Die heutige demokratische Kultur in Deutschland und Europa ist zweifelsfrei in sich gefestigt und durch die Einbindung in internationale Wechselbeziehungen höchst stabil. Doch auch heute scheint es mir überaus wichtig zu sein, gegen alle radikalen und fundamentalistischen Ideologien frühzeitig einzustehen und unnachgiebig gegen solche Bestrebungen vorzugehen. Im Sinne der internationalen Verflechtung unserer Welt muss dies nicht nur für Deutschland und Europa gelten, sondern auch für die vielen Konflikte auf den anderen Kontinenten. Auch 75 Jahre nach dem Ende des »Dritten Reichs« kann der zwölf Jahre dauernde Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft von Deutschen – und genauso wenig von ihren internationalen Partnern – einfach zu den historischen Akten gelegt werden. Nicht nur in Deutschland zählen Hitler und die Nazi-Zeit bis heute zu den am meisten behandelten Themen in Dokumentationen, historischen Fernsehreihen, aber auch in zumeist überlangen Spielfilmen und dicken Romanen: Nicht nur die entscheidenden historischen Persönlichkeiten wie Churchill, Stalin, militärische Führer wie Rommel und Montgomery oder Widerstandskämpfer wie die Geschwister Scholl, die Helden der französischen Resistance britischen Dechiffrierexperten von Bletchley Park üben eine bleibende Faszination aus; in den letzten Jahren rückten auch zunehmend Alltagsschicksale in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Das Interesse an historischer oder zeitgeschichtlicher Sachliteratur scheint ungebrochen. In den Dekaden nach dem Krieg waren es die großen fach-historischen Gesamtdarstellungen und Monografien, die besonders gefragt waren, seit den achtziger Jahren verlagerte sich das Interesse des Lesepublikums mehr zu allgemein verständlichen und essayistischen Formen. In diesem Kontext ist auch der vorliegende Essay-Band zum Thema zu verstehen.
Ich möchte in dieser Essaysammlung insbesondere das komplexe Bündel von Voraussetzungen beleuchten, das in letzter Konsequenz die »Machtergreifung« Hitlers, dessen nationalen und internationalen Aufstieg sowie die Entfesselung »seines« Krieges ermöglichte. Den historischen Bezugsrahmen habe ich dazu bewusst weit gespannt: Er umfasst die gut hundert Jahre von der Vormärzzeit bis zum Beginn des gewollten Krieges 1939/40. Auch wenn ein schmales Bändchen die historischen Phänomene weder systematisch noch vollständig darstellen kann, so sollen aber die wesentlichen Voraussetzungen für die Hitler-Herrschaft und dessen Weg in den Zweiten Weltkrieg unter acht Leitthemen, die sich jeweils in mehrere Einzelessays aufgliedern, schlaglichtartig beleuchtet werden. Da dieser Band als eine Sammlung von einzelnen und durchaus selbstständigen Essays zu verstehen ist, waren hin und wieder Rückbezüge und Wiederholungen auf an anderer Stelle behandelte Inhalte unvermeidlich. Ich hoffe, dass der Gesamttext – trotzdem – lesbar bleibt.
Wenn u.a. auf die Fehler der Bismarck´schen Reichsgründung, die Geburtsfehler der Weimarer Republik oder die politischen Kampagnen der Weimarer Zeit eingegangen wird, dann wird natürlich kein ein direkter Wirkungszusammenhang behauptet. Heiner Geißler hat 1983 mit seinem missverstandenen Satz, der Pazifismus der 30er Jahre habe Auschwitz erst möglich gemacht, wütende Empörung hervorgerufen. Wenn ich in der Darstellung der unmittelbaren Vorgeschichte von Hitlers Herrschaft auf das Konzept der »Einrahmung« durch konservative Kräfte oder auf die britisch-französische Strategie des Appeasements eingehe, dann ist dies keinesfalls im Sinne einer unmittelbaren Schuldzuweisung für die späteren Verbrechen Hitlers und seiner Helfershelfer zu verstehen. Fest steht aber, dass viele Politiker Hitlers verbrecherische Entschlossenheit unterschätzten und sehr leichtfertig versucht haben, ihn in ihrem Sinne zu instrumentalisieren.
Ich widme dieses Buch meinem alten treuen Freund Jürgen Miehl; unsere angeregten Diskussionen gaben mir viele Anregungen für die Arbeit.
Castrop-Rauxel, 11. November 2019
Deutschland sei die im europäischen Mächtespiel zu spät (und darum auch zu kurz) gekommene Großmacht; ihr verspätetes Auftreten sei das prägende Strukturproblem des Bismarck´schen deutschen Nationalstaats. Tatsächlich wird dieser Glaubenssatz von konservativen Historikern und Hobby-Historiografen immer wieder angeführt, um die politischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und die Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts zu erklären. Doch sind, wie bereits Spötter J. B. Shaw notiert hatte, einfache Wahrheiten selten einfach und niemals wahr. Und in der Tat muss der damals – vor allem in Bezug auf die Kolonien – schmerzlich beklagte Nachteil heute ganz anders bewertet werden.
Abb. 1 Jacques Louis David: Napoleon am Großen St. Bernhard
Napoleon zog nicht nur Europas Grenzen neu und setzte etliche Könige und
Fürsten neu ein. Er gab dem Kontinent
auch eine fortschrittliche Sozial- und
Rechtsordnung.
Nachdem die atlantische Revolution zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Robert Palmer) die scheinbar stabilen Verhältnisse des absolutistischen »Ancien Régime« aufgelöst hatte, folgte 1815 auf dem Wiener Kongress der klägliche Versuch, die Räder der Geschichte zurückzudrehen. Fürst Metternich mochte die vordergründig siegreichen alten Mächte Österreich, Preußen, Russland und das bourbonische Frankreich auf die »Restauration« einschwören – doch der Macht des Faktischen konnte er wenig entgegensetzen: Napoleon hatte die Grenzen auf der europäischen Landkarte neu gezogen und viele Profiteure – darunter vor allem jene ehemalige Günstlinge, die sich gerade noch rechtzeitig von Napoleon abgesetzt hatten – wollten und sollten ihre napoleonische Beute behalten. So wurden die von Napoleon geschaffenen süddeutschen Königswürden in Bayern, Württemberg und Sachsen sowie zahlreiche »Aufwertungen« bestätigt. Und auch die Justiz- und Verwaltungsreformen, die Napoleon mit dem Code Napoleon durchgesetzt hatte, waren nicht rückgängig zu machen. In Staaten wie Preußen behielten einige Provinzen das moderne napoleonische Verwaltungsrecht, während in den Altprovinzen ein rückwärtsgewandtes Recht galt. Bis heute sind die Folgen im föderalen System der BRD ablesbar.
Historische Widersprüche: Politik und Wirtschaft
In den ersten 70 Jahren des 19. Jahrhunderts zeigte sich Mitteleuropa politisch extrem zersplittert. Tatsächlich war das Staats-Konstrukt, das unter der Ägide des österreichischen Staatsmannes Klemens Wenzel von Metternich (1773 – 1859) für Mitteleuropa entworfen und realisiert worden war, ein höchst widerspruchsvolles Gebilde. Das wiedererrichtete »alte Europa« basierte auf der Balance zwischen den vier bis fünf Großmächten Frankreich, Großbritannien, Russland Österreich-Ungarn und Preußen. An den Rändern des Kontinents gab es im Südwesten die ehemaligen kolonialen Weltmächte Spanien und Portugal, die gerade den Großteil ihrer überseeischen Besitztümer verloren hatten. Frankreich hatte mehr als ein Auge auf die iberische Halbinsel geworfen, zumal die wiedereingesetzten französischen Bourbonen Erbrechte auf den spanischen Thron witterten. Auf dem italienischen Stiefel im Süden waren die Machtverhältnisse zwischen Bourbonen, Habsburgern und dem dazwischenliegenden Kirchenstaat 50 Jahre lang einigermaßen austariert. Die Südostregion, der Balkan, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer beinahe herrenlosen Region geworden, nachdem das zuvor dominierende osmanische Türkenreich langsam zerfiel. Hier gab es viel zu gewinnen für die Großmachtwünsche der Wiener und der Petersburger Regierungen – aber auch viel zu verlieren, wie sich ein Jahrhundert später herausstellen sollte. Mitten drin im Mächtespiel lag das dichtbevölkerte Mitteleuropa. Zur Balancierung der Machtverhältnisse hatten die Herren des Wiener Kongresses eine Fülle von Klein- und Mittelstaaten etabliert: 39 unabhängige Staaten bilden den neu gegründeten deutschen Bund, in dem rund 30 Millionen Menschen lebten – etwa genau so viel wie in Frankreich und in Großbritannien. So erschien die Lösung des Wiener Kongresses, mittels der vierzig deutschen Staaten im Mitteleuropa einen Puffer zwischen den Großmächten zu schaffen, beinahe als »Kolumbus-Ei« - jedenfalls solange, wie sich das Volk nicht gegen den Metternich´ schen Status Quo auflehnte.
Was auf den ersten Blick als geniale Lösung im Sinne des Ancien régimes erschiein, erwies sich bei genauerem Hinsehen als fragiles Konstrukt. Denn natürlich war es politisch borniert, Deutschland nach den rückwärtsgewandten Prinzipien der Restauration weiterhin zu zersplittern: Das 19. Jahrhundert brachte ökonomisch ganz andere Zeiten. Napoleon hatte gegen Großbritannien eine Kontinentalsperre verhängt. Die Produkte der britischen Industrie erreichten Europa nicht mehr; unter diesem besonderen Protektionismus konnte sich die Klein- und Mittelindustrie in Mitteleuropa entfalten. Zahlreiche neue Verfahren industrieller Produktion wurden unter dem Schutz der Sperre eingeführt und durchgesetzt. Es ist diese Kernindustrie, die nach 1815 auf die mitteleuropäischen Märkte drängte. Aber die engen Zollgrenzen wirkten kontraproduktiv: So schlossen sich sehr schnell die mitteleuropäischen Staaten zu Zollunionen zusammen. Schon 1828 einigten sich Preußen und Hessen auf einen Zollverein, 1833 schlossen sich die meisten deutschen Bundesstaaten (außer Österreich) zum „Deutschen Zollverein“ zusammen. Nicht zu Unrecht trug die ertragreichste Ruhrgebietszeche im Norden Essens diesen Namen. Mit dem Zollverein wurde die norddeutsche Wirtschaftsunion erreicht – fast 40 Jahre vor der Reichsgründung. Der hellsichtige Spötter Heinrich Heine hat in seinem »Wintermärchen« (1844) den Widerspruch zwischen vehementer wirtschaftlicher Entwicklung und zurückgebliebenen politischen Verhältnissen mit frappierender Klarheit gegeißelt:
»Er (der Zollverein) gibt die äußere Einheit uns,
Die sogenannt materielle;
Die geistige Einheit gibt uns die Zensur,
Die wahrhaft ideelle -
Sie gibt die innere Einheit uns,
Die Einheit im Denken und Sinnen … «
Die Bedingungen des Zollvereins schufen tatsächlich bereits um 1840 einen starken mitteleuropäischen Binnenmarkt, lange bevor die politische Einheit in der Gründung des Deutschen Reiches 1871 besiegelt wurde.
Einheits- und Wirtschaftsvehikel: Eisenbahn
Kurz nach der Schaffung des deutschen Zollvereins wurde die erste deutsche Eisenbahnlinie zwischen den Nachbarstädten Nürnberg und Fürth hergestellt (1835). Danach explodierten die Bahnverbindungen. 1850 verfügte Deutschland schon über rd. 7000 Eisenbahnkilometer, zehn Jahre später waren es 12.000 km, 1870 waren es gut 20.000 km und 1885 38.000 (zum Vergleich: Das heutige Schienennetz der DB umfasst rd. 33.000 km). Viele große Industrie-Imperien verdanken ihren märchenhaften Aufstieg vor allem dem Eisenbahnbau. Die Eisenbahn förderte nicht nur die Eisen- und Stahlindustrie. Gleichzeitig wurde wegen ihres Kohlenhungers der Bergbau gigantisch intensiviert. Und mit dem Maschinenbau entstand jene Sparte der deutschen Industrie, die bis heute Weltgeltung beansprucht.
Abb. 2 Deutsches Streckennetz 1849
Abb. 3 Deutsches Eisenbahnnetz 1899
Bis heute hat sich das Klischee vom Waffenschmied Krupp gehalten: Doch Krupp war vor allem ein Eisenbahnunternehmer. Das kann man auch ablesen an den drei ineinandergeschlungenen Ringen, die seit dem 19. Jahrhundert das Krupp-Emblem bilden. Denn hier sind nicht Kanonenöffnungen dargestellt, sondern die Ringe bezeugen vielmehr die geniale Eingebung des Alfred Krupp, der 1852 den nahtlosen Eisenbahn-Radreifen erfand und damit sein Vermögen begründete. Daneben produzierte Krupp Essgeschirr und Bestecke aus Edelstahl. Die Kriegsproduktion nahm bis 1870 nur einen kleinen Teil im Portfolio ein. Auch der Konkurrent in Bochum, der Bochumer Verein, ist nicht als Waffenproduzent groß geworden. Neben Schienen produzierte man hier Kirchenglocken im Gussstahl-Verfahren: Schließlich brauchte man für die expandierende Industrie Arbeitskräfte. Und in den entsprechend expandierenden Städten brauchte man auch Kirchen, und das Kirchengeläut für die Tausende von neu errichteten Kirchen wurde in Bochum gegossen.
So hatten deutsche Industrielle unter dem Schutz des Zollvereins lukrative wirtschaftliche Perspektiven gefunden, auch ohne die staatlichen Aufträge der Waffenherstellung. Lange bevor Mitteleuropa unter preußischer Führung politisch zum deutschen Reich geeint worden war, war zwischen Rhein und Weichsel längst eine hungrige Wirtschaft entstanden, eine Macht, die sich selber die notwendigen Impulse gab und enorme Zuwachsraten verbuchen konnte. Spätestens 1860 war Zollverein-Deutschland zur bestimmenden kontinentaleuropäischen Wirtschaftsmacht geworden.
Reichsgründung 1871 - der Mythos der »verspäteten« Nation entsteht
Der preußische Kanzler Bismarck hatte bereits zu Beginn seiner Amtszeit vorausgesehen, dass für Deutschland die nationale Einheit nur auf kriegerischem Wege erreichbar war – zumindest unter der Voraussetzung, dass Preußen im künftigen Nationalstaat das Sagen haben würde. Bismarck inszenierte drei Kriege, um die Einheit zu erreichen und gleichzeitig Österreich aus dem neuen Staatsgebilde auszuschließen. Gleichzeitig wirkten die drei »Einigungs-Kriege« von 1864 – 1866 – 1870 als Katalysatoren des deutschen Nationalismus: Der deutsche Michel, der sich 1848 eine blutige Nase geholt hatte beim Versuch, die politischen Geschicke in die eigene Hand zu nehmen, zeigte sich begeistert über die endlich erreichte Einheit »von oben«. Überall, selbst im Süden Deutschlands, entstanden »Bismarcktürme«, mit denen der Schöpfer der ersehnten Einheit gefeiert wurde. Und bald wurden landauf, landab Forderungen laut, das endlich geeinte Deutschland müsse nun auch im Konzert der Weltmächte eine gebührende Rolle spielen. Bismarck selber war wenig glücklich über solche Forderungen. Bei der Reichsgründung hatte Bismarck unmissverständlich erklärt, das Reich sei mit dem Erreichten zufrieden, »saturiert«: Die unmittelbaren Nachbarn, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland, hätten also keinerlei Gebietsforderungen zu befürchten. Allerdings war Frankreich wegen der Annexion der drei elsässisch-lothringischen Departements bereits zum dauerhaften Feind geworden. Sicher, der Kaiser und die meisten seiner Berater hatten noch wesentlich größere Eroberungspläne im Sinn gehabt, nachdem die Truppen Napoleons III. von der preußische-deutschen Militärmaschine so schnell besiegt worden waren. Doch die Franzosen sahen in Abtretung der drei elsässischen Departements einen puren Raubakt. Insbesondere die Eingliederung des lothringischen Departements Moselle mit dem Hauptort Metz sorgte für böses Blut und nationale Empörung. Der einflussreiche Politiker Léon Gambetta (1838-1882) prägte das Wort: »Niemals davon sprechen immer daran denken«! eine Formel, die in der dritten Republik zum geflügelten Wort für die Revanche gegen Deutschland wurde. Und erst jetzt stieg die im lothringischen St. Rémy geborene Jeanne d´ Arc zur französischen Nationalheiligen auf: ohne davon zu sprechen, verstand man den Impetus gegen das Unrecht, das die modernen Feinde Frankreichs begangen hatten, mit.
Letztlich war die Bismarck´sche Formel vom saturierten Reich also nichts anderes als purer Realismus. In der Mitte des Kontinents gelegen und mit dem feindlich gesinnten Nachbarn Frankreich im Westen war die Besänftigung der beiden Nachbarmächte Österreich-Ungarn und Russland pure Überlebensstrategie. Der entscheidende Grundzug von Bismarcks Außenpolitik lag darum in der bleibenden Isolierung Frankreichs und der Anbindung des Reichs an die beiden Großmächte im Süden und Osten. So bekräftigte Bismarck seit den 1870er Jahren mehrfach seine Saturiertheits-Formel. Ihm schwebe nicht das Bild »irgendeines Landerwerbs (vor), sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unserer bedürfen …«, notierte er 1877. Landjunker Bismarck sah in den riesigen Landgütern östlich der Elbe ohnehin gewaltige interne Entwicklungsmöglichkeiten; hier galt es ohnehin (vor allem in der Provinz Posen) eine polnische Minorität zu integrieren. Es war eine deutliche Absage zu verstehen an alle »Heimins-Reich«-Bestrebungen der baltischen und der österreichischen Deutschen, beinhaltete aber auch einen expliziten Verzicht auf Kolonialpolitik.
Status quo des Imperialismus
Tatsächlich hatten mit der Gründung des italienischen Königreiches und der beinahe gleichzeitigen deutschen Reichsgründung zwei wichtige europäische Nationen zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts ihre Nationalstaaten geschaffen. Sicherlich, im Konzert der Nationalstaaten erschienen die beiden Staaten später als die etablierten Mächte Frankreich und England. Die ehemalige Weltmacht Spanien war schon seit Jahrhunderten (allerdings unter unguten Vorzeichen) geeint worden, befand sich aber auf einem absteigenden Ast, denn die großen Beuteschätze aus Südamerika waren kaum zur Modernisierung des Landes verwendete worden. Andererseits standen slawischen Nationen im Osten noch unter den bedrückenden Herrschaftsbedingungen des russischen bzw. des österreich-ungarischen Kaisertums und sollten erst nach dem Ersten Weltkrieg ihre Nationalstaaten bilden. Bereits vor der verordneten Reichseinheit zeigten sich die Auswirkungen der industriellen Revolution in vollem Umfang. Ihr Motor war in Deutschland vor allem der Eisenbahnbau und, in kleinerem Umfang, die Waffenproduktion. Die gestiegenen Exportchancen deutscher Waren auf Grund verbesserter Handels- und Verkehrsmöglichkeiten taten ein Übriges. Erst die massive Aufrüstung der Marine verschob die Anteile in Richtung der Waffenschmieden. Insofern muss der Spruch von der zu spät gekommenen Nation doch etwas relativiert werden.
Mit der Reichsgründung von 1871 hatten alle Deutschen, die im geschlossenen deutsche Siedlungsraum in Mitteleuropa lebten, im deutschen Kaiserreich oder in der Habsburger Doppelmonarchie ihre Heimstatt gefunden; selbst ein großer Teil der verstreuten deutschen Siedlungsgebiete in Osteuropa lebte in der KuK-Monarchie. Weiter östlich allerdings lebte im Baltikum und in zahlreichen Siedlungsinseln im europäischen Russland noch starke deutsche Minderheiten unter russischer Herrschaft. Auch die Jiddisch (eine Sprachvarietät des Mittelhochdeutschen) sprechenden Juden Osteuropas waren eher auf Deutschland orientiert.
Nationale Minderheiten gab es im Reich nur an den Rändern; in den preußischen Ostprovinzen lebte eine starke polnische Minderheit, die aber auf dem Weg der Integration waren. So blieben noch die holsteinischen Dänen im Norden und die lothringischen Franzosen, die quasi als Kriegsbeute annektiert worden waren.
Der Platz an der Sonne: der irrationale Kolonien-Wunsch
Explizit hat Reichskanzler Bismarck auch den Erwerb von Kolonien in seine Saturiertheitsformel einbezogen. Was sollte ein Land ohne große Kriegs- und Handelsmarine auch mit Niederlassungen in Übersee anfangen?
Und in der Tat muss man heute froh sein, dass Deutschlands koloniale Abenteuer nur ganze dreißig Jahre währten. Schon in diesem kurzen Zeitraum machte Deutschaland eine ausnehmend schlechte Figur: Die grausame Inbesitznahme der »Schutzgebiete«, vor allem aber die brutale Unterdrückung des Herrero-Aufstandes in Südafrika und das herrische Auftreten in China gereichen beileibe nicht zum Ruhmesblatt.
Doch gab es nach 1871 eine starke öffentliche Stimmung, die nach kolonialen Erwerbungen schrie: Und in dieser Hinsicht war Deutschland tatsächlich spät dran. Die lukrativ erscheinenden Regionen am Mittelmeer waren längst vergeben und befanden sich unter der Kontrolle der alten Kolonialmächte England und Frankreich. Die Südamerikaner hatten die napoleonischen Kriege genutzt, um das koloniale Joch Spaniens und Portugals abzuschütteln; Nordamerika war längst verteilt. Aber in Mittel- und Südafrika gab es noch weiße Flecken auf der Landkarte. Die deutschen Imperialisten berauschten sich an der Vorstellung, die Landkarte der Erde mit den Farben des Deutschen Reichs einzufärben.
Tatsächlich ließ sich Bismarck, widerwillig, zur Revision des Saturiertheit-Grundsatzes in der Kolonialpolitik drängen. Noch auf dem Berliner Kongress von 1876/77 konnte Bismarck seine europäische Reputation als »ehrlicher Makler« steigern, indem er maßgeblich an den neuen Grenzziehungen auf dem Balkan und im Kaukasus beteiligt war. 1884 hatten deutsche Kaufleute in Afrika erste »Schutzbriefe« ausgestellt. So musste Bismarck 1884/85 auf der Berliner Kongokonferenz als Mitspieler um die afrikanischen Kolonialgebiete auftreten. Kolonialvereine forderten den Erwerb von Kolonien in Übersee. Bismarck wollte sich diesen populären Forderungen nicht entziehen; er vertrat aber den Ansatz, die »Schutzgebiete« stünden unter der Verantwortung deutscher Kaufleute; das Reich garantiere lediglich deren Schutz. Bei den Berliner Verhandlungen verzichtete Bismarck auf einige der frisch »erworbenen« Gebiete zu Gunsten von Frankreich und England. Dadurch sicherte er aber die Schutzgebiete Togo, Kamerun, Südwestafrika und Ostafrika; mit seiner (aus dem Widerwillen gespeisten) Verzichtspolitik konnte er aber an sein Makler-Renommee anknüpfen. So sicherte er sich internationales Ansehen. Dass Bismarck überhaupt auf die unselige Kolonialpolitik einschwenkte, erklärte der Historiker Hans-Ulrich Wehler damit, dass Bismarck angesichts der ernsthaften Wirtschaftskrise der 1880er Jahre in den Kolonien ein Ventil sah, um entstandenen sozialen Spannungen abzuleiten. Auch kann sein Taktieren auf der Berliner Konferenz als Versuch gewertet werden, durch Kompromisse mit Frankreich bestehende Spannungen abzumildern.
Nach Bismarcks erzwungenem Abschied verkündete 1890 der nass-forsche Kaiser Wilhelm II. sein »persönliches Regiment«, wurde der Ton der Außen- und Kolonialpolitik aggressiver und schärfer. Wilhelm II. verbreitete in seinen nationalen Brandreden gerne das Bild von der zu spät gekommenen Nation, die endlich ihren »Platz an der Sonne« erobern müsse. In dieser Zeit kamen die Kolonien in der Südsee und das chinesische Kiautschao hinzu; die Schutzgebiete wurden der staatlichen Verwaltung unterstellt und eine Kolonialarmee begründet.
Abb. 4: Bismarck auf der Berliner Afrika-Konferenz. Die "Makler“-Rolle ist aus Bismarcks Gesprächshaltung deutlich abzulesen.
Deutsche Kolonien – eine Bilanz
Entgegen dem Wunschbild vom vielfältigen Nutzen der deutschen Kolonien fällt die politische und wirtschaftliche Bilanz vernichtend aus. Auf der außenpolitischen Ebene zerstörte das großmannssüchtige Schwadronieren des unbedarften Wilhelm II. innerhalb weniger Jahre das positive Bild, um das sich Bismarck in seiner Außenpolitik so stark bemüht hatte. Das Flottenbauprogramm des jungen Kaisers verprellte die Briten. Dass er obendrein mit einzelnen unüberlegten Aktionen (»Panthersprung nach Agadir« 1911) den Nachbarn Frankreich provozierte, kam noch hinzu.
Auch in ökonomischer Hinsicht fällt die Bilanz der Kolonien vernichtend aus: Der Anteil der Kolonien am Außenhandel lag im Jahr 1913 bei gerade einmal 6 ‰. Noch etwas niedriger war ihr Anteil am Import. Auf der anderen Seite war der Kostenaufwand für die Verwaltung und vor allem für die Kolonialtruppen exorbitant hoch. In den 30 Jahren nach 1884 beliefen sich die direkten Reichszuschüsse auf 646 Millionen Goldmark. Hinzu kamen weitere Kosten für die Flotte und das Militär. So entpuppte sich das Kolonialabenteuer unter allen Gesichtspunkten ein gigantisches Verlustgeschäft für den Staat. Lediglich die Handelsunternehmen, die unter dem Schutz der deutschen Kolonialverwaltung tätig waren, verbuchten satte Gewinne. 1919 hätte Deutschland also froh sein können, diesen Klotz am Bein zu verlieren. Ähnlich sieht übrigens die Bilanz der meisten anderen Kolonialstaaten aus.
Die »Rückgabe« der Kolonien stand zwar in allen nationalistischen Programmen der 20er und 30er Jahre, doch auch für Hitler war diese Forderung reine Propaganda.
So erweist sich die These von der zu-spät-gekommenen Großmacht letztlich als eine massenpsychologische Autosuggestion mit gravierenden negativen Folgen. Denn der Eindruck des »Zu-spät-gekommen-Seins« resultierende vor allem aus dem Blick auf die Weltkarte und dem Bemühen, die deutsche »Weltgeltung« durch entsprechende Farbtupfer auf dem Globus zu repräsentieren. Doch es war genau dieser ideologisierte Blick des imperialen Großmanns, der letztendlich zur Abkehr von Bismarcks vorsichtiger Bündnispolitik führte und einen verhängnisvollen Paradigmenwechsel in der Außenpolitik des Deutschen Reichs einleitete.
Karte 1 Europa 1789, vor der Französischen Revolution © IEG / A. Kunz 2004 CC BY-NC 4.0 International public domain
Die Karte zeigt, dass sich am Ende des 18. Jahrhunderts in ganz Europa mehr oder weniger große Nationalstaaten etabliert haben. Nur in Italien und in Mitteleuropa ist diese Entwicklung noch nicht vollzogen. Man sieht auch, wie stark Mitteleuropa zersplittert ist. Lediglich Österreich im Süden und Preußen im Osten verfügen über größere zusammenhängende Landesflächen. Aber beide Länder haben erhebliche Teile ihrer Territorien außerhalb von Deutschland.
Die rote Grenzlinie („Heiliges Römisches Reich dt. Nation“) ist eigentlich ein Trugbild, ein Phantom aus mittelalterlicher Zeit. Dieses Gebilde hat sehr wenig mit einem Staatswesen zu tun.
Vielmehr gab es über 300 selbstständige Länder. Neben Fürsten Herzögen, Grafen etc. gab es zahlreiche geistliche Herrscher (Bischöfe, Erzbischöfe Äbte, Prioren und die Fürstäbtissin zu Werden). Ferner gab es gut 50 Freie Reichsstädte, in denen eine Bürger-Elite regierte.
Und nicht vergessen darf man ausländische Herrscher, welche im Laufe der Jahrhunderte Gebiete und Kleinst-Territorien erworben hatten. So wurde z.B. das Fürstenteil Jever eine Zeit lang von der russischen Zarin regiert.
Karte 2: Mitteleuropa nach dem Wiener Kongress (1820) © IEG / A. Kunz 2003 CC BY-NC 4.0 International public domain
Die Zahl der deutschen Territorien ist deutlich gesunken: Statt 350 tummeln sich jetzt „nur noch“ 45 Fürsten, Herzöge und Könige in ihren (z.T.) Kleinst-Staaten. Bischöfe und Äbte dürfen sich nur noch um die Seelen ihrer Schäfchen kümmern.
Insbesondere die von Napoleon neu ernannten Könige von Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover und Preußen haben ordentlich profitiert und nicht nur Titel, sondern auch Ländereien dazu gewonnen.
Immer noch aber gibt es mit Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt „Freie Stadt“-Republiken.
Das alte Phantom des Heiligen Römischen Deutschen Reiches hat seine gespenstische Existenz in die Bezeichnung „Deutscher Bund“ weitergereicht. Auch hier suggeriert die rote Grenzlinie auf der Karte mehr Substanz als vorhanden ist. Es ist ein Fürstenbund ohne staatliche Relevanz.
Man beachte auch, dass Norditalien (Mailand, Venedig Parma) bis 1860 zum österreichisch-habsburgischen Herrschaftsbereich gehörte.
Karte 3: Mitteleuropa und Deutschland 1848 und -1914 - © IEG / A. Kunz 2000 CC BY-NC 4.0 International public domain
Karte 4: Deutschland im Jahr 1914 - © IEG / A. Kunz 2002 CC BY-NC 4.0 International public domain
Innerhalb von 50 Jahren hat es innerhalb von Deutschland gravierende Gebiets- und Herrschafts-Verschiebungen gegeben. Preußen hat mächtig zugelegt und beherrscht fast den gesamten Norden von Deutschland von Flensburg bis Frankfurt und Schlesien. Das Königreich Preußen umfasst 3/5 des Reichsgebiets.
Neu hinzugekommen sind Schleswig im Norden (zu Preußen) und Elsass-Lothringen im Südwesten. Als „Reichsland“ hat die annektierte französische Provinz einen Sonderstatus.
Österreich ist auch nominell nicht mehr Teil Deutschlands. Die italienischen Besitztümer sind im Zuge der nationalen Einigung Italien verloren gegangen. In der Folge werden sich die österreichischen Habburger stärker um den Balkan kümmern, wo das zerfallende osmanische Reich noch Beute verspricht.
Karte 5: Imperialismus: Kolonien 1888-1918 © Wikimedia commons, public domain Auf dem Berliner Kongress wurde unter der Vermittlung von Reichskanzler Bismarck der afrikanische Kontinent unter den Europäern aufgeteilt. Deutschland sicherte sich in Afrika an vier Ecken „seinen Anteil“.
Hinzu kamen die Südsee-Inseln nördlich von Neu-Guinea sowie in China die Region Kiautschou als Pachtgebiet.
„Viel zu wenig“, wie eingeschworene Kolonialisten fanden. Sie schielten auf das riesige „Belgisch-Kongo“ war eine Kolonie, die der belgische König als persönlichen Besitz (!) durchgesetzt hatte. Er vermachte sein Landeigentum später dem belgischen Staat. Es war ein Erbe, das für das kleine und arme Belgien eher ein Mühlstein am Hals war. Durch den Erwerb des Kongo hätte Deutschland auf einmal ein riesiges Mittel-Afrika-Reich befehligt!
1812 waren die Deutschen beflügelt von nationaler Euphorie gegen Napoleon gezogen. Doch die Neuordnung Europas im Wiener Kongress sah keinen Platz vor für einen deutschen Nationalstaat: Die europäischen und deutschen Fürsten verständigten sich auf einen losen deutschen Staatenbund. Der Versuch der deutschen Bürger, Handwerker und Intellektuellen, die nationale Einheit in der 48er-Revolution selbst zu stiften, scheiterte u.a. daran, dass die Revolutionäre versäumten, sich der militärischen Gewalt zu versichern. So blieb es dem Machtmenschen Bismarck vorbehalten, den deutschen Einheitsstaat von oben mit »Eisen und Blut« zu schaffen. Doch sein Kaiserreich hatte gravierende Geburtsfehler.
Nicht von Volkes Gnaden, sondern nur von den Fürstenkollegen wollte der preußische König die Kaiserkrone entgegennehmen. »Kaiser von Deutschland« wollte Wilhelm sein; doch das wollten die Fürstenkollegen nicht zugestehen. »Nur« deutscher Kaiser aber wollte Wilhelm nicht sein. Tatsächlich stand 1871 das Projekt der Kaiserproklamation in Versailles wegen der Titel-Frage vor dem Scheitern. Der Großherzog von Baden rettete die Situation, indem er seinen Hochruf (neutral) »Kaiser Wilhelm« widmete. Details dieser Art musste der Konstrukteur der Einheit, der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck lösen, um die Reichseinheit zu schmieden. Kein Wunder, wenn sein Konstrukt ernste Webfehler zeigte.
Befreiungskriege? Freiheitskriege!
Der Kampf gegen Napoleon 1812/3 wurde von den Deutschen unter zwei verschiedenen Sichtweisen geführt. Während die »nationale« Fraktion den Kampf gegen den Usurpator als »Befreiungskrieg« verstand, sah die liberal-demokratische Seite hierin einen »Freiheitskrieg«, in dem auch um bürgerliche Freiheitsrechte ging. Mit der Niederlage der 48er Revolution wurde diese Frage gelöst: Kaum zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, machte sich der skrupellose Machtmensch Bismarck daran, die deutsche Einheit von Preußen aus zu schaffen. Drei Kriege zettelte er deswegen an: »Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären 80.000 Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht«, bekannte der Schmied der deutschen Einheit im Alter.
Nach der Kaiserproklamation suchte Bismarck das neue Reich nach außen zu sichern, indem er es für »saturiert« erklärte: Man hege in Europa keine weiteren territorialen Ziele. Diese Erklärung fiel dem preußischen Politiker insofern nicht schwer, als er seinem nach dem 1866er-Krieg durch gewaltige innerdeutsche Annexionen zur dominierenden Macht in Deutschland gemacht hatte. Doch 1871 griff der kluge Machtpolitiker daneben: Nach den schnellen Erfolgen der deutschen Truppen war die Annexion von Elsass-Lothringen zum Thema hochgekocht. Bismarck folgte schließlich der nationalen Euphorie und pflückte einen vergifteten Apfel. Denn dass Deutschland überhaupt den überwiegend deutschsprachigen (aber französisch fühlenden) Elsass einforderte, begründete in Frankreich tiefe Verbitterung. Dann aber war Bismarck zu bescheiden: Wenn er schon französische Gebiete annektierte, dann hätte er die unmittelbar angrenzenden Kohle- und Erzlager von Longwy-Briey im angrenzenden Departement Meurthe-et-Moselle hinzunehmen sollen. Das Erzbecken stand ganz oben auf der wirtschaftlichen Wunschliste der Industrie. So demütigte Bismarck Frankreich, ohne die Forderungen der deutschen Seite zu befriedigen. Ab 1875 stand Longwy-Briey in Deutschland ganz oben auf der Agenda. So trachteten im Ergebnis beide Seiten auf Korrektur des Friedens von 1871.
Abb. 5 Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles. Anton von Werner
Der Gründungsakt des Reiches war als Demütigung Frankreichs konzipiert. Sowohl die Symbolik als auch die Begleitumstände des Friedensvertrages begründeten die „Erbfeindschaft“ zwischen den beiden europäischen Kernländern.
Geburtsfehler in der inneren Konstruktion: die Verfassung
Anders als in demokratischen Staaten üblich, war die Verfassung des Reichs ohne Mitwirkung des Parlaments ausgearbeitet worden. Der Verfassungsentwurf für den Norddeutschen Bund von 1866 basierte auf der Ausarbeitung eines Historikers (!) und war von Bismarck höchstpersönlich redigiert worden; diese Verfassung wurde 1871 stillschweigend auf das neue deutsche Kaiserreich übertragen.
Abb. 6 Wilhelm I. und Bismarck im Gespräch. Siemenroth 1887
Das enge persönliche Verhältnis zwischen Kaiser und Kanzler war die Geschäftsbasis des Kaiserreichs. Als der unberechenbare Wilhelm II. ans Ruder kam, zeigten sich die Risse der Konstruktion
Die wichtigsten Machtorgane waren identisch. 1867 als Präsidiumsleiter, 1871 als deutscher Kaiser war der preußische König oberster Souverän; als Kanzler und Regierungschef amtierte Bismarck. Wobei man hinzufügen muss, dass der Kanzler weniger Regierungschef im modernen Sinne war, sondern vielmehr die Regierung höchst selbst verkörperte. Für Verfassungsautor Bismarck wäre es undenkbar gewesen, eine parlamentarische Verantwortung des Kanzlers vor dem Reichstag vorzusehen. So hatte Bismarck für Eventualitäten vorgesorgt. Da die wichtigen Kompetenzen zwischen Krone und dem Kanzler aufgeteilt waren, gab es wenig Raum für einen echten Verfassungskonflikt.
Damit war das persönliche Verhältnis zwischen Monarchen und Kanzler zur unverrückbaren Arbeitsgrundlage geworden; diese Aufteilung funktionierte, solange die Personenkonstellation Bestand hatte. Als der chronisch geltungssüchtige Wilhelm II. daran herumspielte und mit seinem Anspruch auf ein »persönliches Regiment« die Stabilität der Struktur auflöste, führte er das Reich in den Abgrund.
Bismarcks Innenpolitik: Fehden und Zuckerbrot
Für Stabilität des Kaiserreichs wäre es sicher förderlich gewesen, wenn Bismarck sich um die Einbindung der wichtigsten sozialen Gruppen bemüht hätte. Doch dessen Konzept war der Obrigkeitsstaat; in seinen Gegnern sah er Reichsfeinde. »Bismarck macht Deutschland groß und die Deutschen klein«, hatte der Liberale von Bunsen 1887 geklagt: In der Tat hatte er mit dem linksliberalen »Fortschritt« wenig am Hut; nacheinander verprellte er zunächst die Katholiken und danach die sozialdemokratische Arbeiterschaft durch politische Verfolgung – wenn auch mit einem bemerkenswert kontraproduktiven Ergebnis: Spätestens 1893 erzielten Bismarcks alte Gegner in den Reichstagswahlen eine deutliche Stimmenmehrheit (später auch die Abgeordnetenmehrheit).
Aber Bismarck war weitsichtig genug, dass er die Notwendigkeit sah, die Arbeiter an den Staat und das Land zu binden. Das wichtigste Vehikel dazu lag in der Verbesserung der sozialen Rahmenbedingungen. Sicher: Bismarcks Konzept zur Einbindung der Arbeiterschaft folgte einem obrigkeitsstaatlichen Zähmungskonzept: Dennoch gehört die Schaffung des fortschrittlichsten Sozialgesetzes seiner Zeit zu seinen größten innenpolitische Leistungen.
Und nach seiner Amtszeit geriet dann Bismarck auch für seine alten politischen Gegner zum Mythos. Nicht nur Straßen und Plätze, sondern auch trutzige Türme und stolze Eichen wurden nach ihm genannt. Allerdings verband sich mit der demonstrative Bismarck-Verehrung auch ein deutlicher Seitenhieb gegen den Großschwätzer Wilhelm II.
Abb. 7 Plakat 1914 - Deutsches Historisches Museum.
Zurecht rühmte sich das Wilhelminische Kaiserreich der von Bismarck installierten Sozialgesetzgebung. Tatsächlich gelang es dadurch, die Arbeiterschaft mit dem Wilhelminismus zu versöhnen; abzulesen ist dies nicht zuletzt daran, wie bereitwillig sich die SPD in den „Burgfrieden“ einfangen ließ.
Drei »Einigungskriege« initiierte Bismarck auf dem Weg zur Reichsgründung. Im dänischen Krieg 1864 wurde das Problem Schleswig-Holstein kriegerisch gelöst; zwei Jahre später wurden im preußisch-österreichischen Krieg die Weichen in Richtung auf die »kleindeutsche« Lösung (ohne Österreich) gestellt. Zwei Jahre provozierte Bismarck den deutsch-französischen Krieg, in dem alle deutschen Staaten außer Österreich gegen Frankreich zogen. Im Januar 1871 folgte die Proklamation des deutschen Reiches in Versailles. Der harte Friedensvertrag wurde allgemein als Demütigung des Gegners verstanden.
1866 hatte Bismarck beim Prager Friedensschluss einen Versöhnungsfrieden mit Österreich durchgesetzt, gegen den massiven Widerstand seines Königs. Die besiegte Doppelmonarchie kam ohne Kontributionen, Sanktionen und ohne Gebietsverluste davon. Dafür hielt Preußen sich an den Verbündeten schadlos: Schleswig-Holstein, das Königreich Hannover, die Fürstentümer Hessen und Nassau sowie die freie Reichsstadt Frankfurt wurden zu preußischen Provinzen. Fünf Jahre später, im Frieden mit Frankreich, zeigte sich Bismarck sehr viel härter. Im Friedensvertrag von Frankfurt zwischen der Dritten Französischen Republik und Deutschland – beide Staaten waren 1871 neu gegründeten worden – sollte das unterlegene Frankreich bestraft werden: Die drei Rhein-Departements musste Frankreich abtreten und die gewaltige Summe von 5 Milliarden Goldfranken an Reparationen zahlen. Doch viele Deutsche meinten später, Bismarck sei noch zu bescheiden gewesen: Die Erzbecken von Longwy-Briey im französisch gebliebenen Teil Lothringens hätte gut ins Portfolio des Kaiserreiches gepasst.
Abb. 8 Postkarte: Bismarck diktiert die Friedensbedingungen 1871 (um 1900)