Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
PROLOG
DATEI 01: Einstiegsinvestition
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
DATEI 02: Zuständigkeiten
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
DATEI 03: Auslandshilfe
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DATEI 04: Unbeständiges Kapital
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
DATEI 05: Schlussrevision
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
SECHSUNDVIERZIG
SIEBENUNDVIERZIG
ACHTUNDVIERZIG
DANKSAGUNG
Copyright

DANKSAGUNG

         Profit blickt auf eine sehr lange und wechselvolle Entwicklung zurück, war erst nur eine böse Idee, wurde dann zu einer Shortstory, anschließend zu einem Drehbuch und letzten Endes zu dem Roman, den Sie nun in Händen halten. Auf seinem Weg hat das Buch (und sein Verfasser) einige Schulden gemacht, die es abzutragen gilt. Daher also in chronologischer Folge, so getreu ich mich erinnern kann:

 

Dank an Simon Edkins für die spöttische Bemerkung, die sich als Gedankenauslöser erwies: »Die glauben, sie leben in einem Dschungel, nicht wahr?«, und an Gavin Burgess, der seine Kenntnisse über einige der ungezähmteren Business-Trainingsmethoden in der Szene an mich weitergab. Dank auch an Sarah Lane, die das Potenzial in einer mottenzerfressenen, unveröffentlichten Shortstory erkannte, mich drängte, daraus ein Drehbuch zu entwickeln, und jede Menge unerschütterliche Begeisterung und harte Arbeit in dieses Projekt steckte – große Filmproduzenten sind so gestrickt oder sollten es jedenfalls sein. Dank ferner an Alan Young, der im Lauf der Jahre wesentliche Inspirationen in Form von Anekdoten lieferte und das Rohprodukt mit dem kritischen Blick des Unternehmensberaters las. Wie immer Dank an meine Agentin Carolyn Whitaker und meinen Lektor Simon Spanton, die mich veranlassten, Sorgfalt auch im Detail walten zu lassen. Dank an alle aus dem Gollancz-Team, die dazu beitragen, dass man sich immer gern im fünften Stock aufhält. Und schließlich den allergrößten Dank an meine mir kürzlich angetraute Frau Virginia Cottinelli für ihre Geduld, mit der sie mich mit dem Lehrstoff für ein Magister-Programm in Entwicklung an der Universität Glasgow vertraut machte, dessen Absolvierung allein ihr mehr Kummer bereitet hat, als zahlenden Studentinnen und Studenten zugemutet werden dürfte.

Der Autor

Richard Morgan wurde 1965 in Norwich geboren. Er studierte Englisch und Geschichte in Cambridge und arbeitete etliche Jahre als Englischlehrer im Ausland, bevor er sich als freier Schriftsteller selbstständig machte. Sein Debütroman »Das Unsterblichkeitsprogramm« wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Morgan lebt mit seiner Frau in Glasgow.

 

Mehr zu Richard Morgan unter: www.richardkmorgan.com

EINS

         Wach.

Quer im Bett liegend, schweißgebadet.

Bruchstücke des Traums hielten noch den Atem in der Kehle fest, drückten ihm das Gesicht ins Kissen, während seine Wahrnehmung durchs abgedunkelte Zimmer torkelte.

Die Wirklichkeit legte sich über ihn wie ein frisches Laken. Er war zu Hause.

Er seufzte schwer und tastete nach dem Wasserglas neben dem Bett. Im Traum war er gefallen, in einem Supermarkt, war voll auf die Fliesen geschlagen und dann sogar hindurch.

Auf der anderen Bettseite rührte sich Carla, fasste nach ihm.

»Chris?«

»Schon gut. War nur ein Traum.« Er nahm einen Schluck. »Hab schlecht geträumt, weiter nichts.«

»Murcheson mal wieder?«

Er zögerte, seltsam unwillig, ihrer Vermutung zu widersprechen. Von Murchesons himmelschreiendem Tod träumte er gar nicht mehr so oft. Er zitterte ein bisschen. Seufzend rückte Carla näher an ihn heran. Sie nahm seine Hand und drückte sie auf ihre volle Brust.

»Mein Vater wäre begeistert. Schwere Gewissensbisse. Er hat immer gesagt, du hättest gar kein Gewissen.«

»Genau.« Chris nahm den Wecker in die Hand und spähte auf die Anzeige. Drei Uhr zwanzig. Na toll. Er wusste, dass er lange brauchen würde, um wieder einzuschlafen. Wirklich ganz toll. Er ließ sich ins Kissen zurücksinken. »Aber wenn’s darum geht, die Miete zu bezahlen, leidet dein Vater bequemerweise unter Gedächtnisverlust.«

»Geld regiert die Welt. Was glaubst du, warum ich dich geheiratet habe?«

Er drehte seinen Kopf und boxte ihr sanft auf die Nase. »Willst du mich verschaukeln?«

Als Antwort griff sie nach seinem Schwanz und rollte ihn zwischen den Fingern.

»Nein, ich nehm dich hoch«, flüsterte sie.

Als sie zusammenrückten, spürte er, wie das heiße Verlangen nach ihr den Traum wegblies, aber es dauerte etwas, bis er unter ihren Händen steif wurde. Und erst in den letzten Zuckungen des Höhepunkts gelang es ihm loszulassen.

Fallen.

 

Es regnete, als der Wecker klingelte. Sanftes Zischen drang durchs offene Fenster, wie ein empfangsgestörter, ganz leise gedrehter Fernseher. Er schaltete das Piepen ab, blieb noch eine Weile, dem Regen lauschend, liegen und glitt dann aus dem Bett, ohne Carla zu wecken.

In der Küche setzte er die Kaffeemaschine in Gang, ging dann unter die Dusche und war rechtzeitig wieder da, um die Milch für Carlas Cappuccino aufzuschäumen. Er brachte ihn ihr ans Bett, weckte sie mit einem Kuss und machte sie auf die Lieferung aufmerksam. Wahrscheinlich würde sie wieder einschlafen und den Kaffee später kalt trinken. Er holte sich verschiedene Sachen aus dem Kleiderschrank – ein schlichtes weißes Hemd, einen der dunklen italienischen Anzüge, die argentinischen Lederschuhe – und nahm sie mit nach unten.

Angekleidet, aber mit noch ungebundener Krawatte, trug er seinen doppelten Espresso zusammen mit einer Scheibe Toast ins Wohnzimmer, um die Sieben-Uhr-Nachrichten zu verfolgen. Wie üblich war die Auslandsberichterstattung sehr ausführlich, und es wurde Zeit aufzubrechen, noch bevor Prom & App, der Spot über Beförderungen und Ernennungen, an der Reihe war. Achselzuckend schaltete er den Fernseher aus, und erst als er an dem Spiegel im Flur vorbeilief, dachte er daran, sich die Krawatte zu binden. Carla gab erste Aufwachgeräusche von sich, als er aus der Haustür schlüpfte und die Alarmanlage des Saabs deaktivierte.

Einen ausgedehnten Moment lang stand er im leichten Regen da und betrachtete den Wagen. Weiche Wassertropfen glänzten auf dem kalten grauen Metall. Schließlich grinste er.

»Conflict Investment, wir kommen«, murmelte er und stieg ein.

Im Radio liefen noch die Nachrichten. Als er die Auffahrt aufs Elsenhamer Kreuz nahm, begann der Beförderungen und Ernennungen-Teil. Liz Linshaws rauchige Intonation, ein beigemischter Hauch von Sperrzone, um die ansonsten überaus kultivierte Stimme aufzurauen. Im Fernsehen kleidete sie sich wie eine Kreuzung zwischen einer Schlichterin in Regierungsdiensten und einer exotischen Partytänzerin, und in den vergangenen zwei Jahren hatte sie die Seiten sämtlicher Männer-Lifestyle-Magazine geschmückt. Objekt der Begierde für den anspruchsvollen Manager und Königin der nationalen Einschaltquoten.

» ... sehr wenige Herausforderungen auf den Straßen in dieser Woche«, teilte sie ihm heiser mit. »Das Kongo-Angebot-Playoff, auf das wir alle gewartet haben, ist auf nächste Woche verschoben. Man könnte die Wettervorhersage dafür verantwortlich machen, aber wenn ich hier aus meinem Fenster schaue, sieht es doch eher so aus, als hätten es die Jungs mal wieder vermasselt. Es fällt weniger Regen vom Himmel, als wir seinerzeit bei Saunders/Nakamura hatten. Wir haben immer noch nichts zu der No-Name-Herausforderung gegen Mike Bryant von Shorn Associates. Keine Ahnung, wo Sie sich rumtreiben, Mike, aber falls Sie mich hören können: Wir sind gespannt, von Ihnen zu hören. Und damit zu den Neuernennungen dieser Woche – Jeremy Tealby wird Partner bei Collister Maclean; ich glaube, das haben wir alle schon lange kommen sehen; und nach ihrem spektakulären Auftritt gegen Roger Inglis letzte Woche steigt Carol Dexter zur leitenden Marktaufseherin bei Mariner Sketch auf. Noch mal zurück zu Shorn, denn hier ist über einen starken Newcomer in der Conflict-Investment-Abteilung zu berichten ...«

Chris’ Blick schweifte von der Straße kurz aufs Radio. Er drückte den Lautstärkeregler eine Einheit höher.

» ... Christopher Faulkner, abgeworben vom Investmentriesen Hammett McColl, wo er sich in der Schwellenländer-Abteilung bereits einen Namen gemacht hat. Wer unsere Sendung regelmäßig verfolgt, wird sich vielleicht an Chris’ bemerkenswerte Erfolgsserie bei Hammett McColl erinnern, angefangen mit der Beseitigung seines Rivalen Edward Quain, der ihm seinerzeit immerhin zwanzig Jahre Leitungserfahrung voraus hatte. Die Rechtfertigung dieses eher ungewöhnlichen Vorgehens folgte auf dem Fuß, als ...« Erregung schnitt messerscharf in ihre Stimme: »Oh, und das kommt gerade von unserem Hubschrauber-Team herein. Die No-Name-Attacke auf Mike Bryant ist gelaufen, zwei der Herausforderer liegen jetzt kurz hinter der Abfahrt 22, während der dritte seinen Rückzug signalisiert hat. Bryants Fahrzeug hat offenbar nur kleine Schäden davongetragen, und er dürfte in nächster Zeit eintreffen. Ein ausführlicher Bericht und ein Exklusivinterview erwarten Sie in unserer Mittagsausgabe. Sieht nach einem guten Einstieg in die Woche für Shorn Associates aus, und leider ist unsere Zeit für heute Morgen auch schon abgelaufen; damit gebe ich zurück zur Tagespolitik. Paul.«

»Danke, Liz. Sinkende Produktionsziffern im verarbeitenden Gewerbe gefährden weitere zehntausend Arbeitsplätze im Gebiet der NAFTA, wie die Analyse einer unabhängigen Nachrichtengruppe mit Sitz in Glasgow besagt. Ein Sprecher der Handels- und Finanzkommission bezeichnete den Bericht als ›negativ und zersetzend‹. Mehr zu diesem ...«

Chris schaltete aus, ein bisschen verärgert darüber, dass Bryants No-Name-Scharmützel seinen Namen von Liz Linshaws purpurroten Lippen gefegt hatte. Der Regen hatte aufgehört, die Scheibenwischer begannen zu quietschen. Er stellte sie ab und warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Er lag gut in der Zeit.

Der Annäherungsalarm sprang an.

Er nahm einen sich beschleunigenden Umriss im ansonsten leeren Rückspiegel wahr und schwenkte instinktiv nach rechts. In die nächste Spur, leicht abbremsend. Als das andere Fahrzeug neben ihm auftauchte, entspannte er sich. Das Auto war verbeult und hatte einen gesprenkelten bräunlichen Grundierlackanstrich, eine Spezialanfertigung wie sein eigenes, aber gefertigt von jemandem, der keine Ahnung von Straßengefechten hatte. Schwere Stahlwiderhaken waren auf die vorderen Stoßstangen geschweißt, klotzige Außenpanzerung zog sich um die Vorderräder herum bis zu den Türen. Die Hinterräder hatten breite Reifen, um die Straßenlage zu stabilisieren, aber dennoch ließ die Fahrweise des Autos deutlich erkennen, dass es viel zu viel Gewicht mit sich herumtrug.

Ein Namenloser.

Ähnlich wie fünfzehnjährige Sperrzonenganoven waren diese unter Umständen besonders gefährlich, weil sie am meisten zu beweisen und am wenigsten zu verlieren hatten. Der Fahrer war hinter einem mit Metallstreifen geschützten Seitenfenster verborgen, aber Chris konnte seine Bewegungen ausmachen. Er glaubte den Schimmer eines blassen Gesichts zu erkennen. Auf der Seite des Wagens prangte die Fahrernummer in gelber Leuchtfarbe. Seufzend griff er nach der Freisprechanlage.

»Fahreraufsicht«, sagte eine anonyme männliche Stimme.

»Hier ist Chris Faulkner von Shorn Associates, Fahrerlizenz 260B354R, auf Anfahrt auf der M11 hinter der Abfahrt 10. Ich hab hier einen möglichen No-Name-Herausforderer mit der Nummer X23657.«

»Ich prüf das. Einen Moment, bitte.«

Chris nahm wieder Geschwindigkeit auf, aber ganz allmählich, damit der Namenlose das Tempo mitgehen konnte, ohne schon aus Versehen in den Kampfmodus zu verfallen. Als die Aufsicht sich zurückmeldete, trieben sie einander mit etwa hundertvierzig Stundenkilometern voran.

»Hier ist die Bestätigung, Faulkner. Ihr Herausforderer ist Simon Fletcher, freiberuflicher Rechtsanalyst.«

Chris grunzte. Arbeitsloser Jurist.

»Herausforderung um 8:04 Uhr registriert. Auf Höhe von Anschlussstelle acht befindet sich ein Großtransporter auf der rechten Spur, läuft auf Automatik. Schwer beladen. Sonst kein Verkehr. Sie haben Genehmigung, zu beginnen.«

Chris trat das Gaspedal durch.

Er verschaffte sich eine Autolänge Vorsprung und schwenkte dann zurück vor das andere Fahrzeug, womit er Fletcher zu einer blitzschnell zu treffenden Entscheidung zwang. Rammen oder bremsen. Der braune Wagen fiel zurück, und Chris lächelte ein wenig. Der Bremsreflex war fest in einem installiert. Man musste sich ein ganz anderes Reaktionsmuster antrainieren, bevor man ihn abstellen konnte. Fletcher hätte ihn eigentlich rammen wollen müssen. Das war gängige Duelltaktik. Aber seine Instinkte hatten ihm einen Streich gespielt.

Die Sache wird nicht lange dauern.

Der Jurist beschleunigte wieder, kam näher. Chris ließ ihn bis auf einen knappen Meter an seine hintere Stoßstange herankommen, dann zog er zur Seite und bremste. Der andere Wagen schoss nach vorn, Chris legte sich hinter ihn.

Anschlussstelle acht huschte vorbei. Sie waren jetzt innerhalb des Londoner Rings, fast schon in den Zonen. Chris schätzte die Entfernung bis zur Unterführung ab, beschleunigte und stupste gegen Fletchers Rückseite. Der Jurist schoss nach vorn, um den Kontakt zu beenden. Chris prüfte die Geschwindigkeitsanzeige und drückte auf die Tube. Noch ein Stupser. Wieder das Vorwärtszucken. Der automatisierte Schwertransporter erschien wie eine monströse Metallraupe vor ihnen, blähte sich auf der linken Spur und war so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war. Die Unterführung kam in Sicht. Vergilbter Beton, mit ausgeblichenen Graffiti überzogen, die offensichtlich älter waren als der fünf Meter hohe Absperrzaun, der über die Brüstung hinausragte und in elastischen Panzerdrahtrollen auslief. Chris hatte gehört, dass die elektrische Spannung, die er trug, tödlich war.

Er gab Fletcher noch einen Schubs und verlangsamte dann etwas, um ihn wie ein verängstigtes Kaninchen in den Tunnel tauchen zu lassen. Ein paar Sekunden sanftes Bremsen, dann wieder beschleunigen und ihm nach.

Schluss mit lustig.

Unter dem Gewicht des Tunneldachs war alles anders. Gelbe Lichter von oben, zwei durchgehende Reihen an der Decke, wie Leuchtspurgeschosse. In Abständen geisterhaft weiße »Notausgang«-Schilder an den Wänden. Keine Standspur, nur eine zerkratzte, durchbrochene Linie, die den Rand zwischen der geschotterten Straße und einem dünnen Betonstreifen für Wartungsarbeiter markierte. Plötzlich war’s ein Konsolenspiel mit subjektiver Perspektive. Verstärkte die Wahrnehmung der Geschwindigkeit, die Furcht vor der Wand und der Dunkelheit.

Chris sah Fletcher vor sich und schloss auf. Der Jurist war ziemlich durcheinander – klar zu erkennen am ruckartigen Schlingern seines Autos. Chris schlug einen großzügigen Bogen in die anderen Spuren, um aus Fletchers Rückspiegel zu verschwinden, und schob sich immer näher. Hundertvierzig zeigte der Tacho wieder an – beide Autos fuhren jetzt exakt Seite an Seite, und die Unterführung war nur acht Kilometer lang. Also los jetzt. Chris verringerte den Abstand zwischen den Autos um einen Meter, schaltete die Innenbeleuchtung ein und hob, indem er sich zum Beifahrerfenster hinüberlehnte, eine Hand in einer starren Abschiedsgeste. Da das Licht an war, konnte Fletcher es schwerlich übersehen. Eine Weile lang verharrte er so, dann schloss er die Hand zur Faust und ließ den Daumen nach unten zeigen. Im gleichen Moment schwenkte er seinen Wagen einhändig über die zwischen ihnen liegenden Spuren.

Das Ergebnis war höchst befriedigend.

Fletcher hatte wohl statt der Straße die Abschiedsgeste beobachtet und kurzzeitig vergessen, wo er war. Er riss sein Auto zur Seite, kam zu weit ab und streifte die Tunnelwand unter heftigem Funkengestöber. Der grundlackierte Wagen schlingerte wie ein Betrunkener, schlug erneut Funken an der Betonmauer und fiel mit quietschenden Reifen zurück. Chris sah im Rückspiegel, wie der Jurist sein Fahrzeug hektisch abbremste, bis es quer zwischen zwei Spuren zum Stehen kam. Grinsend verlangsamte er auf etwa fünfzig, um zu sehen, ob Fletcher den Kampf wieder aufnehmen wollte. Das andere Auto machte keine Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen. Und es hatte sich immer noch nicht gerührt, als er den Anstieg am Ende der Unterführung nahm und es aus den Augen verlor.

»Kluger Mann«, murmelte er.

Aus dem Tunnel kommend, traf er unvermutet auf Sonnenschein. Die Straße wölbte sich, stieg in einer langen Kurve an, die sich über Zonenland schwang und schließlich auf die Gruppe von Türmen im Herzen der Stadt zulief. Sonnenlicht fiel in trennscharfen Strahlen herab. Die Türme leuchteten.

Chris stieg aufs Gaspedal und nahm die Kurve in Angriff.

ZWEI

         Das Licht im Waschraum war gedämpft, sickerte von den hohen Fenstern im Schrägdach nach unten. Chris spülte sich die Hände im Onyxwaschbecken und starrte auf sein eigenes Bild im großen runden Spiegel. Die saabgrauen Augen, die ihm dort begegneten, waren klar und stetig. Die Strichcodetätowierungen oberhalb der Wangenknochen nahmen die Farbe auf und mischten sie mit schmalen Streifen eines helleren Blaus. Weiter unten wurde das Blau im Gewebe seines Anzugs und in einer der gekrümmten Linien seiner Susana-Ingram-Krawatte aufgenommen. Das Hemd glänzte weiß im Kontrast zu seiner Sonnenbräune, und wenn er grinste, zog der Silberzahn das Licht im Raum an, dass man es fast klingeln hörte.

Gut genug.

Das Geräusch von laufendem Wasser setzte sich fort, nachdem er den Hahn abgedreht hatte. Zur Seite blickend, stellte er fest, dass noch ein Mann anwesend war, der sich zwei Becken weiter die Hände wusch. Der Neuankömmling war groß, die langen Gliedmaßen und der breite Rumpf zwangsläufig an Maßanzüge gewöhnt, die langen blonden Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein Wikinger im Armani-Anzug. Chris war versucht, nach der zweischneidigen Streitaxt Ausschau zu halten, die der Mann irgendwo abgestellt haben musste.

Stattdessen tauchte eine der Hände aus dem Becken auf, und mit jähem, ihm durch und durch gehenden Schrecken sah er, dass sie über und über mit Blut bedeckt war. Der andere Mann hob den Kopf und sah ihn an.

»Kann ich irgendwas für Sie tun?«

Chris schüttelte den Kopf und wandte sich dem Händetrockner an der Wand zu. Er hörte, wie das Wasser hinter ihm abgestellt wurde, und gleich darauf gesellte der andere Mann sich zu ihm. Chris reagierte, indem er ihm ein wenig Platz machte, während er sich noch die letzte Feuchtigkeit von den Händen rieb. Der Trockner lief weiter. Der andere Mann musterte ihn eingehend.

»He, Sie müssen der Neue sein.«

Er schnippte mit den nassen Fingern. Es klebte noch immer etwas Blut an ihnen, wie Chris bemerkte, winzige Flecken, auch in den Linien der Handflächen.

»Chris Soundso, stimmt’s?«

»Faulkner.«

»Yeah, Faulkner, genau.« Er hielt die Hände unter den Luftstrom. »Frisch von Hammett McColl gekommen?«

»Richtig.«

»Ich bin Mike Bryant.« Eine Hand seitlich dargeboten. Mit Blick auf das Blut zögerte Chris einen Moment. Bryant bemerkte es. »O ja. Tut mir Leid. Ich komm gerade von einer No-Name-Geschichte, und es ist ein Grundsatz bei Shorn, dass man denen ihr Plastik abnimmt, wenn man sie zur Strecke gebracht hat, als Beleg sozusagen. Da kann es schon mal etwas unappetitlich werden.«

»Hatte heute Morgen selber schon einen No-Namer«, sagte Chris automatisch.

»Ach ja? Wo denn?«

»M11, Nähe Abfahrt 8.«

»Die Unterführung. Haben Sie ihn da erledigt?«

Chris nickte, spontan beschließend, den ergebnislosen Ausgang der Angelegenheit nicht weiter zu erwähnen.

»Hübsch. Ich meine, diese No-Namer bringen einen nicht groß weiter, aber es geht halt um den Ruf, schätze ich.«

»Schätz ich auch.«

»Sie sollen zu Conflict Investment, nicht wahr? Louise Hewitts Abteilung. Ich bin selber oben im dreiundfünfzigsten zugange. Sie hat sich vor ein paar Wochen über Ihren Lebenslauf ausgelassen. Was Sie damals bei Hammett McColl abgezogen haben, das war ja echt ’ne beinharte Nummer. Willkommen an Bord.«

»Danke.«

»Ich kann Sie nach oben begleiten, wenn Sie mögen. Bin selbst grade auf dem Weg dorthin.«

»Großartig.«

Sie traten hinaus in die breite Rundung des Flurs und vor ein Panoramafenster mit Blick auf den Finanzdistrikt aus der Perspektive des zwanzigsten Stockwerks. Bryant schien es für eine Weile in sich aufzusaugen, bevor er, noch immer an einem hartnäckigen Blutfleck an seiner Hand reibend, den Flur hinunterzugehen begann.

»Hat man Ihnen schon ein Auto geliefert?«

»Ich hab mein eigenes. Spezialanfertigung. Meine Frau ist Mechanikerin.«

Bryant blieb stehen und sah ihn an. »Echt jetzt?«

»Echt.« Chris hielt die linke Hand hoch, zeigte das matte Metall am Ringfinger vor. Bryant betrachtete es mit Interesse.

»Was ist denn das, Stahl?« Plötzlich begreifend, grinste er. »Aus einem Motor, stimmt’s? Hab von solchen Sachen gelesen.«

»Titan. Stammt aus einem alten Saab-Kühler. Musste größenmäßig angepasst werden, aber davon abgesehen ...«

»Ja klar.« Die Begeisterung des anderen Mannes hatte etwas Kindliches. »Haben Sie es über einem Motorblock gemacht, wie der Typ in Mailand letztes Jahr?« Er schnippte wieder mit den Fingern. »Wie hieß er noch gleich, Bonocello oder so?«

»Bonicelli. Ja, so ungefähr war das.« Chris versuchte sich die Verärgerung nicht anmerken zu lassen. Seine Motorblockhochzeit hatte fünf Jahre vor der des italienischen Fahrers stattgefunden, war aber in der Automobilpresse kaum zur Kenntnis genommen worden. Bonicellis Hochzeit dagegen war wochenlang Thema gewesen, mit Farbstrecken noch und noch. Hatte vielleicht ein wenig mit der Tatsache zu tun, dass Silvio Bonicelli der regelmäßig Radau schlagende jüngste Sohn einer großen florentinischen Fahrerfamilie war, oder auch damit, dass er keine Mechanikerin geheiratet hatte, sondern eine prominente ehemalige Pornoaktrice, die mittlerweile eine vielversprechende Karriere als Retorten-Popsängerin eingeschlagen hatte. Vielleicht hatte aber auch die Tatsache eine Rolle gespielt, dass Chris und Carla ihre Trauung ohne großen Aufstand im Hinterhof von Mel’s AutoFix abgehalten hatten, während Silvio Bonicelli die gekrönten Häupter der europäischen Konzernwelt zu seiner Feier in die Ausstellungsräume eines neuen Lancia-Werks in Mailand eingeladen hatte. So nämlich funktionierte der Konzernadel des einundzwanzigsten Jahrhunderts: über Familienkontakte.

»Die eigene Mechanikerin heiraten.« Bryant grinste unverdrossen. »Mann, ich begreif ja, dass einem das nützlich werden kann, aber ich muss schon sagen, ich bewundere Ihren Mut.«

»Mit Mut hatte das weniger zu tun«, sagte Chris milde. »Ich war verliebt. Sind Sie verheiratet?«

»Yeah.« Er bemerkte Chris’ Blick auf seinen Ring. »Oh. Platin. Suki ist Wertpapierhändlerin bei Costerman. Arbeitet inzwischen meistens von zu Hause aus, und wahrscheinlich hört sie ganz auf, falls wir noch ein Kind bekommen.«

»Sie haben Kinder?«

»Ja, nur das eine. Ariana.« Sie erreichten das Ende des Flurs, wo sich eine ganze Reihe von Fahrstühlen befand. Bryant wühlte, während sie warteten, in seinem Jackett und zog schließlich eine Brieftasche hervor. Als er sie aufschlug, kamen eine eindrucksvolle Zusammenstellung von Kreditkarten und das Foto einer attraktiven Frau mit rötlich braunen Haaren zum Vorschein, die ein koboldgesichtiges Kind im Arm hielt. »Hier. Das haben wir an ihrem Geburtstag gemacht. Da ist sie eins geworden. Ist schon wieder fast ein Jahr her. Die wachsen so schnell. Haben Sie Kinder?«

»Nein, noch nicht.«

»Tja, ich kann nur sagen, warten Sie nicht zu lange damit.« Bryant klappte die Brieftasche wieder zu, als die Fahrstuhltür aufging, und sie fuhren kameradschaftlich schweigend nach oben. Der Fahrstuhl rief jedes einzelne Stockwerk aus und gab ihnen im Plauderton einen kurzen Überblick über Shorns aktuelle Entwicklungsprojekte. Mehr, um die ernsthafte synthetische Stimme auszublenden, als dass es ihm ein wirkliches Anliegen gewesen wäre, nahm Chris nach einer Weile die Unterhaltung wieder auf.

»Werden hier eigene Kampfkurse angeboten?«

»Was – Mann gegen Mann?« Bryant grinste. »Sehen Sie sich diese Zahl an, Chris. Einundvierzig. Hier oben werden die Beförderungen nicht mehr Mann gegen Mann ausgefochten. Louise Hewitt würde das als den Höhepunkt des schlechten Geschmacks ansehen.«

Chris zuckte die Achseln. »Ja, aber man weiß nie. Hat mir mal das Leben gerettet.«

»He, war doch nur Spaß.« Bryant klopfte ihm auf den Arm. »Es gibt ein paar firmeneigene Lehrer unten im Gym, sicher doch. Shotokan und Taekwondo, glaube ich. Ich mach selber manchmal ein bisschen Shotokan, einfach um in Form zu bleiben, und außerdem weiß man nie, wann es einen mal wieder in die Sperrzone verschlägt.« Er zwinkerte. »Sie verstehen? Aber trotzdem, wie einer meiner Lehrer sagt: Eine Kampfsportart zu betreiben lehrt einen nicht zu kämpfen. Wenn man das lernen will, dann muss man auf die Straße gehen und sich prügeln. Das bringt viel mehr.« Grinsen. »Hab ich mir jedenfalls sagen lassen.«

Der Fahrstuhl hielt mit einem Ruck. »Dreiundfünfzigster Stock«, verkündete er fröhlich. »Conflict-Investment-Abteilung. Denken Sie bitte daran, dass Sie eine Code-sieben-Befugnis für diese Ebene benötigen. Einen schönen Tag noch.«

Sie traten hinaus in ein kleines Vorzimmer, wo ein adretter Sicherheitsmann Bryant grüßend zunickte und Chris bat, sich auszuweisen. Chris suchte den Strichcodeabschnitt hervor, den man ihm unten am Empfang ausgehändigt hatte, und wartete, während dieser gescannt wurde.

»Chris, hören Sie, ich hab’s ein bisschen eilig.« Bryant deutete auf den Flur zur Rechten. »Irgendein schmieriger kleiner Diktator will um zehn seinen Staatshaushalt überprüfen lassen, und ich versuch immer noch, mich an den Namen seines Verteidigungsministers zu erinnern. Sie kennen das ja. Ich seh Sie beim Quartalsrückblick am Freitag. Meistens gehen wir hinterher noch aus.«

»Klar. Bis dann.«

Chris sah ihm mit demonstrativer Beiläufigkeit nach. Dahinter verbarg sich die gleiche Vorsicht, mit der er am Morgen dem No-Name-Herausforderer begegnet war. Bryant machte zwar einen ganz netten Eindruck, aber das tat unter den entsprechenden Umständen eigentlich jeder. Sogar mit Carlas Vater konnte man sich manchmal ganz vernünftig unterhalten. Aber wer sich das Blut von den Händen wusch wie Mike Bryant, den wollte man lieber im Auge behalten.

Der Sicherheitsbeauftragte gab ihm seinen Ausweis zurück und zeigte auf die Doppeltür gleich vor ihm.

»Konferenzraum«, sagte er. »Sie werden bereits erwartet.«

 

Als Chris das letzte Mal einem Seniorpartner persönlich gegenübergestanden hatte, geschah dies anlässlich seiner Kündigung bei Hammett McColl. Vincent McColl hatte ein Büro mit hohen Fenstern, in dunklem Holz getäfelt, und eine der Wände war von Büchern gesäumt, die hundert Jahre alt aussahen. An den anderen Wänden hingen Porträtbilder ruhmreicher Partner aus der achtzigjährigen Geschichte der Firma, und auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto seines Vaters, wie er Margaret Thatcher die Hand schüttelt. Der Fußboden war aus gewachstem Holz, bedeckt mit einem zweihundert Jahre alten türkischen Teppich. McColl selbst hatte silbergraue Haare, hüllte seinen schmalen Körper in Anzüge, die seit einer Generation aus der Mode waren, und weigerte sich, ein Videofon in seinem Büro zu haben. Das ganze Zimmer war eine einzige Gedenkstätte der geheiligten Traditionen, ein durchaus seltsamer Umstand bei einem Mann, der in erster Linie für den Geschäftsbereich Emerging Markets, also Schwellenländer, zuständig war.

Jack Notley, Shorn Associates’ übergeordneter Seniorpartner für den Bereich Conflict Investment, hätte McColl selbst dann kaum unähnlicher sein können, wenn er ein Besucher aus irgendeinem Paralleluniversum gewesen wäre. Er war ein bulliger, Macht ausstrahlender Mann mit kurzen, gar nicht mal besonders gut geschnittenen Haaren, die erste Anzeichen von Grau aufwiesen. Er hatte rötliche Hände mit stumpfen Fingern, sein Anzug war ein Susana-Ingram-Original, das wahrscheinlich so viel gekostet hatte wie das ganze ursprüngliche Chassis des Saabs, und der Körper, der darin steckte, sah aus, als würde er sich gut in einem Boxring machen. Die Gesichtszüge waren eher grobschlächtig, und unter dem rechten Auge war eine lange, gezackte Narbe zu sehen. Die Augen blickten hell und lebhaft. Allein das sie umgebende feine Faltennetz lieferte einen Hinweis darauf, dass Notley bereits siebenundvierzig Jahre zählte. Chris, der durch den lichterfüllten, in Pastelltönen gehaltenen Empfangsbereich auf ihn zuging, fand, dass er aussah wie ein Troll auf Ferien im Elfenland.

Sein Händedruck war, wie nicht anders zu erwarten, knochenbrecherisch.

»Chris. Großartig, Sie endlich mit an Bord zu haben. Kommen Sie rein. Ich möchte Sie einigen Leuten vorstellen.«

Chris entwirrte seine Finger und folgte dem breiten Trollrücken quer durch den Raum zu einer niedriger gelegenen Mittelebene, wo sich ein breiter Couchtisch, ein rechtwinkliges Sofapaar und ein »Sitzungsleiter«-Sessel befanden, Letzterer unübersehbar ein Einzelstück. An den Enden des einen Sofas saßen ein Mann und eine Frau, beide jünger als Notley. Chris’ Blick richtete sich automatisch auf die Frau, eine Sekunde bevor Notley den Mund aufmachte und in ihre Richtung deutete.

»Das ist Louise Hewitt, Abteilungsleiterin und geschäftsführende Partnerin. Sie ist der eigentliche Kopf hinter dem, was wir hier machen.«

Hewitt streckte sich aus dem Sofa heraus, um ihm die Hand zu reichen. Sie war eine attraktive, üppig gebaute Frau von Ende dreißig und tat einiges dafür, es nicht zu zeigen. Ihr Kostüm sah nach Daisuke Todoroki aus – strenges Schwarz, geschlitzter, bis zu den Knien reichender Fahrerrock und ein eckig geschnittener Blazer. Ihre Schuhe hatten keine nennenswerten Absätze. Ihre langen dunklen Haare waren zu einem Knoten zurückgebunden, sodass der Blick frei war auf die blassen Gesichtszüge und das mit äußerster Zurückhaltung aufgetragene Make-up. Ihr Händedruck verfolgte nicht die Absicht, irgendetwas zu beweisen.

»Und dies hier ist Philip Hamilton, für die Abteilung zuständiger Juniorpartner.«

Chris wandte sich dem trügerisch weich wirkenden Mann am anderen Ende des Sofas zu. Hamilton hatte ein schwach ausgeprägtes Kinn und einen mächtigen Bauch, was ihn konturenlos, ja schlampig erscheinen ließ, aber seinen blassblauen Augen entging nicht das Geringste. Er blieb sitzen, entbot aber eine feuchte Hand und einen gemurmelten Gruß. In seiner Stimme schwang eine vorsichtige Abneigung mit, fand Chris.

»Also dann«, sagte Notley in jovialem Tonfall. »Ich bin hier im Grunde nicht viel mehr als eine Galionsfigur, daher übergebe ich erst einmal an Louise. Setzen wir uns doch alle, und möchten Sie vielleicht etwas zu trinken?«

»Grünen Tee, wenn Sie haben.«

»Selbstverständlich. Ich denke, wir nehmen gleich eine Kanne. Wäre ein Gu Zhang Mao Jian Ihnen recht?«

Chris nickte beeindruckt. Notley ging zu dem großen Schreibtisch bei einem der Fenster und betätigte eine Sprechanlage. Louise Hewitt saß in makelloser Haltung auf ihrem Platz und blickte zu Chris herüber.

»Ich habe viel von Ihnen gehört, Faulkner«, sagte sie neutral.

»Großartig.«

Immer noch neutral: »Nun, vielleicht nicht ganz. Es gibt da ein oder zwei Punkte, die ich gern klären würde, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Chris breitete die Hände aus. »Nur zu. Ich arbeite jetzt hier.«

»Ja.« Das dünne Lächeln verriet, dass ihr die Retourkutsche nicht entgangen war. »Nun, vielleicht könnten wir mit Ihrem Fahrzeug anfangen. Wie ich höre, haben Sie den Firmenwagen ausgeschlagen. Haben Sie etwas gegen das Haus BMW?«

»Na ja, meines Erachtens haben die Konstrukteure die Tendenz zu überrüsten. Davon abgesehen, nein. Es war ein äußerst großzügiges Angebot. Aber ich besitze mein eigenes Fahrzeug, und ich würde, sofern es für Sie keinen Unterschied macht, gern bei dem bleiben, was ich kenne. Man fühlt sich einfach wohler damit.«

»Spezialanfertigung«, sagte Hamilton, als sei dies der Fachausdruck für eine psychische Funktionsstörung.

»Was?« Notley war wieder da, setzte sich wie erwartet in den Sessel. »Ach, Ihr Auto, Chris. Ja, ich hörte, Sie sind mit der Frau verheiratet, die es zusammengebaut hat. Das stimmt doch, oder?«

»Ja, das stimmt.« Chris machte eine flüchtige Bestandsaufnahme der Gesichter ringsum. Bei Notley glaubte er eine onkelhafte Toleranz zu erkennen, bei Hamilton Widerwillen und bei Louise Hewitt gar nichts.

»Daraus entsteht wohl eine ziemlich starke Bindung«, sinnierte Hamilton, mehr für sich, wie es beinahe schien.

»Äh, ja. Ja, das ist richtig.«

»Ich würde gern über den Bennett-Vorfall sprechen«, sagte Louise Hewitt laut.

Chris sah ihr für einen Moment fest in die Augen, dann seufzte er. »Es hat sich weitgehend so abgespielt, wie ich es zu Protokoll gegeben habe. Sie müssten seinerzeit davon gelesen haben. Bennett strebte denselben Analystenposten an wie ich. Der Kampf ging bis zu dem erhöhten Abschnitt auf der M40-Zufahrt. Ich hab sie in einer Kurve von der Straße gedrängt, und sie ist an der Kante hängen geblieben. Das Gewicht des Wagens hätte sie früher oder später nach unten gerissen; sie fuhr einen generalüberholten Jaguar Mentor.«

Notley grunzte, ein Laut à la So einen hab ich selbst mal gefahren.

»Wie auch immer, ich habe angehalten und konnte sie rausziehen. Der Wagen ist ein paar Minuten später abgestürzt. Sie war halb bewusstlos, als ich sie im Krankenhaus ablieferte. Vermutlich ist sie mit dem Kopf gegen das Lenkrad geknallt.«

»Krankenhaus?« Hamiltons Stimme drückte höfliche Ungläubigkeit aus. »Entschuldigen Sie. Sie haben sie ins Krankenhaus gebracht?«

Chris starrte ihn an.

»Ja, ich habe sie ins Krankenhaus gebracht. Ist das irgendwie ein Problem?«

»Nun ja.« Hamilton lachte. »Wollen mal sagen, einige Leute hier hätten dieser Auffassung sein können.«

»Wenn nun Bennett beschlossen hätte, einen neuerlichen Anlauf auf die Stelle zu unternehmen?«, fragte Hewitt, in ihrer distanzierten Ernsthaftigkeit ein deutlicher Kontrapunkt zu ihrem ausgelassenen Juniorpartner. Chris fand, dass es eingeübt klang. Er zuckte die Achseln.

»Wie denn, mit angeknacksten Rippen, einem gebrochenen rechten Arm und Kopfverletzungen? Soweit ich mich erinnere, war sie in einem Zustand, der ihr nicht mehr erlaubte, als ein bisschen schwer zu atmen.«

»Aber sie hat sich wieder erholt, oder?«, fragte Hamilton verschlagen. »Sie ist immer noch tätig. Immer noch in London.«

»Bei Hammett McColl«, bestätigte Hewitt, weiterhin emotionslos. Der Schlag, das war Chris klar, würde aus Hamiltons Ecke kommen.

»Sind Sie deshalb da weggegangen, Chris?« Der Juniorpartner hatte seinen Einsatz nicht verpasst, in seiner Stimme klang noch leichter Spott an. »Keinen Mumm, die Sache zu Ende zu bringen?«

»Was Louise und Philip, glaube ich, sagen wollen«, schaltete Notley sich ein, ganz der liebe Onkel, der den Streit auf einem Kindergeburtstag schlichtet, »ist, dass Sie das Problem nicht abschließend gelöst haben. Wäre das eine angemessene Zusammenfassung, Louise?«

Hewitt nickte kurz. »Ja.«

»Ich bin nach der Bennett-Geschichte noch zwei Jahre bei HM geblieben«, sagte Chris beherrscht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass dies so früh kommen würde. »Sie hat ihre Niederlage ohne Wenn und Aber eingestanden. Die Angelegenheit wurde zu meiner vollsten Zufriedenheit, und zu der der Firma, geklärt.«

Notley machte beschwichtigende Gesten. »Ja, ja. Vielleicht geht es hier doch auch weniger darum, irgendwelche Vorwürfe zu erheben, als um Unternehmensphilosophie als solche. Worauf wir hier bei Shorn Wert legen, das ist, wie soll ich es ausdrücken? Nun ja. Entschlossenheit, nehme ich an. Konsequenz. Wir mögen keine losen Enden. Sie, und wir auch, könnten später darüber stolpern. Wie man an der Verlegenheit sehen kann, in die der Bennett-Vorfall uns alle hier und jetzt gebracht hat. Wir befinden uns, sagen wir mal, in einer zweideutigen Situation. Und das wäre nicht geschehen, wenn Sie die Angelegenheit ein für alle Mal aus der Welt geschafft hätten. Diese Art von Zweideutigkeit möchten wir bei Shorn Associates gern vermeiden. Sie passt nicht zu unserem Image, schon gar nicht in einem so umkämpften Bereich wie dem Conflict Investment. Das verstehen Sie sicherlich.«

Chris sah in die drei Gesichter, zählte die Freunde und Feinde, die er sich bereits erworben zu haben schien. Er brachte ein Lächeln zustande.

»Natürlich«, sagte er. »Niemand schätzt Zweideutigkeiten.«