ISBN: 978-3-96586-030-8
1. Auflage 2019, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2019 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de und www.ostfrieslandkrimi.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt.
Ostfriesland, April
Leevke parkte den gestohlenen VW Golf vor dem Lieferanteneingang des Friesenkauf-Supermarktes in Leer und zog den Schlüssel ab.
»Bist du bereit?«, wollte sie von ihrem Freund Patrik wissen, der neben ihr auf dem Beifahrersitz saß.
»Klar. Ich kann es kaum noch erwarten.« Er klappte das Handschuhfach auf und nahm die beiden Gummimasken zusammen mit den Latexhandschuhen heraus.
»Wollen wir vorher noch eine Line durchziehen?« Leevke kramte in ihrer Hosentasche nach der kleinen Dose mit dem Ankermotiv, in der sie das Kokain aufbewahrte.
»Auf keinen Fall. Wenn du noch mehr von dem Zeug nimmst, hast du dich wieder nicht unter Kontrolle.«
»Was soll das denn heißen?« Leevke öffnete den Deckel und griff nach dem Smartphone in der Mittelkonsole.
»Haben dir die Wahnvorstellungen beim letzten Mal nicht gereicht? Außerdem kannst du dir doch nicht mitten auf dem Parkplatz die Nase pudern«, ereiferte sich Patrik.
»Mach dich locker. Bei dem Regen siehst du keinen Meter weit. Und hier hinten ist sowieso niemand. Der Laden schließt in wenigen Minuten.«
Leevke kippte etwas von dem weißen Pulver auf das Display, rollte einen Zehn-Euro-Schein zusammen und schniefte das Kokain.
»Verdammt, ist das gut.« Sie lehnte sich im Sitz zurück und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Willst du nicht doch etwas?«
Patrik strich sich die halblangen Haare zurück. »Nein, ich möchte das hier so schnell wie möglich hinter mich bringen.«
»Was bist du nur für eine Bangbüx!«
»Eine … was?« Er sah seine Freundin verständnislos an.
»So nennt man in Ostfriesland einen Angsthasen.«
»Das stimmt nicht! Ich fürchte mich vor niemandem und … he, was soll das?«
Patrik starrte auf die Pistole, mit der Leevke plötzlich auf seinen Kopf zielte.
»Was soll der Blödsinn? Nimm sofort die Waffe runter!«, herrschte er sie an und drückte den Lauf der Glock nach unten.
Leevke grinste. »Du bist doch eine Bangbüx.«
»Das bin ich nicht!«, widersprach er energisch.
»Beweise es mir!«, verlangte Leevke und reichte ihm die Waffe. »Töte einen der Angestellten für mich.«
Patrik sah sie mit großen Augen an. Dann schüttelte er den Kopf. »Keine Gewalt. Das hatten wir so vereinbart.«
»Das stimmt nicht. Wir haben uns immer eine letzte Option offengelassen.«
»Du hast darauf bestanden«, verteidigte sich der Informatikstudent und nahm die Waffe entgegen.
»Ich will nicht in den Knast. Du vielleicht?« Leevke sah ihm direkt in die Augen.
»Natürlich nicht. Daher werde ich alles tun, was nötig ist.« Er nickte bestätigend.
»Das ist doch nur wieder einer deiner coolen Sprüche.«
»Das wirst du schon sehen!« Entschlossen zog sich Patrik die Totenkopfmaske über den Kopf und schlüpfte in die Handschuhe.
Leevke tat es ihm gleich. Dann zogen beide die Kapuzen ihrer schwarzen Hoodies über die Köpfe, nahmen die Reisetaschen vom Rücksitz und liefen damit zur Eingangstür. Der Regen prasselte auf das Vordach. Leevke gab einen Code in das kleine graue Kästchen ein, das in Brusthöhe neben dem Türrahmen angebracht war. Mit einem leisen Knacken öffnete sich das Schloss. Die beiden huschten hinein und eilten durch einen langen Gang zum Kassenraum.
Patrik öffnete die Tür so ruckartig, dass sie gegen die Wand knallte. Putz rieselte in einer kleinen Wolke zu Boden. Zwei Angestellte, die an ihren Schreibtischen Geld zählten, sahen erschrocken auf. Er richtete den Lauf auf einen schmächtigen Mann, der beim Anblick der Waffe zu schrumpfen schien.
»Bitte … tun Sie uns nichts«, stammelte er. »Ich habe Kinder und …«
Leevke legte den Zeigefinger auf die Zähne ihrer Maske und verdeutlichte ihm damit, den Mund zu halten. Nachdem sie das Sicherheitssystem an dem Kontrollkästchen neben der Tür deaktiviert hatte, stopfte sie die Scheine, die in den Kassenschüben auf den Schreibtischen lagen, in die Tasche.
Als Patrik mit der Waffe auf den Tresor an der Stirnseite des Raumes deutete, rutschte der Angestellte vom Sitz und öffnete ihn. Während er das Geld herausnahm, achtete Leevke auf eine beleibte Frau, die wie ihr Kollege einen weißen Kittel mit dem Logo der Friesenkauf-Supermärkte trug.
Zwei Minuten später fesselte Leevke die Angestellten mit Paketband auf ihre Stühle und klebte ihnen die Münder zu. Dann rannten sie zum Hinterausgang.
»Stehen bleiben!«, verlangte eine befehlsgewohnte Stimme plötzlich. Leevke stoppte abrupt und drehte sich um. Am Ende des Flures stand ein Wachmann und nestelte an seinem Waffenholster. Sekundenbruchteile später bellte ein Schuss auf. Der Uniformierte sank auf die Knie, die Hände auf den Bauch gepresst. Einen Moment lang sah er Patrik ungläubig an, dann fiel er zur Seite.
»Raus hier!«, rief Patrik und rannte, die Pistole noch immer in der Hand haltend, zur Tür. Leevke folgte ihm. Im Laufen zog sie den Wagenschlüssel aus der Hosentasche und drückte auf den Pieper. Fast zeitgleich warfen sie die Taschen auf den Rücksitz und knallten die Türen zu. Leevke startete den Golf, raste über den fast leeren Kundenparkplatz und fädelte sich in den abendlichen Verkehr ein. Der Regen hämmerte auf das Dach und rauschte trotz der Scheibenwischer wie ein Wasserfall über die Windschutzscheibe. Die Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge wurden von den Tropfen reflektiert und verwandelten sich in eine Wand aus gleißendem Licht.
»Das war der Hammer!« Leevke riss sich die Maske vom Kopf und lachte wie eine Verrückte, als hätten sie sich gerade eine Komödie angesehen und keinen Raubüberfall begangen. »Ich hätte nie gedacht, dass du den Kerl wirklich umnieten würdest.«
»Ist er … tot?« Patrik warf einen Blick auf die Glock, die er noch immer in der Hand hielt.
»Keine Ahnung. Das war echt cool von dir.«
»Vorsicht, Gegenverkehr!«, rief Patrik, als Leevke ein riskantes Überholmanöver startete und direkt in eine Lichtwand hineinfuhr.
»Wer bremst, hat Angst!«
»Bist du wahnsinnig?« Patrik schloss die Augen, erwartete den Knall, das Knirschen von Metall und das Zerbrechen von Glas.
»Bangbüx!«, kommentierte Leevke herablassend, als der Lichtkegel verschwand, weil das entgegenkommende Fahrzeug auf den Grünstreifen ausgewichen war.
»Willst du uns umbringen?«, schrie Patrik sie an und riss sich ebenfalls die Maske vom Kopf.
»Reg dich ab. Das ist doch nur ein Spiel. Ich dachte, du bist so ein harter Bursche.«
»Klar. Deshalb bin ich aber noch lange nicht lebensmüde.«
»Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle.«
Leevke fuhr auf die A 31 Richtung Emden, von dort aus folgte sie der Landstraße Richtung Moormerland. Auf dem Weg dorthin bog sie in eine kleine Nebenstraße ein und hielt hinter einem alten Opel Corsa, den sie zuvor dort abgestellt hatte. Als sie den Wagen stoppte, war die Sintflut in einen leichten Nieselregen übergegangen.
»Wie viel Kohle haben wir eigentlich eingesackt?«, wollte Patrik wissen.
»Vier Tageseinnahmen. Das müssten so um die sechzigtausend Euro sein.«
»Mehr nicht?« Er sah sie enttäuscht an.
»Wir sind hier in Ostfriesland«, erinnerte sie ihn. »Wenn wir richtig absahnen wollen, müssen wir in die größeren Städte, da ist mehr los. Friesenkauf wird in der nächsten Woche eine Niederlassung in Oldenburg eröffnen. Dort ist am ersten Tag sicherlich eine Menge zu holen.«
Leevke öffnete die Tür und stieg aus. Wenig später hatten sie die Reisetaschen in dem anderen Fahrzeug verstaut und im Innenraum des Fluchtwagens einen Kanister voller Benzin ausgekippt. Sie riss ein Streichholz an und schnippte es durch das geöffnete Fenster der Fahrertür. Eine Flamme loderte auf.
»Wir sollten verschwinden, bevor der Wagen hochgeht.«
»Du bist doch eine Bangbüx.« Leevke sah Patrik grinsend an.