Mein Dank geht an Peter Windsheimer für das Design des Titelbildes.
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Castrop Rauxel • Germany
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7357-7206-0
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Da Anion immer wieder gesagt hat, dass okkulte Geschichten am besten hermetischen Probleme beleuchten, haben wir uns entschlossen, eine wirklich gute Sammlung von okkulten Geschichten und wirklich interessanten Berichten herauszugeben. Vorab muss ich noch sagen, dass es leider nur sehr wenig okkulte Literatur gibt, die aussagekräftig ist. Unsere Romane, Kurzgeschichten, Aufsätze und Tatsachenberichte würden leider untergehen, da sie großteils unbekannt sind. Sie wurden in den frühen 20ern in okkulten Zeitschriften wie „Psyche“, „Die magischen Blätter“, „Dido“, „ZfO“, „Prana“, „Lotusblühten“, „Weiße Fahne“, „Asgard“ und anderen veröffentlicht und wer kann heutzutage behaupten, alle gelesen zu haben. Wohl die Wenigsten.
Aus diesem Grund veröffentlichen wir all die Geschichten, die gut, sinnvoll und die wir gefunden haben. Ich hoffe, unsere Leser sind mit dem 9. Band dieser Reihe der hermetischen Literatur zufrieden.
Ein Vater schickte seinen Sohn in die weite Welt hinaus, damit er etwas rechtes lernen sollte.
„Ich kann dir nichts mit auf den Weg geben, mein Sohn,“ sagte der Alte beim Abschied, „als meinen Segen; sieh, wie weit du damit kommst.“
„Der wird mir überall helfen, Vater!“, rief der Sohn, küsste des Vaters Hand und ging. Weil er immer bescheiden und höflich war, so waren alle Menschen freundlich zu ihm und das wandern wurde ihm leicht. Nach einiger Zeit kam er an einen großen Wald. Mit ehrfürchtiger Andacht trat er unter die dunklen Tannen. Der Tag war herrlich, der Wald duftete, und er freute sich über jeden kleinen Käfer auf seinem Wege und über jeden Sonnenstrahl, der goldene Flecke auf den moosigen Grund streute. Die Vögel sangen im Dickicht und weil ihm so froh zu Sinn war, stimmt er jubelnd in den Gesang mit ein. Da verstummten die kleinen Sänger einen Augenblick und sahen neugierig hinunter auf den Wanderer. Wie sie aber merkten, dass der große Zweibeinige da unten, der nicht einmal fliegen, sondern nur langsam auf dem Boden dahinschleichen konnte, mit ihnen um die Wette singen wollte, da mochten sie sich nicht von ihm beschämen lassen und erhoben ihre hellen Stimmen mit doppelter Kraft. Das war ein fröhliches Wetteifern und einer sang immer schöner als der andere. Dabei schritt der Bursche frisch aus. Bald holte er ein altes Mütterchen ein, das vor ihm herhumpelte. Sein Rücken war gebeugt, der Atem ging ihm keuchend aus der Brust und es musste oft stillstehen, um sich zu erholen.
„Guten Tag, Mütterchen,“ grüßte er freundlich, wie er es immer und mit jedem Menschen tat. „Ihr habt´s wohl schwer“?
„Ich hab meinen Stock daheim vergessen und nun geht es langsam voran,“ seufzte die Alte und blieb erschöpft stehen.
„Stützt euch auf mich, ich will euch führen,“ sagte der Bursche und bot ihr seinen Arm.
„Der Weg zu meiner Hütte ist weit, es wird dich gereuen, wenn du dich so mit mir schleppen sollst,“ wehrte die Alte. Dabei sah sie ihn prüfend an.
„Nicht doch,“ lachte der Bursche, „ich hab´s nicht eilig und stark bin ich auch. Ich könnt euch, wie ihr da seid, auf den Arm nehmen und durch den Wald tragen und es würde mir nicht zu schwer werden.“
Die Alte stimmte in sein fröhliches Lachen ein und sagte: „So viel werde ich dir nun freilich nicht zumuten, aber wenn du mich ein Stück führen willst, so nehm ich´s dankbar an.“
Damit lehnte sie sich auf seinen Arm und sie gingen zusammen weiter.
„Du warst es doch, der vorhin so schön sang?“, fragte die Alte. „Sing weiter, ich höre es gern und das Gehen wird einem leichter dabei.“
Er gehorchte und beiden verging bei den fröhlichen Melodien die Zeit und der Weg so schnell, dass sie bald erstaunt vor ihrer Hütte stillstanden. Der Bursche zog seine Mütze und wollte Abschied von ihr nehmen. Aber die Alte bat ihn zum Dank für seine Hilfe wenigstens die einfach Mahlzeit mit ihr zu teilen.
„Holla,“ rief er vergnügt, „dann will ich sie mir aber erst verdienen. Da neben eurem Hüttchen liegt viel Holz, das will ich euch kleinschlagen.“
„Wie du willst,“ sagte die Alte, „indessen koche ich die Suppe.“
Als er mit seiner Arbeit fertig war und die Scheite noch sauber an der Wand der Hütte aufgeschichtet hatte, rief sie ihn zum Essen. Dabei musste er ihr allerlei erzählen, von dem guten Vater daheim und der lieben verstorbenen Mutter. Währenddessen war es spät geworden. Die Alte wollte ihn nicht mehr fortlassen.
„Ich mach dir eine Streu am Herd zurecht, da kannst du die Nacht schlafen und morgen früh zeige ich dir den Weg in die Stadt. Im Dunkeln würdest du dich im Walde doch nur verlaufen“, und der Bursche war zufrieden.
Am anderen Morgen brachte ihn die Alte noch bis an den Kreuzweg und beschrieb ihm, wie er zu gehen hätte.
„Zuerst kommst du durch eine felsige Schlucht, dann geht’s weiter immer geradeaus durch den Wald und am Ende, wo die Bäume aufhören, siehst du die Stadt zu deinen Füßen. So und nun leb wohl und da du mir so freundlich geholfen hast, möchte ich dir ein Andenken an mich mitgeben. Nimm dies Kästchen, du findest darin drei Brillen. Die Erste hat weiße Gläser. Betrachte durch sie die Felsen und Steine, sie werden dich manches Neue lehren. Die Zweite hat grüne Gläser. Wenn du mit ihnen die Pflanzenwelt beschaust, so wird sie dir ihre Wunder enthüllen. Die dritte Brille aber, die mit den goldenen Gläsern, die heb´ dir für die Menschen auf. Durch sie kannst du ihnen ins Herz hineinsehen, bis in ihr geheimes Wesen. Das wird dir viel reine Freude schaffen.“
Der Bursche betrachtete das merkwürdige Kästchen in seinen Händen mit Staunen und ehe er noch weiter denken konnte, war die Alte zwischen den Bäumen verschwunden. Er sann ihren Worten im Weitergehen nach und merkte erst nach längerer Zeit, dass sich die Landschaft um ihn her verändert hatte. Die Bäume, die bisher nur einen schmalen Weg zwischen sich frei gelassen haben, waren weit auseinander getreten und säumten eine enge Schlucht, durch die er nun hindurch musste. Zu beiden Seiten ragten steile Felsen, hier zu hohen zackigen Gebilden aufgetürmt, dort wie eine breite Riesennase vorspringend, und an anderer Stelle ein Gewirr von großen und kleineren Steinmassen bildend. Er sah an ihnen empor und kann sich unendlich klein und winzig ihnen gegenüber vor. Da kam ihm das Geschenk der Alten wieder in den Sinn. Er hielt das Kästchen ja noch in den Händen. Was hat sie doch gesagt? Richtig, es sollte eine Brille mit weißen Gläsern darin liegen, deren seltsame Kraft er an den Steinen und Felsen erproben sollte. Das passt ja gut! Vorsichtig öffnete er das Kästchen. Da lagen die drei Brillen vor ihm. Die erste sah nicht besonders merkwürdig aus, nur waren ihre weißen Gläser von ziemlicher Stärke. Die Grüne war schon seltsamer: Smaragdfarben, von durchscheinender Klarheit war das Glas, während die Goldene mit den leuchtenden Strahlen um die Wette funkelte und blitzte. Vorsichtig nahm er die erste Brille heraus und steckte das Kästchen mit den anderen wieder in die Tasche, ehe er sie aufsetzte. Neugierig sah er sich dann um. Ja, was war denn das? Er musste sich erst einmal abnehmen und auf einen ganz bestimmten Felsen da vorn sein Augenmerk richten, denn er wurde gar nicht klug aus dem, was er sah. Den da drüben, der da so trotzig gen Himmel ragte, den wollte er einmal durch seine Zauberbrille betrachten. Er starrte ihn eine Weile an und prägte sich den Anblick genau ein und ohne seine Augen abzuwenden, schob er darauf die Brille vor dieselben! Wie wunderschön! Ja, da hatte er ja dieselbe Form, den Riesenzeigefinger, der nach oben wies. Aber es war wirklich nur eine Form, denn das, was da vor ihm stand, war nun kein lebloser, starrer Felsblock mehr. Es zeigte noch dieselben Umrisse, aber sie waren jetzt ausgefüllt mit etwas Lebendigem. Seine Ströme liefen auf und ab, wogten und wallten durcheinander in einem, wunderbaren harmonischen Spiel. Es sah durch die Brille der Alten die geistigen Kräfte der Erde, die den Felsen bildeten und formten. Denn der Fels, der Stein, sie sind dem Leben der Erde entsprossen, in ihnen wirken ihre Kräfte noch, und sie sind nur für den Menschen leblos und starr, der mit geschlossenen Augen an ihnen vorbeigeht und nichts ahnt von dem Geiste, der alles schafft und beherrscht.
Als er sich endlich losrang von dem wunderbaren Schauspiel dieses lebendurchfluteten Felsen und sich weiter umsah, gewahrte er überall dasselbe Bild. Nichts Totes, nichts Unbewegliches – ringsum lebendiges Wirken dieser für sein Auge bisher so reglosen Welt der Gesteine.
Im langsamen Vorwärtsschreiten war er am Ende der Schlucht angelangt. Die Bäume schlossen sich wieder zusammen und der durchsonnte, duftende Tannenwald nahm ihn wieder auf. Er sah nichts weiter durch seine Brille, als was hier auch mit eigenen Augen zu erblicken war und nahm sie wieder ab. In tiefen Sinnen und Entzücken über das eben Geschaute holte er sein Kästchen aus der Tasche und legte die Brille wieder hinein. Dabei fiel sein Blick auf die zweite, smaragdgrüne. Sollte er diese nicht beim Betrachten der Pflanzen und Bäume benutzen? Was würde sie ihm enthüllen? Er setzte sie auf und schaute sich um. Ja, war er denn im Märchenlande? Deutlich sah er doch die Umrisse der Bäume und Sträucher, der Moose und Farne. Aber jedes von ihnen war von einem seinen leuchtenden Dunstkreis umgeben, wie von einer zarten Wolke, durch die man aber ungehindert hindurch sehen konnte. Auch die Pflanze selbst war durchscheinend geworden und es zeigte sich in ihrem Inneren dasselbe Auf- und Abweben, Hinauf- und Hinabsteigen der Lebenskräfte, wie vorher bei den Steinen, nur war es hier lebhafter, eiliger. Es wurde unterstützt durch geschäftige, zarte kleine Wesen, die sich im Dunstkreis jeder Pflanze aufhielten und ihr dienten. Zuerst sah er die zarten Gebilde bei einer königlichen Fichte, die einzeln mit breitausladenden Zweigen hoch und stolz vor ihm stand. Schon unten an den Wurzeln bemerkte er sie; klein und unscheinbar huschten sie hinauf und hinab, leiteten den Strom der Lebenskräfte, der aus der Erde aufgenommen wurde, sorgsam nach oben, während andere den köstlichen Saft, der von oben aus den Nadeln herabkam, in Empfang nahmen und in die Wurzeln verteilten. Weiter oben, zwischen den Zweigen schafften lichtere Gestalten. Sie beaufsichtigten die Bereitung des Nahrungssaftes in den grünen Tannennadeln und übergaben den köstlichen Stoff dann anderen, die ihn abwärts trugen und den Wurzelmännchen überlieferten. All diese Geschäftigkeit war so reizend mit anzusehen, dass er sein Auge lange nicht davon losreißen konnte. Endlich gewahrte er zu Füßen der Tanne einen wundervollen Pilz, leuchtend rot, mit weißen Flecken. Die Menschen nennen in Fliegenpilz und treten ihn oft tot, weil er giftig ist. Aber muss denn immer alles gegessen werden, kann man nicht auch an schönen Formen und Farben draußen seine Herzensfreude haben? Der Bursch dachte nicht an Töten oder Vernichten. Voll Glückseligkeit über all die verborgene Herrlichkeit, die er hier sehen durfte, schaute er den Pilz durch seine Wunderbrille an. Ei, wie lustig! Oben darauf sah er ein Männlein mit einem roten Wams mit eben solcher Zipfelmüze, weiß betupft. Er hatte den Pilz bei seiner Lebensarbeit zu helfen und strich zärtlich über das rote Polster, auf dem er so bequem Platz gefunden hatte. Nicht weit davon ragte der lange Stiel einer Fingerhutpflanze aus seiner stattlichen Blattrosette kerzengerade und stolz in die Höhe. Viele rotviolette Blüten saßen an ihm und erzitterten leicht, wenn der Wind sanft über sie hinstrich. Ja, der Wind! Der hatte ja richtige Flügel und weiche kleine Hände und schwebte als ein Geistchen von Blüte zu Blüte. Und sie sahen aus wie kleine lichte Elfen, eingehüllt in leuchtend feingesponnene Gewänder. Auch sie waren geschäftig, sie wirkten den Blüten ihre Form, gaben ihnen ihre lichten Farben und ihren Duft. In den Blättern arbeiteten kräftigere Pflanzengeister. Sie empfingen von den Wurzelmännchen den Saftstrom von unten und verarbeiteten ihn mit den Stoffen, die die der Luft entnahmen mit Hilfe der Sonnenwärme zu dem feinen, tödlichen Gift, das die Menschen als unentbehrliches Heilmittel bei Herzkrankheiten zu verwenden wissen.
Da fiel ein Sonnenstrahl durch die Zweige der großen Fichte. Nein, er „fiel“ gar nicht. Kleine geflügelte Geister trugen ihn auf ihren Schwingen herab, umtanzt von anderen ihresgleichen, die auf seiner leuchtenden Bahn aufstiegen, wieder hinabglitten, lachend und jubelnd wie Kinder, Leben bringend und Segen ausstreuend, mit dem wärmenden, goldfunkelnden Strahl.
Lange stand der Bursche und schaute – schaute – und konnte sich nicht satt sehen an all dem flutenden, strömenden Leben, an der Herrlichkeit dieses dem gewöhnlichen Menschenauge verborgenen Schaffens und Wirkens. Er vergaß Speise und Trank, denn seine Seele schwelgte in geistigen Genüssen und sog sich voll an bisher unbekannten Herrlichkeiten, wie eine Biene am Honigseim – und konnte sich nicht satt trinken.
Erst als die Dunkelheit einbrach, merkte er, dass er fast den ganzen Tag hier im Anschauen zugebracht hatte. So überfiel ihn die Nacht. Er konnte seinen Weg nicht mehr fortsetzen und nachdem er seine kostbare Brille sorgfältig eingesteckt hatte, machte er sich zu Füßen der königlichen Fichte ein Mooslager zuerst und schlief im Schutz der Wurzelmännchen und all der anderen freundlichen Pflanzengeister fest und friedlich bis zum nächsten Morgen.
Mit der Sonne zusammen erhob er sich und machte sich von neuem auf den Weg. Er wollte nach der Stadt gehen, unter die Menschen und freute sich schon darauf, dort seine dritte Brille zu probieren. So wanderte er in froher Erwartung fürbass. Allmählich wurde der Wald lichter und als er ihn endlich verließ, sah er die Stadt zu seinen Füßen liegen, wie ihm die Alte gesagt hatte. Ob es nicht besser war, wenn er seine goldene Brille gleich aufsetzte? Er konnte von jetzt ab ja immerfort Menschen treffen und wenn er dann erst seine Brille hervorziehen sollte, so würde das doch auffallen. Gedacht, getan! Er nahm sie hervor, freute sich an dem goldenen Schimmern und Funkeln und setze sie vor die Augen, dann schritt er kräftig voran. Als er einige Zeit gegangen war, gesellte sich von einem Seitenwege her ein anderer Wanderer zu ihm.
„Grüß Gott!“, rief ihm dieser zu, „willst du auch zur Stadt, dann lass uns zusammengehen.“
Der Bursche dachte: „Welch lieber freundlicher Gesell,“ und war zufrieden. Während sie nebeneinander herschritten und dies und das sprachen, betrachtete er ihn ab und zu von der Seite. Lustig und vergnügt war der wohl, aber ein Spottvogel war´s auch, der sich gern lustig machte und lachte auf andere Menschen kosten. Er war nicht bösartig, aber es kümmerte ihn auch nicht, wenn er einen Menschen verletzte, ihm wehe tat, wenn er nur über ihn lustige, lose Bemerkungen machen und so recht von Herzen lachen konnte. Auch das Fühlen des anderen achtete er dabei nicht. Er war eben, wie so viele andere Menschen auch.
Sie nährten sich der Stadt. Aus dem Tore kam ihnen ein alter Mann entgegen. Er zog einen Handwagen, vor dem ein großer Hund gespannt war, dem er so half. Der Gesell stieß den Burschen an: „Sieh mal, den Alten da, in dem Buckel, den er auf dem Rücken trägt, sitzen gewiss Flügel, meinst du nicht auch?“
Dabei lachte er und freute sich über seinen Scherz. Der Bursche aber lachte nicht mit.
„Gewiss, das kann schon sein,“ sagte er ernsthaft. „Er hat ein gutes Herz und ist mitleidig auch mit den Tieren. Er hat keinen Stecken in der Hand, um den Hund zu schlagen, wenn er nicht mehr ziehen kann und so wie er mit den Tieren liebreich und gut ist, so ist´s er auch mit den Menschen!“
Der Gesell lachte wieder und sagte: „Woher willst du denn das wissen?“
„Ja, schau ihn doch an,“ rief der Bursch, „siehst du das nicht? Das steht doch deutlich auf seinen sanften, freundlichen Augen!“
Der Gesell blieb stehen und ließ den Alten vorbeiziehen, der freundlich grüßte.
„Ich seh nur den Kasten mit den Flügeln,“ beharrte der Gesell und sie gingen weiter.
Als sie durchs Stadttor geschritten waren, führte sie ihr Weg an einen kleinen Lade vorbei, vor dessen Tür der Händler stand. Es war ein Jude im langen Kaftan mit Locken, die von den Schläfen bis hinunter zu den Schultern hingen. Ohne seine Stimme zu dämpfen und ganz gleichgültig darüber, ob ihn der Kaufmann hörte, rief der Gesell: „Wie ein Habicht steht er da mit seiner krummen Nase und wartet auf die Leute die er rupfen kann.“
Dabei lachte er wieder allein über seinen derben Vergleich, der ihm sehr passend vorkam. Der Bursche sah den fremden Mann an und meinte: „Wohl ist er ein Jude, aber ein braver und ehrlicher. Niemals überteuert er andere und hat noch keinen mit seiner Ware betrogen.“
Da blieb der Gesell stehen, sah seinen Begleiter an und fragte spottend: „Du siehst wohl heute in jedem Menschen einen Engel! Pass nur auf, der da wird gleich mit seinen Locken und dem langen Rock direkt in den Himmel fliegen. Wenn sie ihn da mit seinem schmierigen Gewand nur einlassen.“
„Schmutzig und seltsam sieht er aus,“ gab der Bursche zu, „aber du musst durch den Schmutz und den Kaftan hindurchschauen in sein Herz.“
„Leih mir erst einen Operngucker,“ spaßte der andere. Da fiel dem Burschen erst wieder ein, dass er ja die goldene Brille vor den Augen hatte und das diese wohl Schuld daran sei, dass er gar nicht beachtete, ob der Jude schmierig war, sondern nur dessen Ehrlichkeit und Treue bemerkte, die aus seinen Mienen so deutlich sprachen. In diesem Gedanken hob er die Brille hoch und blickte ohne sie auf den Händler. Nun fiel ihm erst der äußerliche, wenig angenehme Anblick desselben auf. Also lag es doch an der Brille! Der Gesell hatte seinem Tun erstaunt zugesehen und fragte: „Was tust du? Es fällt mir eben erst auf, dass du eine Brille trägst. Wenn sie nicht diese grässlichen gelben Gläser hätte, so würde ich denken, dass sie es ist, die dir alles in so verklärten Licht erscheinen lässt“, setzte er spöttisch hinzu.
„Du hast so unrecht nicht,“ sagte der Bursche lächelnd. „Du sollst dich selbst davon überzeugen. Das nächste Mal, wenn wir wieder einem begegnen, will ich sie dir leihen und du sollst mir sagen, was du siehst.“
Der Gesell sah den anderen von der Seite an und dachte: Bei dem ist´s wohl doch nicht richtig! Na wir werden ja sehen.
Damit traten sie ins Wirtshaus ein, riefen die Wirtin und bestellten sich ein Essen. Kaum hatte sich diese abgewendet, um ihnen ihre Wünsche zu befriedigen, da kam den Gesell wieder die Spottlust an und er sprach: „Ich möchte auch lieber von einer Jungen und Schönen bedient werden, als von der. Wenn sie mit ihren schielenden Augen nach uns sieht, so weiß man nie, ob sie dich oder mich meint, und ihre Finger sind rot und dick wie Röstwürstel!“
„So?“, meinte der Bursch. „Davon ist mir nichts aufgefallen. Aber das sah ich wohl, dass sie einer fleißige ist, von früh bis nachts auf den Beinen. Und schwer hat sie´s. Der Mann ist tot und sie muss mit ihrem Geschäft ihre Kinder ernähren und mit den abgearbeiteten Händen ihre alten Eltern pflegen. Und immer ist sie freundlich und geduldig mit allen!“
„Was du nicht sagst!“, höhnte es der Gesell. „Nun gib mir mal deine Brille, ich muss doch mal gucken, ob du bloß so verrückt bist, oder ob die es ist!“
Zögernd nahm der Bursch sein kostbares Kleinod von den Augen und reichte es dem anderen. Kaum hatte er die goldene Brille aufgesetzt, so kam auch schon die Frau zurück und brachte das Bestellte. Erstaunt blickte der Gesell nach ihr hin. Was für liebe Augen hatte sie und wie viel Herzensgüte sprach aus ihnen! Und die Hände sahen aus, als könnten sie sanft streicheln und einem milde und tröstend über das Haar gleiten.
Als sich die Frau wieder von ihnen wandte, gab der Gesell die Brille zurück und sagte ein wenig beschämt: „Eben sah sie ganz anders aus als vorher. Aber woher kommt das, woher hast du diese Brille?“
Da erzählte ihm der Bursch die ganze Geschichte, wie er die Brille bekommen hatte.
„Kehr mit mir um,“ bat der Gesell, „und führe mich auch zu der Alten. Ich will sie bitten, mir ebensolche Brille zu schenken, denn ich möchte auch lernen, die Menschen so zu sehen, wie sie wirklich in ihrem Herzen sind und nicht nur immer auf den Schein achten!“
Er bat so lange, bis der Bursche einwilligte. Am anderen Morgen zogen sie selbander wieder aus dem Stadttor hinaus, dem Walde entgegen. Sie waren noch nicht weit gegangen, da fuhr ein feiner Wagen an ihnen vorbei, in dem lehnte eine vornehme Dame in reichen Kleidern. Neben dem Kutscher saß ein Diener und harrte ihrer Befehle.
„Wie glücklich ist diese Frau! Wie beneide ich sie!“
„Sahst du nicht die Trauer in ihren Augen und das Elend in den Minen ihres Antlitzes?“, fragte der Bursche. „Sie gäbe all ihren Reichtum, Glanz und Pracht gern dahin, wenn sie damit ihren verlorenen Sohn wieder lebendig machen und den aus Verzweiflung über dessen Verlust unheilbar erkrankten Gatten gesunden lassen könnte. Beneide also niemand, ehe du nicht neben dem Äußeren, das dich lockt, auch das innere solcher Menschen und ihr Schicksal erkannt hast!“
„Du siehst, wie nötig ich diese Brille brauche,“ sagte der andere und schritt eiliger aus.
Bald lag der Wald vor ihnen. Ehe sie ihn erreichten, bemerkten sie ein altes Weib, das ihnen langsam entgegen humpelte. Noch einmal erwachte in dem Gesellen die Spottlust. Er stieß den Kameraden an und sagte lachend: „Du, blick hin, da kommt wieder ein Engel für dich. Diesmal aber mit grauen, zahnlosen Munde und lahmen Beinen.“
„Du irrst dich abermals, weil du nur das Äußere ansiehst. Das ist eine weise, gütige Frau, die jedem hilft, der mit einer Bitte zu ihr kommt. Aber wenn du nicht willst, so brauchst du sie ja nicht um die Brille, die du so sehr begehrst, zu bitten.“
„Was – die Brille – von der da? Das ist die Alte?“
Der Bursche nickte. Da steuerte der Andere geradewegs auf die Alte los, grüßte sie und trug ihr sein Anliegen vor. Sie hörte ihm aufmerksam zu, dann sah sie den Burschen, der langsam näher kam und ein Lächeln ging über ihr Gesicht, das war so voll Güte und Liebe, dass der Gesell sie nur immer ansah und nichts Hässliches mehr an ihr entdecken konnte.
„Also hat dir mein Geschenk gefallen?“ sagte sie freundlich zu dem Burschen. Der legte beide Hände auf sein Herz und sah sie dankbar und glücklich an. Sie ließ ihm auch keine Zeit zu einer Erwiderung, sondern wandte sich dem Anderen zu und fragte: „Du möchtest also auch eine goldene Brille haben, mein Sohn. Was willst du damit?“
„Ich sehe immer nur das Hässliche, das Unangenehme, das ganz Äußere an allen Menschen,“ erwiderte der Gesell. „Das macht mich spottlustig und hartherzig. Ich möchte auch Freude an den Menschen haben, möchte durch ihre Hässlichkeiten, ihre Schwächen und Fehler hindurchsehen können auf ihr Herz und das Gute und Schöne in ihnen. Darum bitte ich dich, gib mir auch solch eine Wunderbrille.“
„Du hast sie schon, mein Sohn, sobald dieser Wunsch danach in dir erwacht ist,“ sagte die Alte mit gütigem Lächeln. „Nur verstehst du sie noch nicht richtig anzuwenden. Die goldene Brille ist die Nächstenliebe, die Liebe zu allen Mitbrüdern. Sobald du dich daran gewöhnen wirst, nicht gleich beim ersten Ansehen einen Mitmenschen beurteilen zu wollen, sondern erst versuchst, mit Liebe in sein Wesen einzudringen, so wirst du keinen Blick mehr haben für seine kleinen und großen Schwächen, sondern wirst mit dem Verstehen, das nur die Liebe geben kann, hineinblicken in das Herz, in die Tiefsten seiner Seele. Und glaube mir, du wirst mit diesem Verstehen, mit dieser Liebe, in jedem Menschen, und stände er noch so tief, sei er noch so hässlich und äußerlich abstoßend, etwas Schönes finden, das dir Freude macht und dir ihn liebenswert erscheinen lässt. Versuch es nur, aber ein wenig Übung und viel Geduld und guter Wille gehören freilich dazu. Aber wenn es dir gelingt,“ setzte sie schalkhaft hinzu, „dann wirst du in jedem Menschen einen Engel finden!“
Es war einmal ein kleines Märchenkind, das war vom Himmel auf die Erde heruntergefallen, sozusagen aus Versehen. Es ist recht schmerzhaft, wenn so vom Himmel auf die Erde herunterfällt, wir alle haben das ja einmal erlebt, aber wenn man ein Märchenkind ist, tut es besonders weh. Das Märchenkind war auch so sehr klein. Es war so klein, dass es gar nicht lohnt zu sagen, wie klein es eigentlich war. Die Märchenkinder sind alle so klein auf der Erde, denn ihre großen Seelen seh´n ja die Menschen nicht, die alles nach der Elle messen und auf der Marktwage wägen. So gingen alle die vielen Menschen an dem kleinen Märchenkind vorbei und bemerkten es gar nicht.
„Du höre mal,“ sagte das Märchenkind zu einem jeden, der vorbeikam, „gib mir doch bitte ein Königreich, damit ich darin wohnen kann.“
„Ich verstehe nicht,“ sagten die Menschen, „wer hier was von einem Königreich spricht, es ist doch gar niemand da. Was gibt es für sonderbare Sinnestäuschungen!“
Da wandte sich das Märchenkind an die Tiere, denn die Tiere reden nicht von Sinnestäuschungen und wissen ganz genau, wer ein Märchenkind ist. Sie wissen es schon darum, weil die meisten Menschen ihnen immer so deutlich zeigen, dass sie keine Märchenkinder sind.
Die Tiere waren sehr freundlich, sie wussten es auch nur allzu gut, was es heißt, vom Himmel auf die Erde herunterzufallen zu sein, und sie setzten sich um das kleine Märchenkind herum und gaben ihm gute Ratschläge. Man sah allgemein ein, dass das Märchenkind eine Wohnung haben müsse und das heißt in diesem Fall natürlich ein Königreich, denn wo ein richtiges Märchenkind wohnt, da ist immer ein Königreich für Kinder und Tiere und für die wenigen Menschen, die das Kleine sehen können und nicht an gelehrten Sinnestäuschungen leiden.
„Richten Sie sich bei mir ein,“ sagte der Maulwurf, „in meinem Hause ist es angenehm kühl und feucht und wenn Sie die Nase recht tief in die Erde stecken, so riechen Sie schon von weitem, wenn ein fetter Engerling sich nähert. Es ist ein unnachahmlicher Duft.“
„Vielen Dank,“ sagte das Märchenkind, „ich friere schon auf der Erde reichlich und finde es auch hier schon dunkel genug, ich will nicht noch tiefer hinein und es noch dunkler haben.“
„Das ist sehr töricht von Ihnen, liebes Kind,“ sagte der Maulwurf, „die fetten Engerlinge mit dem unnachahmlichen Duft sind nur zu haben, wenn man die Nase ganz tief in die Erde hineinsteckt.“
„Es ist gewöhnlich, mit der Nase herumzuschnüffeln und Engerlinge zu fressen,“ sagte die Libelle, „und es macht die Sache nicht besser, wenn man dabei auch einen vornehmen Samtrock trägt. Sie müssen es wie ich machen und sich mehr auf das Luftige beschränken. Sie gaukeln einfach von Blüte zu Blüte und bespiegeln sich selbst im Wasser.“
Ich muss leider hinzufügen, dass die Libelle das in einem leichtfertigen Tone sagte und dass sie, wenn auch nicht übermäßig, so doch sehr merklich mit den Flügeln kokettierte.
„Das ewige Umhergaukeln ist auch nichts für mich und wenn ich mich immer im Spiegel sehe, so fühle ich es um so deutlicher, wie einsam ich bin,“ sagte das Märchenkind, „ich möchte schon lieber in einer richtigen Wohnung sesshaft werden. Gerne würde ich zum Beispiel in der hohlen Nuss wohnen, die unter dem Haselstrauch liegt, aber ich weiß nicht recht, wie ich da hineinkommen soll, die Löcher erscheinen mir so eng und klein.“
Denn wenn das Märchenkind auch klein war – die Löcher in der hohlen Nuss waren viel kleiner. Wie das Märchen aber darüber nachdachte, wie man wohl in die hohle Nuss gelangen könnte, dachte es sich einfach hinein und war mitten darin, noch ehe der Maulwurf einen Engerling gefunden und die Libelle ihre wippenden Flügel im Wasser bespiegelt hatte.
In der hohlen Nuss war es wunderschön, so schön, wie es in einer hohlen Nuss nur sein kann, wenn man sich erst richtig hineingedacht hat. Der Wurm, der den Kern verspeist hatte, war ein überaus tüchtiger Fachmann gewesen und es lohnt sich schon zu betrachten, wie sauber er die Wände gefeilt und wie hübsch glatt und rund er die beiden Öffnungen gebohrt hatte, eine als Türe und die andere als Fenster. Ein paar rauhe Stellen hatte er auch sorgsam nachgelassen, so dass man Spinnweben und Marienfäden daran aufhängen konnte und aus Spinnweb und Marienfäden spann sich das Märchenkind ein ganzes Königreich in die hohle Nuss herein. Als aber alles fertig war und es ein richtiges, eingebautes Königreich war, so wie es sich gehört, da holte sich das Märchenkind, weil es ja nun eine Prinzessin war, einen Prinzen in das Königreich herein, der gerade vorüberging und wohnungslos war, weil er auch gerade von Himmel auf die Erde gefallen war. So war das Märchenkind eine Prinzessin und hatte einen Prinzen und ein Königreich und das alles in einer hohlen Nuss. Das war ja eigentlich recht viel auf einmal, aber es tat der Prinzessin doch sehr leid, dass sie den Himmel nicht auch in die hohle Nuss herunterholen konnte. Denn wenn man vom Himmel auf die Erde gefallen ist und es einem sehr weh getan hat, so sehnt man sich immer tüchtig nach dem Himmelreich.
Wie sie sich aber so gehörig nach dem Himmel sehnte und nach ihm ausguckte, da kam der ganze Himmel mitten in die hohle Nuss geflogen und als die Prinzessin näher hinguckte, was das eigentlich war, da wiegte sie ein kleines Kind in einer Wiege von Spinnweb und Marienfäden. Es lohnt gar nicht zu sagen, wie klein das Kind war, es war viel zu klein, um überhaupt viel darüber zu reden.
Ihr denkt nun vielleicht, dass das eine unwahrscheinliche Geschichte sei. Aber das ist sie gar nicht. Es ist doch ganz einfach, sich ein ganzes Königreich in einer hohlen Nuss zu bauen. Man muss bloß ein Märchenkind sein und sich ein bisschen hineindenken können. Freilich muss man dazu gerade vom Himmel heruntergefallen sein und sich auf der Erde wehgetan haben. Und die Menschen müssen einem gesagt haben, dass sie einen gar nicht bemerken und dass man überhaupt nicht auf der Welt sei. Und wenn es schon einfach, wenn auch ein wenig schmerzhaft und einsam ist, sich ein Königreich in eine hohle Nuss hereinzubauen – ganz einfach ist es doch sicherlich, den Himmel auf die Erde herunterzuholen. Sucht bloß ein paar richtige Kinderhände, die holen euch den ganzen Himmel auf die Erde herunter – sogar in eine hohle Nuss.
Es dunkelte schon stark, als ich meine Wohnung verließ, um meinen Freund aufzusuchen, dessen Bildhaueratelier nur eine Viertelstunde weit von der großen Mietskaserne lag, wo ich im 5. Stock bei einer allzu schwammigen unfreundlichen Wirtin ein kleines Zimmer mit Alkoven gemietet hatte. Wenigstens war ich dort dem Himmel nahe genug, dessen Licht ich für meine Zeichnungen nötig brauchte.
Jetzt lockte dort oben letztes Licht, dessen Sammetfäden mich immer aufs neue wieder mit Wehmut und Sehnsucht erfüllte. Denn stets, wenn ich den Schein der Sonne im Dunst der Riesenstadt verschwinden sah, hatte ich das Gefühl: Dort, wo sie untergeht, sind nun weite Wälder und Stille silbergraue Seen. Kleine Gehöfte und Fischerdörfer liegen daran mit Menschen, die auch leben und atmen dürfen in Licht und Luft, während ein widerliches Geschick mich an diese Steinwüste fesselt, in der Millionen Menschen wie hastige, ewig hungrige unzufriedene Würmer ruhelos herumkriechen.
Das Atelier meines Freundes lag in einem der südlichen, villenartigen Vororte an der Hinterseite eines mäßig großen Häuserblocks. Der Kirchhof der Gemeinde lag dicht daneben. Über seine Mauer herüber sah man einige Kreuze, Hinterseiten von Gedenktafeln und Trauerweiden, die selbst bei hellem Tage, bestaubt vom ewigen Rußregen tausender Schornsteine, einen wenig tröstlichen Eindruck erwecken.
Noch brannten keine Laternen, nur aus einigen wenigen Kaufläden fielen gelbe Streifen, legten sich quer über die Straße, kletterten auch wohl noch ein wenig an den gegenüberliegenden Häusern hoch und verloren sich, schnell verschluckt von dem sich von oben herabsenkenden trüben Dunkel.
Immer, wenn ich so durch dunkelnde Straßen gehe, fühle ich ganz deutlich: Nun wachsen die Häuser, recken und dehnen sich und schieben sich aneinander mit langsamen unheimlichen Bewegungen in die Höhe. Die Fenster werden alle schief, bekommen einen lauernden Ausdruck und knisternde Regenröhren beginnen krampfhaft zu zucken wie Schlangen, die mit dicken krummen Haken an die Häuser genagelt sind und nun verzweifelte Anstrengungen machen, um loszukommen.
An den Ofen, der im Atelier stand, hatten sie einen runden Tisch gerückt und saßen dort schon im eifrigen Gespräch: Drei dunkle Gestalten, mein Freund, der Dichter und der Kritiker. Eine kleine verdeckte Lampe warf matte Strahlen durch den großen Raum. Rings an den Seiten standen viele weiße Gestalten, große und kleine, im Halbdunkel herum und lebensgroße Köpfe sahen aus fernen Ecken auf die kleine Gesellschaft. Zwei riesige Fenster ließen mattes Licht von draußen hereinfallen, von Minute zu Minute schwärzer werdend.
Wir saßen sonst stets in einem behaglichen kleinen Raum, der am Atelier zu ebener Erde hing, etwa wie die kleinen Badehäuschen an Vogelkäfigen. Dort stand ein großes bequemes Sofa ohne Lehne und Regale mit zahlreichen Büchern deckten fast alle Wände. Über dem Sofa hingen kleine Heiligenbilder und blinkten Gold- und Silberschein in den Raum hinein. Einfache, dunkle Gardinen waren mit gestickten alten Borten benäht und so gab alles einen tiefen Zusammenhang, in den man sich gern zurückzog, während gewissermaßen draußen fern und schweigend das Atelier lag, mit seiner Höhe sich im Dunkel verlierend und mit all den weißen schweigenden Masken, die dort starr und unbeweglich standen und von denen ich immer das Gefühl hatte, dass sie hinter meinen Rücken freche Fratzen schnitten und mich verhöhnten.
Der Dichter las sein neuestes Werk vor, eine bühnenreife Tragödie aus dem Kriege. Werk entsetzlicher Realistik. Darin zerstaubten Liebe und Kameradschaft wie Wiesenmorgennebel vor steigender Sonne, versanken vernichtet von letztem gewaltigen Hervorbrechen des einen Ur-Instinktes, der Welt und Menschen seit Millionen von Jahren gegeneinander peitschte, damit sie sich im Taumel sinnloser Leidenschaft zerfleischten. Es war eine großartige Apotheose des Hasses, dieses heimlichen Fürsten, der da war von allem Ur-Anfang an und da sein wird, so lange noch Atome, Menschen oder Sonnen aneinanderprallen müssen zu ewiger Vernichtung.
Die gewaltige Leidenschaft des Werkes riss uns mit. Wir tollten durch die Granattrichter, tauchten und sanken in giftige gelbe Gase, mordeten um des letzten Tropfen Wassers willen Kameraden, die plötzlich unsere erbitterten Feinde geworden waren und versanken in das Chaos eines Weltunterganges, dessen Brandfackeln Menschen wie wir, Brüder vielleicht, entzündet hatten.
Der Dichter endete. Aber noch lange klang in unseren aufgepeitschten Sinnen das Heulen zerreißender Granaten, der Schrei auseinanderklaffender Gehirne und das Ächzen im Drahtverhau Zappelnder nach.
Wir schwiegen lange. Und erst allmählich fingen wir an, irgend etwas zu sagen, etwas ganz Belangloses, nur damit der Andere antworten sollte, damit wir wieder den Laut einer Stimme hörten, denn diese lastende Stille des großen dunklen Raumes um uns herum war entsetzlich. Es war unmöglich, von all dem Gehörten noch einmal zu sprechen. Nur an eine Szene knüpften wir ein zaghaftes Band vorsichtiger Rede. Und das war jene geheimnisvolle Stelle des Werkes: Ein Vorposten steht einsam im mannestiefen Granattrichter am Rande eines zerschossenen Waldes. Ganz ruhig ist die Nacht. Das Brausen fernen und nahen Kampfes hat aufgehört und leichter Wind ballt feuchte Nebel um durcheinandergesiebte Bäume, Gräben, Sträucher und Drahtverhaue. Plötzlich glaubt der Posten ein merkwürdiges Geräusch gehört zu haben, einen Laut, der so gar nicht in die ganze Situation hineinpasst und sein geschärftes Ohr aufhorchen lässt.
Und da – ist es wieder. Wie nur? Wem ähnlich? Es ist wie ein saugendes Schmatzen, das kurz schlürfend abbricht und dann so deutlich, dass jeder Herzschlag stockt, ein Stöhnen, wie in hilflos hingegebener Qual. Und nichts mehr.
Und obwohl es den Posten zuerst gar nicht so unheimlich vorkommt, denn er ist ein einfacher Mensch, der sich nicht so leicht fürchtet und durch ein mühseliges Schützengrabenleben reichlich abgestumpft ist, läuft es ihm plötzlich eiskalt über den Rücken. Und ein Wort leuchtet auf.
„Saugnapf!“
Äh, eklig, wie? Unwillkürlich wischt sich der Posten den Mund am Ärmel ab. Und nun? Und da? Nebel ballt sich sonderbar zu langer Säule, bewegt sich dem Granattrichter zu, dann wenige Schritte an ihm vorbei und wie er so ganz nah ist, macht es wieder mit einem Male da in der Dunkelheit so – schnapf – und es ist, als wenn ganz leichte Pfoten, die aber doch scharfe Krallen tragen müssen, über das Feld laufen.
Und Stille.
Am anderen Morgen findet man dicht neben dem Granattrichter einen Kameraden. Sein Körper ist von einer unnatürlichen Blässe, so – als sei jeder Tropfen Blut aus ihm herausgesaugt und am Halse leuchten scharf zwei kleine Punkte. Neben dem einen trockenes dunkles Gerinsel. Winzig, unscheinbar – der letzte Tropfen Blut.
„Einzige Erklärung – ein Vampir“, sagte mein Freund aus seinem großen Lehnsessel heraus.
Des Kritikers Mund verschob sich zu scharfen Lächeln: „Aber nur für gläubige Okkultisten!“
„Und doch ein Glaube, der sich bis in die frühesten Zeiten hinein verfolgen lässt. Ja sogar bei Völkern ganz andere Abstammung wie wir findet sich in fast gleicher Form wie bei uns.“
Ich mischte mich ein: „Und die Wissenschaft wird in jedem Falle wieder neue Erklärung bei der Hand haben, mit wissenschaftlich klingenden Namen, die nur Worte, aber keine Erklärungen sind und dasselbe sagen, wie etwa der alte Spruch: Die Armut komme von der „Powerteh“ usw. Statt nur eine einzige Tatsache aus der Fülle okkulter Erlebnisse anzuerkennen, die jeder Familie, jedem Freundeskreis irgend einem einmal begegnet sind.“
„Dann wäre dieses also auch vielleicht ein Erlebnis gewesen,“ wandte sich mein Freund an den Dichter. Der saß schon ein Weilchen stumm und schaute zu dem großen Atelierfenster hinaus, hinter dessen blassen Scheiben die Nacht heraufdunkelte. Dann wandte er sich wie erwachend zu uns.
„Die Geschichte vom Vampir meint Ihr. Ja, gewiss, sie ist selbst – nun ich will es Euch sagen, warum nicht“, – und seine Worte wurden leise, fast unhörbar – „dieser Posten da an jenem Abend, es war am 13. November, das – war – ich.“
Wir horchten auf. Bitten und Fragen bewegten ihn, weiter zu reden.
„Ja, seht, Ihr, damals – alles war so, wie ich es beschrieben, alles, alles, auch was vorher geschah und nachher – ich habe das alles selbst mitmachen müssen, ich, ein Mensch, der am liebsten abseits von der Menge lebt.
Ich musste mit dieser Horde von Menschen eingesperrt leben in Gräbern, Höhlen und Verhauen, musste allmählich zum Tier werden, wie sie alle da draußen wurden, zur Bestie, die nur noch den Trieb hatte – leben, leben und wenn alle anderen dabei zu Grunde gehen sollten. Und was jenes Erlebnis anbetrifft – also es war scheußlich, es war viel schlimmer als Trommelfeuer und Gasangriffe. Die waren grässliche heulende Wirklichkeit, aber das andere, das so dicht bei mir in der Dunkelheit herumkroch, verdeckt durch den schwarzen Vorhang, den die Nacht darüber gesenkt, das war so lähmend, riss so an überspannten Nerven, legte sich schraubend um die Sinne, dass ich in jenem Moment nicht einmal hätte schreien können, mich nicht hätte rühren können, wenn es – nun auch – zu mir – gekommen wäre.
Und doch – ich will es ruhig sagen – es war nicht alles! Es kam noch etwas, das ich verschwieg, weil ich, nun, weil ich einem großen Kreise Menschen, für die mein Werk bestimmt ist, nicht das Verständnis dafür zutraue.
Also jener Nebel, der sich verdichtete, er kam auf mich zu, wurde deutlicher, dichter und plötzlich starrte aus seinem weißen Wogen das bleiche Gesicht Rolfs mich an, den Ihr ja auch kanntet und einige Tage vorher bei einem Sturmangriff gefallen war. Nicht fähig mich zu rühren, starrte ich auf die Erscheinung.
Todtraurig sah sein bleiches Gesicht auf mich hernieder. Und da. Weiße Wachshand wuchs seitlich hervor, zwei Finger ausstreckend. Er blickte auf sie nieder und dann auf mich, als wollte er mir etwas sagen, nickte noch langsam und im Nebel löste sich Gesicht und Hand, zerfloss seitlich, wie von Hauche kühler Nacht veratmet – und schwand.
Wie lange ich noch gestanden, regungslos, kaum atmend, weiß ich nicht. Ich weiß nur, zuerst hatte ich irgend ein Empfinden; rühre dich nicht, denke nicht, du wirst sonst sofort wahnsinnig. Und nur langsam, ganz langsam löste sich allmählich der starrende Krampf der Glieder. Keinen Augenblick zweifelte ich an der Wirklichkeit des Gesehenen und – ich kanns auch heute noch nicht. Ja, und eben darum muss ich auch an das glauben, was vorher geschehen, kann nicht mehr zweifeln, dass ich es in jener Nacht gehört habe, das – Saugen – eines – Vampirs an einem seiner Opfer, dem er das letzte Leben mit dem letzten Tropfen Blut aus seinem Körper sog!“
Er schwieg und starrte in das unheimliche Dunkel um uns her.
„Und die Deutung?“, fragte mein Freund.
Der Dichter fuhr herum und starrte ihn an: „Das fragst Du? Rolf meinte damit, in zwei Jahren – bin ich an der Reihe. Sein Nicken war die Antwort auf diesen Gedanken, der sofort in mir aufblitzte.“
Der Kritiker fuhr auf: „Da sieht man wieder, was einem überreizte Nerven einem alles vorspiegeln können. Lieber Freund, nehmen Sie sich ein bisschen mehr zusammen, turnen Sie, treiben Sie Sport und Sie werden noch ein ganz brauchbarer Mensch. Ich für meinen Standpunkt lehne derartige Dinge durchaus ab – und mir ist auch noch nichts passiert.“
Der Dichter lächelte matt: „Freilich, Ihnen! Also reden wir von anderen Dingen.“
Aber das war leichter gesagt als getan. Unsere Gedanken kreisten unablässig um die seltsame Erzählung. Und so wurden wir stiller und stiller. Letzter Tagesschimmer war längst erloschen. Es war, als hätte der ganze Raum um uns keine Wände mehr, oder als wären sie durchlässig geworden für alles, was draußen wob und webte. Denn man hörte mit einem Mal, dass es draußen windig war. Man sah die Stangen am Fenster nicht mehr. Es war, als flöße der Himmel direkt zu uns herein. Das Feuer im Ofen war fast ausgegangen und wenn es knisterte, fuhr man zusammen, weil man nicht mehr glauben konnte, dass ein bisschen Aschenrest noch so laut klagen könne.
Ferne Uhr schlug deutlich späte Stunde. Der Kritiker raffte sich zuerst auf. Wir beide gingen. Der Dichter wollte ihm Alkoven auf dem Sofa übernachten, weil er mit dem Frühzug reisen musste. Ich begleitete den Kritiker noch ein Stückchen, denn die Erzählung hatte mich sehr erregt und ging dann allein meiner Wohnung zu.
Es war Mitternacht geworden. Wenige Lampen brannten und ein kalter Novemberwind wehte durch die Straßen. Letztes Laub und Papier in Ecken zusammenfegend. Immer wieder aber tauchte vor meinem Geiste das Bild des Dichters auf, wie er vor mir gesessen, das Gesicht von der Lampe beschienen und sich scharf vom Hintergrund abhebend. Diese Bild verließ mich nicht und raubte mir noch lange den nötigen Schlaf.
Schließlich musste ich doch eingeschlafen sein, denn plötzlich erwachte ich von einem Schrei, der dicht neben meinem Ohr erklungen sein musste. Ich machte Licht – 4 Uhr. Ich besann mich einen Augenblick, dann rann eisiges Entsetzen durch meine Glieder. Das war ganz deutlich die Stimme des Dichters gewesen. Ohne recht zu wissen, was ich tat, zog ich mich taumelnd an, warf meinen Mantel über und eilte hinunter.
Die Straßen lagen jetzt fast ganz im Dunklen. Dicker Nebel brodelte zwischen den Häusern hin und her und nur mühsam fand ich mich zurecht. So schnell ich konnte, eilte ich vorwärts, getrieben von einer unheimlichen grenzenlosen Angst, es müsse jetzt etwas Furchtbares dort geschehen, etwas, das ich vielleicht noch verhindern könne, wenn ich zur rechten Zeit käme.
Endlos schien mir der Weg. Endlich bog ich um die Ecke. Und da das Haus? Herzschlag stockte! Bei meinem Freund musste Licht sein. Die Ateliertür stand offen. Ich eilte hinein. Auf dem Sofa im Alkoven lag der Dichter . . . Tot! An der Wand stand mein Freund. Aufrecht, die Arme weit von sich gestreckt, die Finger wie Krallen gespreizt. Sein Gesicht war seltsam grässlich verzerrt. Starre Augen fixierten bewegungslos. Muskeln lagen im Krampf erstarrt und zerrten alle Züge zu wollüstiger und doch furchtgesättigter Fratze.
Er schien mein Kommen nicht gehört zu haben. Ich schüttelte ihn, redete ihm flehentlich zu, aber nur langsam lösten sich die Glieder. Erkennen huschte über seine Züge, die mit einem Male alt und welk aussahen. Sein Blick streifte den Toten und schluchzend sank er nieder. Und lange noch dauerte es, bis er mir erzählen konnte, was in meiner Abwesenheit vorgefallen war. Es musste etwa Folgendes geschehen sein:
Beide hatten sich nach unserem Fortgehen bald hingelegt und als mein Freund eben eingeschlafen war, war der andere plötzlich zu ihm ins Zimmer gestürzt mit entsetztem Gesicht und hatte erzählt, es wäre jemand unten im Alkoven gewesen, hätte auf ihn gekniet, Krallenfinger seien in seinen Hals geschlagen und eine spitze Schnauze hätte versucht, seine Kehle zu durchbeißen. Mit letzter Kraft sei er aufgesprungen und fortgelaufen. Mein Freund erzählte weiter, dass er den Aufgeregten dann beruhigt und ihn auch schließlich bewogen habe, alles für einen Traum anzusehen und wieder hinunterzugehen. Sie hätten dann noch durch die offene Tür ein wenig geplaudert und er wäre schließlich wieder eingeschlafen. Plötzlich sei er wieder erwacht mit dem Gefühl, dass irgend etwas im Atelier vor sich geht. Leise sei er aufgestanden und habe sich hinuntergeschlichen. Angst habe er selbst keine gehabt. Er sei überhaupt wie halb im Schlafe gewesen, denn auf das Folgende könne er sich eben nur ganz undeutlich, so etwa, dass er kaum auseinander halten könne, ob es Wirklichkeit oder Traum gewesen sei.
Wie er gerade unten einen Augenblick lauschend am Vorhang gestanden, habe er plötzlich den Schlafenden stöhnen hören und gleich darauf jenes saugende Schmatzen, so wie es der Dichter beschrieben habe. Er habe den Vorhang zurückgerissen und sei auf das Lager zugestürzt. Und da habe er auch irgend etwas ergriffen, das ihm aber sofort wieder entglitten sei. Doch könne er nicht sagen, ob es etwas Fremdes sei oder vielleicht nur einer der wild um sich schlagenden Arme des Liegenden. Er habe dann schnell Licht gemacht. Da aber habe der Arme schon auf dem Sofa gelegen wie jetzt.
Das war alles, was ich herausbringen konnte. Ich hob die Lampe auf, um den Toten ins Gesicht zu leuchten. Da fiel mein Blick auf einen Kalender. Er zeigte – den 13. November! Bestürzt wandte ich mich um, da sah ich auf der weißen Brust meines Freundes einen breiten Streifen frischen Blutes. Und da dachte ich? – Ich schrie auf! Die Lampe entfiel meinen Händen und völlig verwirrt eilte ich hinaus in die schwarze Nacht . . .
Es ist eine weite Ebene und in dieser Ebene ist eine Erhöhung. Es wächst nur wenig Buschwerk in der Ebene und scharfes Gras. Es wohnen wenig Menschen in der Ebene und die wohnen zerstreut. Auf der Kuppe der Erhöhung, inmitten der weiten Ebene steht ein Tempel. Dieser Tempel ist von wunderlicher Art. Er ist aus Holz gebaut. Die Leute erinnern sich aber dieses Baues nicht. Er ist schon lange vor ihnen gewesen. Der Tempel ist aber keiner des Gottesdienstes. In ihn tritt das Volk nicht ein. Er tritt auch nicht auf die Kuppe des Berges. Er vermag nicht auf die Kuppe des Berges zu treten. Er wohnt auch entfernt.