Strandmord in Neuharlingersiel

Ostfrieslandkrimi

Rolf Uliczka


ISBN: 978-3-96586-032-2
1. Auflage 2019, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2019 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt. Anmerkung des Autors: Es handelt sich bei dem Ostfrieslandkrimi »Strandmord in Neuharlingersiel« um eine frei erfundene Geschichte. Eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Gesellschaften, Behörden, Vereinen oder Örtlichkeiten sind grundsätzlich rein zufälliger Natur. Allerdings sind einige Behörden und Örtlichkeiten der Handlungen real wie zum Beispiel das Restaurant Nepheli in Rheinbach, die Bäckerei Johann Hinrichs im Hafen von Neuharlingersiel, der Wattkieker in Carolinensiel-Harlesiel, das Dusend Buddel Huus in Dornumersiel, die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Neuharlingersiel/Werdum, der Schützenverein Neuharlingersiel e. V., die Schützencompagnie Esens e. V. von 1577, aber im Zusammenhang der frei erfundenen Geschichte ausschließlich fiktiv eingebunden.

Inhalt

1. Kapitel

 

Der Frühherbst hatte die Laubwälder der sanften Ausläufer der Nordeifel südlich der Bundesstadt Bonn mit seiner rotgoldenen Farbenpracht überzogen. Am Fuß der Eifelausläufer lag das kleine mittelalterliche Städtchen Rheinbach. Im Hexenturm des Himmeroder Walls, heute ein Wahrzeichen des malerischen Örtchens, waren noch vor wenigen Jahrhunderten Frauen als Hexen eingekerkert und gefoltert worden. Ein goldener Oktober stand vor der Tür. Und so mancher freute sich an diesem Wochenende auf einen ausgiebigen Spaziergang oder eine kleine Radtour in der farbenprächtigen Natur.

Es war früher Freitagnachmittag und Paul Wallmann, Oberamtsrat im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Bonn-Duisdorf, hatte bereits zusammengeräumt. Er freute sich auf das bevorstehende Wochenende und eine schöne Tasse Ostfriesentee mit Kluntjes und Sahne gemeinsam mit seiner Frau, die in ihrer kleinen Villa in Rheinbach als Psychologin eine Praxis betrieb. So ein bisschen ostfriesische Urlaubsgefühle gehörten für die beiden zum Einläuten des Wochenendes immer dazu.

Um achtzehn Uhr waren sie mit einem Kollegen und dessen Frau bei dem Griechen Kostas Symeonidis in dessen Rheinbacher Lokal Nepheli verabredet. Darauf freuten sie sich schon die ganze Woche, denn sie liebten beide neben nordischen Fisch­spezialitäten, die sie immer in ihrem Urlaub an der ostfriesischen Wattenmeerküste genossen, auch die mediterrane Küche mit allem, was dazugehörte. Er wusste, heute würde für ihn ein leckeres Lammfilet mit Knoblauchkartoffeln auf der Karte stehen. Eines seiner Lieblingsgerichte. Da Pauls fünfzigster Geburtstag bevorstand, wollten sie bei der Gelegenheit mit Kostas die Details für die Feier in seinem Lokal abstimmen.

Zu Hause angekommen, sollte er allerdings etwas enttäuscht werden. Sabine, die Sprechstundenhilfe seiner Frau, sagte ihm, dass sich noch ein Notfallpatient angemeldet habe. Er nahm es positiv und freute sich erst einmal auf eine ausgiebige Dusche, in der er sich den Behördenstaub von der Haut waschen konnte, wie er es gern in seinem rheinischen Humor auszudrücken pflegte.

Währenddessen hatte seine Frau, Dr. Christine Wallmann, ihre vorletzte Sitzung vor dem Wochenende mit einer Patientin beendet. Kurz darauf meldete Sabine die Ankunft von Gerd Müller, dem letzten Patienten für heute. Dieser war bisher noch nicht in der Praxis gewesen. Er hatte sich wegen eines plötzlichen Burnouts mit nächtlichen Panikattacken auf Empfehlung eines Freundes, wie er sagte, einen kurzfristigen Termin geben lassen.

»Ich bin gleich so weit«, sagte die Psychologin.

»Könnte ich schon Feierabend machen? Mein Freund wartet nämlich draußen im Auto. Wir wussten ja nicht, dass es heute später werden würde.«

»Schon gut, Sabine. Haben Sie schon die Daten des Patienten im System erfasst?«

»Habe ich und Ihnen bereits auf Ihren Rechner geschickt.«

»Okay, danke. Ich rufe Herrn Müller gleich selbst rein. Muss nur noch ein paar Notizen machen. Schönes Wochenende.«

Eigentlich hätte Christine jetzt am liebsten wie ihr Mann das Wochenende mit einem kleinen ostfriesischen Teezeremoniell eingeläutet, statt noch einen Patienten zu behandeln. Sie wusste, dass Paul schon zu Hause war, denn sein Auto stand vor der Garage, wie sie aus dem halb aus dem Erdboden ragenden Fenster des im Souterrain des Hauses gelegenen Behandlungsraums sehen konnte.

Die Psychologin hoffte, das Erstgespräch über das Burnout ihres neuen Patienten rechtzeitig vor der Verabredung mit dem Kollegen ihres Mannes und dessen Frau abschließen zu können. Sie war mit Leib und Seele ihrem Beruf verschrieben. Da wäre für sie die Ablehnung eines Notfallpatienten nicht in Betracht gekommen. Sosehr sie ihren Mann auch liebte, aber an erster Stelle stand für sie immer das Wohl ihrer Patienten. Selbst für Kinder hatte sich die attraktive brünette Mittvierzigerin keine Zeit genommen. Und inzwischen war ihre biologische Uhr diesbezüglich so gut wie abgelaufen. Paul hatte sich damit abgefunden und im vergangenen Jahr sein Hobby sogar als Schützenkönig von Rheinbach gekrönt.

Sie hatte vor etwa zehn Jahren die kleine Villa mit der Praxis im Souterrain des Hauses von einem Kollegen, Dr. Malte de Fries, übernommen. Dieser wollte sich nach dem Verkauf an der Nordseeküste zur Ruhe setzen. Man hätte meinen können, dass sich die beiden Psychologen aus der gleichen Region zum Beispiel von irgendwelchen fachlichen Tagungen bereits gekannt hätten. Dem war aber nicht so gewesen. Obwohl Christine damals in einer Gemeinschaftspraxis in Bonn, also ganz in der Nähe, praktiziert hatte, waren sie sich hier im Rheinland nie über den Weg gelaufen.

Aber man konnte wieder einmal sehen, wie klein die Welt manchmal ist. Malte war gebürtiger Ostfriese und nach dem Studium der Liebe wegen hier hängen geblieben. Schließlich hatte er die Villa in Rheinbach gekauft und sich eine gut gehende Praxis aufgebaut. Auch als Gutachter für die dortige Justizvollzugsanstalt hatte er sich einen Namen gemacht.

Seit dem Tod seiner Eltern nutzte er deren Häuschen in Neuharlingersiel als Feriendomizil und inzwischen als Alters­ruhesitz. Da auch Christine und ihr Mann regelmäßig ihren Urlaub in einem Ferienhäuschen dort verbrachten, war sie Malte eines Morgens beim Brötcheneinkauf in der Bäckerei Johann Hinrichs im Kutterhafen von Neuharlingersiel begegnet. Er hatte sie auf ihren rheinischen Dialekt angesprochen und sie spontan mit ihrem Mann am Abend zu einem Gläschen Wein in sein Haus eingeladen, nachdem er erfahren hatte, dass sie sogar eine Kollegin von ihm aus der Region Bonn war. Aus dieser Begegnung war in den letzten Jahren schon eine richtige Freundschaft entstanden und sie hatten mit seiner Segeljacht bereits so manchen Turn durch das Wattenmeer und zu den Ostfriesischen Inseln gemacht.

Die kleine Villa im Rheinbacher Rodderfeld war eigentlich für die nur sechshundert Quadratmeter Grund viel zu groß. Aber Grundstücke sind im Rheinland rar. Dafür hatte sie allerdings ihre Reize, die für Christine und Paul fast so etwas wie Urlaubsfeeling bedeuteten. Schon den Eingang des Hauses, der von einem säulengetragenen kleinen Giebel überdacht wurde, zierte eine bronzefarbene Schiffsglocke. Der Glockenton erschallte dann allerdings auf das Klingeln hin, elektronisch umgesetzt, innerhalb des Hauses. Die Terrasse nach hinten raus war mit Schiffsplanken ausgelegt und wurde durch einen kleinen Koiteich begrenzt. Natürlich durfte auch ein Strandkorb auf der überdachten Terrasse nicht fehlen. Das alles hatten Christine und Paul beim Kauf mit übernommen.

Zur Praxis führte eine Marmortreppe in das Souterrain. Als Treppengeländer dienten Schiffstaue, die durch messingfarbene Halter gezogen wurden. Die Wände des Treppenhauses zierten Bilder von Wattwanderungen, an denen das Ehepaar schon teilgenommen genommen hatte, und von Inselbesuchen auf Langeoog, Spiekeroog und Wangerooge. Der großzügige Wohnbereich im Erd- und Obergeschoss wurde durch eine Glaswand mit Glastür vom geräumigen Eingangsbereich abgetrennt.

Die Psychologin hatte von Malte auch seine Patientenkartei und seine Aufgabe als Gutachter für die Justizvollzugsanstalt in Rheinbach übernommen. Hinzu kamen noch die meisten ihrer früheren Bonner Patienten. Über mangelnde Auslastung konnte sie sich daher wirklich nicht beklagen.

Nachdem Christine die letzten Notizen zur Sitzung mit ihrer Patientin gemacht hatte, rief sie über die Sprechanlage Gerd Müller in den Behandlungsraum. Ein mittelgroßer, sehr muskulöser Mann kam herein. Sie bat ihn, auf einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Aber sie wusste auf Anhieb nicht, wo sie ihn hinstecken sollte, mit seinem kahl geschorenen Schädel und seinem mindestens zwei Handbreit langen schwarzen Vollbart.

Irgendwie bereitete er ihr Unbehagen. Durch den Bart, der auch die Wangen bedeckte, war seine Mimik für sie schwer einzuschätzen. Seine dunklen Augen schienen sie wie mit einem Röntgenblick geradezu zu durchbohren. Sie bedauerte in diesem Moment, Sabine gehen gelassen zu haben. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie Paul in die Praxis runterbitten sollte, fand das dann aber doch etwas übertrieben.

Auf ihre Frage, wie sich seine Beschwerden äußern würden, antwortete er: »Hab im Moment geschäftlich und privat ziemlichen Stress. Dann wache ich nachts schweißgebadet auf und kann nicht wieder einschlafen. Deshalb setze ich mich dann vor den Fernseher, bis mir die Augen zufallen. Morgens bin ich jedes Mal wie gerädert und völlig unkonzentriert. Meine Hände sind gegen irgendetwas allergisch geworden, daher trage ich zurzeit diese Handschuhe.«

Christine ging es auf einmal eiskalt den Rücken runter. Plötzlich wusste sie ganz genau, wer da vor ihr saß. Sie hatte vor etwa fünf Jahren für einen Strafgefangenen Heinz Dieter Meyer ein Gutachten erstellen müssen. Der war wegen brutalen Mordes nach bestialischer Vergewaltigung einer Frau über mehrere Tage zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe in der JVA Rheinbach mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden und hatte nach fünfzehn Jahren Haft einen Antrag auf vorzeitige Entlassung und Aufhebung der Sicherheitsverwahrung gestellt.

Aber zu Heinz Dieter Meyer hatte sie irgendwie ein anderes Bild im Kopf, volles mittelblondes Haar, glatt rasiert. Doch wenn er es tatsächlich sein sollte, was führte er im Schilde? Sie überlegte. Denkbar wäre es, dass er sich nach zwanzig Jahren bereits im Freigang bewegen durfte. Vielleicht brauchte er ja wirklich Hilfe und kam zu ihr, weil er sie schon kannte? Warum dann aber nicht unter seinem richtigen Namen?

Hinzu kam ihr Eindruck, dass das, was er sagte, nicht mit ihrer Wahrnehmung seiner Augenpartie und auch seiner Körper­sprache übereinstimmte. Wie gestresste und unkonzentrierte Menschen auftreten, wusste die erfahrene Psychologin nur zu gut.

Sie versuchte Zeit zu gewinnen. »Kleinen Moment, ich muss eben etwas nachschauen«, sagte sie und stand auf, um an ihren Aktenschrank zu gehen. Dort hatte sie alle Patientenakten in Hängeregistern alphabetisch unter Verschluss. Sie musste von diesem Heinz Dieter Meyer ein Bild in der Akte haben. Die Akte fand sie schnell und suchte nach dem Bild. Sollte sich ihr Verdacht bestätigen, und sie war sich ziemlich sicher, dass er es war, was sollte sie dann tun? Paul runterrufen? Die Polizei anrufen? Sie kramte in der Akte und versuchte keine Panik aufkommen zu lassen. Wenn er ihr etwas antun wollte, würde sie noch nicht einmal bis zu ihrem Telefon, geschweige denn an ihm vorbei bis zur Tür kommen.

Das schnappende Geräusch hinter ihrem Rücken von dem Öffnungsvorgang eines Springklappmessers hörte sie und wollte sich gerade umschauen. Im gleichen Augenblick traf sie der erste Stich in ihre linke Niere und sie sackte mit einem markerschütternden Schmerzensschrei zur Seite auf den Boden. Die zweite Messerattacke des Mannes traf gleich darauf ihre Leber. Sie schrie erneut auf, bis sie der dritte Stich an einer Rippe vorbei von hinten mitten ins Herz traf und sie für immer verstummen ließ.

In aller Seelenruhe wischte ihr Mörder sein Messer an ihrem Kleid ab. Dann holte er ein kleines Etui aus der Innentasche seiner Jacke und öffnete den Computer der Psychologin. Mit wenigen Handgriffen hatte er die Festplatte ausgebaut. Das Gleiche machte er mit dem PC der Sprechstundenhilfe.

Im Haus war alles still, nur ganz leise war das Rauschen der Wasserleitung zu hören. Ein Grinsen zog über sein Gesicht, wie man an seinen Augenwinkeln erkennen konnte, bevor er das Haus verließ. Allein der Gedanke daran, was für eine blutige Überraschung den Ehemann, der wahrscheinlich gerade unter der Dusche stand, im Souterrain seines Hauses gleich erwarten würde, bereitete ihm eine diabolische Befriedigung.

 

2. Kapitel

 

Heike Grabowski hatte es mal wieder erwischt. Eine heftige Depression! Die letzte Attacke war schon fast ein Jahr her und so war die Hoffnung in ihr gewachsen, dass sie endlich von diesem Übel befreit sei. Seit einem Burnout vor einigen Jahren plagte sie sich damit herum. Allerdings genau genommen nicht erst seitdem. Aber es war offiziell der Grund für ihre vorzeitige Pensionierung als Kriminalhauptkommissarin der Kripo in Essen gewesen.

Sie musste unbedingt ihre langjährige Freundin Engeline Clausen in Bensersiel anrufen. Diese war zugleich die Vermieterin ihres kleinen Fischerhäuschens in Neuharlingersiel, unweit des malerischen Kutterhafens. Mit fahrigen Händen gelang es ihr erst nach mehrfachen Versuchen, ihre Rufnummer auf dem Smartphone zu aktivieren: »Engeline?! Es hat mich mal wieder erwischt. Ich dachte, ich hätte es hinter mir. Ich wollte nur mal deine Stimme hören und dir Bescheid sagen.«

»Ach, Heike, du Ärmste! Soll ich vorbeikommen?«

»Nein, nein. Du weißt ja, wenn es richtig losgeht, helfen mir nur meine Tabletten, die ich gerade schon genommen habe, und absolute Ruhe. Aber ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass du dich nicht wunderst, wenn ich mich mal nicht am Telefon melde und auch am kommenden Donnerstag nicht bei der Teestunde dabei sein sollte. Dann mach dir keine Sorgen. Es wird schon wieder. Wir kennen das ja.«

»Für mich ist immer das Schlimmste, dass ich nicht helfen kann.«

»Mach dir keine Sorgen. Wir sind starke Frauen und lassen uns nicht unterkriegen! Aber ich mach jetzt mal Schluss. Ich glaube, die Tabletten beginnen zu wirken. Ich melde mich«, beendete Heike das Gespräch.

Dabei wusste sie nur zu genau: Es konnte nicht lange dauern, und das Monster der Depression würde sie mal wieder voll im Griff haben. Das hatte sie jahrelang im Dienst vor den Kollegen und den Ärzten verborgen. Sie wollte es auch nicht ihrer Freundin sagen, wie es ihr dann wirklich ging, weil sie genau wusste, dass diese sich dann noch mehr sorgen würde.

Dabei lag die eigentliche Ursache für ihre Depressionen bereits über zwanzig Jahre zurück. Darüber hatte sie aber bisher mit niemandem gesprochen. Schon damals hatte sie im Dienst in Essen immer versucht, ihre depressiven Phasen zu verstecken. Denn ihr war klar, dass dies ­– ganz am Anfang ihrer Karriere – sehr wahrscheinlich zu einer Entlassung wegen Dienstunfähigkeit geführt hätte. Immerhin hatte sie es dann aber geschafft, bis zu einer Frühpensionierung durchzuhalten. Aber auch da war sich der Psychologe nicht sicher, ob bei ihr nur ein Burnout oder doch etwas noch Schwerwiegenderes dahintersteckte. Doch sie konnte und wollte nicht über die Bilder reden, die sie bis heute in ihren Albträumen verfolgten. Und im Verstecken, sogar vor einem Psychodoktor, war sie geübt.

Schließlich hatte sie es nach ihrer Pensionierung dahin gezogen, wo sie seit vielen Jahren immer in ihrem Urlaub Kraft getankt hatte, an die ostfriesische Wattenmeerküste, zu ihrer damaligen Vermieterin der Ferienwohnungen, Engeline.

Bisher hatte sie es immer noch geschafft, mit ihren depressiven Phasen klarzukommen. Auch wenn sie schon manches Mal froh gewesen war, heute keine Waffe mehr im Haus zu haben. Wie leicht könnte damit die Lösung ihres Problems sein! Damit kannte sie sich als pensionierte Polizistin aus. Einfach den Lauf in den Mund … Aber sie hatte eine Tochter und einen Enkel, die sie beide abgöttisch liebte und denen sie das nicht antun wollte.

Mein Gott, dachte sie auf einmal. Ist das schon über zwanzig Jahre her? Das Schwein hatte damals lebenslang mit anschließender Sicherungsverwahrung bekommen. Sie müsste mal bei Bert Linnig, ihrem damaligen Kollegen, nachfragen, ob der immer noch einsaß oder doch – etwa im Rahmen einer Resozialisierung – schon wieder auf freiem Fuß war. Kriminal­hauptkommissar Linnig und seine Kollegin Nina Jürgens vom Kommissariat Wittmund kamen einmal im Monat samstags zu einem Brunch zu ihr. Das war bereits seit einiger Zeit zu einem festen Ritual geworden, genauso wie die wöchentliche Teestunde donnerstags bei Engeline. Und nächsten Samstag stand wieder das Frühstück mit den beiden Kommissaren an. Bis dahin hoffte sie, wieder fit zu sein.

Heike machte sich einen Beruhigungstee und versuchte sich mit dem Zappen durch die Fernsehprogramme abzulenken. Dabei kam sie auf einen Bericht über einen Terroranschlag im Nahen Osten mit entsprechenden Bildern. Sie hätte besser den Fernseher ausgelassen, denn eigentlich wusste sie doch, sie brauchte Ruhe. Da waren sie wieder, die Horrorvisionen von der bestialisch ermordeten und geschändeten jungen Frau, die dieser sadistische Psychopath mehrere Tage in seiner Gewalt gehabt hatte.

Wie sich später herausstellte, war es die Lebensgefährtin des Sicherheitsfahrers einer Werttransportfirma. Der Mörder hatte diesen mit dessen gekidnappter Freundin dazu erpresst, einen Peilsender an seinem Fahrzeug zu befestigen und seinen Kollegen mit Waffengewalt daran zu hindern, Alarm auszulösen, als ihr Fahrzeug gestoppt wurde. Nachdem der erpresste Sicherheits­kurier dem Kriminellen Zugang zu den Spezialbehältern des Wagens verschafft hatte, wurden beide Männer der Sicherheitsfirma von ihm kaltblütig erschossen. So jedenfalls stellte sich der Ablauf nach den Recherchen der Essener Polizei damals dar.

Bewiesen werden konnten aber nur die Vergewaltigung der jungen Frau und ihre Ermordung durch DNA-Vergleich mit forensischem Material des Täters. Er war bereits einschlägig vorbestraft. Daher gab es Referenzwerte von ihm, die mit DNA-Spuren an der Leiche übereinstimmten. Gleichzeitig fanden sich DNA-Nachweise der Getöteten an von ihm getragener Kleidung, die in seiner Wohnung gefunden worden war.

Der Raub und die Ermordung der beiden Sicherheitskuriere konnten ihm nicht gerichtsverwertbar nachgewiesen werden. Zeugen gab es keine. Dennoch hatten die brutale Vergewaltigung und bestialische Ermordung der Partnerin des einen Fahrers für eine lebenslange Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung gereicht.

 

Heike wusste ganz genau: Das Heraufbeschwören der Erinnerungen war Wasser auf die Mühle ihrer Depression. Es zog sie raus. Sie brauchte jetzt den Wind der Nordsee um die Nase. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, musste sie an den Strand. Das machte sie nicht zum ersten Mal. Im Moment war noch Abenddämmerung, aber in spätestens einer halben Stunde würde es dunkel sein. Für solche Abend- und Nachtspaziergänge war sie mit passender Kleidung und einer Taschenlampe gut gerüstet. Als sie den Hafen erreichte, hob sich die Silhouette des Gebäudes der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff­brüchiger immer noch deutlich gegen das immer dunkler werdende Grau des wolkenverhangenen Himmels ab. Um diese Jahres- und Uhrzeit war hier keine Menschenseele mehr unterwegs, was Heike in diesem Moment auch sehr recht war.

Der Westwind hatte aufgedreht und blies ihr kräftig ins Gesicht, als sie die Deichkrone erreichte, die auf der anderen Seite sanft zum Strand hin abfiel. Den Parker mit der Kapuze hatte sie eng um sich gezogen und war froh, dass es nicht regnete, obwohl der Wetterbericht es angekündigt hatte. Von Langeoog leuchteten einige Lichter herüber. Festen Schrittes ging sie zum Strand hinunter. Den Schatten, der ihr schon seit dem Verlassen ihres Hauses gefolgt war, bemerkte sie dabei nicht.

 

3. Kapitel

 

Der Erste Kriminalhauptkommissar Bert Linnig und seine Partnerin, Kriminalhauptkommissarin Nina Jürgens, hatten den Umzug in das Häuschen in Carolinensiel gerade hinter sich. Nach einigen Hürden waren sie endlich ab dem ersten Oktober gemeinsame Mieter. Es war keine einfache Sache gewesen, zwei Haushalte zusammenzuführen. Aber inzwischen waren alle Möbel im Haus an ihrem Platz und sie freuten sich auf das erste Wochenende im neuen Heim. Blauer Himmel und Sonnenschein versprachen einen schönen Herbsttag, den Nina und Bert schon mit einem Frühstück auf der Terrasse begrüßt hatten.

Am Nachmittag näherte sich unter Führung der Vermieterin Gerda Hinrichs, die im übernächsten Haus wohnte, eine kleine Prozession dem verklinkerten Winkelbungalow. Gerda hatte es sich nicht nehmen lassen, sich kurzerhand zur »ersten Nachbarin« von Nina und Bert zu erklären, was in Ostfriesland eine besondere Bedeutung hat. Eigentlich hätte diese Auszeichnung ja einem der Bewohner der direkt neben dem Haus der Polizisten liegenden Häuser zugestanden, aber das waren Feriendomizile.

Der erste Nachbar kümmert sich bei runden Geburtstagen um das Aufstellen eines Schildes, welches mit der Jahreszahl und optischen Hinweisen auf den Jubilar oder die Jubilarin geschmückt wird. Bei Hochzeiten organisiert er das Kranzbinden mit Tannenzweigen und Schmuckröschen, die aus Krepppapier gebastelt werden. Und bei Einzug eines neuen Nachbarn sorgt er für einen mit Papierröschen verzierten Kranz und ein Willkommensschild.

Und einen solchen bestimmt fast acht Meter langen Kranz aus geflochtenem Tannengrün trugen die Nachbarn, hintereinander laufend, auf ihren Schultern. Sie wurden verstärkt durch einige Kollegen der Zugezogenen aus dem Wittmunder Kommissariat. Einer der Nachbarn zog einen kleinen Bollerwagen mit einer Ladung Bier. Der Zug war in Gerdas Garage gestartet, hielt aber auf dem Weg zu seinem nahe gelegenen Ziel mehrere Male an. Offensichtlich bedurften die Träger einer Stärkung in Form kleiner brauner Fläschchen, die auf Kommando entleert wurden.

Schließlich erreichte der Zug das Haus von Nina und Bert. Ein Nachbar hatte eine kleine Trittleiter mitgebracht. Einige Männer hoben den Kranz über die Haustür auf mitgebrachte Haken, die in bereits vorhandene Dübellöcher geschraubt worden waren. Die Girlande reichte links und rechts von der Tür großzügig bis auf den Eingangstritt. Danach machten die Frauen sich daran, den Kranz mit Papierröschen zu verzieren. Alle Arbeitsschritte schienen eine besonders durstfördernde Angelegenheit zu sein, denn die Tätigkeiten mussten immer wieder für Lösch­maßnahmen aus den Bierkästen unterbrochen werden. Schließlich wurde der Kranz in der Mitte über der Eingangstür mit einem ovalen roten Willkommensschild gekrönt und die Hausbewohner mit Sturmklingeln herausgeholt.

Die ganze Aktion hatte ein Quadrocopter aus der Luft überwacht. Gesteuert wurde dieser von einem der Kollegen aus Wittmund. Schließlich musste noch ein Foto der beiden Hausbewohner in der geschmückten Haustür gemacht werden und wiederum kamen die kleinen braunen Fläschchen mit entsprechendem Kommando zum Einsatz. Dann rückten alle ins Haus ein. Wie auf dem Display der Drohnensteuerung zu sehen war, kam die Gesellschaft aber kurz darauf bereits auf der anderen Seite des Hauses auf der Terrasse wieder raus.

Bert verteilte goldbraun gegrillte Rostbratwürste in aufgeschnittenen Brötchen. Diese hatte er während der ganzen Aktion an der Eingangstür auf seinem Gasgrill vorbereitet. Aus ihrem Fundus als Vermieterin von Ferienwohnungen hatte Gerda Gartentische und -stühle zur Verfügung gestellt, wodurch alle Anwesenden einen Platz fanden. Die Nachmittagssonne sorgte für angenehme Temperaturen und die geistigen Getränke für lustige Stimmung.

Nachdem alle ihren ersten Hunger gestillt hatten, verschwand Bert ins Haus und kam kurz darauf mit einer gewichtigen Miene wieder heraus. Da er sich nicht auf seinen Platz setzte, sondern stehen blieb, dauerte es nicht lange, bis die Gespräche verstummten und die Anwesenden ihn erwartungsvoll anblickten.

»Liebe Gerda, liebe Nachbarn, liebes Team, zunächst, auch im Namen von Nina, ein herzliches Dankeschön für den Will­kommens­gruß. Bisher kannten wir es nur so, dass die Neuen ihre Nachbarn und Freunde zu einer Einweihungsfete einladen. Es ist eine Besonderheit dieser Region, dass dem Neuankömmling von seinen Nachbarn sogar ein Willkommenskranz über die Tür gehängt wird und dass die Gäste dann auch noch Schnaps und Bier selbst mitbringen. Ich habe zwar keine Ursachenforschung betrieben, könnte mir aber vorstellen, dass der Kampf gegen die Naturgewalten, wenn der Blanke Hans auf die Küste trifft, über Jahrhunderte ein besonderes Nachbarschaftsverhältnis geprägt hat. Denn ohne den nachbarschaftlichen Zusammenhalt ist man nichts gegen solche Naturkräfte.«

»Da könnte was dran sein«, unterbrach ihn Polizei­hauptmeisterin Silke Jansen. »Daher kommt auch der plattdeutsche Spruch: »De nich’ will dieken, mutt wieken, was so viel heißt wie: Wer nicht deichen will, muss weichen. Deswegen sind wir auch Zugezogenen sehr offen gegenüber und der Willkommenskranz symbolisiert das.«

»Danke, Silke! Du als gebürtige Ostfriesin kennst dich damit natürlich bestens aus. Aber auch die Moore, von denen es ja hier reichlich gibt, entwässert keiner alleine. Jedenfalls, euch allen dafür nochmals ganz herzlichen Dank! Lasst uns auf die ostfriesische Nachbarschaft trinken.«

Als alle getrunken hatten und sich gerade wieder der Fortsetzung ihrer Gespräche widmen wollten, räusperte sich Bert und zog damit erneut die Aufmerksamkeit auf sich, zumal er sich noch nicht wieder gesetzt hatte.

»Ich möchte noch etwas hinzufügen. Nina und ich haben zum ersten Mal beide das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Ein Häuschen mit einem so schön gestalteten kleinen Garten, der von Gerda und ihrem Gärtner so liebevoll angelegt und gepflegt wurde, hatten wir noch nie. Wie einige von euch wissen, haben sowohl Nina als auch ich bereits eine Ehe dem Dienstgott geopfert, wie ich das immer zu nennen pflege. Die besonderen Anforderungen des Polizeidienstes verlangen nun mal, auch gerade von der Partnerin beziehungsweise dem Partner, eine Menge Verständnis und Toleranz ab. Da fällt schon mal ein geplanter Konzertbesuch oder Wochenendausflug ins Wasser, weil wieder ein Mörder oder Vergewaltiger zugeschlagen hat oder ein Kind vermisst wird. Das macht auf Dauer nicht jeder Ehepartner mit.«

Zustimmendes Gemurmel von Berts Team bestätigte ihn.

»Es ist eine unübersehbare Tatsache, dass zwischen Nina und mir weit mehr als eine dienstliche Partnerschaft entstanden ist. Daher glaube ich, es ist an der Zeit und genau der richtige Anlass, liebe Nina, dass ich dich frage: Willst du meine Frau werden?«

Bei diesen Worten hatte Bert ein kleines Schächtelchen aus der Hosentasche gezogen und geöffnet. Damit ging er zu Nina, die sich erhoben hatte.

»Ja, Bert, ich will! Und wie ich will!« Mit diesen Worten fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn zärtlich. Solche Gefühls­ausbrüche waren eigentlich bei ihr nicht an der Tagesordnung, sodass Bert beinahe der Ring, den er schon herausgenommen hatte, aus der Hand gefallen wäre. Dann steckte er ihn an den Ringfinger ihrer linken Hand.

»Dass du dir das gemerkt hast! Eigentlich habe ich es ja nicht so mit den Klunkern, aber dieser blaue Topas hat es mir angetan, seit ich ihn im Schaufenster in der Fußgängerzone in Wittmund gesehen habe.« Nina hielt stolz ihre Hand mit dem Weißgoldring und dem schön gefassten quadratischen Edelstein hoch, was von den Anwesenden mit freudigem Beifall bedacht wurde.

»Dann sollten wir auf die frisch Verlobten das Glas erheben«, ergriff Kriminalhauptkommissar Sören Nansen, Leiter der Spurensicherung und persönlicher Freund von Bert, das Wort. »Wir wünschen euch von Herzen eine glückliche gemeinsame Zukunft, und darauf lasst uns trinken. Auf euch!«

Nachdem sie getrunken hatten, gab Sören noch ein kleines Geheimnis preis: »Schön, Nina, dass der Ring jetzt endlich da ist, wo er hingehört, nämlich an deinem Finger. Es freut mich persönlich ganz besonders, ihn jetzt da zu sehen. Beinahe wäre der Ring nämlich bei uns in der Asservatenkammer gelandet. Ich glaube, Bert hat sicher nichts dagegen, wenn ich die Geschichte zum Besten gebe.«

»Mach nur, es ist ja gut ausgegangen. Wie du schon richtig bemerkt hast, ist der Ring jetzt endlich am richtigen Platz.«

»Also, die Geschichte von diesem Ring ist schon fast ein kleiner Krimi für sich. Bert hatte sich bei dem Fall des entführten Finanzbeamten an einem Samstagvormittag bei Nina abgemeldet, da er im Büro nach wichtiger Post schauen wollte. Das hat er auch gemacht, ist danach aber zu Fuß in die Fußgängerzone und hat den Ring gekauft. Damit Nina ihn nicht findet, steckte er ihn in ein leeres Holster in seinem Handschuhfach. Auf dem Nachhauseweg sah er auf der Issumer Straße einen zur Fahndung ausgeschriebenen Van, dem er dann bis in den Knyphauser Wald folgte. Wie wir alle wissen, endete das für Bert mit seiner eigenen Entführung.«

»Hätte auch tödlich ausgehen können«, warf Polizei­hauptmeister Bernd Guben ein. »Und wieder einmal nur, weil wir in Deutschland immer noch ein Land der Funklöcher sind.«

»Wohl leider wahr, Bernd. Unglaublich, und das in unserem sonst hoch technisierten Land. Wenn Bert nicht im Funkloch gewesen wäre, hätte er rechtzeitig Verstärkung angefordert. So fanden wir nur noch seinen leeren Privatwagen und im Handschuhfach das Holster mit einem kleinen Schächtelchen vor. Einer meiner Mitarbeiter wollte es schon zu den Asservaten geben, da ahnte ich, um was es sich da nur handeln konnte, und habe beides, nicht ganz vorschriftsgemäß, bei mir persönlich unter Verschluss genommen, bis Bert wieder unter den Lebenden war. Schön, dass ihr beiden zusammengefunden habt. Deshalb hebe ich noch mal das Glas auf Nina und Bert.«

Es wurde ein feuchtfröhlicher Nachmittag und für einige Hartgesottene unter den Gästen auch noch Abend. Wenn die herbstlichen Temperaturen nicht gewesen wären, hätte mancher sicher auch noch bis in die Nacht durchgehalten.

Nina und Bert hatten ebenfalls kräftig zugelangt und waren froh, nicht nur den Sonntag frei zu haben. Sie konnten bis Mittwoch Überstunden abfeiern. Und wie nach jedem Umzug gab es im Haus noch genügend zu tun. Erst dann würde sie der dienstliche Alltag wiederhaben.

Es lagen turbulente Zeiten hinter ihnen. Im vergangenen Jahr musste Nina um ihr Leben kämpfen. Dabei verlor sie ihr ungeborenes gemeinsames Kind. Bert war erst im Sommer in eine lebensbedrohliche Situation geraten, wodurch es auf der Kippe gestanden hatte, ob sie überhaupt gemeinsam in das Häuschen in Cliensiel, wie Carolinensiel von Einheimischen und Ferienstammgästen gern genannt wurde, ziehen würden.

Mittlerweile war nicht nur privat, sondern auch dienstlich Ruhe eingekehrt. Alles ging seinen beschaulichen Gang. In den Küstenkurorten schienen die Uhren wieder etwas langsamer zu gehen. Verschwunden war die saisontypische touristische Betriebsamkeit. Man hatte wieder Zeit für ein Schwätzchen über den Gartenzaun oder an der Kasse im Supermarkt. Und im Kommissariat wurden, wo immer es sich einrichten ließ, Überstunden, die es bei allen reichlich gab, abgefeiert.

 

***

 

Zum ersten Dienstantritt nach dem Umzugsurlaub, am Mittwoch, hatte Bert sein engstes Team zu einem gemeinsamen Frühstück in den Meetingraum eingeladen. Dazu gehörten neben den beiden Kommissaren die Polizeihauptmeister Silke Jansen, Rita Schneider und Bernd Guben. Rita hatte eigentlich mit dem Gedanken gespielt, sich im Bewährungsaufstieg für die Laufbahn des gehobenen Dienstes als Kriminalkommissarin zu bewerben. Aber unverhofft kommt oft. Amor hatte bei ihr zugeschlagen, was dazu führte, dass sie erst einmal alle Karrierepläne auf Eis legte. Außerdem war Berts Freund Sören Nansen mit zu dem Frühstück eingeladen.

Silke und Rita kümmerten sich um das Aufdecken und Kaffee, unterstützt von ihrem Kollegen Bernd. Nina hatte frische Brötchen und leckeren Wurst- und Käseaufschnitt mitgebracht. Und natürlich durften Nordseegranat und Matjes nicht fehlen.

Eigentlich wollte Bert die Zeit der Frühstücksvorbereitung nutzen, um in seinem dienstlichen PC nach den Posteingängen zu schauen. Allerdings kam gerade in diesem Moment Sören in sein Dienstzimmer.

»Willkommen zurück! War am Samstag ’ne schöne Einweihungs- und Verlobungsfeier bei euch im Garten«, begrüßte er Bert, bevor sich dieser weiter mit seinem Computer beschäftigen konnte. »Ich kann dich beruhigen, mein Lieber: keine Morde, keine Gewaltverbrechen. Wir hatten extra für euch einen Aufruf über die Medien geschaltet, dass ihr im Umzugsurlaub seid und alle Verbrecher die Zeit am besten für eigenen Urlaub nutzen sollten. Also, lass uns gleich rübergehen und mit dem gemütlichen Teil beginnen. Schließlich sind wir doch Beamte und müssen auch mal unserem Ruf gerecht werden. Du kennst das doch, als sich zwei Beamte auf dem Behördenflur treffen und der eine den anderen fragt, ob er auch nicht schlafen kann«, fügte er dann noch grinsend mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Für was brauchen wir denn den Beamer?«, wollte Bert wissen, als die beiden Kommissare in den Meetingraum kamen. »Ich dachte, ihr hättet die Verbrecher alle in Urlaub geschickt.«

»Haben wir«, griff Bernd Guben diesen Gedanken auf. »Lass dich mal überraschen. Wenn ihr uns schon so ein opulentes Frühstück auftischt, dann haben wir auch eine Kleinigkeit für euch in petto.«

Nachdem alle den Gaumenfreuden, Tee und Kaffee reichlich zugesprochen hatten, aktivierte Bernd das Notebook und den Beamer. Es folgte ein Video, welches wohl von einer Drohne aus aufgenommen worden war und einen rot glühenden Sonnen­untergang über dem Wattenmeer zeigte. Es war Ebbe und die Priele glänzten in der Abendsonne. Die Inseln Langeoog und Spiekeroog waren aus dieser Perspektive glasklar zu erkennen. Ebenso der geschlängelte Verlauf der Priele bis zum Seegatt zwischen beiden Inseln.

»Das ist doch der Strand von Carolinensiel-Harlesiel«, stellte Nina fest, die erkannte, dass der Technikfreak im Team, Bernd, da mit seinem Quadrocopter im Einsatz war. »Ist das nicht die Einflugschneise vom Inselflieger Harlesiel? Ist denn da überhaupt der Einsatz einer Drohne erlaubt?«

»Genau weiß ich das an der Stelle dort gar nicht, um ehrlich zu sein. Aber es war so ein toller Sonnenuntergang. Außerdem glaube ich nicht, dass ich mit etwa fünfzig Meter Höhe dem Flieger hätte gefährlich werden können. Zudem wäre ein anfliegendes Flugzeug ja nicht zu überhören gewesen«, rechtfertigte sich Bernd. »Und darüber hinaus, wer hätte mich denn vor Ort daran hindern sollen? Einen Polizisten, der mit einem Streifenwagen bis vor den Hundestrand fährt, wird doch keiner fragen, ob der das darf«, fügte er dann noch frech feixend hinzu. Da kam bei ihm wieder einmal der Kohlenpottler durch.

Die folgenden Bilder zeigten das Aufhängen des Willkommens­kranzes und das Grillen auf der Terrasse bei Nina und Bert. Dass sie da aus der Luft gefilmt wurden, hatten die Anwesenden natürlich mitbekommen und freuten sich über den gelungenen Beitrag von Bernd.

»Das Video habe ich euch auf einen Stick gezogen«, sagte er bei der Übergabe an Bert. »Für euch von mir zum Einzug und zu eurer Verlobung.«

»Danke, Bernd. Eine gelungene Überraschung und euch allen noch mal vielen Dank, dass ihr bei unserer Einweihung dabei gewesen seid. Aber jetzt wartet der Dienst auf uns«, beendete Bert das Frühstück nach einem Blick auf sein Handy.

Bert ging mit Nina in sein Dienstzimmer, um mit ihr gemeinsam die Posteingänge zu sichten. Wobei sie sich die Arbeit teilten, Nina nahm sich die Briefeingänge vor, während Bert die E-Mails durchging.

»Oh, verdammt! Ich hab’s befürchtet. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Von wegen alle Verbrecher in Urlaub geschickt. Eine verschlüsselte Nachricht vom Landes­kriminal­amt! Das bedeutet nichts Gutes. Jetzt weiß ich, wofür die SMS von vorhin auf meinem Handy war. Deshalb habe ich auch so schnell unser Frühstück beendet«, sagte Bert, kurz nachdem er seinen E-Mail-Account geöffnet hatte. »Eine weitergeleitete Nachricht vom LKA Nordrhein-Westfalen. Was wollen denn die von uns? Da wird doch nicht schon wieder das organisierte Verbrechen ein Auge auf unsere beschauliche Region geworfen haben?«

Nina war aufgestanden und schaute ihm jetzt neugierig über die Schulter, während Bert den Anhang mit dem Passwort aus seinem Handy öffnete. Dann überflogen beide die Nachricht auf dem Bildschirm.

»Ausgerechnet dieser hochkriminelle Sadist. Den Fall werde ich mein Lebtag nicht vergessen.« Bert war stinksauer. »Da war ich mit Heike, die damals als Kommissarin noch am Anfang ihrer Karriere stand, vor über zwanzig Jahren in Essen im Einsatz und sie fand die bestialisch zugerichtete Leiche einer jungen Frau. Ich glaube, den Anblick hat sie auch bis heute nicht vergessen. Lebenslang hat dieser Brutalo gekriegt, sogar mit anschließender Sicherungsverwahrung. Aber was nützt das?! So wie es aussieht, hat der es geschafft, freizukommen. Und den Hinweis, dass er während der Haft immer wieder Rachegelüste geäußert hat, sollte man auch nicht unterschätzen. Wir müssen unbedingt sofort Personenschutz für Heike organisieren«, zeigte sich Bert besorgt.

»Und was ist mit dir?«, gab Nina jetzt ihrer Besorgnis Ausdruck. »Das betrifft dich doch genauso, wie die schreiben. Und die Psychologin in Rheinbach hat er ja wohl schon auf seinem Gewissen.«

»Ich brauche keine fremden Aufpasser. Ich habe ja mit dir den besten Aufpasser der Welt an meiner Seite. Aber du hast recht, so einen Typen darf man wirklich nicht unterschätzen. Wir sind damals davon ausgegangen, dass der kaltblütig auch den Freund der geschändeten Frau und dessen Kollegen erschossen hat. Die waren als Sicherheitskuriere für eine Werttransportfirma tätig. Die Vergewaltigung und der Mord seines Opfers konnten ihm durch DNA-Vergleich nachgewiesen werden. Für den Nachweis, dass er auch für die Tötung der beiden Männer verantwortlich war, fehlten uns leider die Beweise. Wir beide sollten jedenfalls, bis der wieder hinter Schloss und Riegel ist, nur noch mit Schutzwesten rausgehen. Denn immer, wenn wir beide zusammen unterwegs sind, bist du natürlich genauso gefährdet. Ich werde dir nachher mal genauer von dem Fall erzählen, aber jetzt müssen wir uns erst einmal um Heikes Sicherheit kümmern.«

»Ich schicke sofort einen Streifenwagen hin. Du kannst sie inzwischen schon mal telefonisch vorwarnen, bevor wir uns selbst gleich auf den Weg zu ihr machen«, ergriff Nina die Initiative. Das schätzte Bert so an seiner Partnerin. Mit ihrem messer­scharfen analytischen Verstand hatte sie blitzschnell eine Situation erfasst und sofort in Entscheidungen und Handlungen umgesetzt.

Ein Streifenwagen war inzwischen von Esens aus mit Blaulicht zu der Kriminalhauptkommissarin a. D. Heike Grabowski nach Neuharlingersiel unterwegs. Nina hatte die Schutzwesten für Bert und sich besorgt. Als sie zu ihm zurückkam, beendete er gerade das Telefonat mit Heikes Vermieterin.

»Heike meldet sich nicht. Ich habe bei Engeline nachgefragt. Sie hat zuletzt mit ihr am Sonntag telefoniert. Da ging es Heike gar nicht gut. Sie hatte wieder eine ihrer Depressionen und Engeline ist sehr besorgt. Sie ist sofort mit einem Ersatzschlüssel nach Neuharlingersiel losgefahren, obwohl ich sie gebeten hatte, es nicht zu tun«, informierte Bert seine Kollegin.

»Bis sie bei Heike ankommt, wird unsere Streifenwagen­besatzung schon vor Ort sein. Sonst wäre das sicher für sie nicht ungefährlich. Aber es ist ja schon merkwürdig, dass du unsere Kollegin im Ruhestand nicht erreichen konntest.«

»Das macht mich auch sehr besorgt. Ich konnte sie weder über das Festnetz noch auf ihrem Handy erreichen. Aber vielleicht ist sie auch gerade beim Einkaufen und hat ihr Handy nicht dabei.«