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Buch

Michael Winter ist Mitglied der Wiener Kriminalpolizei und zuständig für die besonders schweren Fälle. Doch bisweilen stößt auch der abgebrühte Ermittler an seine Grenzen, wie im Fall einer eiskalten Mörderin, die ihre kleine Tochter qualvoll verdursten ließ. Noch gezeichnet von diesem schockierenden Familiendrama wird Michael Winter zum nächsten Tatort gerufen. In einem vornehmen Gebäude wurde die Leiche des ehemaligen Wirtschaftsministers Klaus Windisch entdeckt – ausgeblutet, lächelnd und in der Hand eine Tasse mit der Aufschrift »Wien ist anders«. Unter großem Druck ermittelt Michael Winter im Umfeld des Toten, denn die Presse stürzt sich auf den Mord an dem so beliebten wie umstrittenen Politiker und die Führung des Landes drängt auf schnelle Ergebnisse. Unterstützt wird er dabei von seiner jungen Kollegin Julia Gartner und der forschen Wirtschaftsjournalistin Angelika Kretschmer, die einem riesigen Politskandal auf der Spur ist. Doch Winters Intuition führt ihn in das Privatleben des Exministers und zu einem undurchdringlichen Netz aus Korruption und verborgenen Leidenschaften …

Autor

Gerhard Langer wurde 1960 in Salzburg geboren und ist Professor für Judaistik an der Universität Wien. Neben der Forschung und Lehre widmet er sich dem Schreiben von Kriminalromanen. »Gnädig ist der Tod« ist der erste Fall für den charismatischen Wiener Ermittler Michael Winter.

Gerhard Langer

Gnädig ist
der Tod

Kriminalroman

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Umschlagmotiv: Arcangel / Roy Bishop;
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ISBN 978-3-641-21499-9
V003
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Für Sepide

Prolog

»Jedes Kind hat ein Recht auf Leben«, sagt sie und fügt bestimmt hinzu: »Aber nur die wenigsten hätten je gezeugt werden dürfen!«

In Situationen wie diesen verfluche ich den Tag, an dem ich beschloss, Polizist zu werden.

Auf den Fotos, die ich in meinen Händen halte, liegt ein Mädchen auf seinem Bett. Es heißt Antonia. Vor drei Wochen hat Antonia ihren achten Geburtstag gefeiert. Ihr Kopf ruht auf einem weichen Kissen, und in eine flauschige Decke eingehüllt sieht sie aus, als würde sie schlafen. Ein friedliches Bild, wären da nicht diese Striemen an den Handgelenken, wo die Fesseln ins Fleisch geschnitten haben, diese aufgerissenen Lippen, diese aschfahle Haut. Ich kann den Tod riechen, auch wenn ich mich längst nicht mehr am Tatort befinde, sondern in einem Gruppenraum des Wiener Landeskriminalamtes sitze.

Ich lege die Fotos hin und sehe in die Augen ihrer Mutter, einer zweifachen Mörderin. Sie sind wie kalte nasse Steine, an denen man abrutscht und in die Tiefe fällt. Alles an dieser Frau ist streng und diszipliniert. Ihr langes blondgefärbtes Haar wird mit einigen Spangen militärisch in Zaum gehalten, ihre Augenbrauen und Fingernägel wurden vor Kurzem einer sorgfältigen Pflege unterzogen, ihr Lippenstift ist dezent und mit klarem sicherem Strich aufgetragen. Auch ihre weiße Bluse ist frisch gewaschen und verströmt einen zarten Geruch nach Weichspüler.

Ich weiß, dass ich die Fragen jetzt stellen muss, und sie beantwortet sie mit der Präzision einer geeichten Maschine. Ich bemühe mich, ihr nicht in die Augen zu sehen, und betrachte stattdessen ihre geraden weißen Zähne, ihre Grübchen, die links und rechts symmetrisch ihr Lächeln einfassen und ihre kleinen Ohren, die zwei grüne Perlen zieren, kalt wie der Meeresgrund. Ihr Atem geht ruhig und regelmäßig. Hinter ihr an der Wand tickt eine Uhr mit großen schwarzen Ziffern. Tick, tick, tick. Sie tickt verdammt richtig, denke ich.

»Und Sie«, beginne ich und schlage mein Notizbuch auf, »was hat Sie aus der Bahn geworfen?« Ich weiß nicht, warum ich das sage, es kommt, ohne zu überlegen. Ich fühle nichts außer diese Abneigung dagegen, hier zu sein, diesen Wunsch, mein Studium nicht abgebrochen zu haben, nicht in diese kalten Augen blicken zu müssen.

Zu meiner Überraschung antwortet sie: »Ihr Vater hat ihr wehgetan.« Dann schweigt sie wieder.

Behutsam hake ich nach: »Inwiefern wehgetan?«

Sie scheint zu überlegen, nach den passenden, ihrer Meinung nach der Situation angemessenen Worten zu suchen. Sie spricht nichts unbedacht, plaudert nicht, jedes ihrer Worte hat Gewicht.

»Er hat sie missbraucht.«

Ich höre den Satz, lasse ihn in mich eindringen. Dann reiße ich ein Blatt mit den Daten zu ihrer Person aus meinem Notizbuch, lege es vor mich hin und streife es glatt. Isabella Martin, 32 Jahre, Besitzerin einer kleinen Boutique im 8. Bezirk, wohnhaft in der Taborstraße im 2. Bezirk, keine Vorstrafen, verheiratet, ein Kind.

Sie sieht mich an, schweigt, erwartet, dass ich weitere Fragen stelle, klar und präzise. Auch wenn es mir widerstrebt, muss ich auf sie eingehen. Also fordere ich sie auf, mir im Detail zu schildern, was genau er getan hat.

Sie legt ihre linke Hand auf die rechte, atmet etwas stärker aus als zuvor.

»Er hat sie berührt«, presst sie hervor.

Ich warte eine gefühlte Minute, aber es werden wohl nur Sekunden gewesen sein. Dann fließt es aus ihr heraus.

»Am Anfang war es kaum zu merken. Er hat seine Hand auf ihre Schulter gelegt und dabei ihren Hals gestreichelt. Nichts Besonderes. Dann hat er sie manchmal von hinten umarmt und dabei ihre kleinen Brüste berührt. Sie war recht reif für eine Achtjährige. Ich weiß genau, dass es nicht einfach aus Versehen passiert ist. Ich habe es ihm sehr bald angesehen. Er wollte sie haben. Wenn wir miteinander geschlafen haben, hat er an sie gedacht. Sagen Sie nichts! Ich weiß es einfach. Eine Mutter spürt so was.«

Ich wage nicht zu widersprechen und nicke nur.

»Wenn sie auf dem Sofa saßen und fernsahen, hat er ihre Knie gestreichelt und die Oberschenkel. Sie hat nicht gewusst, was sie tun sollte. Er war einfach zu stark, nicht physisch, meine ich, aber psychisch. Manchmal hat sie mich angesehen, Hilfe suchend. Ich habe ihn zur Rede gestellt, aber er hat nur gelacht. Es sei ja wohl nichts dabei, seine Tochter zu liebkosen. Ja, genau so hat er es gesagt. ›Liebkosen‹. Ich habe mir noch gedacht, was für eine eigenartige Wortwahl: ›Liebkosen‹.«

Ich höre zu. Mache mir Notizen, während sie redet, zeichne ein Mädchen mit Kniestrümpfen, das auf einem Sofa sitzt, und neben ihm einen übergroßen Mann. Ich weiß, dass er gar nicht groß war. Vielleicht einen Meter siebzig. Aber muskulös, zumindest wirkt er auf den Fotos so, die wir in der Wohnung sichergestellt haben. An seinem Körper konnte man das nicht mehr sehen. Dazu war zu wenig von ihm am Stück vorhanden. Seine Frau hat ihn in praktisch abpackbare Portionen zerteilt und diese im Gefrierschrank eingefroren. Sie wurden längst abgeholt und befinden sich in der Gerichtsmedizin.

»Es war am 2. Februar«, sagt sie. »An dem Tag habe ich sie allein mit ihm gelassen. Das geschah nur sehr selten im letzten Jahr. Ich habe das vermieden. Und ich weiß auch, warum.«

Sie schweigt wieder, scheint nachzudenken. Ich lasse ihr Zeit.

»Sie waren allein. Ganze zwei Stunden. Das war einzig und allein mein Fehler.«

Zum ersten Mal während unseres Gesprächs wirkt sie nervös. Aber sie fängt sich rasch, atmet ruhig ein und aus und sieht mich an.

»Sie sind dagesessen, als wäre nichts gewesen, aber ich habe es in ihren Augen gesehen. Eine Mutter …«

»Ich weiß«, unterbreche ich sie, »eine Mutter spürt so was. Hat Ihre Tochter irgendwann darüber gesprochen?«

Sie nickt. »Am nächsten Tag, als er in der Arbeit war. Sie hat sich an mich geklammert wie ein Kleinkind und mir alles erzählt. Jede Einzelheit.«

Ich warte, aber sie macht eine quälend lange Pause. Ich spüre Unruhe in mir aufsteigen. Lass ihr Zeit, ermahne ich mich selbst, nur dann wirst du begreifen, was passiert ist. Warum eine Frau ihren Mann getötet und zerstückelt und danach ihre Tochter ans Bett gefesselt hat, ihr nichts mehr zu trinken und zu essen gab, eine unerträglich qualvolle Woche lang. Und warum die Nachbarn nichts gehört haben.

Sie streicht ihren Rock glatt und richtet dann den Oberkörper kerzengerade auf, bereit für die Offenbarung.

»Er hat sie gestreichelt. Und als sie ihm sagte, dass es ihr unangenehm sei, hat er nur gemeint, dass man das für seinen Vater tut, wenn man ihn liebt. Ob sie ihn denn überhaupt lieb hat. Sie hat ihm gesagt, dass sie ihn sehr lieb hat. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt. Wie das denn sein kann, wenn sie ihm nicht erlaubt, sie zu streicheln.«

Langsam und ruhig erzählt sie weiter, und ich erfahre, wie es dazu kommen konnte, dass ein Vater seine achtjährige Tochter dazu brachte, ihre Kleider auszuziehen und ihre Brust streicheln zu lassen. Wie sie selbst dabei half, dem Vater Hose und Unterhose auszuziehen, und er sie dazu nötigte, seinen Penis anzufassen und ihm schließlich zu gestatten, mit dem Penis ihre Klitoris zu berühren. Das Schlimmste, so sagt sie, war wohl, dass das Mädchen etwas empfunden zu haben glaubte, von dem sie nicht wusste, wie sie es erklären sollte, ein prickelndes Gefühl, etwas unangenehm Angenehmes, etwas, wofür sie sich schämte. Sie erzählt wieder in der gewohnten Ordnung, ohne Umschweife.

»Ich habe ihn zur Rede gestellt, aber er hat nur gelacht. Welche Fantasie so ein Kind habe. Wie ich so etwas glauben könne. Ich wusste es. Wenn er den Mut gehabt hätte, es zuzugeben.«

Würde er dann noch leben? Ich zweifle daran, aber ich kann mich irren. Zwar liege ich selten falsch, aber es passiert. Ich vermute, an diesem Tag war sein Schicksal beschlossen. Seines. Aber das des Mädchens? Selbst nach fast dreißig Jahren Polizeidienst kann ich das nicht verstehen. Warum musste das Mädchen sterben? Noch ist es nicht so weit, ihr diese Frage zu stellen. Noch ist sie zu wütend auf ihn, noch möchte sie einfach nur über ihn sprechen, möchte den Mord mir gegenüber darstellen, aber nicht verteidigen, dazu sieht sie keinen Anlass. Sie gleicht vielmehr einer Schauspielerin, die ihre beste Rolle nicht ohne Publikum spielen kann und die wogende Masse braucht, unsichtbar im Scheinwerferlicht, aber trotzdem gegenwärtig, gebannt auf die Bühne starrend. Ich bin jetzt das Publikum und muss meinerseits meine Rolle gut spielen, sonst wird der Vorhang bei ihr fallen, ohne dass ich das Ende mitbekomme. Also ermuntere ich sie weiterzuerzählen, und sie geht darauf ein. Ich vermute, wir sind erst im ersten Akt, noch lange vor der ersehnten Pause. Wieder fühle ich dieses Ziehen im Nacken, die beginnenden Kopfschmerzen. Ich möchte meine Schläfen massieren, an etwas Schönes denken, das mich entspannt, aber ihre eisigen Augen nehmen mich gefangen. Ich lege den Stift beiseite, weil meine Hand zu zittern beginnt. Sie bemerkt es, und für einen Augenblick überlege ich, was sie von mir hält. Ich glaube, dass sie sich fragt, ob ich jemals Schuld auf mich geladen habe und wie sie mich einordnen soll. Sie denkt in Kategorien wie sauber gegen schmutzig, rein gegen unrein, für den Himmel bestimmt oder das Fegefeuer. Die Hölle ist schon für ihren Mann reserviert.

Ich nehme den Faden wieder auf. »Wie lange waren Sie mit ihm verheiratet?«

»Dreizehn Jahre, vier Monate und drei Tage, nein, ich muss nachdenken …«

Sie sieht mir auf den Mund. Soll ich es ihr vorrechnen?

»Wann soll ich aufhören zu zählen, meinen Sie bis heute oder …?«

»Bis zu ihrem Tod!«, sage ich lauter als beabsichtigt und füge schnell beschwichtigend hinzu: »Ich meinte, bis zu seinem Tod.«

»Ich erinnere mich nicht«, entgegnet sie plötzlich, und ich bedauere, sie so festgenagelt zu haben. Sie hat den Mord zwar nicht verdrängt, aber manches davon ausgeblendet. Teile der damit verbundenen Realität sind nicht in ihrem Bewusstsein angekommen, verharren noch irgendwo in der Kältestarre ihres Gehirns.

»Vergessen Sie, was ich gefragt habe. Erzählen Sie einfach weiter über diese – wie soll ich es nennen? – Sünde zwischen Ihrem Mann und …«

Sie lässt mich den Satz nicht vollenden.

»Nachdem ich ihn zur Rede gestellt hatte, damals, als er mir nur ins Gesicht gelacht hat, da wusste ich, dass mein Leben mit ihm einfach nur eine Lüge war. Er hat es nie ernst gemeint. Er hat mich geheiratet, aber er hat mich nie geliebt. Er hat mich nie so angesehen wie sie. Er hat mich nur selten geküsst. Er hat gesagt, dass er es nicht mag, wenn ihm jemand mit der Zunge im Mund herumfährt, das ekle ihn an. Aber sie hat mir erzählt, wie komisch sie sich gefühlt hat, wie unangenehm es war, als er ihr die Zunge in den Mund gesteckt hat.«

Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen wie nach einem fetten Essen. »War es das?«, fragt sie dann.

Erneut hat sie sich in ihren inneren Eisschrank zurückgezogen. Sie nickt ihrem Anwalt zu, der während des gesamten Gesprächs kein Wort gesagt hat, und macht Anstalten, sich vom Stuhl zu erheben, aber ich lasse sie nicht.

»Moment noch«, sage ich bestimmt.

Sie setzt sich wieder und senkt den Blick, begutachtet ihre Fingernägel.

»Warum haben sie ihre Tochter sterben lassen?«, frage ich, zögerlicher als ich will.

»Sie wollte es so«, erwidert sie und steht auf.

Einige Monate später

Dienstag, 2. Oktober

Tag 1

1

Ich komme gern früh in mein Büro im Landeskriminalamt, das sich in einem über hundert Jahre alten, Ehrfurcht gebietenden Gebäude an der Roßauerlände befindet, neben dem Verteidigungsministerium, nicht weit vom alten jüdischen Friedhof und wenige Minuten von Sigmund Freuds einstiger Wirkungsstätte entfernt. Ich setze mich an meinen alten Schreibtisch, der lange vor meinem Dienstantritt hier stand und auf meinen Wunsch hin nie ausgetauscht wurde. Er ist so groß, dass selbst der riesige Computerbildschirm unscheinbar wirkt. Auf einen Tisch für Besprechungen im kleinen Kreis habe ich verzichtet, aber nicht auf zwei bequeme Lehnstühle, in denen man – auch in Gedanken – versinken kann. An den weiß getünchten Wänden stehen weiße Regale mit Ordnern. Hier stapeln sich die schriftgewordenen Erinnerungen an vergangene Fälle, gelöste und ungelöste. Ich grüble über dem Fall Isabella Martin, den ich abgegeben habe. Noch immer quälen mich Träume, in denen mich Antonias tote Augen fixieren und fragen: »Warum?«

Ich forme einen Vogel aus weggeworfenem Papier. Sie muss schon länger im Türrahmen gestanden haben, aber ich bemerke sie erst jetzt. Sie heißt Julia Gartner und trägt die blaue Polizeiuniform und die Abzeichen einer Bezirksinspektorin. Seit zwei Wochen ist sie bei uns, frisch versetzt aus Niederösterreich, von wo sie unbedingt wegwollte, obwohl ihre Beurteilungen erstklassig waren und ihr der zuständige Ermittlungsleiter eine steile Karriere in Aussicht stellte. Ich frage nie, weshalb. Irgendwann erfahre ich es sowieso. Ich versenke den Papiervogel in der Schublade und blicke sie an.

»Oberstleutnant Winter! Chef!«, sagt sie mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme. »Wir haben einen Termin.«

Ich lache laut, mehr aus Verlegenheit, weil ich sie vergessen habe und weil sie mir bei einer nicht gerade intellektuellen Tätigkeit zugesehen hat, aber es irritiert sie nicht. Ich sehe in ein warmes braunes Paar Augen. Julia, denke ich, war der beliebteste Vorname in den Achtzigern, als sie geboren wurde, und gleichzeitig wundere ich mich, warum mir gerade jetzt mein Hirn diese unnötige Information aufdrängt.

Julia tritt an meinen Schreibtisch. Ich weiß, dass ich ihr wie allen Neuzugängen ein längeres persönliches Gespräch angeboten habe, in dem ich alle erdenklichen Fragen zu beantworten versuche und so rücksichtsvoll wie möglich und so deutlich wie notwendig auf die Fettnäpfe hinweise, in die sie möglichst nicht treten soll, ihr Wege und Umwege zu erläutern versuche, auf denen wir uns bewegen müssen, und dabei auch nicht die Besonderheiten der Wiener Seele zu vergessen versuche, die man lieben, aber nie ganz verstehen kann.

Ich komme jedenfalls nicht einmal dazu, einen Satz zu vollenden, weil gleichzeitig mein Handy und das Festnetztelefon klingeln. Wenige Minuten später habe ich nacheinander mit dem diensthabenden Offizier, dem Leiter der im Dienst befindlichen Mordgruppe, der Staatsanwältin und dem Polizeipräsidenten telefoniert. Und auf meinem Handy landen im Sekundentakt Fotos, die mir absolut nicht gefallen. Als es endlich ruhig ist, bringt Julia es auf den Punkt.

»Verdammte Scheiße, Chef!«

Ich hätte es nicht treffender formulieren können. Ich finde sie schon jetzt sympathisch, und ich mag, wie sie »Chef« ausspricht, selbstbewusst, aber nicht frech oder übergriffig. Sie ist nervös, und ich glaube, ihren Schweiß zu riechen, aber es ist eindeutig mein eigener.

Die nächsten Minuten laufen in schweigendem Einvernehmen ab. Sie folgt mir wie selbstverständlich, und schließlich fahren wir die kurze Strecke ins Goldene Quartier, Wiens Nobelmeile. Wo früher einmal eine Arbeiterbank die Sparguthaben armer Sozialdemokraten verwaltete, befeuert heute eine Gruppe erlesener Immobilienspekulanten die nervösen Zuckungen des Kapitalismus, und einige wenige Luxusgeschäfte vertreiben die Langeweile der Reichen und Superreichen.

Vor und in dem prunkvollen Gebäude in der Tuchlauben, in dem die Leiche gefunden wurde, ist die Aufregung spürbar, auch wenn alle hier ihren gewohnten Job machen. Die Leute von der Tatortgruppe arbeiten noch konzentrierter als sonst, der Staatsanwältin ist an ihren Sorgenfalten anzumerken, dass sie alles andere als begeistert ist, heute Journaldienst zu haben. Alle wirken so angespannt, als würden sie von unsichtbaren Kameras gefilmt.

Der Tote liegt in einer fast leeren, frisch renovierten Wohnung über einem der teuersten Geschäfte der Stadt. Ich hatte gehofft, dass die Fotos lügen und die Nachricht, die alle in Aufregung versetzt hat, nicht stimmt, aber ich erkenne ihn sofort und will auf der Stelle umdrehen.

»Warum muss das mir passieren?«, frage ich Julia, doch diesmal sagt sie nichts von »Chef«, sondern zuckt nur mit den Schultern.

Ich rufe die Fotos auf, die mir in der letzten halben Stunde zugeschickt worden sind. Darauf sieht er aus, als lächele er in eine Kamera. Perfektes Styling. Ein maßgefertigter grauer Nadelstreifanzug, eine hellblaue Krawatte mit dezenten weißen und roten Punkten. Seine linke Hand umfasst eine Kaffeetasse, auf der »Wien ist anders« steht. Verdammte Scheiße, da hat jemand Humor. Die Tasse ist halb voll oder halb leer, wie man es nimmt, und mit einer dicken roten Flüssigkeit gefüllt. Ich weiß, dass es kein Glühwein ist.

Der Tote heißt Klaus Windisch, 49 Jahre, war vor einigen Jahren Österreichs Wirtschaftsminister, danach erfolgreicher Unternehmer und lange Zeit der große, hellblonde, blauäugige Lieblingsschwiegersohn des Landes, bis sich das Glücksblatt des Saubermanns wendete. Ich versuche, mich an die Medienberichte zu erinnern. Im Zusammenhang mit dem Verkauf einer Wohnbaugesellschaft flossen Gelder an Busen- und Parteifreunde, es ging um Schein- und Verschleierungsfirmen in Steuerparadiesen, Zahlungen im Zusammenhang mit dem Börsengang einer Firma mit immensen Verlusten für die Kleinaktionäre, aber mit gigantischen Gewinnen für ihn, munkelte man, und Verdacht auf Steuerhinterziehung in vielfacher Millionenhöhe. Aus dem Politliebling wurde der Hauptverdächtige der Justiz. Ich wollte nie etwas mit ihm zu tun haben. Insgeheim sehne ich mich nach Isabella Martin zurück, nach ihren kalten Augen, möchte den Fall wiederhaben und diesen hier abgeben, an wen auch immer.

Dr. Hartmut Meyer, der Gerichtsmediziner, reißt mich aus meinen Gedanken.

»Schön, dich zu sehen. Hast mir gefehlt«, begrüßt er mich mit einem müden Lächeln und kratzt sich an der Stirn.

Der Duft seines aufdringlichen Rasierwassers oder Eau de Toilette schlägt mir entgegen. Ich rieche Iris, Sandelholz, Hagedorn und irgendwelche anderen Hölzer, unerträglich schwer und süßlich.

Offensichtlich hat er sich schon an Windisch zu schaffen gemacht, den Leichnam entkleidet und auf Wunden und Auffälligkeiten untersucht, um eine vorläufige Todesursache zu bestimmen. Nackt und bloß liegt der Körper vor uns.

»Er war schon ein gut aussehender Mann, der Herr Minister a. D.«, stelle ich fest, ohne viel zu überlegen, mehr um der Situation die Spannung zu nehmen.

Meyer mustert mich von der Seite, um zu prüfen, ob ich ihn provozieren will, aber mein Gesicht ist nur von Schlafentzug und dem kaputten Scherblatt meines Rasierapparates gezeichnet.

»Nicht mein Typ«, kontert er. »Ein aalglattes Arschloch.«

Ich bin solche Ausdrücke von Meyer nicht gewohnt. Er gehört zu den zivilisierten Menschen in meinem Umfeld. Ein Mann mit Stil, kunstbeflissen und belesen.

»Warum so derb?«, frage ich ihn.

Er hat sich wieder im Griff. »Ein kleiner Ausrutscher«, lächelt er, »aber ist doch wahr.«

Nicht alle Gerichtsmediziner sind sarkastische Selbstdarsteller, Hartmut Meyer definitiv nicht. Es ist diese Nervosität, die uns alle beschleicht, diese Angst, hier auch nur einen winzigen Fehler zu machen, die ihn anders agieren lässt. Aber er fängt sich schnell.

»Deine Kollegen haben seinen Anzug durchsucht. Sein Handy ist ausgeschaltet, Portemonnaie mit Geld und Karten trug er bei sich sowie diverse Schlüssel. Falls ihn jemand gewaltsam zu Tode gebracht hat, wovon ich leider ausgehen muss, war es definitiv kein Raubmord.«

»Todesursache, Todeszeitpunkt?«, frage ich mechanisch, obwohl ich weiß, dass diese Fragen jeden Gerichtsmediziner zur Weißglut treiben und in den allermeisten Fällen nicht beantwortet werden. Heute bekomme ich allerdings prompt eine Antwort.

»Gerne, Herr Oberstleutnant. Wenn Sie mich gleich in die Gerichtsmedizin begleiten wollen, dann schneiden wir Windisch gemeinsam auf. Dabei werden alle Fragen beantwortet. Einverstanden?«

Ich versuche ein gequältes Lächeln und verspreche ihm, später zum Kaffee vorbeizukommen. Wenn die Obduktion abgeschlossen ist. Und weil ich eine Weile stehen bleibe und schweige, lässt sich Meyer doch herab, ein paar Vermutungen zu äußern.

»Todeszeitpunkt: gestern, später Abend. Vor Mitternacht. Zur Todesursache habe ich eine ziemlich wahrscheinliche Vermutung.«

Er macht eine Pause, aber ich weiß, dass er nicht erwartet, dass ich sie mit irgendeiner unnötigen Bemerkung fülle. Also lasse ich mir Zeit, bis er weiterspricht.

»Er hat eine Beule am Hinterkopf. Daran ist er definitiv nicht gestorben. Aber siehst du den Einstich dort?« Meyer zeigt auf eine deutlich erkennbare Einstichstelle im linken Unterarm.

Ich nicke. Er drückt an verschiedenen Stellen der Leiche herum, wobei ich versuche, nicht genau hinzusehen, und fragt dann: »Was fällt dir auf?«

Natürlich ist die Frage rhetorisch, weil er weiß, dass ich nur mit den Schultern zucken kann.

»Keine Leichenflecken, Michael.«

Ich ahne langsam, worauf er hinauswill.

»Aderlass.«

»Sehr gut, Herr Oberstleutnant. Die fehlenden Leichenflecken und der Einstich deuten darauf hin, dass ihm jemand Blut abgenommen hat. Viel Blut, viel zu viel Blut. Wenn das stimmt, dann war es ein verdammt beschissener Tod, den nicht einmal er verdient hat.«

Ich antworte nicht. Was immer ich über Klaus Windisch zu seinen Lebzeiten gedacht habe, spielt keine Rolle mehr. Jetzt liegt da ein Toter, und ich behandle alle Toten gleich. Wenn ich mich mit ihnen beschäftige, haben sie kein irdisches Gericht mehr zu fürchten. Nackt und bloß stehen sie vor ihrem Schöpfer und warten, ob der himmlische Richter mit dem Daumen nach oben oder unten zeigt. Ich suche inzwischen ihre Mörder.

Meyer redet jetzt auf mich ein, aber ich nehme nur Bruchstücke auf, muss mich konzentrieren, spüre die beginnenden Kopfschmerzen. Ich höre ihn »definitiv nicht hier ermordet« sagen und »praktisch keine Blutspuren, außer, du hast es ja gesehen, das Blut in der Tasse. Michael, hörst du mir überhaupt zu?«

Ich nicke.

»Noch mal zum Mitschreiben«, fährt er fort. »Ihr müsst einen Tatort suchen, wo man ihm Blut abgenommen hat. Vielleicht hat man ihn vorher betäubt, sodass er es nicht mitgekriegt hat, das weiß ich noch nicht, wenn nein, dann hat er einen langsamen Tod erlebt, nicht extrem schmerzhaft, aber verdammt fies.«

Diesmal habe ich ihm sehr genau zugehört. Ich stelle mir den Minister vor, wie er um Gnade bettelt. Nein, wahrscheinlich hat er es mit der üblichen Tour versucht. Seinem Peiniger Geld in Hülle und Fülle angeboten, vielleicht ein Bankkonto irgendwo in der Schweiz. Er würde natürlich von nichts wissen, keiner Menschenseele etwas erzählen, wenn er nur diesen Tropf abstellt. Nur für einen Augenblick, um zu verhandeln. Später, als er merkt, dass dies nicht zieht, droht er mit Gewalt, mit dem Schrecken der Polizeimacht, mit seinen Verbindungen, Anwälten, Hintermännern, die dem feigen Kerl die Zähne einschlagen werden. Und erst danach, sozusagen in Phase drei, kommt die Tour mit den Kindern, aber er hat gar keine, und vielleicht verspricht er sogar, sich bei Gott und der Welt zu entschuldigen, Abbitte zu leisten, und gelobt Besserung gegenüber dem Mann, der doch hoffentlich nicht zum Mörder werden will und dem er nicht in die Augen sehen kann. Kennt er ihn? Wahrscheinlich. Sicher.

Julia hat sich im Hintergrund gehalten und einen jungen Mann befragt, der als Verkäufer unten im Luxusladen arbeitet. Er zittert, sitzt bleich auf dem einzigen im Raum vorhandenen Stuhl. Zweifelsohne ist er derjenige, der den Toten heute Morgen gefunden hat. Julia versteht es, ihn so gut es geht zu beruhigen, und entlockt ihm wahrscheinlich die nötigen Antworten, ohne ihn zu zermürben. Wieder ein Punkt für sie.

Ich will diesen Ort verlassen, zu meinem Auto gehen, als von hinten ein Hauch von einem Hugo-Boss-Parfüm heranweht und sich mit dem Geruch von Tod und frischer Farbe mischt.

»Ich habe mich schon gewundert, wo du bleibst«, sage ich, noch bevor ich mich umdrehe. »Kollege Rachinger.«

»Immer einen guten Riecher, der Herr Oberstleutnant«, kommt prompt die Antwort und mit ihr eine ausgestreckte Hand. Ich schüttle sie ohne Widerwillen. Der groß gewachsene, kahlköpfige Mann in der Lederjacke ist die Feuerwehr für Norbert Gingrich, den Chef des Verfassungsschutzes, genauer den Direktor des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung. Rachinger wird nicht selten von ihm im sprichwörtlichen Regen stehen gelassen, ohne Schirm. Das macht ihn mir erträglich. Er fängt die Kugeln ab, bevor sie Gingrich erreichen können. Egon Rachinger ist kein Einstein, aber seine Intelligenz und Kombinationsgabe verdienen eine unsichtbare Verbeugung. Gingrich hat ihn geschickt und nicht seinen Stellvertreter Hobbichler, die schleimige Kröte, die ihm normalerweise in den Arsch kriecht. Und Gingrich hat mir am Tatort eine halbe Stunde Vorsprung gegeben. Das ist mehr, als ich erwarten darf. Also grüße ich freundlich und beschließe, vorerst keine blöde Bemerkung zu machen.

»Wie es aussieht, werden wir zusammenarbeiten«, stelle ich fest.

Er lächelt und nickt. »Winter, der Chef sagt, du bist der Beste.«

Rachinger verzieht keine Miene. Erstaunlicherweise meint er, was er sagt. Auch wenn er lügt. Es ist nicht schwer, die Zusammenhänge zu erkennen. In einem Fall wie diesem ist es üblich, dass wir mit dem Verfassungsschutz zusammenarbeiten. Aber dass Rachinger mir an den Fersen klebt, hat auch noch andere Gründe. Gingrich kann mich nicht leiden. Rachinger soll darauf achten, dass diese Ermittlungen schnell und erfolgreich geführt werden und wir möglichst bald den Mörder finden. Wenn irgendetwas schiefläuft, werde ich dafür die Ohrfeigen kassieren, nicht Rachinger, und schon gar nicht Gingrich, und es wird etwas hängen bleiben an meinem Vorgesetzten und Freund, Oberst Ludwig Prantl, dem Leiter des Ermittlungsdienstes, dessen Stellvertreter ich bin.

Julia tritt zu uns und schaut mich mit einem Wer-ist-dieser-Typ-Blick an, also stelle ich die beiden einander vor.

»Egon Rachinger bekämpft eigentlich böse Terroristen, aber in der nächsten Zeit beehrt er uns mit seiner Gesellschaft.«

Sie schüttelt seine Hand und lächelt übertrieben brav. Mindestens fünf Sekunden zu lang sieht sie ihm in die Augen, und er genießt es. Vertraulichkeiten zwischen Kollegen mag ich nicht und bin schon drauf und dran, etwas zu sagen, verkneife es mir dann aber. Ich habe mühsam gelernt, mich im Zaum zu halten.

Julia wendet sich mir zu und grinst. Ich komme mir überflüssig vor, aber normalerweise dauert dieser Zustand nicht lange. Rachinger lässt keinen Zweifel aufkommen. Ich bin dazu ausersehen, die unausweichliche Sonderkommission zu leiten. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass dieser Fall in meiner Laufbahn irgendwo zwischen Himmelfahrtskommando und letzter Chance angesiedelt ist. Wenn ein ehemaliger Minister ausgeblutet wird, rückt die Kavallerie an. Da sind die Leute vom EB LKA 1, vom Ermittlungsbereich Leib und Leben des Landeskriminalamtes, zwar das wichtigste Rädchen am Wagen, aber natürlich wird in so einem Fall der Verfassungsschutz eingeschaltet, möglicherweise will sogar das Bundeskriminalamt ein Wörtchen mitreden. Wenn es Orden zu verteilen gibt, wird es genug geschwellte Brüste geben. Ich sehe die Ministerin Hand in Hand mit dem Polizeipräsidenten. Und genug Klugscheißer, die böse austeilen, wenn etwas schiefläuft. Ich bin ein heißer Kandidat dafür, etwas abzubekommen. Rachinger, mein gefräßiger Schatten, wird sofort zubeißen, wenn ich einen Fehler mache, und ich wette, dass sie bereits die Stunden bis dahin zählen.

Ich erinnere mich an die Diskussionen um meine Bestellung zum stellvertretenden Einsatzleiter. Gingrich war nie von mir überzeugt, und er lässt es seinen ehemaligen Schulfreund Prantl bei jeder Gelegenheit spüren. Wenn ich jetzt scheitere, wird er die Bluthunde loslassen oder, noch schlimmer, die Presse auf mich hetzen. Und damit auch auf Prantl. Ludwig Prantl ist noch vom alten Schlag, ein Polizist, der viele Jahre draußen Dienst tat, an der sprichwörtlichen Front. Einer, der sich damals keineswegs davor scheute, ein paar Gläser gespritzten Weißwein in einem verrauchten und verrufenen Vorstadtlokal zu trinken, um aus erster Hand Informationen zu erhalten. Einer, der mit den Rotlichtgrößen per Du war. Ganz anders als Gingrich, der sich über Jahre im Dienste der Terrorismusbekämpfung im Ausland aufhielt, sich gern mit Politikern gleich welcher Couleur umgibt und am liebsten jeden Österreicher mit den modernsten Überwachungsmethoden kontrollieren möchte. Zwischen Gingrich und Prantl liegen Welten. Klar, es vergeht kein Tag, an dem Prantl nicht darauf hinweist, dass heute ohnehin alles anders sei, um gleich im Anschluss von den vielleicht gar nicht immer guten, aber keineswegs schlechteren Zeiten zu erzählen.

Wenn Prantl einen Fehler macht, ist Gingrich die lästige Konkurrenz los, die zwischen ihm und einem Posten im Ministerium steht, auf den er schon lange spekuliert. Also schlage ich vor, keine Zeit zu verlieren, um ihm diesen Triumph nicht zu gönnen.

Vor dem Gebäude kämpfen wir uns durch die Menge der Journalisten, die sekündlich größer zu werden scheint, als würden sie wie Fliegen vom Leichengeruch angezogen. Rachinger steigt wie selbstverständlich mit ins Auto ein und lehnt sich auf dem Rücksitz zurück. Ich sehe ihn durch den Rückspiegel fragend an, aber er lässt sich nichts anmerken. Während ich die Nachrichten auf meinem Handy durchscrolle, wundere ich mich, dass Prantl nur zweimal angerufen hat. Ich fahre los und bitte Julia, die Nachrichten abzuhören, erfahre von ihr dann aber nichts, was ich nicht schon geahnt habe. Dass ich natürlich alle Unterstützung bekommen werde, die ich brauche, und auf Ressourcen zugreifen könne, die unter anderen Umständen nicht zur Verfügung stünden. Aber weil eben der Fall so speziell und von nationalem Interesse sei, habe die Innenministerin selbst jede operative und technische Hilfe zugesagt.

Aber schließlich gelingt es Julia doch, mich überrascht zu erleben. Denn ganz nebenbei habe die Innenministerin sich bei Prantl über mich beschwert, weil ich mich ihrem Neffen gegenüber schlecht benommen habe. Dies sei jetzt die Gelegenheit, es wiedergutzumachen.

Ich habe keine Ahnung, was sie meint.

»Der Neffe der Innenministern heißt Lukas Meierhofer«, erklärt Julia, »und arbeitet im Assistenzbereich 2. Analyse. Er hat mich mal auf dem Gang angesprochen und wollte ein wenig plaudern, hat aber eigentlich nur von sich erzählt. Dass er gern in die USA will und so, irgendeine Spezialausbildung machen. Klang sehr ehrgeizig.«

»O mein Gott«, sage ich und schlage aufs Lenkrad, »der Meierhofer.«

Jetzt fällt es mir wieder ein. Ein schmächtiges Bürscherl, gerade mal Mitte zwanzig, mit kurzen schwarzen Haaren, in zu engen Jeans, geschniegelt irgendwie. Er steht artig in der Tür und fragt mich höflich, ob ich ein paar Minuten Zeit für ihn hätte. Er fühle sich unterfordert, mit seinen Fähigkeiten nicht genug wertgeschätzt, und im Übrigen habe er sich für eine Ausbildung angemeldet, in Amerika. Um Ermittlungstechniken zu lernen. Er bräuchte dazu meine Unterstützung. Ich schaue ihn fragend an und schlürfe meinen Kaffee. Während ich mit ihm rede, ignoriere ich ihn geistig. Ich kann das. Die wenigsten Leute merken es, dass man ihnen gar nicht zuhört und im Kopf längst an etwas anderes denkt, aber er hat es gemerkt. Jetzt ist alles ganz deutlich. Meierhofer hat mich gefragt, warum ich ihn nicht beachte, obwohl er eindeutig der Beste in seinem Bereich sei. In welchem Bereich, habe ich gedacht, aber was anderes gefragt. Ich erinnere mich nicht mehr, was, habe es verdrängt. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich ihm überhaupt geantwortet habe. In meiner Erinnerung habe ich meinen Cappuccino ausgetrunken. Dann ist die Episode Meierhofer beendet.

»Dieser Meierhofer ist mit der Ministerin verwandt?« Ich trete stärker aufs Gas als gewollt und fahre beinahe eine Passantin an, die die Straße überquert. »Auf diese ehrgeizige kleine Kröte habe ich keine Lust«, knurre ich und füge, bevor Rachinger etwas einwenden kann, rasch hinzu: »Hast du in deinem Team auch ein paar Überraschungen? Tanten oder Nichten? Es lebe der Nepotismus.«

Julia schaut mich kurz an, verkneift sich aber die Frage.

Rachinger bleibt ruhig. »Wie alt bist du, Michael? Gehst auf die fünfzig zu, oder? Seit wann kennen wir uns? Ich schätze mal fünfzehn Jahre, wahrscheinlich sind es zwanzig. Vertrauen, mein Lieber, Vertrauen.«

Ich vertraue nicht mal mir selbst. Aber ich halte meinen Mund.

Julia nimmt inzwischen per Handy Infos von Prantl entgegen, der offenbar nur zähneknirschend zustimmt, ihr alles mitzuteilen, was er mir sagen will. Ich kann beim Fahren nicht telefonieren, auch nicht mit Freisprechanlage. Nicht einmal mit Prantl. Das Team trifft sich in zwei Stunden.

»Um 15 Uhr gibt der Polizeipräsident eine Erklärung ab«, wiederholt Julia die telefonische Auskunft. »Er hätte dich gerne dabei.«

Ich verdrehe die Augen. Sie sieht mich kurz an und schenkt mir ein verständnisvolles Lächeln. Ich fange an, sie wirklich zu mögen.

»Was hat der Verkäufer erzählt?«, frage ich, nachdem sie das Gespräch mit Prantl beendet hat. »War die Wohnung abgesperrt? Wie konnte der Täter überhaupt ins Haus gelangen? Wem gehört die Wohnung? Wie konnte man die Leiche unbemerkt dorthin transportieren?«

Meine Fragen prasseln auf sie nieder, aber sie bleibt gelassen. Ich vertreibe Frauen in meiner Umgebung schneller als das Weihwasser den Teufel, aber Julia ist anders. Sie strahlt eine Gelassenheit aus, die ich von mir selbst nicht kenne, eine Ruhe inmitten aller Hektik, die mir guttut. Meine Fragen beantwortet sie präzise und ohne Schnörkel. So erfahre ich, dass die Wohnung, in der wir den ehemaligen Minister gefunden haben, einem der Firmenbosse, denen das Geschäft darunter gehört, als Luxusherberge dient. Im ganzen Gebäude gibt es nur zwei Eigentümer, die Wohnungen vermieten – an eine Klientel, die inkognito bleiben will. Wir werden sie trotzdem behelligen müssen. Da die Wohnung gerade renoviert wird, wimmelt es von Fingerabdrücken, die wir mit den Bauarbeitern abgleichen müssen.

»Wie kam der Tote in die Wohnung?«

»Einfach. Sie war nicht abgesperrt. Während der Umbauarbeiten wurde darauf nicht geachtet. Wer stiehlt in dieser Gegend schon Farbkübel und Stehleitern?«, entgegnet Julia.

Ich zucke mit den Schultern. »Also müssen wir klären, wie der Mörder ins Haus kam.«

Ich würde mich gern weiter mit Julia austauschen, aber ich habe eine andere Aufgabe vor mir. Ich muss einen schweren Gang gehen, den Julia und Rachinger mir nicht abnehmen können. Rachinger nennt mir die Adresse, und eine Minute später parke ich vor der Börse. Ich drücke Julia wortlos die Autoschlüssel in die Hand und steige aus. Ich weiß, dass ich auf Prantl warten sollte, dass es klug wäre, ein Kriseninterventionsteam zu verständigen, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass ich keine Zeit verlieren darf, dass ich es sofort erledigen muss, allein.