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Alan Bradley

Flavia De Luce

Vorhang auf für eine Leiche

Roman

Aus dem Englischen übersetzt
von Gerald Jung
und Katharina Orgaß

Wie immer danke ich meinen Lektoren, Bill Massey von Orion Books in London und Kate Miciak von Random House in New York City. Bill und Kate haben mit vereinten Kräften und äußerst streitbar die Tore bewacht, während ich mich im Jahr 1950 herumgetrieben habe. Worte können meine Dankbarkeit nur ungenügend ausdrücken.

Mein Dank gilt auch Kristin Cochrane und Brad Martin von Doubleday Canada, deren Vertrauen in Flavia ungebrochen ist. Kristin hat mich zweimal bei der Verleihung von Preisen vertreten: eine Schuld, die sich wohl nie begleichen lässt.

Ich danke meiner Agentin Denise Bukowski dafür, dass sie immer für mich da und immer auf alles vorbereitet ist und mich auf allen Wegen begleitet. Danke Sandra Homer, Elizabeth De Francesca und John Greenwell von der Bukowski Agency für die Bewältigung der Papierberge – und das stets mit guter Laune!

Ich danke meinen Freunden John und Janet Harland für ihre Kommentare und die vielen wertvollen Anregungen.

Ich bedanke mich außerdem bei:

Susan Corcoran, Sharon Propson und Sharon Klein von Random House, meinen unvergleichlichen Presseagentinnen und schwer schuftenden Superheldinnen der Verlagswelt, die stets die schwierigsten Dinge zu wuppen haben.

Randall Klein von Random House, der so viele verschiedene Hüte aufhat – die ihm alle wunderbar passen; und meiner Lektorin Connie Munro.

Urban Hofstetter von Random House Deutschland für seine Lektorentätigkeit und seine Freundschaft, Inge Kunzelmann, die uns ohne mit der Wimper zu zucken quer durch Deutschland stets in die richtigen Züge und Flugzeuge verfrachtet hat, und Sebastian Rothfuss für seine wertvolle Hilfe bei einer äußerst verzwickten Recherchefrage.

Margarete von Schwarzkopf in Berlin, Hannover, Frankfurt und Köln und Hendrik Werner in Hannover, der mit viel Geschick und Humor übersetzt hat, sodass es stets so aussah, als hätte ich gewusst, worüber ich gerade auf Deutsch sprach.

Der umwerfenden Anna Thalbach. Es war mir eine Ehre, Abend für Abend neben Anna sitzen zu dürfen, während sie Flavia vor dem hingerissenen Publikum zum Leben erweckte.

Axel Schumbrutzki von der Buchhandlung Hugendubel und Florian Kröckel vom Heimathafen Neukölln, die einen erinnerungswürdigen Abend in einem Original-Tanzsaal aus den 1930er-Jahren arrangiert haben. Das Leben besteht aus solchen Erinnerungen. Vielen Dank, Axel und Florian.

Klaus Eberitzsch von der Buchhandlung Leuenhagen & Paris in Hannover, der nicht nur am selben Tag, sondern auch im selben Jahr wie ich Geburtstag hat: Damit sind wir jetzt offiziell Brüder. Dirk Eberitzsch und Ina Albert, ebenfalls von Leuenhagen & Paris. Ina und Klaus waren die ersten Buchhändler, die jemals auf eine vielbefahrene Straße gerannt sind und mich umarmt haben, während ich noch aus dem Taxi stieg. Jetzt weiß ich, warum Hannover so beliebt ist!

Mike Altwicker von der Buchhandlung Hansen & Kröger in Köln, der die denkwürdige Lesung auf Burg Bielstein nicht nur organisiert, sondern uns auch dorthin und wieder zurück gebracht hat.

Camille Poshoglian von Orion Books, eine wahre Meisterin der internationalen Terminplanung, und Mike Vella De Fremeaux und Faye Bonnici von Miller Distributors, Malta.

Und schließlich danke ich – wie immer – meiner geliebten Frau Shirley, die so viele glückliche Stunden mit mir auf Buckshaw verbracht hat.

Alan Bradley

Auch diesmal bedanken wir uns ganz herzlich bei Herrn Dr. Henning Böckemeier, der uns als krimibegeisterter Chemiker auch dieses Mal mit Fachbegriffen und Erläuterungen in korrekte Bahnen gelenkt hat – damit Flavias Feuerwerk auch wirklich abheben kann!

 

Katharina Orgaß und Gerald Jung

Die anderen waren Vater schweigend aus dem Salon gefolgt. Sie waren so unauffällig verschwunden wie Filmstatisten nach der großen Tanznummer und hatten mich allein auf dem Sofa zurückgelassen, wo ich mich wohlig ausstreckte, ein Weilchen die Augen zumachte und an die Zukunft dachte, die mir, zumindest soweit es die nähere Zukunft betraf, überwiegend aus dampfenden Senfwickeln, kübelweise Lebertran und der unerbittlichen Zwangsernährung mit Mrs Mullets widerwärtiger Krankenkost zu bestehen schien.

Beim bloßen Gedanken an das Zeug zog sich mein Zäpfchen erschrocken hinter die Mandeln zurück. Das Zäpfchen ist der kleine hautige Stalaktit, der ganz hinten im Gaumen baumelt und dessen lateinische Bezeichnung »Uvula«, wie mir Dogger erklärt hatte, so viel wie »Träubchen« bedeutete.

Woher wusste Dogger das bloß alles? Obwohl sich seine Kenntnis des menschlichen Körpers schon bei zahlreichen Gelegenheiten als sehr nützlich erwiesen hatte, war ich erst kürzlich auf die Idee gekommen, dass sein Wissen vermutlich mit seinem Alter zu tun hatte. Bei jemandem, der schon so lange auf dieser Welt weilte wie Dogger, jemandem, der ein Kriegsgefangenenlager überlebt hatte, sammelte sich wohl mit der Zeit ganz automatisch ein gewisses Maß an praktischem Wissen an.

Aber es musste noch mehr dahinterstecken. Ich erkannte mit plötzlichem Erschauern, dass ich es instinktiv schon die ganze Zeit gewusst hatte.

»Du hast so was schon mal gemacht«, hatte ich zu ihm gesagt, als wir uns über Phyllis Wyverns Leiche gebeugt hatten.

»Schon oft«, hatte Dogger erwidert.

Meine Gedanken purzelten wild durcheinander. Es gab so vieles, worüber ich noch genauer nachdenken musste.

Zum Beispiel über Tante Felicity. Was sie über ihren Dienst während des Krieges erzählt hatte, so wenig es auch gewesen war, ließ mich an Onkel Tars Briefwechsel mit Winston Churchill denken. Der Großteil dieses Schatzes ruhte immer noch ungelesen in einer Schreibtischschublade in meinem Labor. Natürlich war das alles viel zu lange her, als dass es mit Phyllis Wyvern im Zusammenhang stehen konnte. Onkel Tar war schon über zwanzig Jahre tot, aber ich hatte nicht vergessen, dass Tante Felicity und Harriet etliche unbeschwerte Sommer mit ihm auf Buckshaw verbracht hatten.

Jedenfalls war es allemal einen näheren Blick wert.

Dann die Sache mit dem Weihnachtsmann. War es ihm, trotz des Menschenauflaufs im Haus, gelungen, ungesehen ins Haus zu kommen? Hatte er mir die Glaskolben und die Reagenzgläser gebracht, die ich mir gewünscht hatte – all die herrlichen Trichter und Behälter, die Bechergläser und Pipetten, sorgfältig in Stroh eingepackt und aneinandergeschmiegt, sodass eine kristallene Wange beinahe die andere berührte? Lagen diese Schätze vielleicht schon oben in meinem Labor, funkelten im Winterlicht und warteten nur darauf, dass meine Hand sie zu brodelndem Leben erweckte?

Oder war der alte Knabe letztlich doch nur die Gestalt eines Ammenmärchens, wie Daffy und Feely so herzlos behaupteten?

Hoffentlich nicht.

Mir kam in den Sinn, dass es dafür einen Beweis gab, der mit dem Buchstaben P anfing, und es handelte sich dabei nicht um Pottasche.

Lautes Lachen aus dem Nebenzimmer riss mich aus meinen Gedanken, und kurz darauf kamen Feely und Daffy herein, die Arme voller bunter Päckchen.

»Vater hat gesagt, wir dürfen reinkommen!«, rief Daffy. »Du bist ja zu Weihnachten ausgefallen, und wir sind schon so gespannt darauf, was Tante Felicity dir diesmal geschenkt hat.«

Sie ließ ein Päckchen auf meine Beine fallen, dessen Verpackung verdächtig nach Ostern aussah.

»Mach schon auf!«

Meine geschwächten Finger zupften an dem Bändchen und rissen das Papier an einer Ecke auf.

»Gib her!«, sagte Feely. »Du bist aber auch ungeschickt.«

Ich hatte schon durch das Papier ertastet, dass das Päckchen etwas Weiches enthielt, und das Geschenk im Geiste abgeschrieben. Jeder weiß doch, dass die richtig tollen Geschenke sich immer hart anfühlen. Ohne einen Blick darauf zu werfen, wusste ich, dass Tante Felicitys Liebesgabe sich als Niete erweisen würde.

Wortlos überließ ich Feely das Päckchen.

»Guck mal!«, jubelte sie mit gespielter Begeisterung und fetzte das Papier ab. »Ein Bettjäckchen!«

Sie hielt sich die seidene Scheußlichkeit vor die Brust, als wollte sie das Jäckchen anprobieren. Mit seinen gesteppten Rauten sah das Ding wie die ausrangierte Rettungsweste einer chinesischen Dschunke aus.

»Das Jadegrün passt bestimmt prima zu deinem Teint«, sagte Daffy. »Willst du es gleich anziehen?«

Ich drehte mein Gesicht zur Sofalehne.

»Das nächste Geschenk ist von Vater«, sagte Feely. »Soll ich es aufmachen?«

Ich nahm ihr das Päckchen ab. Auf dem Anhänger stand:

Für: Flavia
Von: Vater
Frohe Weihnachten!

Daneben war ein kleines Rotkehlchen im Schnee abgebildet.

Die Verpackung ließ sich leicht entfernen. Ich hielt ein kleines Buch in der Hand.

»Was ist das?«, wollte Daffy wissen.

»Die Verwendung von Anilinfarben beim Druck britischer Briefmarken: Ein chemiehistorischer Abriss«, las ich vor.

Der liebe Vater. Am liebsten hätte ich gleichzeitig gelacht und geweint. Ich hielt Daffy das Buch hin und dachte rasch daran, mit welcher Spannung ich zum ersten Mal gelesen hatte, dass der große Friedrich August Kekulé, einer der Väter der organischen Chemie, sich das vierbindige Kohlenstoffatom vorgestellt hatte, als er im Pferdeomnibus von Clapham aus nach Hause fuhr. Die Stimme des Schaffners, der laut »Clapham Road!« rief, unterbrach seine Gedankenkette, worauf er seine Offenbarung für volle vier Jahre wieder vergaß.

Hatte Kekulé nicht auch mit Druckfarben zu tun gehabt? War nicht sein Freund Hugo Müller bei De La Rue angestellt gewesen, der Firma, die die britischen Briefmarken herstellte?

Ich legte das Buch weg. Meinem Gefühlswirrwarr wollte ich mich später widmen – wenn ich allein war.

»Das hier ist von mir«, verkündete Feely. »Das sollst du als Nächstes aufmachen. Aber pass auf, dass es nicht kaputtgeht.«

Vorsichtig schälte ich den flachen, rechteckigen Gegenstand aus dem Papier. Schon als ich das Geschenk in die Hand nahm, war mir klar, dass es sich um eine Schallplatte handelte.

Tatsächlich – es war die Toccata von Pietro Domenico Paradisi, aus seiner Sonate in A-Dur, gespielt von der grandiosen Eileen Joyce.

Für mich war diese Toccata das großartigste Musikstück, das komponiert worden war, seit Adam und Eva im Garten Eden kampiert hatten, eine Melodie, die sprudelte und tanzte wie die fröhlichen Atome von Natrium und Magnesium, wenn sie in ein Becherglas mit Salzsäure tröpfelten.

Feely spielte die Paradisi-Toccata manchmal, wenn ich sie darum bat, aber nur, wenn sie nicht sauer auf mich war, weshalb ich das Stück noch nicht oft zu hören bekommen hatte.

»D-Danke, Feely«, brachte ich mühsam heraus. Feely freute sich sichtlich.

»Jetzt meins!«, sagte Daffy. »Es ist nichts Besonderes, aber mehr hast du nicht verdient.«

Wieder ein dünnes flaches Päckchen, mit einem Bändchen drum und einem Anhänger dran: Für F. von D.

Es war ein Stahlstich, der auf ein Stück Pappe geklebt war, die Abbildung eines Alchimisten bei der Arbeit, zwischen Glasschalen und bauchigen Flaschen, Bechergläsern und Destillierkolben.

»Hab ich bei den Fosters aus einem Buch ausgeschnitten«, kommentierte Daffy. »Das merken die sowieso nicht. Die einzigen Bücher, die sie dort aufschlagen, sind die aus der Badminton-Bibliothek: Falknerei, Angeln, Jagen und so weiter.«

»Der Stich ist schön«, sagte ich. »Wunderschön. Ich frage Dogger, ob er ihn mir einrahmt.«

»Wenn rauskommt, dass es jemand geklaut hat«, fuhr Daffy fort, »sag ich einfach, dass du es warst. Was kann ich schon mit einem ollen, verstunkenen Alchimisten anfangen?«

Ich streckte ihr die Zunge raus.

Als Nächstes war Mrs Mullets Päckchen dran.

Fäustlinge.

»Sie hat gesagt, die brauchst du für deine erfrorenen Finger.«

»Sind meine Finger denn erfroren?« Ich streckte die Hände aus. »Sie kribbeln ein bisschen, aber sie sehen aus wie immer.«

»Nur Geduld«, meinte Feely. »Nach vierundzwanzig Stunden werden sie schwarz und fallen ab. Dann musst du dir Haken anpassen lassen, stimmt’s, Daff? Fünf kleine Haken an jeder Hand. Dr. Darby meint, du kannst von Glück sagen, dass die Prothesenherstellung in den letzten paar Jahren gewaltige Fortschritte gemacht hat. Bestimmt kannst du schon bald wieder …«

»Hör auf!«, kreischte ich. Meine Hände zitterten.

Meine Schwestern wechselten einen Blick, dessen Bedeutung ich eigentlich kannte, an die ich mich gerade eben aber ums Verrecken nicht mehr erinnern konnte.

»Wir lassen sie jetzt lieber allein«, sagte Daffy. »Wenn sie so ist, ist sie ungenießbar.«

An der Tür drehten sich die beiden noch einmal um, als wären sie an der Hüfte zusammengewachsen.

»Frohe Weihnachten«, sagten sie wie aus einem Mund, dann waren sie draußen.

 

Ich lag lange einfach nur da und starrte an die Decke.

War das mein Leben? Würde es immer so weitergehen, im jähen Wechsel von Sonnenschein zu Finsternis? Von Hexenkessel zu Einsamkeit? Von erbittertem Zorn zu noch erbitterterer Liebe?

Nein, das konnte nicht alles sein, da war ich mir ganz sicher. Da war noch etwas – aber was?

Ich ließ die Beine vom Sofa auf den Boden gleiten und setzte mich auf. Winzige Feuerwerkskörper explodierten hinter meinen Augenlidern, was nicht ausbleibt, wenn man zu viele Tage im Liegen verbringt. Ich kam ziemlich wacklig auf die Beine und musste mich an der Sofalehne aufstützen.

Also blieb ich kurz stehen und wartete, bis das Schwindelgefühl nachließ, dann zog ich den Morgenmantel enger um mich und schlurfte zur Tür. Wenn jemand mitkriegte, dass ich durchs Haus geisterte, setzte es eine Strafpredigt.

Aber die Flure waren menschenleer. Alle Dorfbewohner und Filmleute waren fort.

In der Eingangshalle herrschte die gewohnte dunkel getäfelte Stille. Buckshaw war wieder in den Normalzustand zurückgekehrt.

Von oben fiel ein einzelner Sonnenstrahl auf die schwarz-weißen Schachbrettfliesen, auf die schwarze Linie, mit der Antony und William de Luce das Anwesen vor so vielen Jahren in zwei feindliche Lager aufgeteilt hatten.

Wie traurig, dachte ich. Ihr Hass hatte die beiden überlebt.

Ich ging die Treppe hoch, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen. Oben angekommen verschnaufte ich erst einmal, indem ich mich auf die letzte Stufe setzte wie ein Vogel auf einen Ast.

Nur hier oben fühlte ich mich einigermaßen von der Last befreit, eine de Luce zu sein. Hier oben war ich trotz allem – ich selbst.

Einfach nur Flavia.

Flavia Sabina de Luce. Punkt.

 

Nach einer Weile zog ich mich am Geländer hoch und tappte zu meinem Labor. So lange war ich meinem sanctum sanctorum schon ewig nicht mehr ferngeblieben.

Ich holte tief Luft … öffnete die Tür … und ging hinein – und das selige Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitete, trieb mir die Tränen in die ungläubigen Augen.

»Haruh!«, jauchzte ich, und es war mir vollkommen schnurzpiepegal, ob mich jemand hören konnte oder nicht.

»Ha-ruh!«

Das Eingangszitat aus Alfred Tennysons Die Dame von Shalott wird wiedergegeben in der Übersetzung von Bernhard Reitz, in: Viktorianische Lyrik, hrsg. von Armin Geraths und Kurt Herget in Verbindung mit Gordon Collier und Bernd Wächter. Stuttgart: Reclam 1985, S. 141 ff.

Die Auszüge aus »Romeo und Julia« folgen der Schlegel/ Tieckschen Übertragung.

1

Nasskalte Nebelranken erhoben sich vom Eis wie gepeinigte Seelen, die ihre leibliche Hülle verließen. Die kalte Luft hatte sich in einen trüben, wabernden Dunst verwandelt.

Ich sauste in dem langen Korridor auf und ab, und das Kratzen meiner silbernen Schlittschuhkufen klang wie das trostlose Geräusch, das entsteht, wenn ein Metzger hingebungsvoll seine Messer schleift. Unter der Eisschicht war das komplizierte Muster des Holzparketts noch deutlich zu erkennen, wenn auch seine Farben durch die Beugung des Lichts zugegebenermaßen ein wenig stumpf wirkten.

Die zwölf Kerzen über mir, die ich aus der Anrichtekammer gemopst und in die uralten Kronleuchter gesteckt hatte, flackerten wie irre im Luftzug, wenn ich unter ihnen entlangschoss. Auf und ab fuhr ich, hin und her und rundherum. Ich atmete die beißend kalte Luft tief ein und stieß sie als kleine silbrige Wölkchen wieder aus.

Als ich schließlich mit harschem Kratzen zum Stehen kam, spritzten kleine Eisbröckchen wie eine sich brechende Welle aus winzigen, bunten Diamanten auf.

 

Die Bildergalerie zu fluten war nicht besonders schwer gewesen: Man musste lediglich von der Terrasse her einen Gummischlauch durch das Fenster schlängeln und das Wasser die ganze Nacht über laufen lassen – und natürlich bedurfte es dieser erbarmungslosen Kälte, die das Land nun schon seit vierzehn Tagen in ihrem eisigen Griff hielt.

Da ohnehin nie jemand den unbeheizten Ostflügel von Buckshaw aufsuchte, würde auch niemand meine improvisierte Eisbahn entdecken; jedenfalls nicht bis zum Frühling, wenn die ganze Pracht wieder schmolz. Niemand, bis auf meine in Öl gemalten Vorfahren vielleicht, die in Reih und Glied an den Wänden hingen und mein Treiben aus ihren schweren Bilderrahmen heraus mit frostigen Blicken missbilligten.

Ich streckte ihnen die Zunge heraus, wobei ich ein unanständiges Geräusch machte, und glitt erneut in den kalten Dunst hinein, wobei ich mich wie eine Eisschnellläuferin weit vorbeugte und mit dem rechten Arm in der Luft herumfuchtelte. Meine Zöpfe flatterten wild, und die linke Hand hatte ich so lässig auf den Rücken gelegt, als befände ich mich auf einem Sonntagsspaziergang durch unsere herrliche Natur.

Wie schön wäre es doch, dachte ich, wenn jetzt ein Modefotograf wie zum Beispiel Cecil Beaton zufällig mit seiner Kamera vorbeikäme und diesen Augenblick für die Nachwelt festhielte.

»Mach einfach weiter, Mädel«, würde er sagen. »Verhalte dich ganz natürlich, als wäre ich gar nicht da.« Und schon würde ich wieder wie der Wind durch unsere endlos lange, holzgetäfelte Ahnengalerie sausen, und ab und zu würde das diskrete Knallen einer Blitzlichtbirne meine Bewegungen für die Ewigkeit konservieren.

Ein, zwei Wochen danach würde ich dann auf den Seiten von Country Life oder der Londoner Illustrierten Nachrichten erscheinen, mitten im schwungvollen Lauf, in einer entschlossenen und zugleich unfassbar anmutigen Bewegung erstarrt.

»Bezaubernd – betörend – de Luce« würde die Bildunterschrift lauten. »Elfjährige Eisläuferin ist bewegte Poesie.«

»Herr im Himmel!«, würde es Vater entfahren. »Das ist ja Flavia!«

»Ophelia! Daphne!«, würde Vater rufen, mit der Zeitschrift wie mit einer Fahne wedeln und dann noch einmal einen Blick darauf werfen, um sich zu vergewissern. »Kommt schnell her! Das ist Flavia – eure Schwester.«

Bei dem Gedanken an meine Schwestern stöhnte ich laut. Bis dahin hatte mir die Kälte nicht allzu viel ausgemacht, jetzt aber packte sie mich plötzlich mit der Wucht eines atlantischen Sturmwindes – die bittere, beißende, lähmende Kälte auf hoher See im Winter, die Kälte des Grabes.

Ich zitterte wie Espenlaub und riss die Augen auf.

Die Zeiger meines Messingweckers standen auf Viertel nach sechs.

Ich schwang die Beine aus dem Bett, tastete mit den Zehen nach den Pantoffeln und watschelte dann, eingewickelt in mein gesamtes Bettzeug – Deckbett, Steppdecke und so weiter  –, wie eine bucklige, leicht übergewichtige Kakerlake zum Fenster hinüber.

Draußen war es natürlich noch dunkel. Um diese Jahreszeit würde die Sonne erst in zwei Stunden aufgehen.

Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren groß wie Exerzierplätze, kalte, zugige Säle mit weit voneinander entfernten Wänden und finsteren Ecken, und mein Zimmer, im südlichsten Winkel des Ostflügels gelegen, war das weitläufigste und trostloseste von allen.

In der Folge eines langen, erbitterten Disputs zwischen zweien meiner Vorfahren, Antony und William de Luce, bei dem es um den Sportsgeist bei gewissen militärischen Taktiken im Krimkrieg ging, hatten sie Buckshaw in zwei Lager geteilt, deren Demarkationslinie sich mit schwarzer Farbe mitten durch die Eingangshalle zog: eine Linie, die keiner der Kontrahenten übertreten durfte. So kam es aus den verschiedensten Gründen – von denen manche ziemlich langweilig, andere ausgesprochen absurd sind – noch während der Regierungszeit von König George V. dazu, dass man andere Teile des Hauses renovierte, während der Ostflügel größtenteils unbeheizt blieb und schließlich aufgegeben wurde.

Das hervorragende Chemielabor, das für meinen Großonkel Tarquin (oder kurz »Tar«) de Luce von dessen Vater eingerichtet worden war, hatte ein vergessenes und vernachlässigtes Dasein gefristet, bis ich seine Schätze entdeckt und für mich beansprucht hatte. Mithilfe von Onkel Tars sorgfältig geführten Notizbüchern und meiner bedingungslosen Leidenschaft für die Chemie, die mir offenbar schon von Geburt an im Blut lag, hatte ich bereits beachtliche Fähigkeiten darin erworben, »die Bausteine des Universums umzugruppieren«, wie ich es immer nannte.

»Beachtliche Fähigkeiten?«, protestierte meine innere Stimme. »Nur ›beachtliche‹? Jetzt mach aber mal halblang, Flavia! Du weißt genau, dass du ein absolutes Genie bist!«

Die meisten Chemiker, ob sie es nun zugeben oder nicht, hegen in ihrem Metier ein kleines Steckenpferd, auf dem sie am liebsten herumreiten. Mein Steckenpferd sind die Gifte.

Auch wenn ich noch immer in Verzückung geraten kann, wenn ich daran denke, wie ich einmal die Schlüpfer meiner Schwester Feely kräftig currygelb gefärbt habe, indem ich sie in einer Lösung aus Bleizucker kochte und anschließend in eine weitere aus Kaliumchromat tauchte: Mir ging das Herz erst dann so richtig auf, als ich zum ersten Mal ein simples, aber recht nützliches Gift herstellte, indem ich die dicke Schicht Grünspan von dem kupfernen Schwimmer in einem unserer Toilettenspülkästen aus dem 19. Jahrhundert abkratzte.

Ich verneigte mich vor meinem Spiegelbild – und musste beim Anblick der fetten weißen »Schnecke im Schlafrock«, die sich vor mir verneigte, laut lachen.

Ich schlüpfte in meine Klamotten vom Vortag und streifte in letzter Sekunde noch eine ausgebeulte graue Strickjacke über, die ich aus der untersten Schublade von Vaters Kommode entwendet hatte. Diese unförmige Monstrosität, die mit ihren olivfarbenen und kastanienbraunen Rauten an eine verbrutzelte Klapperschlange erinnerte, hatte ihm seine Schwester, meine Tante Felicity, zum letzten Weihnachtsfest gestrickt.

»Sehr aufmerksam, Lissy«, hatte Vater gesagt und sich auf diese Weise um eine eindeutigere Lobpreisung des hässlichen Fetzens gedrückt. Als mir im August auffiel, dass er das Ding noch kein einziges Mal getragen hatte, betrachtete ich es als leichte Beute, und seitdem die kalte Witterung eingesetzt hatte, war es zu meinem Lieblingskleidungsstück avanciert.

Natürlich passte mir die Jacke nicht. Auch wenn ich die Ärmel aufkrempelte, sah ich darin aus wie ein zerzauster Affe beim Bananenpflücken. Andererseits ist, meiner Meinung nach und zumindest im Winter, die Wärme dicker Wolle dem Frieren in modischen Fähnchen jederzeit vorzuziehen.

Außerdem hatte ich mir angewöhnt, mir zu Weihnachten keine Anziehsachen zu wünschen. Warum dafür einen Wunsch verschwenden, wenn man todsicher sowieso etwas zum Anziehen geschenkt bekam?

Letztes Jahr hatte ich den Weihnachtsmann um einige dringend benötigte Laborgläser gebeten – ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, eigens eine Liste der unterschiedlichen Kolben, Bechergläser und Reagenzgläser anzufertigen und unter mein Kopfkissen zu legen – und, siehe da –, der brave Kerl hatte tatsächlich alles besorgt!

Feely und Daffy glaubten nicht an den Weihnachtsmann, weshalb er ihnen bestimmt absichtlich so ausgesucht lausige Geschenke wie parfümierte Seife, Morgenmäntel und Pantoffeln brachte, die so aussahen und sich auch so anfühlten, als wären sie aus orientalischen Teppichen geschneidert.

Immer wieder hatten mich meine Schwestern belehrt, dass der Weihnachtsmann nur etwas für kleine Kinder sei.

»Er ist nur ein grausamer Spaß, den sich Eltern auf Kosten ihrer grässlichen Gören machen, damit sie sie mit Geschenken überhäufen können, ohne sich richtig mit ihnen befassen zu müssen«, hatte Daffy erst letztes Jahr allen Ernstes behauptet. »Er ist ein Märchen, mehr nicht, ich schwör’s. Schließlich bin ich älter als du und kenne mich mit so was aus.«

Ob ich ihr glaubte? Ich war mir nicht ganz sicher … Als ich wieder in meinem Zimmer war und darüber nachdenken konnte, ohne gleich loszuheulen, hatte ich das Problem mit meinen ausgeprägten detektivischen Fähigkeiten beleuchtet und war zu dem Schluss gekommen, dass meine Schwestern gelogen hatten. Wer sollte denn sonst meine Laborgläser gebracht haben, bitte schön?

Außer dem Weihnachtsmann kamen nur fünf Kandidaten infrage. Mein Vater, Colonel Haviland de Luce, war völlig verarmt und fiel daher aus, genauso meine Mutter Harriet, die beim Bergsteigen umgekommen war, als ich noch in den Windeln lag.

Dogger, Vaters Faktotum also das Mädchen für alles – verfügte schlicht und ergreifend nicht über die seelischen, körperlichen und auch finanziellen Mittel, um heimlich und bei Nacht großzügige Geschenke durch ein zugiges, verfallendes Landhaus zu schleppen. Dogger war im Fernen Osten Kriegsgefangener gewesen und hatte dort so Furchtbares durchgemacht, dass sein Verstand noch immer wie mit einem unsichtbaren Gummiband mit jenen Erlebnissen verbunden war – einem Band, an dem das unbarmherzige Schicksal ab und zu zerrte, und das üblicherweise immer im unpassendsten Augenblick.

»Er hat dort Ratten essen müssen!«, hatte mir Mrs Mullet einmal in der Küche erzählt. »Stell dir das mal vor – Ratten! Sie mussten sie braten!«

Da alle Angehörigen unseres Haushalts aus dem einen oder anderen Grund als Geschenkebringer disqualifiziert waren, blieb nur noch der Weihnachtsmann übrig.

Schon in einer Woche würde er wiederkommen, und um die leidige Frage ein für alle Mal zu klären, hatte ich schon seit geraumer Zeit einen Plan geschmiedet. Ich würde ihm eine Falle stellen.

Und zwar eine streng wissenschaftliche.

 

Wie einem jeder erfahrene Chemiker sagen kann, lässt sich Vogelleim ganz einfach herstellen, indem man die Mittelrinde der Stechpalme acht, neun Stunden lang kocht, sie für zwei Wochen unter einem Stein vergräbt, dann wieder ausbuddelt und in fließendem Flusswasser wäscht. Anschließend zermahlt man sie und lässt sie gären. Das Mittel wurde jahrhundertelang von Vogelfängern benutzt, die es auf Äste schmierten, um die Singvögel zu fangen, die sie anschließend in den Städten verkauften.

Der große Sir Francis Galton hat in seinem Buch Die Kunst des Reisens oder Nützliche Kniffe und Hinweise für unzivilisierte Länder, von dem ich ein signiertes Exemplar in einer mit wirren Unterstreichungen versehenen Gesamtausgabe seiner Werke in Onkel Tars Bibliothek entdeckt hatte, eine Methode zur Herstellung ebenjenes Klebstoffs beschrieben. Ich hatte Sir Francis’ Anweisungen buchstabengetreu befolgt, hatte im Hochsommer mehrere Armvoll Stechpalmen aus dem Eichenwäldchen im Gibbet Wood nach Hause geschleppt und die klein gebrochenen Zweige über dem Laborbunsenbrenner in einem Schmortopf gekocht, den ich mir – allerdings ohne ihr Wissen – von Mrs Mullet ausgeborgt hatte. Zum Schluss hatte ich noch ein paar selbst erfundene chemische Finessen angewandt, um das pulverisierte Harz hundertmal klebriger als im Originalrezept zu machen. Nach nunmehr einem halben Jahr Vorbereitung war meine Paste inzwischen so klebrig, dass sie einen ausgewachsenen Gorilla mitten im Lauf ausgebremst hätte, und der Weihnachtsmann – falls es ihn wirklich gab – durfte eigentlich nicht die geringste Chance haben. Falls der muntere alte Herr nicht zufällig einer Flasche Diethylether O(C2H5)2 dabeihatte, mit dem er den Vogelleim lösen konnte, würde er bis in alle Ewigkeit in unserem Kamin stecken bleiben – oder bis ich mich seiner erbarmte und ihn daraus befreite.

Der Plan war einfach genial. Wieso war noch niemand auf diese Idee gekommen?

Ein Blick durch den Vorhangspalt verriet mir, dass es in der Nacht geschneit hatte. Auch jetzt wirbelte der Nordwind noch weiße Flocken durch den Lichtschein aus der Küche im Erdgeschoss.

Wer mochte zu einer so unchristlichen Zeit schon auf den Beinen sein? Mrs Mullet kam erst später, und zwar zu Fuß von Bishop’s Lacey nach Buckshaw.

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen!

Heute war der Tag, an dem die Eindringlinge aus London eintreffen sollten. Wie konnte ich das vergessen haben!

Vor über einem Monat – am 11. November, um genau zu sein, jenem grauen, trüben Herbsttag, an dem man in Bishop’s Lacey um die Gefallenen aus den verschiedenen Kriegen trauert  – hatte uns Vater in den Salon gerufen, um uns die furchtbare Neuigkeit zu verkünden.

»Ich muss euch leider mitteilen, dass das Unvermeidliche eingetreten ist«, sagte er schließlich, nachdem er eine Viertelstunde gramvoll aus dem Fenster geschaut hatte.

»Ich brauche euch ja wohl nicht an unsere prekäre finanzielle Situation zu erinnern …«

Er hatte anscheinend vergessen, dass er uns tagtäglich – manchmal sogar zweimal innerhalb einer Stunde – an unsere schwindenden Geldreserven erinnerte. Buckshaw hatte Harriet gehört, und als sie gestorben war, ohne ein Testament zu hinterlassen (wer hatte schon damit gerechnet, dass eine so lebenslustige Person wie sie auf einem Berg im fernen Tibet ihr Ende finden würde?), hatten die Sorgen ihren Anfang genommen. Seit zehn Jahren ging Vater nun schon mit den grauen Herren der Königlichen Finanzbehörde die, wie er es nannte, »Tanzschritte des Todesmenuetts« durch.

Trotz der sich immer höher stapelnden Rechnungen auf dem Tisch in der Diele und trotz der immer häufigeren telefonischen Anfragen vulgär klingender Anrufer aus London war es Vater gelungen, sich irgendwie durchzulavieren.

Einmal hatte ich, aufgrund seiner Phobie bezüglich des »Instruments«, wie er das Telefon nannte, einen dieser Anrufe selbst entgegengenommen und auf ziemlich amüsante Weise abgeschmettert, indem ich so tat, als würde ich Englisch weder verstehen noch sprechen.

Als das Telefon kurz darauf wieder geklingelt hatte, hatte ich mir den Hörer sofort geschnappt und mit dem Finger immer wieder auf die Gabel getrommelt.

»Hallo?«, hatte ich gerufen. »Hallo? Hallo? Tut mir leid … Ich verstehe kein Wort. Ganz schlechte Verbindung. Rufen Sie nächste Woche wieder an!«

Beim dritten Klingeln hatte ich den Hörer vom Haken genommen und in die Sprechmuschel gespuckt, die prompt ein besorgniserregendes Knistern von sich gegeben hatte.

»Feuer«, hatte ich mit verstörter Stimme gesagt. »Das ganze Haus steht in Flammen! Ich muss leider auflegen. Entschuldigen Sie, aber die Feuerwehr schlägt schon die Fenster ein.«

Der Rechnungseintreiber hatte nie wieder angerufen.

»Meine Verhandlungen mit der Steuerbehörde«, hatte Vater gesagt, »haben nichts gefruchtet. Es ist aus mit uns.«

»Aber … Tante Felicity!«, protestierte Daffy. »Tante Felicity wird uns doch bestimmt …«

»Deine Tante Felicity hat weder die Mittel noch die Absicht, unsere Lage zu lindern. Ich fürchte, dass sie …«

»… über Weihnachten herkommt«, unterbrach ihn Daffy. »Du könntest sie doch fragen, wenn sie hier ist!«

»Nein.« Vater schüttelte traurig den Kopf. »Es war alles umsonst. Der Tanz ist zu Ende. Ich war gezwungen, Buckshaw …«

Ich hielt die Luft an.

Feely beugte sich vor und runzelte die Stirn. Sie kaute an einem Fingernagel, was ziemlich ungewöhnlich für eine derart eitle Person war.

Daffy schielte unter gesenkten Lidern hervor, unergründlich wie eh und je.

»… einem Filmstudio zu überlassen. Jedenfalls vorübergehend. Die Filmleute kommen in der Woche vor Weihnachten und haben freie Hand, bis sie ihre Arbeit hier beendet haben.«

»Und was wird dann aus uns?«,fragte Daffy.

»Wir dürfen hierbleiben, vorausgesetzt, wir halten uns in unseren Privaträumen auf und mischen uns nicht in die Dreharbeiten ein. Tut mir leid, aber das waren die günstigsten Bedingungen, die ich herausschlagen konnte. Im Gegenzug erhalten wir ein Honorar, mit dessen Hilfe wir uns noch eine Weile über Wasser halten können – zumindest bis zu Mariä Verkündung Ende März.«

Eigentlich hätte ich mit etwas in der Art rechnen müssen. Vor ein paar Monaten waren zwei junge Männer in Schals und Flanell aufgetaucht und hatten Buckshaw zwei ganze Tage lang aus jedem erdenklichen Winkel geknipst, von innen und von außen. Neville und Charlie hießen sie, und Vater hatte sich nur vage zu ihren Absichten geäußert. Ich hatte angenommen, es handele sich lediglich um einen weiteren Fototermin für Country Life, und nicht weiter darüber nachgedacht.

Vater war inzwischen wieder wie magisch vom Fenster angezogen worden und ließ den Blick nach draußen über sein in Schwierigkeiten steckendes Anwesen schweifen.

Feely stand auf und schlenderte wie zufällig zum Fernglas. Sie beugte sich darüber und musterte ihr Spiegelbild.

Ich ahnte, was sich in ihren Gehirnwindungen abspielte.

»Weißt du, worum es geht?«, fragte sie mit einer Stimme, die so gar nicht die ihre war. »Bei dem Film, meine ich.«

Vater drehte sich nicht um. »Vermutlich ist es eine dieser schauderhaften Landhausschmonzetten. Ich habe nicht näher nachgefragt.«

»Machen irgendwelche bekannten Schauspieler mit?«

»Ich kannte jedenfalls keinen«, sagte Vater. »Der Vermittler hat andauernd den Namen Wyvern erwähnt, aber der hat mir auch nichts gesagt.«

»Wyvern?« Daffy war sofort hellwach. »Etwa Phyllis Wyvern?«

»Stimmt, so hieß sie.«Vater klang ein kleines bisschen munterer. »Phyllis. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor. So heißt nämlich auch die Vorsitzende der Philatelistischen Gesellschaft in Hampshire. Nur dass sie Phyllis Bramble heißt«, setzte er hinzu, »nicht Wyvern.«

»Phyllis Wyvern ist der berühmteste Filmstar der Welt«, sagte Feely völlig baff. »Der ganzen Galaxis!«

»Des ganzen Universums«, fügte Daffy völlig ernsthaft hinzu. »Die Bahnwärtertochter – da hat sie Minah Kilgore gespielt, weiß du noch? Anna aus der Steppe … Liebe und Blut  … Bereit zu sterben … Der geheime Sommer. Sie sollte sogar die Scarlett O’Hara in Vom Winde verweht spielen, hat sich aber vor den Probeaufnahmen an einem Pfirsich verschluckt und brachte kein Wort heraus.«

Daffy war stets über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Filmwelt informiert, weil sie die entsprechenden Zeitschriften im Dorfladen nach der Schnelllesemethode überflog.

»Und Phyllis Wyvern kommt zu uns nach Buckshaw?«, fragte Feely. »Phyllis Wyvern?«

Vater zuckte nur matt die Schultern und blickte wieder mit düsterer Miene aus dem Fenster.

 

Ich rannte die Osttreppe hinunter. Im Salon war alles dunkel. Als ich in die Küche kam, blickten Daffy und Feely mit säuerlichen Mienen von ihren Haferbreischüsseln auf.

»Ach, da bist du ja, Schatz«, sagte Mrs Mullet. »Eben grade haben wir überlegt, ob wir einen Suchtrupp nach dir losschicken sollen. Jetzt ist aber höchste Eisenbahn. Diese Filmfritzen sind bestimmt hier, ehe du ›Alec Guinness‹ sagen kannst.«

Ich schlang mein Frühstück in mich hinein (klumpiger Haferbrei und angebrannter Toast mit Zitronenaufstrich) und wollte eben wieder abhauen, als die Küchentür aufging und Dogger zusammen mit einem Schwall kalter Luft hereinkam.

»Guten Morgen, Dogger«, sagte ich. »Suchen wir heute den Baum aus?«

Seit ich denken kann, war es für meine Schwestern und mich Brauch gewesen, Dogger in der Woche vor Weihnachten in den Wald von Buckshaw zu begleiten, wo wir diesen und jenen Baum begutachteten, einen jeden hinsichtlich seiner Größe, Gestalt, Dichte und des allgemeinen Erscheinungsbildes beurteilten, ehe wir uns schließlich für den Gewinner entschieden.

Am folgenden Morgen tauchte der auserwählte Baum dann wie durch Zauberhand im Salon auf, wo er in einem Kohleneimer stand und darauf wartete, dass wir uns ihm widmeten. Mit Ausnahme von Vater verbrachten wir den Tag in einem wahren Wirbelsturm aus uraltem Lametta, silbernen und goldenen Girlanden, bunten Glaskugeln und kleinen Engeln, die Papptrompeten bliesen, und hielten uns so lange es ging damit auf, bis am späten Nachmittag das Werk leider vollbracht war.

Weil es der einzige Tag im Jahr war, an dem meine Schwestern ein bisschen weniger fies zu mir waren als sonst, freute ich mich unverhohlen darauf. Einen Tag lang – oder zumindest ein paar Stunden – waren wir ausgesucht freundlich zueinander, scherzten, und manchmal lachten wir sogar miteinander, als wären wir eine jener armen, aber fröhlichen Familien bei Charles Dickens.

Ich lächelte Dogger in froher Erwartung zu.

»Leider nicht, Miss Flavia«, antwortete Dogger. »Der Colonel hat beschlossen, dass im Haus alles so bleibt, wie es ist. So wünschen es die Filmleute.«

»Wen kümmern schon die blöden Filmleute!«, rief ich, vielleicht ein wenig zu laut. »Die können uns doch nicht einfach unser Weihnachten vermiesen!«

Aber ich las sofort in Doggers Gesicht, dass sie das sehr wohl konnten.

»Ich stelle einen kleinen Baum ins Gewächshaus«, sagte er. »In der kühlen Luft dort hält er auch viel länger.«

»Das ist nicht dasselbe!«, maulte ich.

»Stimmt«, pflichtete Dogger mir bei, »aber auf diese Weise haben wir wenigstens unser Möglichstes getan.«

Noch ehe mir eine Erwiderung einfiel, kam Vater in die Küche, musterte uns finster, als wäre er ein Bankdirektor und wir eine Bande rebellischer Kontoinhaber, denen es gelungen war, die Barrieren noch vor der Öffnungszeit zu durchbrechen.

Wir saßen eingeschüchtert und mit gesenktem Blick da, als er den British Philatelist aufschlug und sich gleichzeitig dem Bestreichen seines versengten Toasts mit fahlweißer Margarine widmete.

»Über Nacht ist schöner frischer Schnee gefallen«, sagte Mrs Mullet munter, aber an ihrem besorgten Blick in Richtung Fenster erkannte ich, dass sie nicht mit dem Herzen bei der Sache war. Wenn der Wind weiterhin so heftig blies, würde sie am späten Nachmittag, wenn ihr Tagewerk vollbracht war, durch hohe Schneewehen nach Hause waten müssen.

Falls das Wetter allzu garstig wurde, würde Vater selbstverständlich Clarence Mundy mit seinem Taxi herbestellen – aber bei diesem Sturm war es ungewiss, ob Clarence mit seinem Wagen durch die hohen Schneehaufen hindurchpflügen konnte, die sich unweigerlich zwischen den Hecken bildeten. Wir wussten alle, dass Buckshaw zurzeit nur zu Fuß zu erreichen war.

Als Harriet noch lebte, gab es einen Schlitten mit Glocken und warmen Decken. Der Schlitten stand sogar immer noch in einer dunklen Ecke in der Remise, gleich hinter Harriets Rolls-Royce Phantom II, beide Fahrzeuge ein Denkmal für ihre verstorbene Besitzerin. Die Pferde waren leider schon lange nicht mehr da. Sie waren bei einer Versteigerung nach Harriets Tod verkauft worden.

In der Ferne ertönte ein Grollen.

»Hört mal!«, sagte ich. »Was war das?«

»Der Wind«, antwortete Daffy. »Willst du den letzten Toast noch, oder kann ich den haben?«

Ich schnappte mir die Scheibe und mampfte sie auf dem Weg in die Eingangshalle trocken herunter.