant geschnittenen Mantel aus dunkelblauer Wolle. Mehr als fünf Jahre älter als seine königlichen Kollegen, durchsetzten graue Strähnen das volle Bart- und Haupthaar. Ein gut aussehender Mann mit feinen Gesichtszügen, die anders als bei seinem Sohn Kloderich, keine Spuren von Hinterlist und Verschlagenheit trugen.
Der letzte im Bunde, Chararich von Bononia, der Hafenstadt gegenüber von Britannien, wirkte eher klein und untersetzt. Auf den ersten Blick ein eher gemütlicher Zeitgenosse mit Bauch und Doppelkinn. Auf den zweiten Blick aber ein Mann von rastloser Energie und wilder Entschlossenheit.
„Dass du dich heute hierher getraut hast, wundert mich“, wandte sich Sigibert an Chararich. „Deine Weigerung vom letzten Sommer, Chlodwigs Zug gegen Syagrius zu unterstützen, hat den Merowinger rasend gemacht. Er hat dich nicht vergessen. Mein Gefolgsmann Hagen hat mir berichtet, dass er ein Auge auf deine Ländereien geworfen hat.“
„Auf eure etwa nicht?“ Mit hochrotem Kopf und vorgeschobenem Kinn hatte der Angesprochene die Frage ausgestoßen. „Wenn wir gegen diesen Ehrgeizling zusammenstehen, kann er uns nichts anhaben.“
„Nicht so hastig“, entgegnete Sigibert und ließ seinen gedankenschweren Blick über das Feld schweifen. „Selbst Alarich, König der Westgoten, fürchtet den Zorn des Merowingers. Warum glaubt ihr, hat er den Syagrius ausgeliefert?“
„Diese Goten“, entrüstete sich Chararich. „Allesamt Zauderer und Feiglinge.“
„Was man von Theoderich und seinen Ostgoten nicht behaupten kann“, ergriff erstmalig Ragnachar das Wort. „Dieser überall gepriesene Held, der im Auftrag des Imperators mit Odoaker um den Besitz Italiens streitet, soll ein Auge auf die kleine Audofleda, Chlodwigs Schwester, geworfen haben. Und nicht nur wegen ihrer schönen Augen. Er scheint den Merowinger an sich binden zu wollen, weil er in ihm die neue Großmacht im Norden seines Reiches sieht.“
„Was wir verhindern können, wenn wir nur wollen“, hetzte Chararich weiter.
„Schluss mit diesen Intrigen“, stöhnte Ragnachar auf. „Ich kann es nicht mehr hören. Wir sind nicht hier, um ein Komplott gegen Chlodwig zu schmieden. Ich jedenfalls bin gekommen, weil ich wissen will, was der Merowinger als nächstes vorhat. Geht es jetzt gegen Alarich und die Westgoten, gegen die Burgunder oder hat er ganz andere Pläne?“
„Das glaube ich nicht“, schüttelte Sigibert sein Haupt. „Bevor er weitere Ziele ins Auge fasst, wird er zuerst das Erreichte sichern. Ich denke, dass es heute an das Verteilen der Beute geht. Er wird seine Vertrauten reichhaltig mit Besitztümern aus den Fiskalgütern des Syagrius ausstatten und somit ein Sicherungsnetz über das eroberte Gebiet legen. Bis die Verhältnisse geordnet sind und sich neue Strukturen herausgebildet haben, werden Jahre vergehen, in denen wir unsere Ruhe haben werden.“
„Bei Thyr und Wodan“, entfuhr es Ragnachar. „Mögen die Götter bewirken, dass du Recht hast. Oder hast du gesicherte Informationen?“
„Herr“, wurde das Gespräch von einem Krieger unterbrochen, der zu ihnen getreten war.
„Was gibt es, Hagen?“, wandte sich Sigibert an den Neuankömmling, einen seiner Gefolgsleute.
„Es wird Ärger geben, Herr“, sprach der bärbeißige Mann im dunklen Lederkoller und bis auf die Schultern herabwallendem Schwarzhaar seinen König an.
„Nun rede schon“, entfuhr es Sigibert.
„Es betrifft nicht dich, Herr, sondern König Ragnachar“, wand-te sich Hagen dem Hünen zu. „Dein Gefolgsmann Ebbo hat sich am Morgen im Quartier damit gebrüstet, Chlodwig vor allen Anwesenden eine Lektion zu erteilen.“
„Ist dein Mann von allen Göttern verlassen“, erstaunte sich Sigibert. „Ebbo kann froh sein, dass er die letzte Auseinandersetzung mit dem Merowinger überlebt hat. Was hat er vor?“
„Er will dem König die Stirn bieten und von ihm Ersatz für den Silberkrug fordern, den Chlodwig im letzten Jahr dem Bischof von Suessonis ausgehändigt hat.“
„Das Gefäß, das Ebbo vor aller Augen eigenhändig mit einem Axthieb beschädigt hat, weil es Chlodwig nicht zustand?“, ergänz-te Chararich, dessen Blick lauernd auf Hagens Gesichtszügen lag.
„Ja“, bestätigte der Befragte. „Ebbo glaubt, im Namen Vieler zu sprechen, die der Überzeugung sind, dass Chlodwig damals seine Befugnisse überschritten hat. Er hätte sich mit seinem Anteil an der gemeinsamen Kriegsbeute zufrieden geben müssen und dem Gejammer des Christen auf keinen Fall nachgeben dürfen.
„Was von der Mehrheit der Anwesenden aber gebilligt wurde“, widersprach Sigibert.
„Weil die Memmen eingeschüchtert waren und Angst vor dem Jähzorn ihres Königs hatten“, polterte Chararich los.
„Eine erneute Konfrontation um die königliche Autorität wird Ebbo mit seinem Blut sühnen“, suchte Sigibert nach einer Lösung. „Du musst ihn zurückhalten, Ragnachar.“
Bis auf einen Schritt trat der Rheinfranke an den Hünen heran. „Das wird auf dich zurückfallen, Ebbo ist dein Mann.“
Ragnachar zuckte nur mit den Schultern, während Chararich seiner Wut jetzt freien Lauf ließ.
„Soll er den Merowinger doch wie einen tollwütigen Hund totschlagen“, hetzte er, dass die in Hörweite postierten Krieger irritiert zur Gruppe der Könige herüberblickten.
„Bist du von Sinnen?“, fauchte Sigibert ihn an. „Willst du uns alle in Gefahr bringen? Chlodwig wartet doch nur auf einen Anlass, um bei Zeiten gegen uns vorzugehen.“
Bis zur Gruppe der Jungen war das Geschrei gedrungen, die mit weit aufgerissenen Augen herüberstarrten.
In diesem Augenblick ertönte ein hundertstimmiges Brausen von der ihnen abgewandten Seite des Feldes. Chlodwig und sein Gefolge hatten den Ort der Heeresversammlung betreten und wurden mit lautem Zuruf und dem aneinander Schlagen der Waffen begrüßt.
Ganz nahe schritt Chlodwig an der Gruppe der Jungen vorbei und zum ersten Mal trafen sich die Blicke des Merowingers und des jungen Mosellaners. Eine Begegnung, die Marcellus sein ganzes Leben nicht mehr vergessen sollte.
Das ins Grün spielende Grau der Augen, denen Warmherzigkeit und Güte fremd schienen, war das Erste, was er wahrnahm. Darunter die Partie von Kinn und Mund, aus der Entschlusskraft und Rücksichtslosigkeit sprachen. Das nach romanischer Sitte glatt rasierte Antlitz konnte man als gut aussehend bezeichnen. Eingefasst war es von einem sorgfältig gekämmten, dunkelblonden Haarschopf, der nach Sitte der merowingischen Herrscher bis über die Schultern hinabwallte. Ein junger Mann am Beginn der Zwanziger, dessen Gesichtszüge viel gelebte Erfahrung, Strapazen und Klugheit offenbarten.
Angetan in Wollhose und Tunika trug Chlodwig auffällig rote Halbstiefel. Den kostbaren Mantel, der in dunklem Blau erstrahlte, schmückten angenähte Stierembleme aus purem Gold, die auf den ersten Blick an Bienen erinnerten. Den reich verzierten Gürtel schmückte eine mit Almadine besetzte Tasche, die wohl seine Barschaft enthielt. Chlodwig war dafür bekannt, ihm erwiesene Dienste gerne und sofort in klingender Münze zu entlohnen. Auf Helm und Panzer hatte er verzichtet und seine einzige Wehr bestand aus einer Franziska, die er im Gürtel trug. Eine Waffe, die er meisterlich beherrschte.
Um sein rechtes Handgelenk wand sich ein Reif in Form einer Schlange, was Marcellus eine lange zurückliegende Erzählung des Großvaters ins Bewusstsein zurückrief.
Vor seiner Reise in die ferne Colonia hatte der Alte ihn zur Seite genommen und war mit ihm zum Ufer der Mosel gegangen wo er, auf einer Bank am Anleger sitzend, die Geschichte von Clodius erzählte. Dieser Ziehsohn und Vetter eines Ururgroßvaters war wie er in die Metropole am Rhein gegangen und hatte dort eine Fränkin aus vornehmem Geschlecht geheiratet. Bald siedelte sich das Paar auf der anderen Seite des Flusses an, worauf sich ihre Spur im Dunkel verlor. Man munkelte aber, dass er es als Chlodio zu einem Großen des fränkischen Volkes gebracht und viele Nachkommen gezeugt habe. Als einziges Andenken an seine Familie war ihm ein Armreif in Form einer sich windenden Schlange mitgegeben worden, mit der es eine besondere, längst vergessene Bewandtnis hatte.
Was, durchzuckte es den Mosellaner, wenn es dieser Armreif war und er und der Merowinger einen gemeinsamen Vorfahren hatten? Sofort verwarf er diesen Gedanken, hatte er doch am Hofe Sigiberts vor allem gelernt, mit derlei Dingen vorsichtig zu sein. Er wäre nicht der Erste, der auf Grund einer nebulösen Geschichte an Gift oder dem Stahl eines Dolches zugrunde gegangen wäre. Chlodwig und Sigibert waren, obwohl Vettern, keine Freunde, sondern erbitterte Rivalen um die Vorherrschaft über das Volk der Franken.
Ebbo durchzuckte ein Gefühl der Beklemmung, als er Chlodwig kommen sah. Als würde sein Erscheinen alleine ihm gelten, ging der Merowinger energischen Schrittes direkt auf ihn zu.
Kurz schloss er die Augen und griff nach dem Heft seiner Spatha. Das Gefühl der Waffe gab ihm das Selbstvertrauen zurück, das ihn zu verlassen gedroht hatte. Tief atmete er durch und schaute dem Herannahenden fest in die Augen.
Im vergangenen Sommer war es, das sich ihre Wege das letzte Mal gekreuzt hatten. Syagrius war geschlagen und Chlodwig hatte seinen Kriegern erlaubt, die sehnlich erwartete Beute einzuholen. An der Spitze eines kleinen Reitertrupps, alles Ragnachars Männer, war auch er durch die Umgebung der Stadt Suessonis gestreift, bis sie auf den kleinen Wagenzug stießen, der den Kirchenschatz des Bischofs in Sicherheit bringen sollte.
Bevor sich die überraschten Knechte und der sie begleitende Wachschutz gefasst hatten, lag die Hälfte tot am Boden, worauf der Rest die Waffen fortwarf und sich ergab. Prunkstück ihres Fangs war ein mit Goldsolidi und Silbermünzen zur Hälfte gefüllter Kessel aus Silber, überreich mit getriebenen Figuren reliefiert. Zur Vorsicht steckte er sich einige Solidi in die Taschen seiner Bundhose, da es nicht sicher war, dass ihm die Beute zuerkannt werden würde. Es gab althergebrachte Regeln, nach denen alle Wertsachen aufgeteilt wurden. Ein Teil für den Hort des Königs, weitere Teile für die verbündeten Heerführer, dann die Krieger, die sich besonders hervorgetan hatten und schließlich die Masse derer, die am Kampf teilgenommen hatten.
Es lief alles zu seiner Zufriedenheit. Die Münzen wurden zwischen dem Merowinger und Ragnachar aufgeteilt, während ihm das wertvolle Gefäß zugesprochen wurde. Schon wollte er sein Eigentum in eine Decke schlagen, als der Bischof von Suessonis in Begleitung eines weiteren Klerikers erschien und ein großes Geschrei wegen des Kruges anstimmte. Es folgte ein hitziger Wortwechsel zwischen Chlodwig und dem anderen Bischof, einem gewissen Remigius, worauf ihm die Beute genommen und er mit wenigen Münzen abgefunden wurde.
Ein klarer Rechtsbruch. Und keiner der Anwesenden, weder Ragnachar noch die anderen Heerführer und Krieger, waren Manns genug es zu verhindern. Voller Zorn hatte er seine Franziska aus dem Gürtel gerissen und dem auf der Erde liegenden Krug einen derben Hieb verpasst, der eine mächtige Delle und einen klaffenden Spalt hinterließ. Wenn er ihn nicht haben durfte, sollte sich keiner mehr daran erfreuen.
Ein Aufschrei aller versammelten Männer war die Folge und der König konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, sich auf ihn zu stürzen.
Seine Kameraden hatten ihn daraufhin gepackt und aus dem direkten Umfeld Chlodwigs zur Seite gezerrt. Verborgen in einem Zelt hatte er die Nacht abgewartet bis die Dunkelheit kam und er ungesehen aus dem Lager heraus, auf seinen Hof zurückkehren konnte.
Und jetzt war er hier, Genugtuung für die erlittene Schmach zu fordern. Und keiner würde ihn daran hindern, Chlodwig die Stirn zu bieten, selbst wenn er seine Waffen gebrauchen müsste.
Es versetzte ihm einen Stich, als er sah, wer zum Gefolge des Merowingers zählte. Direkt hinter Chlodwig gewahrte er Remigius, Bischof von Remis, der mit der Rechten auf ihn wies und dem König etwas einflüsterte.
Was hatte der Merowinger bloß an diesem Christen? Er opferte doch Thyr und Wodan, wie sein Vater Childerich und dessen Vorväter es seit alters getan hatten. Er war nicht nur ein Gesetzesbrecher, der die überlieferten Sitten und Gebräuche mit Füßen trat, sondern auch ein Verräter an den eigenen Göttern.
„Ebbo“, schnitt die klare, eigentlich zu hohe Stimme des Merowingers durch den Morgendunst. „Kleidet sich so ein Krieger, der vor einen König tritt? Hose und Kittel fleckig und der Mantel eingerissen.“
Ehe der aus seinen Gedanken gerissene Krieger etwas erwidern konnte trat Chlodwig bis auf Ellenlänge an ihn heran und nestelte an der Scheide von Ebbos Spatha.
„Keiner pflegt seine Waffen so schlecht wie du“, setzte er nach. „Dein Speer, dein Schwert und dein Beil sind zu nichts nütze.“ Er zerrte ihm die Franziska aus dem Gürtel und warf sie zu Boden.
Der Zorn wallte in Ebbo auf. Mit der Linken stieß er den König zurück und bückte sich nach seinem Beil, worauf Chlodwig nur gewartet hatte.
Als er im Bücken nach dem Schaft seines Beiles griff, hatte der Merowinger längst seine Franziska hervorgerissen und diese mit aller Kraft auf Ebbo niedersausen lassen. Es krachte dumpf als die Schneide der Streitaxt den Schädel spaltete und der Mann schwer getroffen einknickte. Aus schreckgeweiteten Augen starrend, zerwühlten seine Füße den lehmigen Grund, bis er in der Bewegung erstarrte und röchelnd wie ein Schlachttier verendete.
„So wie du vor einem Jahr den Krug geschlagen, so habe ich dich heute geschlagen“, brüllte Chlodwig mit sich überschlagender Stimme.
Ein Aufschrei raste über das Feld, unter den sich Murren und Applaus mischten.
Entsetzt starrten die Jungen auf das blutige Bündel, das einst Ebbo gewesen war, während die Gruppe um Sigibert mit versteinerten Mienen auf den Merowinger schaute.
Chlodwig trat bis auf wenige Schritte an sie heran und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern, bis er bei Ragnachar verweilte.
„Denke daran, dass es dein Mann war, der mich herausgefordert hat.“