Hanser E-Book
Sabbaths Theater
Aus dem Amerikanischen
von Werner Schmitz
Carl Hanser Verlag
Titel der Originalausgabe:
Sabbath’s Theater
Houghton Mifflin Co, Boston
© Philip Roth 1995
ISBN 978-3-446-25138-0
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 1996/2015
Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
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Für zwei Freunde
Janet Hobhouse
1948–1991
Melvin Tumin
1919–1994
PROSPERO:
Mein dritter Gedanke soll das Grab sein.
Der Sturm, 5. Akt, 1. Szene
Schwöre, daß du keine anderen mehr fickst, oder es ist Schluß.So lautete das Ultimatum, das zum Verrücktwerden unwahrscheinliche, völlig unerwartete Ultimatum, das unter Tränen die zweiundfünfzigjährige Geliebte ihrem vierundsechzigjährigen Liebhaber am Jahrestag einer Beziehung stellte, die mit erstaunlicher Freizügigkeit dreizehn Jahre lang gedauert hatte und – nicht minder erstaunlich – ebenso lange ihr Geheimnis geblieben war. Aber jetzt, da die Hormonstöße nachließen und die Prostata größer wurde, da er sich wahrscheinlich nur mehr wenige Jahre noch halbwegs auf seine Potenz verlassen konnte – und ihm womöglich gar nicht mehr so viel Zeit zum Leben blieb –, nun, wo das Ende von allem nahte, wurde ihm, unter Androhung, sie zu verlieren, auferlegt, sich vollkommen umzustülpen.
Sie, das war Drenka Balich, die allseits beliebte Geschäfts- und Ehepartnerin des Gastwirts, geschätzt wegen der Aufmerksamkeit, mit der sie alle ihre Gäste überhäufte, wegen der warmherzigen, mütterlichen Güte, die sie nicht nur einkehrenden Kindern und alten Leuten, sondern auch den Mädchen angedeihen ließ, die die Zimmer saubermachten und die Mahlzeiten servierten, und er, das war der vergessene Puppenspieler Mickey Sabbath, ein kleiner, stark untersetzter, weißbärtiger Mann mit beunruhigend grünen Augen und schmerzenden arthritischen Fingern, ein Mann, der, hätte er gut dreißig Jahre früher, bevor die Sesamstraße anlief, ja gesagt, als Jim Henson ihn an der Upper East Side zum Lunch eingeladen und gebeten hatte, sich seiner Clique von vier oder fünf Leuten anzuschließen, all diese Jahre hindurch in dem großen Vogel Bibo hätte stecken können. Anstelle von Carroll Spinney hätte dann Sabbath in Bibo gesteckt, Sabbath, der auf dem Walk of Fame in Hollywood einen Stern hatte, Sabbath, der mit Bob Hope in China gewesen war – woran ihn jedenfalls seine Frau Roseanna damals gern erinnerte, als sie noch zwei unwiderlegbare Gründe hatte, sich zu Tode zu trinken: das, was geschehen war, und das, was nicht. Da Sabbath jedoch in Bibo kein bißchen glücklicher gewesen wäre, als er es in Roseanna war, machten ihm diese Vorhaltungen nicht viel aus. 1989, als Sabbath wegen schwerer sexueller Belästigung eines Mädchens, das vierzig Jahre jünger war als er, sein öffentliches Ansehen ruiniert hatte, mußte Roseanna infolge des durch den demütigenden Skandal herbeigeführten alkoholischen Zusammenbruchs einen Monat in einer psychiatrischen Anstalt verbringen.
»Ein monogames Männchen reicht dir wohl nicht?« fragte er Drenka. »Die Monogamie mit ihm gefällt dir so gut, daß du sie auch mit mir haben willst? Siehst du denn keinen Zusammenhang zwischen der beneidenswerten Treue deines Mannes und der Tatsache, daß du ihn körperlich abstoßend findest?« Schwülstig fuhr er fort: »Wir, die wir nie aufhören, uns gegenseitig zu erregen, haben uns nicht mit Gelöbnissen belastet, Treueschwüren und Einschränkungen, während die Fickerei mit ihm selbst in den zwei Minuten pro Monat ekelhaft ist, wo er dich über den Eßtisch beugt und es dir von hinten macht. Und wie kommt das? Matija ist doch groß und stark und männlich und hat einen schwarzen Schopf wie ein Stachelschwein. Haare wie Stacheln. Jede alte Schachtel in der Gegend ist verliebt in ihn, und das liegt nicht nur an seinem slawischen Charme. Sein Äußeres macht sie scharf. Eure kleinen Kellnerinnen sind alle ganz verrückt nach der Spalte in seinem Kinn. Ich habe ihn hinten in der Küche beobachtet, im August, bei achtunddreißig Grad, wenn draußen zehn auf einen Tisch warteten. Ich habe gesehen, wie er da schuftete, wie er in seinem klitschnassen T-Shirt reihenweise Kebabs gebraten hat. Wenn er so von Fett glänzt, macht er sogar mich scharf. Nur seine Frau findet ihn abstoßend. Warum? Weil er so demonstrativ monogam ist, deshalb.«
Drenka schleppte sich traurig neben ihm den steilen bewaldeten Hang hinauf zu der Stelle, wo ihr Badebach aus dem Boden sprudelte, klares Wasser, das über eine Treppe aus Granitblöcken, die in unregelmäßigen Kurven zwischen silbriggrünen, windschief über die Ufer hängenden Birken hinabführte, nach unten plätscherte. Während der ersten Monate ihrer Affäre, als sie einmal auf der Suche nach genau einem solchen Liebesnest allein losgewandert war, hatte sie in einer Gruppe uralter Tannen unweit des Bachs drei Felsen entdeckt – sie hatten Größe und Farbe von kleinen Elefanten und markierten eine dreieckige Lichtung, die den beiden als Zuhause dienen sollte. Schlamm, Schnee und betrunkene Jäger, die oben im Wald herumschossen, machten den Kamm des Hügels zu allen Jahreszeiten wenig anziehend, aber von Mai bis Anfang Oktober zogen sie sich, falls es nicht gerade regnete, hierhin zurück, um ihr Leben zu erneuern. Vor Jahren einmal war aus dem Nichts ein Hubschrauber aufgetaucht und hatte für einen Augenblick dreißig Meter über ihnen geschwebt, als sie dort nackt auf ihrer Plane lagen, ansonsten aber hatte keines Menschen Gegenwart jemals ihr heimliches Lager bedroht, dabei lag die Grotte, wie sie ihr Versteck getauft hatten, nur fünfzehn Minuten zu Fuß von der einzigen befestigten Straße entfernt, die das Tal mit Madamaska Falls verband.
Drenka war eine dunkle, italienisch wirkende Kroatin von der dalmatinischen Küste, klein gewachsen wie Sabbath, eine füllige, stabil gebaute Frau, reizvoll auf der Kippe zum schieren Übergewicht, erinnerte ihre Gestalt, wenn sie besonders dick war, an jene Tonfiguren von circa 2000 v. Chr., dicke Püppchen mit großen Brüsten und breiten Hüften, die in ganz Europa bis nach Kleinasien ausgegraben und unter einem Dutzend verschiedener Namen als die große Mutter der Götter verehrt worden waren. Sie war hübsch auf eine recht wirksame, sachliche Art, bis auf ihre Nase, eine merkwürdig rückenlose Preisboxernase, die mitten in ihrem Gesicht für eine gewisse unscharfe Stelle sorgte, eine Nase, die nicht ganz senkrecht zu den vollen Lippen und den großen dunklen Augen stand und, wie Sabbath schließlich meinte, verräterisch all das symbolisierte, was an ihrem scheinbar so gut entwickelten Wesen verformbar und unbestimmt war. Sie sah aus, als sei sie einmal schwer mißhandelt worden, in frühester Kindheit von einem harten Schlag getroffen worden, tatsächlich aber war sie die Tochter freundlicher Eltern, die beide an Hauptschulen unterrichteten und sich mit frommem Eifer für die tyrannischen Platitüden der kommunistischen Partei Titos engagierten. Als ihr einziges Kind war sie von diesen netten, langweiligen Leuten mit Liebe überschüttet worden.
Drenka hatte den Schlag für die Familie selbst herbeigeführt. Mit zweiundzwanzig, als Hilfsbuchhalterin bei der nationalen Eisenbahn, heiratete sie Matija Balic, einen gutaussehenden, aufstrebenden jungen Kellner, den sie während ihres Urlaubs in einem Hotel, das genossenschaftlich den Eisenbahnarbeitern gehörte, auf der vor Split gelegenen Insel Brac kennengelernt hatte. Die beiden machten ihre Hochzeitsreise nach Triest und kehrten nicht mehr nach Hause zurück. Sie liefen nicht nur davon, um im Westen reich zu werden, sondern auch, weil Matijas Großvater 1948 ins Gefängnis mußte, als Tito mit der Sowjetunion brach und der Großvater, ein örtlicher Parteibürokrat und Kommunist seit 1923, der für das große Mütterchen Rußland schwärmte, es gewagt hatte, offen über diese Sache zu sprechen. »Meine beiden Eltern«, hatte Drenka Sabbath erklärt, »waren überzeugte Kommunisten und liebten den Genossen Tito, der immerzu lächelt wie ein lächelndes Monster, und so lernte ich ziemlich früh, Tito mehr zu lieben als jedes andere Kind in Jugoslawien. Wir waren alle bei den Pionieren, kleine Jungen und Mädchen, die mit roten Schals auf die Straße gingen und sangen. Wir sangen Lieder über Tito, in denen er als Blume, als lila Blume beschrieben wird, und wie sehr die ganze Jugend ihn liebt. Aber bei Matija war es anders. Er war ein kleiner Junge, der seinen Großvater liebte. Und jemand hat seinen Großvater verpetzt – sagt man das so? Denunziert. Er wurde denunziert. Als Feind des Regimes. Und die Feinde des Regimes wurden alle in dieses schreckliche Gefängnis gesteckt. Am schrecklichsten war es, wenn sie wie Vieh in die Schiffe geworfen wurden. Mit Schiffen vom Festland auf die Insel verfrachtet wurden. Wer überlebt, überlebt, und wer nicht, nicht. Das einzige, was es dort gab, waren Steine. Und sie mußten immer nur Steine bearbeiten, Steine klopfen, ohne Sinn und Verstand. Viele Familien hatten einen, der auf diese Goli Otok mußte, das heißt Nackte Insel. Die Leute denunzieren andere aus irgendwelchen Gründen – um befördert zu werden, aus Haß, aus was weiß ich. Immerzu lag die mächtige Drohung in der Luft, daß man anständig zu sein habe, und anständig sein heißt: das Regime unterstützen. Sie bekamen auf dieser Insel nichts zu essen, sie bekamen nicht einmal Wasser. Eine Insel vor der Küste, etwas nördlich von Split – von der Küste kann man die Insel in der Ferne sehen. Sein Großvater zog sich dort eine Hepatitis zu und starb, kurz bevor Matija mit der Hauptschule fertig war. Starb an Leberzirrhose. Hat jahrelang gelitten. Die Gefangenen schickten Karten nach Hause, und auf den Karten mußten sie behaupten, daß sie sich gebessert hätten. Seine Mutter erzählte Matija, ihr Vater sei kein guter Mensch, er höre nicht auf den Genossen Tito, und deshalb sei er im Gefängnis. Matija war neun. Sie wußte genau, was sie sagte, wenn sie ihm so etwas erzählte. Damit er in der Schule nicht provoziert würde, etwas anderes zu sagen. Sein Großvater versprach gut zu sein und Drug Tito zu lieben, und so wurde er nach zehn Monaten aus dem Gefängnis freigelassen. Aber da hatte er die Hepatitis schon. Als er heimkam, machte Matijas Mutter ein großes Fest. Er wog vierzig Kilo, als er heimkam. Achtzig Pfund. Und er war, wie Maté, ein großer Mann. Körperlich völlig vernichtet. Einer hatte ihn verpetzt, und das war’s. Und deshalb wollte Matija nach unserer Hochzeit weglaufen.«
»Und warum wolltest du weglaufen?«
»Ich? Mir war Politik egal. Ich war wie meine Eltern. Im alten Jugoslawien, als es noch einen König und all so was gab, vor dem Kommunismus, hat man den König geliebt. Dann kam der Kommunismus, und man hat den Kommunismus geliebt. Mir war’s egal, also habe ich ja gesagt, ja zu dem lächelnden Monster. Ich habe das Abenteuer geliebt. Amerika wirkte so großartig und bezaubernd und so ungeheuer anders. Amerika! Hollywood! Geld! Warum ich dort hingegangen bin? Ich war jung. Ich wollte dorthin, wo ich am meisten Spaß haben konnte.«
Drenka brachte Schande über ihre Eltern, als sie in dieses imperialistische Land floh, dieser Verrat brach ihnen das Herz, und auch sie starben wenig später, beide an Krebs. Sie aber liebte das Geld und den »Spaß« so sehr, daß sie es wahrscheinlich nur der liebevollen Zuwendung dieser überzeugten Kommunisten zu verdanken hatte, wenn ihr fülliger jugendlicher Körper mit dem aufreizend brutalen Gesicht mit sich selbst nicht noch etwas viel Kapriziöseres anstellte, als sich dem Kapitalismus zu unterwerfen.
Der einzige Mann, von dem sie sich je für eine Nacht hatte bezahlen lassen, war der Puppenspieler Sabbath, und das war in den dreizehn Jahren nur ein einziges Mal vorgekommen, als er ihr das Angebot von Christa unterbreitete, einem durchgebrannten deutschen Au-pair-Mädchen, das in einem Gourmetshop arbeitete und das er lange beobachtet und geduldig für ihr gemeinsames Vergnügen herangezogen hatte. »Barzahlung«, hatte Drenka verlangt, dabei sah sie nun schon seit Monaten, seit er Christa, die gerade in die Stadt getrampt war, zum erstenmal gesehen hatte, dem Abenteuer nicht weniger erregt entgegen als Sabbath und mußte sich nicht lange zum Mitmachen überreden lassen. »Neue Scheine«, sagte sie mit schelmisch verkniffenen Augen, meinte es aber durchaus ernst. »Druckfrisch und glatt.« Bedenkenlos in die Rolle schlüpfend, die sie ihm so rasch zugewiesen hatte, fragte er: »Wieviel?« »Zehn«, forderte sie scharf. »Zehn kann ich mir nicht leisten.« »Dann vergiß es. Ohne mich.« »Du bist eine harte Frau.« »Ja. Hart«, gab sie behaglich zurück. »Ich weiß, was ich wert bin.« »Es hat einige Mühe gekostet, das zu arrangieren. War keine Kleinigkeit, das zu deichseln. Christa mag ja ein launisches Kind sein, aber man muß sich schon sehr um sie kümmern. Eigentlich müßte ich von dir bezahlt werden.« »Ich will nicht wie eine falsche Hure behandelt werden. Ich will wie eine richtige Hure behandelt werden. Tausend Dollar, oder ich bleibe zu Hause.« »Du verlangst Unmögliches.« »Dann schlag’s dir aus dem Kopf.« »Fünfhundert.« »Sieben-fünfzig.« »Fünfhundert. Mehr ist nicht drin.« »Aber nur, wenn du’s mir vorher gibst. Ich will mit dem Geld in der Tasche dort reinkommen und wissen, daß ich einen Job zu erledigen habe. Ich will mich wie eine echte Hure fühlen.« »Ich bezweifle«, meinte Sabbath, »daß Geld allein genügt, um sich wie eine echte Hure zu fühlen.« »Mir genügt’s.« »Du Glückliche.« »Du bist der Glückliche«, sagte Drenka trotzig – »also gut, fünfhundert. Aber vorher. Ich will das ganze Geld am Abend vorher haben.«
Die Vertragsbedingungen wurden ausgehandelt, während sie sich auf der Plane oben in der Grotte gegenseitig mit der Hand stimulierten.
Sabbath machte sich nichts aus Geld. Aber seitdem die Arthritis seiner aktiven Laufbahn als Puppenspieler auf internationalen Festivals ein Ende gemacht hatte und sein Puppen-Workshop vom Lehrplan des Vier-College-Programms gestrichen war, weil er sich dort unmöglich gemacht hatte, war er auf Unterstützung durch seine Frau angewiesen, und es schmerzte ihn daher nicht wenig, fünf von den zweihundertzwanzig Hundert-Dollar-Scheinen, die Roseanna im Jahr an ihrer High School verdiente, abzuzählen und einer Frau zu geben, deren im Familienbetrieb laufendes Gasthaus 150.000 Dollar netto im Jahr einbrachte.
Natürlich hätte er sie zum Teufel schicken können, zumal Drenka auch ohne Bezahlung begeistert bei dem Dreier mitgemacht hätte, aber für eine Nacht als ihr Freier zu agieren erschien ihm ebenso reizvoll wie es ihr erschien, eine Prostituierte zu spielen. Überdies hatte Sabbath gar nicht das Recht, nicht nachzugeben – das volle Erblühen ihrer hemmungslosen Hingabe hatte sie ganz allein ihm zu verdanken. Ihre methodische Tüchtigkeit als Geschäftsführerin des Gasthauses – das pure Vergnügen, Jahr für Jahr so viel Kohle zu scheffeln – hätte ihr Triebleben vielleicht schon lange verkümmern lassen, hätte Sabbath nicht aus der Flachheit ihrer Nase, aus der Rundheit ihrer Glieder – um nur das Nächstliegende zu nennen – den Schluß gezogen, daß Drenka Balichs Perfektionismus bei der Arbeit nicht ihre einzige unmäßige Leidenschaft sei. Und so hatte Sabbath, ein sehr geduldiger Lehrmeister, sie Schritt für Schritt ihrem gesitteten Leben entfremdet und dazu gebracht, das Unanständige als Ausgleich für die Mängel ihrer geordneten Lebensweise zu entdecken.
Das Unanständige? Wer weiß? Tu, was du willst, sagte Sabbath, und sie tat es und fand Gefallen daran und erzählte ihm gern, wie sehr es ihr gefallen habe, wobei er ihr nicht minder gern zuhörte. Manche Ehemänner riefen, nachdem sie mit Frau und Kindern ein Wochenende im Gasthaus verbracht hatten, von ihren Büros aus Drenka heimlich an und sagten ihr, sie müßten sie unbedingt wiedersehen. Der Baggerführer, der Zimmermann, der Elektriker, der Anstreicher, alle die Arbeiter, die in der Umgebung des Gasthauses zu tun hatten, richteten es ausnahmslos so ein, daß sie ihr Mittagessen in der Nähe des Büros verzehrten, wo Drenka die Buchhaltung machte. Wo immer sie hinkam, spürten die Männer eine undefinierbar lockende Ausstrahlung. Sobald Sabbath ihr die Macht, die mehr und immer mehr verlangt, einmal zugebilligt hatte – eine Macht, gegen deren Drängen sie auch vor Sabbaths Auftauchen nie vollständig abgeneigt gewesen war –, begannen die Männer einzusehen, daß diese kleine, nicht gerade umwerfend aussehende und nicht mehr ganz taufrische Frau im Korsett ihrer lächelnden Höflichkeit von einer Sinnlichkeit getrieben wurde, die ihrer eigenen kaum nachstand. In dieser Frau steckte jemand, der wie ein Mann dachte. Und dieser Mann in ihr war Sabbath. Sie war, wie sie es ausdrückte, sein Kumpan.
Wie konnte er guten Gewissens zu den fünfhundert Dollar nein sagen? Ein Nein war in der Abmachung nicht vorgesehen. Um das zu sein, was sie gelernt hatte, sein zu wollen (zu sein, was er von ihr brauchte), dazu brauchte sie von Sabbath ein Ja. Daß sie von dem Geld Elektrowerkzeuge für die Kellerwerkstatt ihres Sohnes kaufte, störte ihn nicht. Matthew war verheiratet und lebte als Angehöriger der Staatspolizei in der Kaserne unten im Tal; Drenka betete ihn an und lebte, seit er Polizist geworden war, in ständiger Sorge um ihn. Er war weder groß und stattlich noch hatte er das schwarze Stachelhaar und die tiefe Kinnspalte seines Vaters, dessen anglisierten Namen er trug, sondern er war ganz eindeutig ein Sprößling Drenkas: klein von Gestalt – nur einszweiundsiebzig groß und 122 Pfund schwer, war er der Jüngste und auch der Kleinste seines Jahrgangs auf der Polizeischule gewesen – und mitten im Gesicht jene unscharfe Stelle, eine Kopie der nasenlosen Nase seiner Mutter. Er war dazu erzogen worden, eines Tages das Gasthaus zu übernehmen, und hatte seinen Vater in Verzweiflung gestürzt, als er nach nur einem Jahr die Hotelfachschule verließ, um ein muskulöser Polizist mit Bürstenschnitt, Tellermütze, Dienstmarke und viel Macht zu werden, ein Jungbulle, dessen erstes Wirkungsfeld – Radarkontrollen bei der Verkehrspolizei, im Streifenwagen die Highways rauf- und runterfahren – die tollste Arbeit der Welt war. Man lernt so viele Leute kennen, jedes Auto, das man anhält, ist anders, andere Insassen, andere Umstände, andere Geschwindigkeit … Drenka wiederholte Sabbath alles, was Matthew ihr vom Leben eines Polizisten erzählte, und zwar seit dem Tag vor sieben Jahren, an dem er in die Akademie eingetreten war und die Ausbilder mit ihrem Gebrüll angefangen und er seiner Mutter geschworen hatte: »Davon lasse ich mich nicht unterkriegen«, bis zu dem Tag, an dem er seinen Abschluß machte und man ihm, klein wie er war, eine Ehrennadel für körperliche Fitness verlieh und ihm und den Klassenkameraden, die die vierundzwanzig Wochen der Ausbildung überstanden hatten, erklärte: »Ihr seid nicht Gott, aber ihr kommt gleich hinter ihm.« Sie schilderte Sabbath die Vorzüge von Matthews fünfzehnschüssiger 9-Millimeter-Pistole und wie er sie im Stiefel oder, außerhalb der Dienstzeit, hinten im Gürtel trage, und welche Angst ihr das mache. Sie hatte ständig Angst, er könnte getötet werden, besonders dann, als er von der Verkehrspolizei in die Kaserne verlegt wurde und alle paar Wochen die Nachtschicht machen mußte. Matthew selbst liebte es schließlich ebensosehr, im Auto herumzufahren, wie er vorher die Radarkontrollen geliebt hatte. »Auf Streife ist man sein eigener Herr. Sobald man in den Wagen steigt und da draußen herumfährt, kann man machen, was man will. Freiheit, Ma. Jede Menge Freiheit. Solange nichts passiert, fährt man einfach nur herum. Allein im Wagen, schaukelt man auf den Straßen herum, bis man wegen irgendwas gerufen wird.« Er war in einer Gegend großgeworden, die bei der Staatspolizei die Nordstreife hieß. Er kannte das Gebiet, sämtliche Straßen, die Wälder, er kannte die Läden in den Ortschaften und fand enorme männliche Befriedigung darin, dort nachts vorbeizufahren und nach dem Rechten zu sehen, Banken und Bars zu überprüfen, Leute zu beobachten, die aus den Bars kamen, und festzustellen, wie schwer sie einen sitzen hatten. Er habe einen Platz in der ersten Reihe, sagte Matthew zu seiner Mutter, im größten Theater der Welt – Unfälle, Einbrüche, Familienstreitigkeiten, Selbstmorde. Die meisten Menschen bekommen nie ein Selbstmordopfer zu sehen, aber ein Mädchen, mit dem Matthew zur Schule gegangen war, hatte sich im Wald in den Kopf geschossen, hatte sich unter eine Eiche gesetzt und sich die Schädeldecke weggeschossen, und Matthew, im ersten Jahr nach dem Abgang von der Polizeischule, kam als Polizist zum Ort der Tat, mußte den Gerichtsarzt anfordern und warten, bis er eintraf. In diesem ersten Jahr, erzählte Matthew seiner Mutter, war er so aufgeblasen, fühlte er sich so unbesiegbar, daß er glaubte, Kugeln mit den Zähnen auffangen zu können. Matthew wird zu einem Ehestreit gerufen, bei dem Mann und Frau betrunken sind und sich voller Haß anschreien und prügeln, und er, ihr Sohn, spricht mit ihnen und beruhigt sie so weit, daß, wenn er geht, alles in Ordnung ist und keiner der beiden wegen Ruhestörung ins Kittchen wandert. Und manchmal ist es so schlimm, daß er sie verhaften muß, er legt der Frau und dem Mann Handschellen an und wartet, bis noch ein Kollege kommt, und dann buchten sie die beiden ein, bevor sie sich gegenseitig umbringen können. Als ein junger Bursche in einer Pizzeria an der 63. beim Rausgehen mit einer Pistole herumfuchtelte, war es Matthew, der den Wagen des Jungen entdeckte und ihn, ohne jede Unterstützung und im Bewußtsein, daß der Junge bewaffnet war, über den Lautsprecher aufforderte, mit erhobenen Händen auszusteigen, und ihn dann mit der eigenen Waffe in Schach hielt … und diese Geschichten, die seiner Mutter beweisen sollten, daß er ein guter Polizist war, der seine Arbeit gut machen wollte und so, wie man es ihm beigebracht hatte, versetzten sie in solche Angst, daß sie einen Scanner kaufte, einen kleinen Kasten mit Antenne und Kristalldetektor, mit dem sie den Polizeifunk auf Matthews Frequenz abhören konnte, und manchmal, wenn er auf Nachtstreife war und sie keinen Schlaf fand, stellte sie den Scanner an und hörte die ganze Nacht lang zu. Der Scanner schaltete sich immer ein, wenn Matthew gerufen wurde, so daß Drenka stets ziemlich genau wußte, wo er sich befand und wo er hinfuhr und daß er noch am Leben war. Wenn sie seine Nummer hörte – 415 B –, zack, war sie hellwach. Matthews Vater freilich auch – und wütend obendrein, weil es ihn wieder einmal daran erinnerte, daß der Sohn, den er allsommerlich in der Küche ausgebildet hatte, der Erbe des Geschäfts, das er als mittelloser Einwanderer aus dem Nichts aufgebaut hatte, statt dessen jetzt Fachmann in Judo und Karate war und um drei Uhr morgens stupide einen alten Pickup verfolgte, der verdächtig langsam den Battle Mountain überquerte. Die Verbitterung zwischen Vater und Sohn war so schlimm geworden, daß Drenka ihre Ängste um Matthews Sicherheit nur noch mit Sabbath teilen und nur ihm von dem Stolz erzählen konnte, den sie über seine ungeheuren wöchentlichen Fahrleistungen empfand: »Da draußen ist immer was los«, erzählte er ihr. »Da draußen gibt es immer etwas – Geschwindigkeitsübertretungen, Stoppschilder, Fahren ohne Rücklicht, alle möglichen Verstöße …« Für Sabbath kam es daher gar nicht überraschend, als Drenka ihm gestand, von den fünfhundert Dollar, die er ihr gezahlt hatte, damit sie den Dreier mit Christa und ihm vervollständigte, habe sie Matthew zum Geburtstag eine tragbare Makita-Tischsäge und einen schönen Satz Kehlhobeleisen gekauft.
Im großen ganzen hätte es für alle Beteiligten gar nicht besser laufen können. Drenka hatte den Weg gefunden, auf dem sie zur liebsten Freundin ihres Mannes werden konnte. Der ehemalige Puppenspieler vom Unzüchtigen Theater Manhattan machte ihr den Ehealltag, der sie bis dahin fast umgebracht hatte, mehr als bloß erträglich – jetzt schätzte sie den tödlichen Trott als Ausgleich für ihre Verwegenheit. Weit davon entfernt, ihren einfallslosen Mann zu verabscheuen, war sie noch nie so dankbar für Matijas Stumpfsinn gewesen.
Fünfhundert war billig für das, was sie alle an Trost und Befriedigung bekamen, und daher stellte Sabbath, sosehr es ihn fuchste, diese frischen neuen Scheine herausrücken zu müssen, Drenka gegenüber die gleiche Kaltblütigkeit zur Schau wie sie es ihm gegenüber tat, als sie mit leisem Vergnügen an diesem Filmklischee die Scheine einmal faltete und sich in den BH steckte, zwischen die Brüste, deren weiche Fülle für ihn nie ihren Reiz eingebüßt hatte. Das hätte, da die Muskulatur überall ihre Festigkeit verlor, eigentlich anders sein sollen, aber selbst dort, wo ihre Haut wie Papier geworden war, am tiefsten Punkt ihres Ausschnitts, selbst diese handflächengroße Raute minuziös schraffierten Fleischs steigerte nicht nur ihren anhaltenden Charme, sondern auch seine zärtlichen Gefühle für sie. Er war sechs kurze Jahre vom Siebzigsten entfernt: daß er auch jetzt noch nach ihren immer feister werdenden Hinterbacken griff, als hätte die Tätowiererin Zeit sie nicht beide mit ihren komischen Girlanden verziert, lag an dem unentrinnbaren Wissen, daß das Spiel so gut wie gelaufen war.
In letzter Zeit, wenn Sabbath an Drenkas strotzenden Brüsten saugte – strotzen kommt von Strauß und bedeutet übervoll von etwas sein, also auch fruchtbar sein, überquellen wie die auf dem Bauch liegende Juno auf Tintorettos Gemälde, wo ihr die Milchstraße aus der Titte strömt –, mit so unstillbarer Verzückung saugte, daß Drenka ekstatisch den Kopf zurückwarf und stöhnte (wie Venus selbst einst gestöhnt haben mag): »Mich juckt’s in der Möse«, zerriß ihn die heftigste Sehnsucht nach seinem lieben verstorbenen Mütterchen. Ihr Primat war fast wieder so absolut wie damals in ihrem unvergleichlichen ersten gemeinsamen Jahrzehnt. Sabbath empfand beinahe so etwas wie Ehrfurcht vor diesem natürlichen Sinn für ein Schicksal, das sie genossen hatte, und auch – bei einer Frau mit einer solchen Pferdenatur – vor der Seele, die in all dieser vibrierenden Energie steckte, einer Seele, die so unverkennbar gegenwärtig war wie die duftenden Kuchen im Backofen, wenn er aus der Schule gekommen war. Das weckte Gefühle in ihm, die er nicht mehr erlebt hatte, seit er acht oder neun Jahre alt war und sie im Verhätscheln ihrer beiden Söhne die größte Wonne gefunden hatte. Ja, Morty und Mickey großzuziehen war der Höhepunkt ihres Lebens gewesen. Wie die Erinnerung an sie, wie ihre Bedeutung für Sabbath immer größere Ausmaße annahm, wenn er an den Eifer zurückdachte, mit dem sie in jedem Frühjahr die Vorbereitungen zum Passahfest getroffen hatte, all die Arbeit, das normale Geschirr, beide Garnituren, wegzuräumen und dann aus der Garage die Kartons mit dem Passahgeschirr hereinzuschleppen, das alles abzuwaschen und in den Schrank zu stellen – in der Zeit von morgens, wenn er und Morty zur Schule gegangen waren, bis nachmittags, wenn sie zurückkamen, in weniger als einem Tag hatte sie die Speisekammer von allem Chomez befreit und die Küche gemäß dem ganzen Kanon von Feiertagsvorschriften gescheuert und saubergemacht. So, wie sie ihre Pflichten anging, war schwer zu sagen, ob sie der Not gehorchte oder die Not ihr gehorchte. Eine schmächtige Frau mit großer Nase und dunklen Locken, hüpfte und flitzte sie hin und her wie ein Vogel in einem Beerenstrauch und trällerte und zwitscherte dabei so munter vor sich hin wie eine Nachtigall, und dieser Gesang entströmte ihr genauso natürlich wie sie Staub wischte, bügelte, stopfte, polierte und nähte. Dinge falten, Dinge glattstreichen, Dinge ordnen, Dinge stapeln, Dinge packen, Dinge sortieren, Dinge öffnen, Dinge teilen, Dinge bündeln – während seiner ganzen Kindheit kamen ihre flinken Finger ebensowenig zur Ruhe wie ihr Pfeifen. So zufrieden war sie, so sehr ging sie in allem auf, was zu tun war, um die Geschäftsbücher ihres Mannes in Ordnung zu halten, um ein friedliches Leben neben ihrer ältlichen Schwiegermutter zu führen, um für die täglichen Bedürfnisse ihrer zwei Jungen zu sorgen, um auch in der schlimmsten Phase der Depression sicher zu sein, daß der von ihr erstellte Etat, ganz gleich, wie wenig Geld das Geschäft mit Butter und Eiern einbrachte, die glückliche Entwicklung der Söhne nicht beeinträchtigte und daß zum Beispiel alles, was von Morty an Mickey weitergereicht wurde, und Mickey trug praktisch nichts anderes, stets tadellos geflickt, frisch gelüftet und einwandfrei sauber war. Ihr Mann erklärte seinen Kunden stolz, seine Frau habe Augen im Hinterkopf und zwei Paar Hände.
Dann zog Morty in den Krieg, und alles wurde anders. Immer hatten sie alles als Familie getan. Nie waren sie getrennt gewesen. Sie waren nie so arm, daß sie das Haus im Sommer vermieten und wie die Hälfte ihrer Nachbarn, die genauso nah am Strand lebten wie die Sabbaths, in eine beschissene kleine Wohnung über der Garage ziehen mußten, doch eine arme Familie waren sie nach amerikanischen Maßstäben trotzdem, und keiner von ihnen hatte jemals irgendwohin eine Reise gemacht. Nun aber war Morty fort, und zum erstenmal in seinem Leben schlief Mickey allein in ihrem Zimmer. Einmal besuchten sie Morty im Ausbildungslager in Oswego, New York. Als er für sechs Monate nach Atlantic City verlegt wurde, fuhren sie an manchen Sonntagen dorthin, um ihn zu sehen. Und als er zum Pilotentraining nach North Carolina kam, nahmen sie die weite Fahrt in den Süden auf sich, wobei sein Vater gezwungen war, den Lieferwagen einem Nachbarn zu überlassen und diesen dafür zu bezahlen, daß er in den Tagen ihrer Abwesenheit die Waren auslieferte. Morty hatte Hautprobleme und sah nicht besonders gut aus, in der Schule war er in allen Fächern außer Werken und Sport nur mittelmäßig, er hatte nie Erfolg bei den Mädchen gehabt, und dennoch wußten alle, daß er es mit seiner Körperkraft und Charakterstärke schaffen würde, sich gegen alle Schwierigkeiten des Lebens zu behaupten. Auf der High School spielte er Klarinette in einer Tanzkapelle. Er war ein As in Leichtathletik. Ein phantastischer Schwimmer. Er half seinem Vater im Geschäft. Er half seiner Mutter im Haushalt. Er konnte großartig mit seinen Händen umgehen, aber das konnten sie schließlich alle: das Feingefühl, mit dem sein kräftiger Vater die Eier durchleuchtete, die pingelige Gewandtheit seiner Mutter bei der Hausarbeit – diese Fingerfertigkeit, die auch Mickey eines Tages offenbaren sollte, hatten die Sabbaths im Blut. Ihre ganze Freiheit lag in ihren Händen. Morty konnte alles reparieren, sanitäre Anlagen und Elektrogeräte. Gib das Morty, pflegte seine Mutter zu sagen, Morty macht das schon. Und es war nicht übertrieben, wenn sie sagte, er sei der netteste ältere Bruder von der ganzen Welt. Kaum hatte er mit achtzehn die Asbury High School hinter sich, meldete er sich, anstatt auf die Einberufung zu warten, gleich freiwillig zur Luftwaffe. Mit achtzehn zog er ein, und mit zwanzig war er tot. Abgeschossen über den Philippinen, am 12. Dezember 1944.
Fast ein Jahr lang wollte Sabbaths Mutter nicht aus dem Bett. Konnte nicht. Niemals mehr sprach man von ihr als einer Frau mit Augen im Hinterkopf. Zuweilen handelte sie, als habe sie nicht einmal mehr Augen vorne im Kopf, und soweit sich der überlebende Sohn, während er saugte und schmatzte, als wollte er Drenka trockenlegen, noch erinnern konnte, hörte man sie auch nie mehr ihr Erkennungsliedchen pfeifen. Nun war es still in dem Haus am Meer, wenn er nach der Schule den sandigen Weg hinaufkam, und erst wenn er das Haus betreten hatte, konnte er feststellen, ob sie überhaupt da war. Kein Honigkuchen, kein Nuß- und Dattelbrot, kein Napfkuchen, gar nichts mehr stand nach der Schule im Backofen. Wenn das Wetter schön wurde, saß sie auf der Promenadenbank mit Blick auf den Strand, wohin sie früher bei Tagesanbruch mit den Jungen gelaufen war, um direkt von den Fischerbooten Flundern zum halben Preis dessen zu kaufen, was dafür im Laden verlangt wurde. Nach dem Krieg, als alle heimkehrten, ging sie dorthin, um mit Morty zu sprechen. Im Lauf der Jahrzehnte sprach sie eher mehr als weniger mit ihm, bis sie in dem Pflegeheim in Long Branch, wohin Sabbath sie mit neunzig bringen mußte, schließlich nur noch mit Morty sprach. In den letzten zwei Jahren ihres Lebens hatte sie keine Ahnung, wer Sabbath war, wenn er nach viereinhalb Stunden Fahrt bei ihr auftauchte. Den lebenden Sohn erkannte sie nicht mehr. Aber das hatte schon 1944 angefangen.
Und jetzt sprach Sabbath mit ihr. Und das hatte er nicht erwartet. Mit seinem Vater, der, sosehr auch ihn Mortys Tod gebrochen hatte, Mickey nie im Stich gelassen hatte, der stets zu Mickey hielt, ganz gleich, wie unverständlich ihm das Leben seines Sohnes wurde, als er nach der High School zur See ging oder dann später auf den Straßen von New York mit seinen Puppen aufzutreten begann, mit seinem verstorbenen Vater, einem einfachen, ungebildeten Mann, der im Gegensatz zu seiner Frau auf der anderen Seite des Ozeans geboren und mit dreizehn ganz allein nach Amerika gekommen war und dann binnen sieben Jahren so viel Geld verdient hatte, daß er seine Eltern und seine beiden jüngeren Brüder nachkommen lassen konnte, hatte Sabbath nie ein Wort gesprochen, seit der ausgediente Butter-und-Eier-Händler vor vierzehn Jahren im Alter von einundachtzig im Schlaf gestorben war. Nie hatte er den Schatten seines Vaters in der Nähe gespürt. Nicht nur, weil sein Vater immer der am wenigsten Gesprächige in der Familie gewesen war, sondern auch, weil Sabbath nie einen Beweis dafür hatte finden können, daß die Toten irgend etwas anderes als tot waren. Mit ihnen zu reden war zugegebenermaßen die Verzeihlichste aller irrationalen menschlichen Verhaltensweisen, war aber Sabbaths Wesen fremd. Sabbath war Realist, ein so grimmiger Realist, daß er mit vierundsechzig praktisch jede Verbindung mit den Lebenden abgebrochen hatte, geschweige denn, daß er mit den Toten über seine Probleme sprach.
Aber genau dies tat er jetzt täglich. Jeden Tag war seine Mutter da, und er sprach mit ihr, und sie unterhielt sich mit ihm. Wie gegenwärtig bist du genau, Ma? Bist du nur hier, oder bist du überall? Würdest du aussehen wie früher, wenn ich die Möglichkeit hätte, dich zu sehen? Mein Bild von dir ändert sich dauernd. Weißt du nur, was du zu deinen Lebzeiten wußtest, oder weißt du jetzt alles, oder ist »Wissen« gar kein Thema mehr? Was gibt’s Neues? Bist du immer noch so furchtbar traurig? Das wäre die beste Nachricht von allen – daß du wieder wie früher dein Liedchen pfeifst, weil Morty jetzt bei dir ist. Ist er bei dir? Ist Dad bei dir? Und wenn ihr drei beisammen seid, ist dann auch Gott dabei? Oder ist eine unkörperliche Existenz, genau wie alles andere, etwas ganz Natürliches und Gott bei euch ebenso überflüssig wie bei uns? Oder fragt ihr nach dem Totsein auch nicht mehr als früher nach dem Leben? Ist das Totsein für dich bloß so was Ähnliches wie früher der Haushalt?
Die Erscheinung war unheimlich, unbegreiflich, lächerlich, aber dennoch real: wie auch immer er sich das erklärte, er konnte seine Mutter nicht zum Verschwinden bringen. Daß sie da war, wußte er genauso, wie daß er in der Sonne oder im Schatten war. Die Art und Weise, wie er sie wahrnahm, hatte etwas allzu Natürliches, als daß die Wahrnehmung sich vor seinem spöttischen Widerstand verflüchtigen konnte. Sie erschien nicht nur, wenn er verzweifelt war, es geschah nicht nur, wenn er in tiefer Nacht mit dem heftigen Bedürfnis nach Ersatz für alles Dahingehende aufwachte – seine Mutter war auch oben im Wald, oben in der Grotte bei ihm und Drenka und schwebte über ihren halb entblößten Leibern wie dieser Hubschrauber. Vielleicht war der Hubschrauber seine Mutter gewesen. Seine tote Mutter war bei ihm, beobachtete ihn, umkreiste ihn überall. Seine Mutter war auf ihn losgelassen worden. Sie war zurückgekehrt, um ihn in den Tod zu führen.
* * *
»Wenn du weiter mit anderen fickst, ist Schluß.«
Er fragte sie warum.
»Weil ich es so will.«
»Das genügt mir nicht.«
»Nein?« sagte Drenka unter Tränen. »Würde es aber, wenn du mich lieben würdest.«
»Ja, ist denn Liebe Sklaverei?«
»Du bist der Mann meines Lebens! Nicht Matija – du! Entweder bin ich deine Frau, deine einzige Frau, oder ich mache Schluß!«
Es war die Woche vor dem Memorial Day, ein leuchtender Mainachmittag, und oben im Wald wehte ein kräftiger Wind Zweige mit frischen Blättern von den mächtigen Bäumen, und der liebliche Duft von allem, was da blühte und aufschoß und Knospen trieb, erinnerte ihn an Sciarappas Frisiersalon in Bradley, wohin Morty mit ihm, als er ein kleiner Junge war, zum Haareschneiden ging und wohin sie ihre Kleider brachten, um sie von Sciarappas Frau ausbessern zu lassen. Nichts war mehr nur noch es selbst; alles erinnerte ihn an etwas längst Vergangenes oder an etwas gerade Verschwindendes. Im Kopf sprach er mit seiner Mutter. »Kannst du das riechen? Spürst du überhaupt, ob du im Freien bist oder nicht? Ist das Totsein noch schlimmer als der Weg dorthin? Oder noch abscheulicher als Mrs. Balich? Oder stören dich solche Trivialitäten gar nicht mehr?«
Entweder saß er bei seiner toten Mutter auf dem Schoß oder sie auf seinem. Vielleicht schlich sie sich zusammen mit dem Duft des blühenden Berges durch die Nase bei ihm ein, durchwehte ihn wie Sauerstoff. Umkreiste ihn und nahm in ihm Gestalt an.
»Und wann genau bist du zu diesem Entschluß gekommen? Was war der Anlaß? Du bist so anders, Drenka.«
»Von wegen. Ich bin wie immer. Sag, daß du mir treu sein wirst. Bitte sag mir, daß du das tun willst!«
»Erst sag mir warum.«
»Weil ich leide.«
Das stimmte. Er wußte, wie sie aussah, wenn sie litt, nämlich so wie jetzt. Die unscharfe Stelle griff von der Mitte ihres Gesichts aus um sich wie ein Schwamm auf einer Tafel, der einen breiten Streifen ausgewischten Sinns hinterläßt. Man sah kein Gesicht mehr, sondern eine Schale voll Benommenheit. Jedesmal wenn der Zwist zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn in lärmenden Streit ausbrach, sah sie am Ende genauso so furchtbar aus, wenn sie, betäubt und stammelnd vor Angst, zu Sabbath gelaufen kam und ihr munteres Geschick sie angesichts der unwahrscheinlichen Fähigkeit der beiden zur Wut und ihrer gemeinen Rhetorik verlassen hatte. Sabbath versicherte ihr – ohne sonderliche Überzeugung –, sie würden einander schon nicht umbringen. Aber mehr als einmal hatte er sich schaudernd vorzustellen versucht, was wohl unter dem Deckel dieses gnadenlos freundlichen Gebarens brodeln mochte, das die Balich-Männer so unergründlich langweilig erscheinen ließ. Warum war der Junge Polizist geworden? Was brachte ihn dazu, mit Revolver und Handschellen und einem tödlichen Schlagstock bewaffnet Verbrecher zu jagen und sein Leben aufs Spiel zu setzen, wo er im Gasthaus mit der Pflege zufriedener Kunden ein kleines Vermögen machen konnte? Und warum konnte ihm der liebenswerte Vater nach sieben Jahren noch immer nicht verzeihen? Warum mußte er seinem Sohn bei jeder Gelegenheit vorwerfen, er habe ihm sein Leben ruiniert? Angenommen, jeder der beiden habe seine eigene verborgene Wirklichkeit, wie jeder andere seien auch sie nicht ohne Zwiespalt, angenommen, sie seien nicht völlig rational denkende Menschen und es mangele ihnen an jeglichem Verstand und Sinn für Ironie – trotzdem, was war denn an diesen Matthews dran? Insgeheim gab Sabbath zu, daß Drenka guten Grund hatte, sich derart über die ungeheure Gewalt ihrer Feindschaft zu beunruhigen (zumal einer von ihnen bewaffnet war), aber da sie niemals auch nur entfernt miteinbezogen wurde, riet er ihr, weder Partei zu ergreifen noch den Vermittler zu spielen – die Wut werde sich schon irgendwann legen, und so weiter und so weiter. Und wenn Drenkas Panik dann schließlich nachzulassen begann und sich wieder die charakteristische Lebhaftigkeit auf ihren Zügen ausbreitete, sagte sie ihm, daß sie ihn liebe, daß sie ohne ihn nicht leben könne und, wie sie es so spartanisch ausdrückte, »ich ohne dich meine Pflichten nicht erfüllen könnte«. Ohne das, was sie zusammen trieben, könne sie niemals so gut sein! An diesen ansehnlichen Brüsten leckend, deren brustreiche Realität ihm jetzt nicht weniger aufreizend exotisch erschien als sie ihm mit vierzehn erschienen wäre, erklärte ihr Sabbath, daß er das gleiche für sie empfände, gestand es, während er mit jenem typischen Lächeln zu ihr aufsah, das nicht ganz deutlich erkennen ließ, über wen oder was er sich gerade lustig machte – bekannte es freilich keineswegs mit der gleichen inbrünstigen Glut wie sie, sprach es beinahe so aus, als wollte er es absichtlich wie beiläufig erscheinen lassen, und trotzdem, wenn man von all dem spöttischen Getue absah, entsprach sein »Ich empfinde das gleiche für dich« zufällig der Wahrheit. Ohne die promiskuitive Frau des erfolgreichen Gastwirts war das Leben für Sabbath genauso undenkbar wie für sie ohne den unbarmherzigen Puppenspieler. Niemand, mit dem man sich verschwören konnte, niemand auf der Welt, mit dem zusammen man seinem dringendsten Bedürfnis freien Lauf lassen konnte!
»Und du?« fragte er. »Wirst du mir treu sein? Willst du darauf hinaus?«
»Ich will keinen anderen.«
»Seit wann? Drenka, ich sehe dich leiden, ich will nicht, daß du leidest, aber ich kann nicht ernst nehmen, was du da von mir verlangst. Wie willst du es rechtfertigen, mir Beschränkungen aufzuerlegen, die du dir selbst nie auferlegt hast? Du verlangst von mir eine Treue, die du deinem Mann nie gehalten hast und die du ihm, würde ich deinem Wunsch nachkommen, auch dann noch meinetwegen vorenthalten würdest. Du wünschst dir Monogamie außerhalb der Ehe und Ehebruch innerhalb der Ehe. Vielleicht hast du recht damit, vielleicht geht es nur auf diese Weise. Aber dafür wirst du dir einen rechtschaffeneren alten Mann suchen müssen.« Umständlich. Steif. Absolut pedantisch.
»Deine Antwort ist nein.«
»Kann sie denn ja lauten?«
»Du willst mich also loswerden? Über Nacht? Einfach so? Nach dreizehn Jahren?«
»Du verwirrst mich. Ich kann dir nicht folgen. Was passiert hier heute eigentlich? Nicht ich, sondern du bist aus heiterem Himmel mit diesem Ultimatum gekommen, verdammt. Du hast mich vor dieses Entweder-Oder gestellt. Du willst mich über Nacht loswerden … es sei denn, natürlich, ich erkläre mich bereit, über Nacht ein solches sexuelles Wesen zu werden, wie ich es nicht bin und nie gewesen bin. Versteh mich, bitte. Ich muß ein solches sexuelles Wesen werden, wie du es dir nie hast träumen lassen. Um zu bewahren, was wir, indem wir uns gemeinsam und freimütig unseren sexuellen Begierden hingegeben haben, bemerkenswert wachgehalten haben – kommst du noch mit? –, müssen meine sexuellen Begierden verformt werden, denn es ist ja nicht zu bestreiten, daß ich ebensowenig wie du – das heißt, du, wie du bis heute warst – von Natur aus, meinen Neigungen, Taten und Überzeugungen nach, ein monogames Wesen bin. Punkt. Du möchtest einen Zustand erzwingen, der mich entweder verformt oder im Zusammensein mit dir zum unehrlichen Mann macht. Aber wie alle anderen Lebewesen leide ich, wenn ich verformt werde. Und mich erschreckt, wenn ich das hinzufügen darf, die Vorstellung, daß die Offenheit, die uns beide getragen und erregt hat, die einen so gesunden Kontrast zu der alltäglichen Falschheit darstellt, wie sie für hundert Millionen Ehen, einschließlich deiner und meiner, kennzeichnend ist, dir jetzt auf einmal weniger bedeutet als die Tröstungen, die konventionelle Lügen und ein repressiver Puritanismus zu bieten haben. Gegen repressiven Puritanismus, wenn er als selbstauferlegte Herausforderung auftritt, habe ich nichts, aber dieser ist für mich Titoismus, Drenka, unmenschlicher Titoismus, wenn er, indem er selbstgerecht die satanische Seite des Sex unterdrückt, anderen seine Normen aufzuzwingen sucht.«
»Du hörst dich ja selber an wie der blöde Tito, wenn du mir solche Vorträge hältst! Hör bitte auf damit!«
Sie hatten weder ihre Plane ausgebreitet noch auch nur ein einziges Kleidungsstück abgelegt, sondern trugen noch ihre Sweatshirts und Jeans, und Sabbath saß in seiner gestrickten Pudelmütze an einen Felsen gelehnt. Drenka umschritt derweil in raschen Kreisen das Rund der Elefantenfelsen, strich sich mit nervös zitternden Händen durchs Haar oder berührte mit den Fingerspitzen die vertraute kühle Oberfläche der rauhen Wände ihres Verstecks – und erinnerte ihn dabei unwillkürlich an Nikki im letzten Akt von Der Kirschgarten. Nikki, seine erste Frau, die zarte, impulsive, aus Griechenland stammende Amerikanerin, deren ewiges Krisengefühl er fälschlich für Tiefsinn gehalten und der er à la Tschechow den Spitznamen »Täglich-eine-Krise« gegeben hatte, bis Nikki eines Tages von der Krise, sie selbst zu sein, einfach hinweggefegt wurde.
Der Kirschgarten war eins der ersten Stücke, bei denen er, nach zwei Jahren Puppenspielerschule mit Soldatenstipendium in Rom, Regie geführt hatte. Nikki hatte Madame Ranjewskaja als kaputte Lebedame gespielt und sich dafür, daß sie geradezu lächerlich jung für diese Rolle war, gut auf dem Grat zwischen Satire und Pathos gehalten. Im letzten Akt, wenn alles gepackt ist und die entnervte Familie sich anschickt, ihren Stammsitz für immer zu verlassen, hatte Sabbath Nikki gebeten, schweigend in dem leeren Zimmer umherzugehen und dabei mit den Fingerspitzen über alle Wände zu streichen. Keine Tränen, bitte. Einfach die Runde durchs Zimmer machen, die kahlen Wände berühren und dann gehen – das reicht. Und Nikki tat alles, worum sie gebeten wurde, mit Bravour … und das fiel für ihn nicht ganz befriedigend aus, weil sie bei allem, was sie, egal wie gut, spielte, immer auch Nikki war. Dieses »auch« bei Schauspielern brachte ihn schließlich zu den Puppen zurück, die nie so tun mußten als ob, die niemals schauspielerten. Daß er ihre Bewegung erzeugte und jeder einzelnen die Stimme gab, beeinträchtigte ihre Realität für Sabbath nie in der Weise, wie ihm Nikki, frisch und eifrig und sehr talentiert, nie so ganz überzeugend vorkam, gerade weil sie ein lebendiger Mensch war. Wer mit Puppen spielte, mußte niemals einem Darsteller die Rolle wegnehmen. An Puppen war weder etwas Falsches oder Künstliches, noch waren sie »Metaphern« für Menschen. Sie waren, was sie waren, und niemand mußte sich Sorgen machen, daß eine Puppe verschwinden würde, so wie Nikki plötzlich vom Erdboden verschwunden war.
»He«, rief Drenka, »machst du dich lustig über mich? Natürlich willst du mich reinlegen, du legst jeden rein, du trickst jeden aus –«
»Ja, ja«, erwiderte er. »Genüßlichen Unernst empfand der Austrickser oft, je ernsthafter er ein Gespräch führte. Detailreiche, pedantische, redselige Rationalität wurde allgemein geargwöhnt, wenn Morris Sabbath das Wort ergriff. Freilich konnte nicht einmal er sich immer sicher sein, ob der so artikulierte Unsinn vollkommen unsinnig war. Nein, es war durchaus nicht einfach, so mißverstanden –«
»Hör auf! Bitte hör auf, wie ein Irrer zu reden!«
»Nur wenn du aufhörst, dich wie eine Idiotin aufzuführen! Warum bist du bei diesem Thema plötzlich so dämlich? Was genau soll ich denn machen, Drenka? Einen Eid leisten? Willst du mir einen Eid abnehmen? Wie soll der Eid lauten? Bitte, zähl alles auf, was mir nicht erlaubt sein soll. Penetration. Gut. Ist das alles? Was ist mit einem Kuß? Was ist mit einem Anruf? Und legst du den Eid auch ab? Und woran erkenne ich, ob du ihn gehalten hast? Das hast du noch nie getan.«
Und gerade jetzt kommt Silvija zurück, dachte Sabbath. Hat das