The Perilous Sea

Die gefährliche See

Sherry Thomas

Für Donna Bray, die einfach die Beste ist.

Inhalt

The Perilous Sea

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Danksagung

Leseprobe: The Immortal Heights

Über die Autorin

The Perilous Sea

Prinzessin Ariadnes Tagebuch lag mitten auf dem Werktisch in Titus’ Laboratorium. Er starrte es an. Hatte er den Fehler seines Lebens begangen? Ihre Vision – die, in der er auf einem Balkon stand und ein Schauspiel atemberaubender, elementarer Größe beobachtete –, hatte sie Wintervale gemeint anstelle von Fairfax?

Ich muss sie noch einmal sehen, diese Einträge.

Alles in ihm sehnte sich zugunsten Fairfax. In einer Welt völliger Unsicherheit hatte sie sich als die Stärke herausgestellt, auf die er vertrauen konnte, wenn seine eigene Kraft ihn verließ.

Aber was, wenn sie nicht die Eine war?

Kapitel Eins

Das Mädchen kam mit einem Schreck zu sich. Jemand bewarf sie mit Sand. Überall war Sand. Ihre Finger bohrten sich in ihn, heiß und grobkörnig unter ihr. Über ihr verdeckte vom Wind hochgepeitschter Sand den Himmel und färbte die Luft rot wie die Oberfläche des Mars.

Ein Sandsturm.

Sie setzte sich auf. Sand wirbelte in Millionen sepiafarbener Partikel um sie herum. Aus einem Reflex heraus strebte sie dagegen an und zwang sie dazu, sich von ihren Augen zu entfernen.

Der Sand entfernte sich.

Sie blinzelte – und vollführte eine zweite schiebende Geste mit ihrer Hand. Die fliegenden Partikel wichen weiter von ihrem Körper zurück. Der Sandsturm selbst zeigte keinerlei Anzeichen, sich legen zu wollen. Tatsächlich wurde er immer schlimmer: der Himmel überzog sich mit unheilvoller Dunkelheit.

Sie besaß Macht über den Sand.

In einem Sandsturm war es weitaus besser, ein Elementarmagier zu sein, als keiner. Dennoch hatte die Entdeckung etwas Beunruhigendes an sich: Die Tatsache, dass es überhaupt eine Entdeckung war; dass sie keine Ahnung von dieser Fähigkeit gehabt hatte, die ihr seit dem Moment ihrer Geburt hätte bekannt sein sollen.

Sie hatte zudem keine Vorstellung, wo sie sich befand. Oder warum. Oder wo sie gewesen war, bevor sie in einer Wüste erwachte.

Nichts. Keine Erinnerung an die Umarmung einer Mutter, das Lächeln eines Vaters oder die Geheimnisse einer besten Freundin. Keine Erinnerung an die Farbe ihrer Haustür, das Gewicht ihres Lieblingstrinkglases oder die Titel der Bücher, mit denen ihr Schreibtisch übersät gewesen war.

Sie war sich selbst eine Fremde, eine Fremde mit einer Vergangenheit, die so karg wie die Wüste war und in der jedes entscheidende Merkmal tief und unerreichbar vergraben lag.

Hunderte von Gedanken flatterten in ihrem Kopf umher wie ein Vogelschwarm, der erschrocken aufflog. Wie lange befand sie sich schon in diesem Zustand? War es schon immer so gewesen? Sollte es denn niemanden geben, der auf sie aufpasste, wenn sie nichts über sich selbst wusste? Warum war sie allein? Warum war sie inmitten des Nichts allein?

Was war geschehen?

Sie presste zwei Finger gegen ihr Brustbein. Der Druck darunter machte ihr das Atmen schwer. Sie öffnete den Mund in einem Versuch, die Luft rascher einzusaugen – in einem Versuch, ihre Lungen zu füllen, damit sie sich nicht so leer anfühlten wie der Rest in ihr.

Es dauerte eine Minute, bis sie genug Selbstbeherrschung zusammengerafft hatte, um ihren Körper auf Hinweise – oder gar Antworten – hoffend zu untersuchen, die ihr alles sagen würden, was sie über sich wissen musste. Ihre Hände waren nicht hilfreich: ein paar Schwielen auf ihrer linken Handfläche und ansonsten nichts Besonderes. Ein Blick auf die Haut ihres Unterbauchs verriet ebenfalls nichts.

»Revela omnia«, sagte sie, überrascht, eine tiefe, beinahe harsche Stimme zu hören.

»Revela omnia«, sagte sie erneut und hoffte darauf, dass der Klang ihrer eigenen Stimme eine Lawine aus Erinnerungen auslösen würde.

Aber das tat sie nicht. Auch brachte der Zauber keine geheimen Buchstaben auf ihrer Haut hervor.

Plötzlich war ihre Isolation nur ein Trugbild. In der Nähe musste jemand sein, der ihr helfen konnte – ein Elternteil, ein Geschwisterchen, ein Freund. Vielleicht stolperte jene Person sogar in diesem Moment umher und rief nach ihr, begierig, sie zu finden und sicherzugehen, dass es ihr gut ging.

Aber sie konnte keine Stimmen hören, die der heulende Wind mit sich trug, nur die Unruhe von Sandpartikeln, die von Mächten jenseits ihrer Kontrolle umhergeschleudert wurden. Und als sie die Sphäre aus klarer Luft um sich herum ausbreitete, deckte sie nichts auf außer Sand und noch mehr Sand.

Sie vergrub das Gesicht für einen Moment in den Händen, dann nahm sie einen tiefen Atemzug und stand auf. Sie wollte mit ihren Kleidern beginnen, aber als sie auf die Füße kam, wurde ihr klar, dass sie etwas in ihrem rechten Stiefel trug.

Ihr Herz machte einen Purzelbaum, als sie begriff, dass es ein Zauberstab war. Seit die Magier erkannt hatten, dass Zauberstäbe nichts weiter waren als ein Kanal für die Macht eines Zauberers – Verstärker, die für die Ausführung von Formeln nicht unbedingt notwendig waren –, hatten sich Zauberstäbe von angebeteten Werkzeugen zu geliebten Accessoires gewandelt, immer mit einer persönlicher Note versehen, manchmal in einem albernen Ausmaß. Namen wurden in das Design verwoben, Lieblingszauber, Insignien der Heimatstadt oder der Schule. Manche Zauberstäbe trugen sogar den gesamten Stammbaum ihrer Besitzer in mikroskopisch kleinen Buchstaben auf sich.

Sie hätte liebend gern ihre gesamte Familiengeschichte vor sich gesehen, aber es reichte schon, wenn der Zauberstab irgendwo ein Im Falle eines Verlusts, bitte an _______________ zurückgeben eingraviert trug.

Der Zauberstab jedoch war so schmucklos wie eine Fußbodendiele, ohne Schnitzereien, Intarsien oder dekorative Zeichen. Und er blieb genauso nackt, als sie ihn unter einem Vergrößerungszauber betrachtete. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass solche Zauberstäbe überhaupt hergestellt wurden.

Ein niederschmetterndes Gewicht legte sich auf ihre Brust. Liebende Eltern würden einem Kind genauso wenig einen derartigen Zauberstab vermachen, wie sie es in Kleidung aus Papier zur Schule schicken würden. War sie also eine Waise? Jemand, der nach seiner Geburt ausgesetzt und in einer Einrichtung aufgezogen worden war? Elementarmagierlinge litten unter einer größeren Wahrscheinlichkeit, verlassen zu werden, da sie während ihrer Kindheit für so viel Ärger sorgten.

Und dennoch waren die Kleider, die sie trug – eine knielange blaue Tunika und ein weißes Untergewand –, aus außergewöhnlich feinem Stoff: federleicht und doch stark, mit einem unaufdringlichen Leuchten versehen. Und obwohl ihr Gesicht und ihre Hände die Hitze der Wüste spürten, fühlte sie sich vollkommen wohl, wo auch immer sie von der Tunika bedeckt wurde.

Die Gewänder verfügten über keine Taschen. Die Hose darunter jedoch schon. Und eine dieser Taschen beinhaltete eine kleine, rechteckige und relativ zerknitterte Karte.

 

A.G. Fairfax

Low Creek Ranch

Wyoming-Territorium

 

Sie musste zwei Mal blinzeln, um sicherzugehen, dass sie richtig las. Wyoming-Territorium? So wie das im Wilden Westen? Dem nichtmagischen Teil des Wilden Westens?

Sie versuchte sich an mehreren Enthüllungszaubern, aber die Karte trug keine versteckten Botschaften. Sie stieß langsam den Atem aus und steckte die Karte zurück in ihre Hosentasche.

Sie hatte geglaubt, nur einen Namen zu benötigen, den winzigsten Hinweis. Aber jetzt hatte sie einen Namen und einen Hinweis, und es war schlimmer, als wenn sie überhaupt keinen Einblick in ihre Vergangenheit erlangt hätte. Anstatt auf eine leere Wand zu starren, betrachtete sie einen einzigen Quadratzentimeter voller peinigender Farben und Formen, während der Rest des Wandgemäldes – die Personen, Schauplätze und Entscheidungen, die sie zu der gemacht hatten, die sie war – störrisch außer Sichtweite blieben.

Ohne es zu wollen, durchschnitt sie die Luft mit ihrem Zauberstab, beinahe mit einem Knurren. Der wirbelnde Sand wich weiter vor ihr zurück. Sie sog den Atem ein: Acht Fuß von ihr entfernt lag ein Stoffbeutel, halb vergraben im Sand.

Sie warf sich auf den Beutel und zerrte ihn aus dem Boden. Der Träger war gerissen, doch der Beutel an sich war unversehrt. Er war weder sonderlich groß – ungefähr fünfzig Zentimeter breit, dreißig Zentimeter hoch und zwanzig Zentimeter tief – noch besonders schwer – in etwa fünfzehn Pfund. Aber die Anzahl an Taschen war durchaus bemerkenswert: mindestens zwölf an der Außenseite und Dutzende und Aberdutzende auf der Innenseite. Sie knöpfte eine große Außentasche auf: sie beinhaltete eine Garnitur Kleider. Eine von ähnlicher Größe bewahrte ein Rechteck aus eng verschnürtem Stoff auf, von dem sie annahm, dass er sich zu einem kleinen Zelt ausdehnen konnte.

Manche der Innentaschen waren sorgsam und gut leserlich gekennzeichnet: Nahrung, jede Packung hält einen Tag. Sprunghilfe: fünf Körnchen am Tag, nicht öfter als drei Mal täglich. Hitzedecke – für den Fall, dass du Wärme benötigst, aber ungesehen bleiben musst.

Für den Fall, dass du Wärme benötigst.

Hätte sie sich selbst in der zweiten Person angesprochen – oder war dies der Beweis, dass jemand anderes eng in ihr Leben verwickelt war? Jemand, der wusste, dass so ein Notfallbeutel eines Tages nützlich sein würde?

Sechsunddreißig Taschen eines einzigen Innenfachs waren mit Heilmitteln vollgestopft. Keine Heilmittel gegen Krankheiten, sondern Verletzungen: alles von einer gebrochenen Gliedmaße bis zur Verbrennung durch ein Drachenfeuer. Ihr Puls ging schneller. Dies war kein Campingbeutel, sondern eine Notfalltasche, die in Erwartung schwerwiegender, womöglich überwältigender Gefahr vorbereitet worden war.

Eine Landkarte. Die Person, die den Beutel säuberlich aufgefüllt hatte, musste eine Landkarte dazugelegt haben.

Und da war sie, in einer der kleineren Außentaschen, aus Seidenfäden verwoben, die so dünn waren, dass sie mit dem bloßen Auge kaum erkannt werden konnten, magische Reiche in Grün und nichtmagische Reiche in Grau. Auf der oberen Hälfte stand geschrieben: Platziere die Karte auf dem Boden – oder in das Gewässer, wenn nötig.

Sie legte die Landkarte flach auf den Sand, der, da die Hitze der Sonne durch den aufgewühlten Himmel abgehalten wurde, rasch seine Wärme verlor. Beinahe sofort erschien ein roter Punkt auf der Karte, in der Wüste Sahara, schätzungsweise hundert Meilen südwestlich der Grenze eines der Vereinigten Beduinischen Reiche.

Inmitten von Nichts.

Ihre Finger umklammerten die Ränder der Landkarte. Wohin sollte sie gehen? Low Creek Ranch, der einzige Ort, den sie aus ihrem früheren Leben in Erinnerung hatte, war mindestens achttausend Meilen entfernt. Die Grenzen der Wüstenstaaten waren für gewöhnlich nicht so stark befestigt wie jene der Inselstaaten. Aber ohne offizielle Ausweise würde sie nicht in der Lage sein, irgendeinen der Translokatoren innerhalb der Vereinigten Beduinischen Staaten zu benutzen, um über Ozeane und Kontinente zu hüpfen. Man könnte sie sogar verhaften, weil sie sich an einem Ort aufhielt, an dem sie nicht sein sollte – Atlantis mochte es nicht, wenn Magier ohne ordnungsgemäß genehmigten Grund umherwanderten.

Und wenn sie die nichtmagischen Routen ausprobierte, befand sie sich ungefähr tausend Meilen sowohl von Tripoli als auch Cairo entfernt. Sobald sie an die Mittelmeerküste gestolpert kam – in der Annahme, dass sie dazu in der Lage war –, würde sie immer noch mindestens drei Wochen vom amerikanischen Westen entfernt sein.

Zusätzliche Wörter erschienen auf der Landkarte, dieses Mal genau über der Wüste, in der sie gestrandet war.

 

Wenn du das hier liest, Geliebte, dann ist das Schlimmste geschehen und ich kann dich nicht mehr beschützen. Du musst wissen, dass du der beste Teil meines Lebens warst und dass ich nichts bereue.

Lang möge Fortuna dich schirmen.

Lebe ewig.

 

Sie strich mit der Hand über die Worte, wobei sie kaum bemerkte, dass ihre Finger zitterten. Ein dumpfer Schmerz brannte im hinteren Teil ihrer Kehle, um den Verlust des Beschützers willen, an den sie sich nicht erinnern konnte. Um den Verlust eines ganzen Lebens willen, das sich nun außerhalb ihrer Reichweite befand.

Du warst der beste Teil meines Lebens.

Die Person, die dies geschrieben hatte, hätte ein Geschwisterchen sein können, oder eine Freundin. Aber sie war sich beinahe vollkommen sicher, dass es ihr Liebster gewesen war. Sie schloss die Augen und griff nach etwas. Irgendetwas. Einem Namen, einem Lächeln, einer Stimme – sie erinnerte sich an nichts.

Der Wind kreischte.

Nein, das war sie: sie schrie all die Frustration heraus, die sie nicht länger zurückhalten konnte.

Der Sandsturm scheute zurück, als ob er sich davor fürchtete, was sie tun würde.

Sie keuchte wie ein Läufer nach einem raschen Sprint. Um sie herum hatte sich der Radius klarer, ungebrochener Luft um ein Zehnfaches vergrößert und erstreckte sich hundert Meilen in jede Richtung.

Taub fuhr sie herum, suchte nach etwas, das zu finden sie keine Hoffnung hegte.

Nichts. Nichts. Absolut nichts.

Dann, die Silhouette eines Körpers im Sand.

Kapitel Zwei

Die Domäne - Sieben Wochen zuvor

Seine Durchlauchtigste Hoheit, Prinz Titus der Siebte«, gaben die steinernen Phönixe bekannt, welche die vier Ecken der großen Terrasse bewachten, wobei ihre Stimmen wie Glocken widerhallten.

Titus hielt am Rand der Terrasse inne, vor sich den gerühmten Garten der Zitadelle. An anderen Stellen im Garten gab es ungezwungene, sogar private Bereiche, aber nicht hier. Hier waren mehrere Morgen immergrüne Stauden sorgfältig beschnitten worden, um Hunderte von Parterres zu bilden, die, wenn sie von oben betrachtet wurden, einen stilisierten Phönix bildeten, das Symbol des Hauses Elberon.

Das Immergrün, das von dem Meisterbotaniker der Zitadelle herangezogen wurde, blühte spät im Sommer. Und jedes Jahr änderte sich die Farbe der Blumen. Dieses Jahr waren die Blüten von einem tiefen, lebhaften Orange, die Farbe des Sonnenaufgangs. Dalbert, Titus’ Diener und persönlicher Meisterspion, hatte berichtet, dass er das Emblem des Phönix auf den öffentlichen Gebäuden Delamers in einem ähnlich feurigen Farbton angestrichen gesehen hatte, oftmals von einem hastig gekritzelten Der Phönix steht in Flammen! begleitet.

Das letzte Mal, als der Phönix in Flammen gestanden hatte, war bald darauf der Januaraufstand gefolgt.

In der Lücke zwischen den beiden aufgerichteten Flügeln der Landschaftsphönixe war ein großer weißer Baldachin errichtet worden, der im Licht der Nachmittagssonne leuchtete. Unter dem Pavillon befand sich ein diplomatischer Empfang in vollem Gange. Bedienstete in den grauen Livreen der Zitadelle schlängelten sich zwischen Gästen in juwelfarbenen Übergewändern hindurch, boten Horsd’œuvre und Gläser mit gekühltem Sommerwein an. Eine feine, himmlische Musik schwebte auf der Brise vom Meer heran, und mit ihr das Geräusch von sanftem Gelächter und damit einhergehendem Geplauder.

Titus holte Luft. Er war nervös. Es war möglich, dass er auf die Anspannung reagierte, die unter der vorgeblichen Fröhlichkeit der Feier lag, aber in Wahrheit ging es, wie immer, vollkommen um Fairfax, seine mächtige und hell strahlende Elementarmagierin.

Er stieg eine Treppe mit breiten, flachen Stufen hinab und ging eine von Statuen gesäumte Allee entlang, mit einer Gefolgschaft aus zwölf Mann im Schlepptau. Als er sich dem Baldachin näherte, knickste und verneigte sich die gesamte Versammlung. Er mochte keine wahre Macht innehaben, aber er war immer noch, zeremoniell gesprochen, Lord und Meister der Domäne1.

Eine außergewöhnlich schöne Frau trat vor, ein Lächeln auf dem Gesicht: Lady Callista, die offizielle Gastgeberin, die renommierteste Schönheitshexe ihrer Generation und eine der Personen auf dem Angesicht der Erde, die Titus am wenigsten schätzte.

Denn er strebte danach, Bane zu zerstören, den Lord High Commander des Großen Reichs Neuatlantis und den gewaltigsten Tyrannen, den die Welt je gesehen hatte, und Lady Callista war eindeutig eine Dienerin Banes. Nicht zu erwähnen, dass er, obwohl er über keine konkreten Beweise verfügte, die seinen Verdacht bestätigten, im Grunde seines Herzens stets daran geglaubt hatte, dass Lady Callista diejenige war, die für den Tod seiner Mutter verantwortlich war.

»Meine Lady«, nahm er ihre Anwesenheit zur Kenntnis.

»Eure Hoheit«, gurrte Lady Callista, »wir sind hocherfreut, dass Ihr Euch uns anschließen konntet. Bitte erlaubt mir, Euch die neuen Botschafter des Kalahari-Reiches vorzustellen.«

Titus war ziemlich glücklich, die deutlich erkennbaren Ringe unter ihren Augen zu sehen. Das Leben war seit dem Abend des vierten Juni für sie nicht einfach gewesen, als der am meisten geschätzte Gefangene von Atlantis aus der Bibliothek der Zitadelle entkommen war. In derselben Bibliothek, in derselben Nacht hatte die Inquisitorin, eine von Banes getreuesten und fähigsten Leutnants, ein jähes und unerwartetes Ende gefunden.

Lady Callista hatte das Pech gehabt, die letzte Person gewesen zu sein, die vor Haywoods Verschwinden die Bibliothek betreten hatte. Sie war auch diejenige gewesen, die befohlen hatte, dass eine Pfütze Blut in der Bibliothek aufgewischt werden sollte, obgleich Atlantis sehr gern ein paar Tropfen dieses Blutes habhaft geworden wäre, um herauszufinden, wer für den Tod der Inquisitorin verantwortlich war.

Das Ergebnis war, dass sie nun genauso streng überwacht wurde wie Titus, ungeachtet ihres jahrelangen Dienstes in Atlantis’ Namen, und dass ihre Schritte auf das Innere der Zitadelle beschränkt waren. Obendrein musste sie sich jede Woche mit atlantischen Ermittlern treffen, wobei jede Befragung Stunden, manchmal einen ganzen Tag andauerte.

Eine unkonzentrierte und erschütterte Lady Callista stellte für Titus eine Bedrohung weniger dar.

Sobald die Vorstellung vorüber war, ließ Lady Callista Titus zurück, um mit dem neuen Kalahari-Botschafter und den Familienmitgliedern zu schwatzen, die ihn in die Domäne begleitet hatten. Titus fühlte sich nie vollkommen wohl in solchen gesellschaftlichen Situationen – er hatte den Verdacht, dass er sowohl steif als auch schroff erschien. Wenn er nur Fairfax an seiner Seite hätte haben können … Sie wusste instinktiv, wie man den Leuten die Befangenheit nahm und er war stets um einiges entspannter in ihrer Anwesenheit.

Es hätte ein idyllischer Sommer im Labyrinthengebirge für sie sein sollen – das Wandern der Gipfel zu beobachten, verborgene Wasserfälle zu erforschen, sich vielleicht sogar in die Phönixhorste in den höchsten Felskämmen zu schleichen, in der Hoffnung, Zeuge einer feurigen Wiedergeburt zu werden. Nicht, dass sie nicht schwer hätten arbeiten wollen: Ihre Pläne hatten Hunderte von Stunden zermürbenden Trainings beinhaltet und genauso viele, die dem Meistern neuer Zaubersprüche gewidmet wären, nicht zu erwähnen eine geheime Unternehmung, um herauszufinden, wohin ihr Vormund aus der Bibliothek der Zitadelle verschwunden war. Aber das Wichtigste war, dass sie so viel wie möglich hätten zusammen sein sollen, jeden Schritt ihres Weges.

Von dem Moment an jedoch, in dem er aus dem Zugabteil getreten war, das als sein persönlicher Translokator diente, war es offensichtlich gewesen, dass er während jeder Sekunde seiner Ferien beobachtet werden würde. Eine furchterregende Erkenntnis, während er sie in Form einer winzigen Schildkröte an seinem Körper versteckt gehalten hatte, unter der Wirkung eines Zaubertranks, die nicht länger als zwölf Stunden andauerte.

Er hatte es geschafft, sie in nervenzerfetzender Eile aus dem Schloss zu schmuggeln und sie, noch immer in der Form einer Schildkröte, in einer verlassenen Schäferhütte zurückzulassen. Er hatte später zurückkommen wollen, um sie in den geheimen Unterschlupf zu eskortieren, den er vorbereitet hatte – doch zehn Minuten nachdem er ins Schoss zurückgekehrt war, war er zur Zitadelle fortgerissen worden, der offiziellen Residenz des Meisters der Domäne in der Hauptstadt, von wo aus er weder mit Leichtigkeit noch im Geheimen zu den Bergen hätte fliehen können.

Er und Fairfax hatten Dutzende von Krisenplänen geschmiedet, aber nichts, was einem Szenario nahekam, in welchem sie allein in dem Labyrinthengebirge gestrandet war. Tagelang hatte er selten gegessen oder geschlafen, bis er eine dreizeilige Werbeanzeige auf der Rückseite des Delamer Observer gesehen hatte, welche die Verfügbarkeit von mehreren Steckzwiebeln für die Herbstsaat anpries: dahinter hatte sie gesteckt und ihn darüber informiert, dass sie ihn zu Beginn des Michaelis-Halbjahres in Eton wiedertreffen würde.

Vor Erleichterung wäre er beinahe zersprungen – und auch vor Stolz: Man konnte sich darauf verlassen, dass Fairfax immer einen Ausweg finden würde, ganz egal, wie verhängnisvoll die Situation sein mochte. Von da an folgte ein langes, qualvolles Warten auf das Ende des Sommers, auf den Moment, in dem sie sich wiedersehen würden.

Das Sommerende war nun endlich gekommen. Er hatte die Erlaubnis, nach dem Empfang augenblicklich nach England abzureisen. Er wusste nicht, wie er es schaffte, sich zusammenzureißen oder mit unzähligen Gästen zu sprechen. Im einen Moment litt er unter Atemnot bei dem Gedanken, sie festzuhalten, im nächsten unter dem von Furcht hervorgerufenen Schwindel – was, wenn sie Mrs Dawlishs Haus nicht betreten würde?

»… bevor Ihr aus eigenem Recht herrschen werdet. Ich muss gestehen, dass ich gehofft hatte, Euch diesen Sommer bei einigen meiner Beratungsgespräche zu sehen.«

Zwei Sekunden vergingen, bevor Titus erkannte, dass von ihm erwartet wurde, Commander Rainstone zu antworten, der obersten Sicherheitsratgeberin des Regenten.

»Der Hoftradition entsprechend sollte ich siebzehn sein, bevor ich an den Ratsversammlungen und Sicherheitsberatungen teilnehme«, sagte er.

Und er würde erst in einigen Wochen siebzehn werden.

»Was für einen Unterschied machen ein paar Tage?«, fragte Commander Rainstone, die verärgert klang. »Eure Hoheit wird in einer sehr instabilen Zeit volljährig werden und sämtliche Erfahrung benötigen, die Ihr aufbringen könnt. Wäre ich Seine Exzellenz, hätte ich darauf bestanden, dass Eure Hoheit viel früher in die Leitung eines Staates eingewiesen worden wäre.«

Seine Exzellenz war Prinz Alectus, der Regent, der an Titus’ Stelle herrschte. Alectus war zufälligerweise auch Lady Callistas Schutzherr.

»Was wollt Ihr mich wissen lassen?«, fragte Titus Commander Rainstone.

Sie war ein Mitglied der persönlichen Gefolgschaft seiner Mutter gewesen, vor langer Zeit, bevor er alt genug gewesen war, um sich an irgendetwas zu erinnern. Er kannte Commander Rainstone hauptsächlich von ihren gelegentlichen Abstechern in das Schloss im Labyrinthengebirge, wo sie ihm von Angelegenheiten berichtete, die mit der Sicherheit des Reiches zu tun hatten – oder zumindest jenen Angelegenheiten, von denen sie annahm, dass er alt genug war, sie zu verstehen.

Commander Rainstone warf einen Blick auf die Menge und senkte ihre Stimme. »Wir haben Informationen erhalten, Sire, dass der Lord High Commander von Neuatlantis seine Festung in den Hochlanden verlassen hat.«

Das war eine Neuigkeit für Titus – eine Neuigkeit, die einen Schauer aus Frost über sein Rückgrat jagte. »So wie ich es verstehe, hat er erst vor Kurzem hier in der Zitadelle diniert. Also kann es nicht allzu ungewöhnlich sein, dass er den Kommandopalast verlässt.«

»Aber bereits dieses Ereignis an sich war außergewöhnlich: Es war das erste Mal, dass er seit dem Ende des Januaraufstandes einen Fuß aus dem Kommandopalast gesetzt hat.«

»Bedeutet das, dass Lady Callista ihn erneut zum Dinner erwarten sollte?«

Commander Rainstone legte die Stirn in Falten. »Eure Hoheit, darüber scherzt man nicht. Der Lord High Commander verlässt seinen Schlupfwinkel nicht leichtsinnig, und …«

Sie hielt inne. Aramia, Lady Callistas Tochter, kam näher.

»Eure Hoheit, Commander«, sagte Aramia liebenswürdig, »ich entschuldige mich für die Unterbrechung, aber ich glaube, dass der Premierminister ein Wort mit Euch wechseln möchte, Commander.«

»Natürlich.« Commander Rainstone verneigte sich. »Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Eure Hoheit.«

Aramia wandte sich Titus zu. »Und Ihr habt vermutlich noch nicht den Anbau an den Brunnen der Niederlage des Usurpatoren gesehen, oder, Eure Hoheit?«

Vor beinahe fünf Monaten, während einer Party, die der heutigen gar nicht unähnlich gewesen war, hatte Lady Callista Titus auf Atlantis’ Geheiß Wahrheitsserum eingeflößt – und das mithilfe von Aramia, welche Titus als Freundin angesehen hatte. Sollte Aramia irgendein Bedauern über ihr Handeln empfinden, so war es Titus unmöglich, dieses wahrzunehmen.

»Ich habe den neuen Anbau gesehen«, sagte er kühl. »Er wurde vor zwei Jahren fertiggestellt.«

Aramia errötete, aber ihr Lächeln war hartnäckig. »Erlaubt mir, Euch auf einige Besonderheiten hinzuweisen, die Euch vielleicht entgangen sein mögen. Wollt Ihr nicht mit mir kommen, Sire?«

Er dachte darüber nach, sich geradeheraus zu weigern. Aber ein Spaziergang, der ihn vom Baldachin wegführte, hatte einige Vorteile  – zumindest würde er mit niemandem sprechen müssen. »Weist mir den Weg.«

Die Niederlage des Usurpatoren, der größte und detaillierteste der neunundneunzig Brunnen der Zitadelle, war von der Größe eines kleinen Hügels und mit Reihen von Wyvern ausgestattet, die von den Elementarmächten Hesperias der Glorreichen niedergestreckt wurden. Das lange, reflektierende Becken davor erstreckte sich beinahe bis zum Rand der von Menschen geschaffenen Landzunge, auf der die Zitadelle stand. Klippen fielen dreihundert Fuß tief bis direkt auf die hämmernde Brandung des Atlantiks hinab. In einiger Entfernung wippte ein Privatboot mit eingerollten Segeln über die sonnenerleuchtete See.

Aramia warf einen Blick zurück. Titus’ Entourage, acht Wachmänner und vier Diener, war ihnen gefolgt. Doch nun, auf einen Wink seiner Hand hin, drosselten sie ihre Geschwindigkeit und blieben außer Hörweite.

»Mutter würde böse auf mich sein, wenn sie wüsste, was ich gleich tun werde.« Aramia griff in den Brunnen hinein und schnipste auf die kräuselnde Wasseroberfläche. »Und sie wird es nicht zugeben, aber sie ist recht verängstigt durch all die Treffen mit den Prüfern aus Atlantis. Sie bringen sie dazu, Wahrheitsserum zu nehmen und sie sind … sie sind überhaupt nicht nett.«

»So ist es eben, wenn man mit Atlantis in Konflikt gerät.«

»Aber gibt es denn nichts, was du für sie tun kannst, nach allem, was sie für dich getan hat?«

Titus hob eine Augenbraue. Nach allem, was Lady Callista für ihn getan hatte? »Du überschätzt meinen Einfluss.«

»Aber dennoch …«

»Da seid Ihr ja!«, erklang eine klare, melodische Stimme. »Ich habe überall nach Euch gesucht.«

Die junge Frau, die sich ihnen von der anderen Seite des Brunnens her näherte, war zum Weinen schön – Haut von der Farbe braunen Zuckers, ein Gesicht von beinahe übertriebener Perfektion und eine Kaskade von schwarzem Haar, das bis an die Kniekehlen reichte.

Aramia starrte mit offenem Mund, als ob sie nicht glauben konnte, dass es jemanden gab, der ihrer Mutter in Sachen wahrer Lieblichkeit noch Konkurrenz machte.

Titus, der dank seiner Nähe zu Lady Callista während seines Heranwachsens stets misstrauisch gewesen war, wenn es um Schönheit von solchem Ausmaß ging, ließ die Gesichtszüge der Frau außer Acht, um ihr Übergewand zu begutachten. Manchmal hörte man, wie Übergewänder aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Polstern lächerlich gemacht wurden, aber dieses hier sah aus, als ob es tatsächlich aus Polstern bestand – aus einem kunstvollen Lampenschirm, korrigierte er sich, da sämtliche Quasten und Fransen immer noch daran befestigt schienen.

»Würde es Euch etwas ausmachen, mir einen Moment mit Seiner Hoheit zu schenken?«, sprach sie zu Aramia, ihr Tonfall höflich, doch unverkennbar fest.

Aramia zögerte und warf Titus einen Blick zu.

»Ihr mögt uns verlassen«, sagte Titus. Es gab sonst nichts mehr, was er ihr zu sagen hatte.

Arama ging davon, wobei sie die ganze Zeit zurückblickte.

»Eure Hoheit«, sagte die junge Frau.

Sie hatte ihn angesprochen, bevor sie zuerst von ihm angesprochen worden war. Titus hielt sich nicht an solche Albernheiten, wenn er in der Schule war, doch hier befand er sich in seinem eigenen Palast, noch dazu auf einem diplomatischen Empfang, wo die Gäste solcherlei Etikette beinahe genauso sehr liebten wie ihre eigenen Mütter – möglicherweise noch mehr.

Ihm fiel auf, dass er sie zuvor nicht in der Menge unter dem Baldachin gesehen hatte, obwohl sie als Mitglied der Gefolgschaft des Kalahari-Botschafters durchgehen konnte – und eine Frau, die aussah wie sie, wäre nicht unbemerkt geblieben.

Nicht, dass es nie zuvor geschehen wäre, dass ein Magier ohne gültige Einladung in eine Palastfeier platzte. Aber die Zitadelle war in höchster Alarmbereitschaft nach den Ereignissen Anfang Juni, oder etwa nicht?

»Wie seid Ihr hereingekommen?«

Die Frau lächelte. Sie war nicht viel älter als Titus, zwanzig oder einundzwanzig. »Ein Mann, der immun gegen meinen Zauber ist – das mag ich, Eure Hoheit. Dann lasst mich direkt zur Sache kommen. Ich interessiere mich für den Aufenthaltsort Eurer Elementarmagierin.«

Er musste gegen seinen Schock ankämpfen, um nicht den Zauberstab auf sie zu richten und etwas Unüberlegtes zu tun. Also verdrehte er stattdessen die Augen. »Eure Meister haben mir bereits all diese Fragen gestellt. Sie haben mich sogar unter ein Inquisitionsverhör gesetzt. Müssen wir noch mehr Dergleichen hinter uns bringen?«

Ihr Haar flatterte in der Brise, die vom Meer heraufzog, wie eine Piratenflagge. Sie streckte einen Arm aus und krempelte ihren Ärmel hoch. Auf ihrem Unterarm befand sich ein Zeichen aus nüchternen weißen Linien: ein Elefant mit vier Stoßzähnen, der einen Malstrom unter seinem Fuß zermalmte – ein Symbol des Widerstands in vielen Reichen nahe dem Äquator. »Ich bin keine Agentin von Atlantis.«

»Und warum sollte das irgendetwas an meiner Antwort ändern? Ich habe keine Kenntnis über den Aufenthaltsort dieses Mädchens.«

»Wir wissen, dass sie die Prophezeite ist – eine Elementarmagierin, mächtiger als alles, was seit Jahrhunderten gesehen wurde. Wir wissen auch, dass es verheerend für jene unter uns wäre, die sich nach Freiheit sehnen, wenn sie in Banes Hände fallen würde. Lasst uns ihr helfen. Wir können sicherstellen, dass Bane niemals in ihre Nähe kommt.«

Was würdet ihr tun, wenn Bane doch in ihre Nähe kommen würde? Würdet ihr sie töten, sodass er sie niemals ergreifen wird? Und was würde euch davon abhalten, sie gleich zu Beginn zu töten, wenn es euer einziges Ziel ist, sie von ihm fernzuhalten?

»Dann viel Glück bei der Suche.«

Sie wandte sich ihm näher zu, offensichtlich nicht bereit aufzugeben. »Eure Hoheit …«

Schreie explodierten. Titus drehte sich um. Wachen rannten die Treppe hinab. Seine eigene Gefolgschaft kam auf ihn zugesprintet.

»Gute Güte«, sagte die junge Frau. »Es scheint, als ob ich Eure Hoheit verlassen muss.«

Mit einem Handgriff fiel das lächerliche Übergewand vollkommen ab. Ein rasches Aufschütteln und es glättete und ebnete sich, bis es sich – natürlich – zu einem fliegenden Teppich gewandelt hatte, viel größer und edler als der, den Titus besaß.2

Die junge Frau, die nun in eine lockere Tunika und eine Hose von der Farbe von Sturmwolken gekleidet war, sprang auf den fliegenden Teppich und sauste mit einem spöttischen Salut an Titus dem Boot entgegen, das in der Ferne wartete.

Kapitel Drei

Die Wüste Sahara

Das Mädchen schob die Landkarte in seine Tasche, schnappte sich den Beutel und spurtete auf den Körper zu. Aber Instinkte, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie vorhanden waren, ließen sie auf der Hälfte des Weges innehalten. Ihr Gedächtnisverlust, die Traumamedizin in dem Notfallbeutel, die Notiz auf der Karte – das Schlimmste ist geschehen und ich kann dich nicht mehr beschützen –, alles an ihrer Situation schrie nach schwerwiegender und möglicherweise unerbittlicher Gefahr. Die Person im Sand konnte genauso gut ein Feind wie ein Verbündeter sein.

Sie zog ihren Zauberstab, wandte einen Schutzschild auf sich an und schritt vorsichtiger voran. Der auf dem Bauch liegende Körper trug eine schwarze Jacke und eine schwarze Hose, wobei ein Streifen eines weißen Hemdsärmels aus einem Jackenärmel hervorlinste – nichtmagische Kleidung für Männer. Nichtmagische Kleidung für Männer aus einem anderen Teil der Welt.

Sein Körperbau war schlaksig, sein Haar war trotz der Staubschicht dunkel, sein Kopf von ihr abgewandt. Ihr Magen zog sich zusammen. War er der Eine? Wenn sie sein Gesicht sah, wenn er ihren Namen nannte und sich seine Hand um die ihre schloss, würde dann alles zurückkommen, wie die Fröhlichkeit und das Glück, die man zum Ende eines heldenhaften Abenteuers stets wiedererlangte?

Trotz seiner nichtmagischen Kleidung hielt er einen Zauberstab in der Hand. Die Rückseite seiner Jacke war aufgerissen und gab den Blick auf eine dunkel verfärbte Weste frei, die darunter lag – hatte er versucht, sie zu beschützen? Als sie näher trat, zuckten seine Finger und schlossen sich dann um den Zauberstab. Eine Welle der Erleichterung rollte über sie hinweg: Er war immer noch am Leben und sie nicht vollkommen allein in der Weite der Sahara.

Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr, nicht direkt auf ihn zuzugehen. Stattdessen hielt sie in einer Entfernung von zehn Fuß inne. »Hallo?«

Er blickte nicht einmal in ihre Richtung.

»Hallo?«

Wieder keine Antwort.

Hatte er das Bewusstsein verloren? War die Bewegung seiner Finger, die sie vorhin erspäht hatte, nicht mehr gewesen als die unfreiwilligen Regungen eines Menschen, der unter einer Gehirnerschütterung litt? Sie hob ein paar Sandkörner auf und warf sie sanft in seine Richtung – ein zögerliches Klopfen sozusagen. Fünf Fuß von ihm entfernt traf der Sand auf eine unsichtbare Barriere in der Luft.

Er drehte ihr den Kopf zu und hob den Zauberstab. »Komm nicht näher.«

Er war jung und gut aussehend. Aber sein Gesicht löste keine Erinnerungsflut aus. Es veranlasste nicht einmal ein unbestimmtes Gefühl des Wiedererkennens – bis auf die Tatsache, dass sie sich fragte, ob sie so jung wie er war.

»Ich will dir keinen Schaden zufügen«, sagte sie.

»Dann lass uns als freundliche Fremde auseinandergehen.«

Bei dem Wort »Fremde« zog sich ihr Herz zusammen. Dann riss sie die Augen auf: das, wovon sie gedacht hatte, dass es sich um seine Weste handle, die sich unter seiner zerrissenen Jacke verbarg, war in Wirklichkeit Fleisch, welches – was? Verbrannt worden war? Infiziert? Was auch immer geschehen war, es sah furchtbar aus. »Du bist verletzt.«

»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«

Er war immer noch höflich, aber seine Botschaft war unverkennbar: Geh. Du bist hier nicht willkommen.

Sie wollte ihm ihre Gesellschaft nicht aufzwingen, sogar, wenn er der einzige Mensch im Umkreis von hundert Meilen gewesen wäre. Aber diese Wunde, die er da hatte – daran konnte er sterben. »Ich habe Heilmittel, die dir helfen könnten.«

Er stieß den Atem aus, als ob die benötigte Kraft, um zu sprechen, ihn erschöpfen würde. »Dann lass sie hier.«

Was sie eigentlich wollte, war, dass er ihr im Gegenzug für die Heilmittel Dinge erzählte – wie war er in einer Wüste gelandet, wer oder was hatte ihn verletzt, und kannte er zufälligerweise einen Weg, wie sie zurück in Sicherheit gelangen konnten? Möglicherweise wies sein fehlender Wille zur Zusammenarbeit darauf hin, dass er nicht so ausweglos verletzt war, wie es den Anschein hatte; wenn sie so schlimm verwundet wäre, hätte sie jegliche Hilfe weitaus weniger pingelig angenommen.

Das nahm sie zumindest an. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wie sie sich verhalten hätte, da sie keine Erinnerungen hatte, die ihre Entscheidungen hätten leiten können.

Sie schüttelte sanft den Kopf und durchwühlte ihren Tornister. »Es würde mir leichterfallen, mich zu entscheiden, welche Heilmittel ich dir geben soll, wenn du mir sagen könntest, was für eine Art von Verletzung du hast.«

»Ich brauche Heilmittel, die den Schmerz lindern, desinfizieren, Gift entziehen und Haut und Gewebe regenerieren«, antwortete er, sein Tonfall knapp und reserviert.

Sie begann, ihr Hilfsangebot zu bereuen. Wie konnte sie wissen, dass sie genau diese Heilmittel nicht in naher Zukunft brauchen würde? Aber sie zog die Gegenmittel hervor, die er verlangt hatte, zusammen mit einer Anzahl Nahrungswürfel, und schickte sie mittels eines Schwebezaubers zum Rand seines Schildes.

»Bist du ein Elementarmagier, der Macht über das Wasser besitzt?«, fragte sie.

Seine Antwort war eine halbe Grimasse, der Stille folgte.

»Bist du einer oder nicht?«, bohrte sie nach. Alle Heilmittel der Welt würden ihm nichts nützen, wenn der Durst ihn in ein paar Tagen tötete.

»Wie sehr willst du diesen Abschied noch in die Länge ziehen?«

Beinahe trat sie einen Schritt zurück. Er fauchte, als ob er nur dafür geboren worden wäre, die Verachtung in seiner Stimme schärfer als die Zähne eines Wyvern.

Sie riss ein Paar Trinkschläuche aus dem Tornister und zwang das Wasser aus den unterirdischen Flüssen und Oasenseen dazu, ihr entgegenzufließen, wobei sie den Drang unterdrückte, eine überaus gemeine Entgegnung von sich zu geben. Er mochte vielleicht missmutig sein, aber sie konnte ihn nicht einfach ohne jedes Wasser zurücklassen – und es machte keinen Sinn, ihn mit Schimpfwörtern zu versehen, wenn er bereits im Nachteil war.

Das Wasser jedoch materialisierte sich nicht auf ihren Befehl hin. Sie sagte sich, dass Wasser, welches ja eine tatsächliche Substanz war, einige Zeit brauchte, um bei ihr anzukommen, und dies in ungewissen Mengen, je nach Entfernung und Reichhaltigkeit der nächstgelegenen Quelle.

Aber was, wenn sie keine Macht über das Wasser besaß? Dann war sie genauso verloren wie der Junge.

Eine Minute verging, bevor sich der erste Tropfen materialisierte und mitten in der Luft schwebte – sie schloss vor Erleichterung kurz die Augen. Der Junge beobachtete, wie die Wasserkugel anwuchs, und blieb dabei immer noch vollkommen unbeeindruckt.

Sie füllte die Trinkschläuche und warf sie in seine Richtung. Einer landete mit einem Gurgeln und Platschen direkt auf dem Sand. Der andere, den sie ein wenig nachdrücklicher geschleudert hatte, brachte seinen Schild leicht zum Schimmern, bevor er zu Boden fiel.

Das erregte ihre Aufmerksamkeit. Von einem normalen Schild wäre der Wasserschlauch abgeprallt. Aber wenn ihre Augen sie nicht trogen, hatte in diesem Fall der Schild, der von der Form einer Kuppel war, den Aufprall absorbiert.

Eine dehnbare Kuppel. Wenn der Junge sie ganz allein erschaffen hatte, musste er ein außergewöhnlicher Magier sein.

»Wirst du endlich gehen, jetzt, da du deine außerordentliche Güte demonstriert hast?«, knurrte der Junge beinahe.

»Ja, das werde ich«, gab sie zurück, »jetzt, da du deine immense Dankbarkeit gezeigt hast.«

Er besaß den Anstand, nicht zu antworten.

Sie murmelte leise vor sich hin, als sie alle Laschen an der Außen- und Innenseite des Tornisters befestigte und ihn zuzurrte. So viel zu der Hoffnung, dass dieser Junge mit dem süßen Gesicht ihr Beschützer war – der Einzige, der ihm jemals etwas bedeuten würde, war er selbst.

Ihr Herz schmerzte vor Kummer über den unerschütterlichen Verbündeten, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte. Ihre Finger strichen über den Tornister, die greifbare Manifestation seiner akribischen Fürsorge. Wie sehr sie sich bloß wünschte, sie könnte sich nur an ein einziges Detail erinnern. Sein Lachen, dachte sie, wenn auch sonst nichts anderes; das war die Erinnerung, die sie mit sich tragen wollte, um …

Ihre Ohren prickelten. Der Sandsturm heulte, wie er es immer tat. Aber jetzt klang es, als ob er auf große Objekte in der Luft einschlug – große Objekte, die mit enormer Geschwindigkeit näher kamen.

War Rettung auf dem Weg? Oder noch größere Gefahr? Auf jeden Fall war es besser, wenn sie nachsah, wer da kam, bevor sie sich entschied, ob sie ihnen erlauben würde, sie zu sehen. Zuvor hatte sie die Luft im Umkreis von beinahe hundert Fuß gesäubert – jetzt gestattete sie es dem Sandsturm, das Ruder zu übernehmen, abgesehen von der Lücke zwischen ihr und dem Jungen.

Auch er lauschte angestrengt, die Stirn konzentriert in Falten gelegt.

Es waren keine Vibrationen im Boden spürbar, also mussten die herannahenden Objekte Luftgefährte sein, was die Anwesenheit von Magiern nahelegte, da die Heißluftballone und zerbrechlichen Luftschiffe der Nichtmagier nicht dazu fähig wären, gegen einen Sandsturm von solchem Ausmaß vorzurücken.

Der Junge sog die Luft ein. Zum ersten Mal verriet sein Gesichtsausdruck seine Furcht. »Panzerwagen.«

Ihr Herz sank. Er hatte recht, die Geräusche waren metallisch. Nur Atlantis besaß solche Gefährte. Und sie musste sich um jedem Preis von Atlantis’ Griff fernhalten.

Sie wusste nicht weshalb, nur, dass es unvermeidlich war. Ansonsten war alles verloren.

Das Getöse von Sand, der auf Metall schlug, ließ nach, dann verschwand es vollkommen. Der Sandsturm hatte nicht nachgelassen – die Atlanter säuberten die Luft, wie sie es zuvor getan hatte.

»Lass mich unter deine Kuppel«, forderte sie.

Sie würde hier draußen ziemlich hilflos sein, wenn die Panzerwagen beschlossen, Todesregen niederfallen zu lassen – sie konnte die Bewegungen der Luft anstacheln, aber sie konnte sie nicht unschädlich machen.

»Nein.«

Es wäre Zeitverschwendung, zu versuchen, an sein gutes Herz zu appellieren, also versuchte sie es erst gar nicht. »Hättest du gerne, dass ich ihnen signalisiere, wo du steckst?«, fragte sie, während sie die Nahrungswürfel, die Heilmittel und die Trinkschläuche vom Sand auflas. »So wie ich es verstehe, kannst du dich nicht so gut bewegen.«

Der Junge fletschte die Zähne. »Deine Güte ist wahrhaft bemerkenswert.«

»Und deine Dankbarkeit erfüllt mich mit Ehrfurcht. Und jetzt lass mich rein oder bereite dich auf Atlantis vor.«

Ihre Ruchlosigkeit überraschte sie. War sie schon immer so eine hartherzige Feilscherin gewesen, oder reagierte sie nur auf die Kaltblütigkeit des Jungen?

»Schön«, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Aber ich lasse dich nicht ohne ein Nichtschadensabkommen hinein. Lass einen Blutstropfen auf die Kuppel fallen.«

Ein Junge, der Blutmagie praktizierte – sie schauderte.3 Ein Nichtschadensabkommen war nicht so furchterregend wie ein Blutschwur, aber dennoch, sämtliche Blutmagie war mächtig und gefährlich und durfte nur mit außergewöhnlicher Vorsicht angegangen werden. »Nur, wenn du mitmachst.«

»Du zuerst«, sagte er.

Sie nahm ein kleines Werkzeugset heraus, das sie zuvor in ihrem Tornister gesehen hatte, stieß einen schlanken Spieß in ihren Finger und berührte die Kuppel.

Es war, wie die Oberseite einer gigantischen Qualle zu berühren: kühl, weich und dennoch widerstandsfähig.

Der Junge zog eine Grimasse. Aus Unwillen, nahm sie an, bis sie begriff, dass es an dem Schmerz lag, den die Bewegung verursachte, als er ein Taschenmesser aus seiner Jacke zog. Er entnahm sich einen Tropfen Blut und schickte ihn auf die Außenseite der Kuppel, die ihn absorbierte, wie durstiger Erdboden das Wasser aufsaugen würde.

Das Nächste, was sie wusste, war, dass sie bis zum Ellenbogen in der Kuppel steckte. Sie wich erschrocken zurück.

»Beeil dich«, sagte der Junge.

Die Kuppel war leicht klebrig auf ihrer Haut, als sie sich hindurchquetschte. Sie setzte sich neben den Jungen und überredete den Sand dazu, sich zu erheben und die Kuppel zu bedecken, hielt nicht inne, bis es stockdunkel in ihrem Inneren war.

Dreißig Sekunden später folgte der dumpfe Aufprall von Panzerwagen, die in der Nähe landeten.

Atlantis, so schien es, wusste genau, wo sie zu finden waren.