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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

DER AUTOR
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Werner Toporski, 1934 in Berlin geboren, von Beruf Apotheker, gibt in seinen Jugendbüchern denen eine Stimme, die den Mächten ihrer Zeit ausgeliefert sind. Er lebt in Biberach/Riss.

FÜR LENA

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
JOANNA LAUFERSWEILER
danke ich für die Einfügung der polnischen Textteile

ZEIT DER ROTEN SPINNEN
Es war dieser Sommer, der letzte Sommer, bevor alles anders wurde. So sehr anders, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können. Irgendwo weit fort war Krieg, sicher habe ich das gewusst. Aber doch nicht hier in Waly. Hier war Frieden, tiefster Frieden, und wieso sollte sich das ändern?
 
Ich sitze unter dem Maulbeerbaum. Hier ist mein Lieblingsplatz. Hier kann ich träumen in der Wärme des Nachmittags. Licht blitzt durch das Geäst, wenn die Sonne hinter Laub und Zweigen Verstecken spielt. Der Wind schläft. Nur die Blätter der großen Pappel vorn am Tor wispern vom leisen Hauch und zappeln. Pappeln zappeln immer. Die Birken an der Allee zum Haus rühren sich nicht und streuen Flecken von Licht und Schatten über den Sandweg. Ein paar Blätter sind schon gelb und von den Samen trudeln manche schon herab und verfangen sich in den Spinnennetzen am Zaun und an den Ställen: kleine, hellbraune Schwalben. Oder Schmetterlinge.
Faul wie ich liegt unser Hund Hasso mitten auf dem Hof und blinzelt ab und zu mit einem Auge zu mir herüber. Er liebt es, sich von der Sonne braten zu lassen, und erst wenn ihm wirklich zu heiß wird, verschwindet er im Schatten des Hauses.
In der Luft ein Hauch von Kamille. Wenn die Sonne darauf scheint, verströmen die Blüten diesen süßen Duft, bei dem ich gar nicht anders kann, als mich wohl zu fühlen. Das gehört zum Zuhause, genau wie milchiger Kuhstall oder Heu oder Holzrauch. Und der herbe Geruch der Felder zur Getreideblüte im Frühjahr: Trinken würde ich all diese Düfte, wenn man das könnte.
Wenn ich hier unter meinem Maulbeerbaum sitze, dann wissen alle, dass man mich am besten in Ruhe lässt, weil man dann sowieso nichts mit mir anfangen kann. Und ich selber wünsche dann auch nichts sehnlicher, als allein gelassen zu werden. Fünf Geschwister können einem manchmal ganz schön auf den Wecker gehen! Im Grunde finde ich es ja schön, dass wir so viele sind, und ich kann es mir auch gar nicht anders vorstellen. Aber manchmal halte ich das einfach nicht aus! Vor allem Huppe. Meist verstehen wir uns ja gut, aber manchmal will er alles bestimmen, bloß weil er der Große ist, und dann platzt mir der Kragen.
Mit meinen Füßen scharre ich Halbkreise in den Sand. Klar, dass ich barfuß bin, wir laufen im Sommer alle ohne Schuhe. Aber erst wenn es warm genug ist, und das ist dann, so Mamas Regel, wenn sich die kleinen roten Spinnen zeigen. Allerdings: Im Frühjahr halte ich mich manchmal nicht daran. Denn wenn von den weit ausladenden Pappeln die Kätzchen fallen und wie ein weicher Teppich auf dem Boden liegen, dann muss ich da einfach barfuß hinein, weil es sich so weich anfühlt wie das Fell von richtigen kleinen Katzen.
Die roten Spinnen übrigens mag ich. Sie sind so klein, dass man genau hinsehen muss, um die winzigen Beinchen zu erkennen, denn sonst könnte man glauben, dass da kleine rote Punkte über die Erde huschen. Und ihr Rot leuchtet so schön!
 
»Gib die Puppe her!«
Elsbeth hat sie mir geklaut, bloß weil sie mich ärgern will.
»Hol sie dir doch!«, ruft sie.
»Gib sie her!«
Gleich habe ich sie, schließlich bin ich größer und schneller. Und an ihren langen Haaren kann man sie gut fangen.
»Hierher«, ruft Huppe, »hierher!«, und Elsbeth wirft ihm die Puppe rüber. Huppe ist mein Bruder, der Einzige, der älter ist als ich. Eigentlich heißt er Dietrich, aber ich habe ihn Huppe genannt, weil er mit seinen langen Beinen manchmal so komisch hüpft oder »huppt«, wie man bei uns sagt.
»Ihr sollt mir die Puppe geben!«
Ich bin jetzt wütend. Mit wenigen Sätzen renne ich auf Huppe zu, ich habe fast das Gefühl zu fliegen, so rase ich über den Hof. Er hat gar nicht damit gerechnet, und ehe er sich’s versieht, habe ich ihn am Kragen und reiße ihn nach hinten. Aber der Schuft macht sich los und rennt ins Haus, die Treppe hinauf. Die Puppe wirft er unterwegs weg, wahrscheinlich hofft er, dass ich dann aufhöre, ihn zu verfolgen. Aber ich will jetzt nicht mehr aufhören und die Puppe ist mir auch egal. Es ist einfach gemein, was er macht, und das werde ich ihm heimzahlen!
Knapp vor mir saust er ins Kinderzimmer und hat gerade noch Zeit, sich unter eins der Betten zu retten.
»Komm da raus!«, schreie ich ihn an.
Aber er rührt sich nicht. Er hat Angst!
»Du Feigling!« Ich bin jetzt richtig sauer! »Du ekelhafter Feigling, komm da raus!«
Nichts.
»Zum letzten Mal: Ich zähl bis drei.«
Und ich zähle. Aber Huppe zieht es vor, da unten zu bleiben. Nur sein Haarbüschel ist zu sehen.
Und das schnappe ich mir und ziehe. Ich habe gar nicht gewusst, wie gut ich ziehen kann.
Huppe schreit laut, aber das soll er ruhig. Ich habe seinen Skalp in meiner Hand und hole ihn da unten vor. Er schreit immer noch, als er eine geklebt kriegt, und was für eine!
»Seid ihr noch zu retten?!«, höre ich da. Natürlich hat keiner von uns gemerkt, dass Mama die Treppe heraufgekommen ist. Aber unser Geschrei war ja auch wirklich nicht zu überhören.
»Ihr seid wohl nicht gescheit!«
Und so fangen wir beide eine Ohrfeige.
Aber mir ist das egal, der klaut mir jedenfalls so schnell keine Puppe mehr!
 
Es ist Krieg, auch wenn wir hier nichts davon merken. Aber Papa ist eingezogen, das heißt, er ist Soldat und steht an der Front. Jetzt, 1944, brauchen sie jeden Mann, hat er uns erklärt. Auf Urlaub kommt er nur selten und wir vermissen ihn sehr, vermissen seine ruhige Sicherheit, seine Stärke. Sonst ist hier eigentlich alles normal. Seit zwei Jahren sind wir jetzt hier in Waly bei Kutno, mitten in Polen und nicht weit von Warschau. Vorher waren wir in Mauer in Schlesien und an den Hof dort kann ich mich noch gut erinnern. Der war zwar größer, eigentlich sogar ein Gut, aber gemütlicher ist es hier. Vielleicht, weil alles einfacher und schlichter ist. Strom haben wir nicht. Abends sitzen wir, wenn die Tage kürzer werden, bei Petroleumlicht und kuscheln uns aneinander, wenn Lisa, unser Kindermädchen, uns vor dem Schlafengehen vorliest oder eine Geschichte erzählt. Natürlich ist Lisa für die Kleinen da, aber Vorlesen ist einfach schön, auch für uns Große.
Gut, dass der Hof kleiner ist als der in Schlesien, denn die meiste Arbeit hat Mama zu erledigen. Tagsüber kommt man jetzt gar nicht mehr richtig an sie heran, weil sie immer so viel zu tun hat. »Mama steht unter Dampf«, sagt Huppe. Aber dafür haben wir Lisa und die hat auch für uns Große immer ein Ohr. Zu ihr gehen wir, wenn wir mal jemanden brauchen. Wenn wir was loswerden wollen oder einfach mal heulen.
 
»A niech to szlag trafi!«
Staszek flucht. Er ist Pole und Knecht auf unserem Hof und stammt irgendwo hier aus der Gegend. Wenn Staszek flucht, sagen wir Kinder uns manchmal Bescheid und rennen hin. Zwar verstehen wir nicht, was er wirklich sagt, aber es klingt so urig, man kann sich dabei irgendwas vorstellen und sich gruseln. Staszek selber ist gar nicht zum Gruseln, Staszek ist nett. Er ist auch stark und bei ihm fühlt man sich aufgehoben. Manchmal macht er auch Witze, solche, die man ganz ohne Sprache versteht. Wie jetzt, wo er uns eine Grimasse schneidet.
»Cholera!« – Das war extra für uns Kinder, denn er grinst zu uns herüber.
Er wirft die Mistgabel in die Stallecke, dass sie wie abgestellt stehen bleibt, und schlendert hinüber zu den Pferdeboxen. Wenn er den Zweijährigen sattelt, ist Staszek ganz ruhig. Aber dem gefällt das gar nicht, denn er weiß, dass es jetzt ans Zureiten geht. Auf dem kleinen Stück Koppel ist das Gras ganz zertreten.
»Ihr besser geht«, sagt Staszek zu uns und fast gleichzeitig hören wir vom Haus her die Mama: »Weg von der Koppel! Ihr kommt jetzt rein!«
Zureiten ist gefährlich, und deswegen müssen wir dann immer ins Haus, auch Huppe und ich. Aber es ist auch spannend und so hängen wir alle in den Fenstern und schauen zur Koppel rüber. Manchmal kommt es auch vor, dass man Angst um den Reiter hat, denn einige der Pferde sind ganz schön wild. Früher hat Papa das Zureiten selber besorgt, aber jetzt, wo er an der Front ist, macht Staszek das.
»Hej Max!«
Es sieht nicht so aus, als ob der Zweijährige große Lust hätte, jemanden auf sich sitzen zu lassen. Er wehrt sich und bockt. Aber Staszek wird er nicht so schnell los. Der sitzt ganz ruhig und weiß, was er zu tun hat. Er flucht nicht einmal dabei! Max legt die Ohren an und sogar hier vom Fenster aus kann man das Weiße in seinen Augen sehen.
»Max!«
Max steht.
»Hü!«
Ein Bocksprung, der die meisten aus dem Sattel gehoben hätte, dann eine Diagonale mit eingestreuten Katzenbuckeln. Sieht echt komisch aus, ist aber ganz schön gefährlich. Max schnaubt und wirft den Kopf hoch. Auf einmal aber macht er ganz unerwartet zwei Sprünge zur Seite und uns stockt für einen Moment der Atem: Staszek rutscht seitlich herunter.
Aber dann lässt er einen der besten Flüche los, die wir je von ihm gehört haben:
»Ażeby cię cholero diabli wzięli!«
Und steigt wieder auf.
Staszek ist jetzt sauer, das sieht man. Er lässt Max seine Kraft spüren und zeigt ihm, wer das Sagen hat. Der Zweijährige versucht zwar immer wieder, ihn loszuwerden, und wendet alle Tricks an, die ein Pferd so drauf hat, aber Staszek lässt ihm nichts durchgehen, nichts und gar nichts.
»Klasse!«, rufe ich aus dem Fenster.
Huppe knufft mich: »Ruhig, du! – Du weißt doch, dass man beim Zureiten still zu sein hat!«
Wie der sich wieder aufspielt! – Idiot!
Als Staszek absteigt, ist er zufrieden und lacht.
Mama freut sich mit. »Der wird!«, sagt sie und Staszek nickt.
»Kriegen wir das schon!«, sagt er grinsend. Er spricht gut Deutsch, aber es klingt immer ein bisschen lustig.
»Hej Wacek! Co słychać?«, ruft Staszek auf einmal.
Wir schauen uns um und sehen Wacek über den Hof schlendern. Wacek gehört nicht zum Hof, kommt aber immer wieder hierher und hilft auch manchmal. Was er eigentlich macht, weiß keiner so genau, nur dass er nach Kutno fährt und dort wohl irgendeine Arbeit hat.
»Pferd gut!«, sagt er anerkennend zu Mama.
Aber dann wendet er sich zu Staszek und sagt etwas, was wir nicht verstehen. Staszek macht ein ernstes Gesicht und fragt etwas zurück. Wacek nickt, auch er ist ernst. Als Staszek sich abwendet, zischt er etwas durch die Zähne, und nach seinem Gesichtsausdruck möchte ich schwören, dass es sich dabei um so was wie »Du kannst mich mal …« gehandelt hat.
Mama hat natürlich zugehört, aber so viel Polnisch kann sie auch nicht.
»Was ist?«, fragt sie.
Wacek zögert ein bisschen: »Staszek hier arbeiten – Polen das nicht mögen!«
»Auf einmal?«
Wacek zuckt mit den Achseln: »Zeiten ändern sich!« Mama zögert ein bisschen. Dann sagt sie langsam und nachdenklich: »Dass die Russen jetzt im Vormarsch sind, heißt noch nicht, dass sie auch den Krieg gewinnen.«
»Kann aber sein, doch!«
Später erzählt mir Huppe, dass er zugehört hat, wie Mama und Lisa sich unterhalten haben.
»Wenn ich nur wüsste, was hier vorher war«, hat Mama gesagt.
Und Lisa hat erzählt, dass manche von den Volksdeutschen ein schreckliches Durcheinander auf den ihnen zugewiesenen Höfen vorgefunden hätten, so als ob da jemand alles mutwillig zerstört hätte. Sogar die Kreuze mit dem Christus darauf seien von den Wänden gerissen und zerbrochen gewesen.
»Wer so was wohl macht?«, sagt Huppe und schaut mich fragend an.
Und dann hat Mama noch gesagt: »Als wir hierher gekommen sind, da haben die deutschen Soldaten noch überall gesiegt und sind ganz weit hinten in Russland gewesen.« Aber jetzt müssten sie zurück und die Russen kämen immer näher. Und die Amerikaner, die kämen jetzt von der anderen Seite auch noch. In den Zeitungen heiße es zwar, der Führer werde sie alle wieder zurückschlagen und er warte bloß auf die richtige Gelegenheit. Aber sie wisse auch nicht so recht, was sie glauben soll, hat Mama gesagt.
Und jetzt meint Huppe, Wacek und Staszek hätten vielleicht darüber geredet, was sie tun sollen, wenn wir hier wieder wegmüssen. Aber daran glaube ich nun wirklich nicht.
 
Am nächsten Tag frage ich Mama selber, weil mir nicht alles klar ist, was Huppe mir erzählt hat.
Erst zögert sie ein bisschen, aber dann sagt sie: »Weißt du, sie haben damals Papa gebeten, die vielen neuen Siedlerhier zu unterrichten, wie man das Land am besten bearbeitet, und deswegen sind wir hierher gekommen. Und das Gut in Schlesien hat uns ja nicht gehört, wir haben es nur verwaltet. Aber den Hof hier hat man uns übertragen. Er gehört jetzt uns.«
Ich erinnere mich, was Huppe gesagt hat, und frage: »Und wer war vorher hier?«
Mama guckt ganz komisch, weil sie wohl mit so einer Frage nicht gerechnet hat, aber dann sagt sie: »Ich weiß es nicht, Lena.«
Sie will noch etwas sagen, aber dann schluckt sie es hinunter.
»Eigentlich«, sagt sie nach einer Weile, »sind wir hier nur Gäste. Gäste auf Zeit.«
 
Nach dem Abendessen kommt erst das Vorlesen und dann die große Wäsche mit Lappen und Seife. Lisa fängt immer mit den Kleinen an, und wir Großen haben dann noch ein bisschen Zeit, bis wir an das Becken können.
Bei mir geht das Waschen immer ziemlich schnell, aber wenn es zu flott geht, wird Mama misstrauisch.
»Hinter den Ohren auch!«, bekomme ich dann zu hören. »Und vor allem die Knie!«
Das mit den Knien, muss ich zugeben, ist wirklich nötig, weil wir jetzt im Sommer den ganzen Tag auf dem Hof spielen.
Wenn wir mit Waschen fertig sind, geht es die Treppe rauf in die Betten. Die Anziehsachen müssen immer ordentlich auf dem Stuhl liegen, das kontrolliert Mama, und wenn sie nicht zufrieden ist, muss ich wieder aus dem gerade angewärmten Bett raus. Im letzten Winter habe ich manchmal probiert, dabei die blöden Strapse für die langen Strümpfe, die immer so an den Oberschenkeln scheuern, verschwinden zu lassen, aber Mama hat das immer gemerkt und jedes Mal auch das Versteck gefunden.
Jetzt liegen wir in unseren Betten und warten auf Mamas Gutenachtkuss. Den gibt es allerdings erst, wenn alle da sind, und Huppe lässt sich immer so schrecklich viel Zeit.
»Huppe! – Wo bleibst du denn?!«
Immer muss er der Letzte sein und uns alle warten lassen!
Auf der Treppe sind Mamas Schritte zu hören. Dann hören wir sie mit den Kleinen das Nachtgebet beten und ihnen ein Schlaflied singen. Huppe und ich kriegen nur den Kuss und beten tun wir allein.
 
Heute ist ein Brief von Papa gekommen, so ein Feldpostbrief ohne Kuvert, bei dem man das Blatt falten und zukleben muss, sodass man nur die Innenseite beschreiben kann. Sonst hat Mama uns seine Briefe immer vorgelesen, und meist hat Papa geschrieben, dass es ihm gut geht und wir uns keine Sorgen machen sollen, und manchmal hat er ein paar Sätze an uns Kinder geschrieben. Heute hat Mama ein ganz ernstes Gesicht gemacht, uns nur seine Grüße bestellt und ist aus dem Zimmer gegangen. Das hat sie noch nie gemacht.
Ich sitze wieder allein unter dem Maulbeerbaum und frage mich, was der Brief zu bedeuten hat. Passiert ist Papa nichts, das hätte sie uns gesagt. Also muss es etwas anderes sein. Er muss etwas geschrieben haben, was Mama Sorgen macht. Sorgen um Papa? Kann sein, aber das wäre nicht neu, denn Sorgen macht sich Mama, seit er eingezogen worden ist, und das hat sie noch nie so gezeigt. Also Sorgen um etwas anderes. Aber was?
Irgendetwas ändert sich, ohne dass ich sagen könnte, was. Manchmal sind es Blicke, die Mama und Lisa tauschen, manchmal ist es ein plötzliches Schweigen, wenn ich in die Küche komme.
Ich frage den Maulbeerbaum, aber natürlich weiß der auch keine Antwort. Seine Blätter tragen ein anderes Grün jetzt, obwohl immer noch Sommer ist. Mir ist, als könnte ich das Gelb schon ahnen, das in wenigen Wochen daraus geworden sein wird.
Die Knie angezogen, sitze ich an seinem Stamm und zeichne mit einem trockenen Zweig etwas in den Sand. Ich habe nichts Bestimmtes zu malen vor, also wird ein Bogen daraus. Eine Brücke, denke ich, eine Brücke von hier nach da. Ich lasse uns verreisen und male Pferd und Wagen dazu. Es wird nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, und ich wische mit dem Fuß alles wieder aus.
In den Beeten um den Maulbeerbaum und unter den Sträuchern schaue ich nach, ob ich noch rote Spinnen finde. Aber es gibt keine mehr.

UNRUHIGE WEIHNACHT
Jetzt sind die Bäume schon gelb und manche haben kaum noch Blätter. Oft liegt Nebel über dem Land, und dann kommt die Sonne nur für ein paar Stunden zum Vorschein, wenn überhaupt. Wenn sie scheint, ist es noch warm, aber sonst ist es ungemütlich und wir spielen lieber im Haus.
Drinnen ist es jetzt behaglich, auch wenn die letzten Tage ziemlich turbulent waren. Walter, unser Kleinster, wird getauft und da räumen Mama und Lisa das Unterste zuoberst. Dass die Taufe ein großes Fest werden soll, ist ja klar, aber dass man dann gleich die ganze Wohnung auseinander nehmen muss, bloß damit alles schön sauber ist, werde ich wohl nie begreifen. Jedenfalls müssen wir immer irgendwo aus dem Weg gehen oder bei irgendetwas helfen.
Es sind viele Gäste da. Auch unser Opa aus Schlesien ist gekommen, um die Taufe vorzunehmen, denn er ist evangelischer Pfarrer. Aber die größte Überraschung war, dass auch Papa Urlaub bekommen hat. Wir sind fast an die Decke gehüpft vor Freude! Wie lange haben wir ihn nicht mehr gesehen! Immer wieder muss ich ihn anschauen, weil ich es noch gar nicht richtig glauben kann.
Aber Papa ist irgendwie anders, nicht so fröhlich wie sonst, und Mama auch nicht. Wahrscheinlich müssen sie beide immer daran denken, dass Papa gleich nach der Taufe wieder an die Front fahren muss. Zwar versucht er, zu uns Kindern so wie immer zu sein, aber wenn er sich unbeobachtet glaubt, hat sein Gesicht tiefe Falten, mehr als früher. Es ist, als ob eine Last auf ihm läge, die er nicht loswird.
Mich macht das ganz unruhig.
Trotzdem ist die Taufe schön und unser Opa sieht in seinem Talar sehr würdevoll aus. Es ist ganz still im Zimmer, auch wir Kinder sind ganz leise und schauen gebannt zu, wie er Walters Köpfchen mit dem Taufwasser benetzt und ihm dann das Kreuzeszeichen auf die Stirn malt. Als Walter gegen das Wasser protestiert und laut quäkt, muss ich lachen, aber bloß ganz in mich hinein, damit es keiner hört. Nur Huppe hat was gemerkt und guckt hinter vorgehaltener Hand glucksend herüber.
Nach dem Essen verziehen wir Kinder uns nach oben. Ich will meine Ruhe und bleibe nicht im Kinderzimmer, sondern will draußen auf dem Treppenabsatz spielen. Aber Huppe hat die gleiche Idee und so stehen wir auf einmal beide dort. Ich finde das blöd und will ihn gerade anfahren, als er nach unten zeigt und scharf zu mir herüberzischelt:
»Sei doch mal ruhig!«
Augenblicklich bin ich still. Und höre gerade noch:
»… seid hier wirklich nicht mehr sicher.«
Großvater war es, der das gesagt hat.
Unten ist es ganz still. Bis Mama dann sagt:
»Aber wir können doch nicht einfach alles im Stich lassen – Hof, Vieh, die ganze Ernte! Außerdem: Wie stellt ihr euch das vor? Niemand darf hier weg, niemand bekommt eine Reisegenehmigung. Der Ortsgruppenleiter hat das gerade wieder lauthals verkündet!«
»Aber irgendetwas muss geschehen«, sagt nun auch unser Vater.
Jemand schlägt vor: »Wenn nicht alle hier wegkönnen, dann wenigstens die Kleinen.«
Ich kriege nicht raus, wer das gesagt hat, aber von unten hört man Gemurmel, das nach Zustimmung klingt.
Dann wieder Papa, er scheint sich an Lisa zu wenden:
»Und wenn Sie die drei Jüngsten unter Ihre Fittiche nehmen und mit ihnen nach Stuttgart fahren?«
In Stuttgart wohnen Verwandte von uns. Und eine meiner Patentanten.
Aber Mama protestiert gleich: »Ich kann doch die Kleinen nicht fortgeben!«
»Und was ist, wenn ihr plötzlich von hier aufbrechen müsst?« Papas Stimme klingt jetzt ganz anders, als wir sie sonst kennen, ziemlich aufgeregt. »Du allein mit sechs Kindern?«, fährt er fort. »Mit zum Teil noch ganz unselbstständigen Kindern? Die dich brauchen, die von dir abhängig sind, die dich unablässig binden und dich um die Handlungsfreiheit bringen, die du gerade dann so dringend brauchen wirst! – Und dass das keine Kutschfahrt ins Grüne wird, das weißt du selber!«
Huppe und ich sind ganz starr. Noch nie haben wir so über den Krieg reden hören. Krieg, das war immer ganz woanders, etwas, das uns nie betreffen konnte. Und auf einmal ist er ganz nahe und steht fast greifbar im Raum.
Mama ist still. Ich würde gern sehen, wie sie aussieht und was sie macht, aber von hier oben geht das nicht. Ich glaube, sie schweigt, weil sie nachdenken muss.
»Und Sie, Lisa, müssen sowieso hier weg!«, hören wir Papa sagen. »Das können wir gar nicht verantworten, dass Sie hier bleiben.«
»Ich würde die Kleinen schon mitnehmen«, erwidert sie.
Mama seufzt, dass wir es bis oben hören, aber schließlich stimmt sie doch zu.
»Nach Weihnachten!«
Später, als wir in den Betten liegen, tuschele ich zu Huppe rüber: »Schläfst du?«
»Nein.«
»Meinst du, sie schicken die Kleinen wirklich mit Lisa weg?«
»Bestimmt!«
»Aber wir bleiben bei Mama?«
»Ja.«
»Gott sei Dank!«
Nach einer Weile muss ich Huppe noch etwas fragen: »Ob die Russen wirklich kommen?«
»Glaub ich nicht!«
»Warum nicht?«
»Unsere Soldaten sind besser als die.«
Ich atme auf. Über Soldaten weiß Huppe Bescheid.
 
Gerade habe ich das Türchen am Adventskalender aufgemacht, eine Eisenbahn war drin: eigentlich mehr was für Huppe. Nur noch zwei Türchen sind zu, alle anderen sind schon auf. Und weil der Adventskalender am Fenster hängt, bin ich es, die die Entdeckung macht. So schnell ich kann, stürze ich die Treppe hinunter.
»Papa!«
Noch in der Birkenallee kann ich ihn abfangen und falle ihm um den Hals. Bevor die anderen kommen!
»Lass mich am Leben, Lena!«
Eine Ewigkeit scheint mir vergangen, seit ich ihn bei der Taufe das letzte Mal gesehen, mit ihm gesprochen, ihn gedrückt habe. Erst als Huppe mich wegdrängelt, höre ich auf. Und die Kleinen hängen an seinen Beinen, dass er gar nicht richtig laufen kann.
»Lasst ihn doch wenigstens mal ins Haus gehen!«, sage ich. Aber das hätte ich mir sparen können!
Erst als Mama kommt, lassen sie los.
»Wie du uns fehlst!«, sagt sie.
 
Heute, am Weihnachtsmorgen, ist Papa mit Huppe zu der kleinen Schonung jenseits der Birkenallee gegangen, um einen Tannenbaum auszusuchen. Mich hat er auch gefragt, aber ich wollte nicht. Ich finde es schöner, wenn der Baum und alles eine richtige Überraschung ist.
Es liegt schon Schnee, und die beiden haben eine dicke Spur gezogen, als sie in Schal und Mantel eingemummelt zu dem Tannenwäldchen stapften. Papa ging, die Säge über der Schulter, vornweg und Huppe hinterher, damit er nicht durch den tiefen Schnee musste. Als sie zurückkamen, hatte Papa einen der unteren Äste auf der einen und Huppe einen auf der anderen Seite gepackt, und so zogen sie den Baum, die Spitze nachschleifend, hinter sich her.
Fast ist in diesem Jahr alles genau wie immer. Nur dass Papa am Neujahrstag wieder an die Front muss. Doch sonst ist nichts anders, und selbst der Weihnachtsnachmittag ist genauso wie letztes Jahr und vorletztes Jahr: nämlich schrecklich! Gott sei Dank werde ich nicht mehr ins Bett geschickt wie die Kleinen. Das war das Schlimmste früher, dass man am Nachmittag schlafen sollte, weil man ja abends länger aufbleiben durfte. Als ob da je einer von uns geschlafen hätte! Und ich wette: Als Papa und Mama Kinder waren und zu Weihnachten ins Bett mussten, haben sie genauso wenig die Augen zugemacht! Bloß haben sie das inzwischen vergessen!
Na, das bleibt mir inzwischen erspart, aber langweilig ist es trotzdem, weil die Zeit einfach stehen zu bleiben scheint. Und doch ist es schön, wenn dann die Dämmerung kommt und wir ganz gespannt sind, weil wir wissen, dass es nun nicht mehr lange dauern wird, bis das Glöckchen klingelt.
Und wunderschön ist es, wenn wir dann vor den brennenden Baum treten und jeder von uns ein Gedicht aufsagt, je älter das Kind, desto länger das Gedicht. Und dann singen wir die Weihnachtslieder, die Mama am Klavier begleitet. Sie kann toll spielen! Manchmal kann ich gar nicht richtig weitersingen, denn ich muss beinahe heulen, weil es so schön ist!
 
Aber auch an den Weihnachtstagen ist irgendetwas anders als sonst. Bei Mama habe ich Tränen in den Augen gesehen, und sie wandte sich ganz schnell ab, damit ich es nicht merke. Und Papa, der früher immer mit uns getobt hat, ist dieses Jahr so ernst.
Auch wir Kinder – irgendwie hat uns alle eine Unruhe gepackt, vielleicht weil wir wissen, dass Lisa bald mit den Kleinen abreisen wird, und weil wir dann nicht mehr alle beieinander sein werden, nicht mehr alle zusammen spielen können. Natürlich haben wir auch bisher nicht immer alle miteinander gespielt, aber wir hätten es tun können, und wenn wir es einmal wollten, haben wir es eben getan.
Ein bisschen ist es sogar schön: Wir zanken auf einmal weniger miteinander! Den Streit mit Huppe, als ich ihn so wütend an den Haaren gezogen habe, den kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Das Ungewisse, das in der Luft liegt, hat uns alle ergriffen und lässt uns näher aneinander rücken. Ich brauche die anderen einfach. Ich möchte die Zeit auskosten, solange sie noch da sind, und ich habe das Gefühl, ihnen geht es genauso.
Und da ist noch etwas: Wir sind alle jetzt ungeheuer wach und aufmerksam! Nichts entgeht unseren Augen und noch weniger unseren Ohren. Wir haben eine Art sechsten Sinn dafür, wenn die Erwachsenen über die Dinge reden, die jetzt wichtig sind, und einer von uns kriegt immer etwas mit.
Als ich beim Spielen von der Küche her höre, wie Papa fragt: »Wisst ihr schon genau, wann Lisa mit den Kleinen fahren wird?«, hören meine Ohren auf einmal nichts anderes mehr als nur das.
Mama antwortet irgendetwas, was ich nur halb verstehe, aber dann fällt der Satz:
»Wären wir bloß niemals hierher gekommen!«
Ich halte den Atem an, denn ich habe die Eltern noch nie streiten hören, und ich weiß, dass es jetzt passieren wird.
Papa antwortet und es klingt ziemlich scharf:
»Ach ja? Hinterher ist man immer schlauer! Du vergisst, dass damals hier eine Aufgabe auf uns wartete, eine wichtige Aufgabe: Neusiedlern helfen! Hätte ich ewig Verwalter bleiben sollen, da in Mauer?«
Er macht eine Pause. Dann höre ich noch: »Außerdem haben wir hier unseren eigenen Hof bekommen.«
Wieder Mamas Stimme: »›Unser eigener Hof!‹ Wir haben nicht mal wissen wollen, woher sie ihn denn hatten, als sie ihn uns gaben. – Mein Gott, wie blauäugig sind wir gewesen!«
Eine Weile ist es still, dann kommt Papa wieder auf das ursprüngliche Thema zurück:
»Wir müssen die Reise genau planen.«
Er ruft Lisa aus der Küche. Sie macht die Tür hinter sich zu, sodass ich nichts mehr hören kann.
Jedenfalls ist es jetzt sicher, dass unsere Familie bald auf die Hälfte schrumpfen wird!
 
Ich möchte die Zeit anhalten, damit alles so bleibt, damit wir nicht auseinander gerissen werden. Aber sie scheint sich nur umso mehr zu beeilen. Papa ist längst wieder weg und gestern haben sie schon alles für Lisa und die drei Kleinen gepackt. Jeder hat sein eigenes Köfferchen, aber sie haben auch eine große Kiste mit der Bahn vorneweg geschickt. Hoffentlich kommt sie auch an!
Heute Morgen hat Mama uns alle ganz früh geweckt. Bloß Wolfi – richtig heißt er natürlich Wolfgang -, den hat sie nicht wach gekriegt und jetzt fährt Elsbeth, die ja eigentlich ein Jahr älter ist, an seiner Stelle mit. Ganz schnell haben sie noch den Koffer umgepackt. Elsbeth ist sauer, weil sie viel lieber bei uns geblieben wäre.
Es ist noch fast dunkel, als wir uns auf den Weg machen, und man kann vor dem Pferdewagen gerade eben die Straße erkennen. Mama fährt selber, weil Staszek den Hof versorgen muss. Sie hat nicht die Kutsche, sondern den großen Wagen genommen, weil wir so viele sind und Lisa und die drei so viel mitnehmen müssen. Wir Kinder sitzen eng aneinander gedrängt auf der Ladefläche und bibbern, obwohl wir ganz dick eingemummelt sind. Ich glaube, das macht die Aufregung.
Am Bahnhof warten wir eine ganze Weile, ehe der Zug dampfend und zischend einfährt. Mama umarmt alle noch einmal ganz fest, und als sie und Lisa sich Ade sagen, haben beide Tränen in den Augen.