»Lausbuaba,
elende!«
Band 2 der Bad-boy-Geschichten
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Dr. Rolf Walter wurde 1953 in Kirchheim unter Teck geboren. Er wuchs in der Stadtmitte, in Raichles Viereck, im Haus Schuhstraße 3 auf, wo seine Eltern einen Fleischerladen betrieben.
Neben einer Reihe von Fachbüchern veröffentlichte er 2004 ein erstes »Schmunzelbuch« (wie er es nennt): ›Herr Professor, Sie sind ein Lausbub!‹ Eine autobiographische Spätlese. Das vorliegende Büchlein ist als weitere Sympathiebekundung des Autors an seine Heimatstadt und ihre liebenswürdigen Bewohner zu verstehen und trägt wiederum autobiographische Züge.
Wer mee wissa will, guckt oifach ens Indrned onder:
www.lausbuaba.de
… mögen Sie sagen. »Lausbuaba, elende! Isch emmer no et Schluss mit uire Stroich?« Nein, ist die schlichte Antwort. Lausbuben gehören zum lebendigen gesellschaftlichen Vermögen einer Stadt wie, sagen wir, die Bürgermeisterin oder der Bademeister, die Pfarrerin und der Lehrer. Irgendwie sind alle sozialen Gruppen aufeinander bezogen, vielfältig miteinander verflochten, ja: voneinander abhängig. Was wäre beispielsweise ein Parkwächter ohne Lausbuben: überflüssig! So war es auch in Kirchheim, der hübschen Zähringerstadt am Fuße – eigentlich schon fast am Zeh – des majestätischen Teckberges gelegen. Wahrlich majestätisch! Denn das Geschlecht derer von der Teck ist um ein paar Ecken mit dem englischen Königshaus verwandt, weshalb ein Mitglied der Königsfamilie anlässlich eines Deutschland-Besuchs (der Begriff Deutschland-Tournee war damals noch nicht erfunden) schon mal unseren Hausberg besuchte.
In der Stadt Kirchheim hatten schon vor Jahrhunderten Majestäten ihren Sitz. Das Schloss zeugt davon. Die Herzogin liebte die Stadt. Und die Stadt liebte sie, auch wenn die Liebhaber bedauerlicherweise namentlich unbekannt blieben. Das wär’s ja noch gewesen, gell?!
Im Jahre 2005 verjährte das Erscheinen von Ludwig Thomas »Lausbubengeschichten« – aus Film und Fernsehen der Wirtschaftswunderzeit allgemein bekannt – zum hundertsten Mal. Jedem sind noch die Geschichten und deren Hauptfiguren, etwa »Der Kindlein«, »Der vornehme Knabe« und »Gretchen Vollbeck« in Erinnerung. Oder wer kennt nicht die später erschienenen »Tante Frieda«-Geschichten. Jeder las oder hörte auch die witzig-satirischen Erzählungen von Erich Kästner, insbesondere aus seinem Buch »Als ich noch ein kleiner Junge war«. In diesen Erzählungen kommen immer wieder markante Charaktere vor, Menschen mit unverwechselbaren Eigenheiten, Typen eben. Mit einigen von ihnen trieben die Lausbuben ihre Streiche, weshalb das ganze literarische Genre im anglo-amerikanischen Sprachraum auch »Bad-boy-Literatur« genannt wird. Thoma war ein besonders populärer Vertreter dieser Literaturgattung, die häufig mundartliche Elemente enthält oder neben individuellen auch kollektive Charaktere und Mentalitäten beschreibt. Mark Twain war ein anderer, vielleicht der weltweit bekannteste Repräsentant dieser Gattung, dessen Lausbuben sogar Weltruhm erlangten und vor wenigen Jahren ihrem Schöpfer zu dessen hundertstem Geburtstag huldigten. Solche Tom Sawyers und Huckleberry Finns lebten und leben in buchstäblich jeder größeren oder kleineren Kommune dieser Erde. Und eigenartigerweise ist keine dieser Figuren mit der anderen identisch. Ihre Persönlichkeit, ihre Charaktermerkmale und ihre Handlungsweisen mögen sich zwar ähneln. Sie gleichen sich aber nicht vollständig, ebenso wenig wie sich die Gene jener siebeneinhalb Milliarden Menschen der Spezies Homo sapiens aufs Haar gleichen. Und ebenso unverwechselbar sind freilich – man mag’s beklagen oder nicht – deren Streiche. Erst recht gilt diese bunte Pluralität für Ansammlungen von Menschen, also Siedlungen, Kommunen, Gemeinden, Städte, Zeltlager und verwinkelte Altstadtreviere wie zum Beispiel unser Raichles Viereck.
Die Vielfalt an Geschöpfen ist schier unermesslich: großen und kleinen, dicken und dünnen, boshaften und friedliebenden, eitlen und uneitlen, frechen und braven, Kalbsleberwurst- und Müsli-Frühstückern, Kalt- und Warmduschern, Schwarzsehern und Optimisten, Schwarzfernsehern und Gebührenzahlern, Freigiebigen und Schnorrern, Davidoff- und Gauloises-Rauchern, Realisten und Träumern, Tänzern und Feiglingen, Pietisten und Islamisten, Bastionsbesuchern und Stadträten, Grünen und Gelben, Schwarzen und Roten, Trittbrettfahrern und Piraten, Schwimmern und Nichtschwimmern, Porschefahrern und Radfahrern, Gebissträgern und Zahnlosen, Weit- und Kurzsichtigen, Brillenträgern und Durchblickern, Doofen und Ganzdoofen, Grasdackeln und Halbdackeln, Gartenfreunden und Kartenfreunden, Verheirateten und Glücklichen, Schönen und Wüsten, Alkoholikern und Abstinenzlern, Alphabeten und Analphabeten, Pennälern und Pennern, Kesselpaukern und Paukern, Ungläubigen und Abergläubigen, Ausländern und Oberländern, Plaudertaschen und Maultaschen, Prominenten und Normalsterblichen. Zu diesen gesellen sich Punks und Glatzköpfe, Fernsehsüchtige und Radiologen, Schichtnougat- und Schwindsüchtige, Rosenzüchter und Viehzüchter, Hobbygärtnerinnen und Kindergärtnerinnen, Windsurfer und Internetsurfer, Armleuchter und Beleuchter, Maulaffen und Klammeraffen, Pferdla ond Äffla, Narrenkasper und Suppenkasper, Schwarzfahrer und Angsthasen, Hochstapler und Gabelstapler, Querköpfe und Großkopfete, Dickschädel und Dünnhäutige, Kobolde und Witzbolde, Kurschatten und Kurpfuscher, Rechthaber und Liebhaber, Grünschnäbel und Erfahrene, Jonge und Grufties, Vergessliche und Unvergessliche, High Heels-Angels und Hells Angels, Schwarzmaler und Kunstmaler, Checker und Ahnungslose, Seidenspinner und Spinner, Schlitzohren und Schlappohren, Leidenschaftslose und VfL-Fans, Knights-Anhänger und Langweiler, Bissige und Pissige, Stinkstiefel und rote Socken, Knochenbrecher und Chirurgen, Schauspieler und Schachspieler, Ignoranten und Simulanten, Hosenträger und Wasserträger, Eingebildete und Ausgebildete, Intelligenzbestien und Bekloppte, Ehrwürdige und Unwürdige, Merkwürdige und Hochwürdige, Viehtreiber und Quertreiber, Ehrliche und Steuerzahler, Pappenheimer und Kirchheimer, Lauter-Schwoba und lauter Schwoba, Friseure und Haarspalter, hohe Tiere und arme Schlucker, Buntspechte und Schluckspechte, Schriftsteller und Schmierfinken, Gammler und Lackaffen, Spritzige ond Lahmarschige, Bämulla ond Lompaseckel, Lällabäbbl ond Hosascheißer, Heckasoicher ond Erzschlawiner. All dieser unterschiedlichen Kreaturen erfreute sich schon immer das urige Städtchen Kirchheim unter Teck am Zeh der Schwäbischen Alb.
Auf ihre Güatla wachsen üppig Bettsoicher ond Vergissmeinnicht, Präamala ond Klimbim-Rosen (climbing roses), Liebstöckel ond Frauaschuh, Zwetschga ond Bräschdling, Äbiera ond Pederleng ond schliaßlich Hagebudda firs Hägamark-Gsälz.
Wer erinnert sich nicht an jenes Kirchheim der fünfziger und sechziger Jahre, das täglich mehrmals eine zischende und kreischende Lokomotive erreichte, die auf ihrer beschwerlichen Fahrt talaufwärts von Wendlingen kommend nach Oberlenningen keuchte, nicht jedoch ohne vorher am Kirchheimer Bahnhof ordentlich Dampf abgelassen zu haben. In dieser rußgeschwängerten Zeit lebten in Kirchheim menschliche Originale, die ebenso markant, kraftstrotzend und unentbehrlich waren wie eben jene Lokomotive. Auch sie hatten ihre bevorzugten Orte, wo sie gelegentlich Dampf abließen, Kraft tankten und einen zischten. Manchmal mag’s auch einer zu viel gewesen sein.
Von einigen Kirchheimer Charakterköpfen erzählte ich in dem Büchlein »›Herr Professor Sie sind ein Lausbub!‹ Eine autobiographische Spätlese«: vom dicken Paul, vom robusten Fischhändler Schlaier, von der lieblichen Frau Maier, vom kannenschwingenden Goofy oder vom leidgeprüften Herrn »Battafazge «. Freilich ist das Reservoir an charismatischen Figuren aus dem alten Kirchheim, unserem Kirchheim der Wirtschaftswunderzeit, damit nicht annähernd beschrieben und schon gar nicht erschöpft. Ich setze daher meine kurzen Geschichten fort mit einigen der von uns Lausbuben boshaft behandelten und besonders lieb gewonnenen Menschen (das muss sich nicht widersprechen, eher das Gegenteil ist der Fall), die teils stadtbekannt und milieuprägend waren, andere dagegen nur für die Bad-boys in und um Raichles Viereck nachhaltige Bedeutung hatten. Zu ersterer Gruppe gehören Köpfe wie Bademeister Beckers, Parkwächter Sommer, der »Nerzakenig« oder die Gebrüder Hoyler, allgemein als »d’ Moschdhoyler« aus der Kirchheimer Nachkriegsgeschichte nicht weg zu denken. Aber es gab auch legendäre Künstlerpersönlichkeiten wie »dr Weberscarle«, die gleichsam zum Inventar unserer kleinen Stadt gehörten, denen man alltäglich, z.B. beim Einkaufen, begegnete und die einem wohlwollend durchs Haar strichen und sich aufrichtig nach unserem Befinden erkundigten: »So, gohts dr emmer guat, Bua?« Bei einigen, wie z.B. dem Parkwächter Sommer, verzichtete man freilich gerne darauf, dass er einem durchs Haar strich und machte freiwillig den größtmöglichen Bogen um ihn und seinen vierbeinigen Begleiter. Über die Gründe dafür wird später zu berichten sein.
Es sind Gesichter unserer Stadt, die ihr Prägung und Profil, eben eine unverwechselbare Identität und Authentizität geben. Sie gehörten zu unserem Erfahrungs-, Lebens- und Erlebnisraum ebenso wie die vielen Einrichtungen, Brunnen, Schulen und Plätze, Ecken und Winkel, ja sogar die Kastanienbäume des Alleenrings, die nicht nur einmal die letzte Zuflucht vor den Fängen, dem Stock und dem zähnefletschenden Schäferhund des erwähnten Parkwächters Sommer darstellten. Man wird nach eingehender Lektüre dieses Büchleins nachvollziehen können, weshalb wir Kinder zu den Kirchheimer Kastanienbäumen eine ganz besondere, geradezu innige, Beziehung pflegten.
Ich habe nach dem Erscheinen des ersten »Lausbuben-Buches« im Rahmen verschiedener Lesungen das Gefühl vermittelt bekommen, weitere Bad-boy-Geschichten würden womöglich gute Aufnahme finden und so sei frisch von der Leber erzählt, was sich noch so an lebendigen Geschichten aus dem Halbdunkel der Retrospektive in die Gegenwart retten und wieder Konturen gewinnen lässt, ganz nach meinem beruflichen und Lebensmotto: Perspektive durch Retrospektive. Für mich ist die Niederschrift der Kurzgeschichten einerseits willkommene nostalgische Rückbesinnung auf eine deftige aber glückliche Kindheit, andererseits aber auch der Versuch einer zwangsläufig subjektiv gefärbten Beschreibung der Kirchheimer Alltags-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, ausnahmsweise einmal ohne wissenschaftlichen Anspruch.