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Editorische Hinweise:
Bei allen fremdsprachigen Begriffen, die im Text
nicht ausdrücklich einer anderen Sprache zugeordnet werden,
handelt es sich um Sanskrit-Wörter.
Die Zahlen, die im Inhaltsverzeichnis in Klammern aufgeführt sind,
bezeichnen die Nummern der Sutras.
Originalausgabe
© 2011 Arkana, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Lektorat: Claudia Göbel
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Umschlagmotiv: © Brent Lewin/OnAsia.com
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-06815-8
V003
www.arkana-verlag.de
Zu lieben, das heißt: MICH erkennen,
MEIN wirkliches Wesen,
die Wahrheit, die ICH BIN.
Durch diese Erkenntnis gehst du
augenblicklich ein in MEIN SEIN.
BHAGAVAD GITA
Einführung
Wir wissen nicht, wer Patanjali war oder wann er gelebt hat – es war wohl irgendwann zwischen 400 vor und 400 n. Chr. Manche Forscher glauben, es müsse sich um jenen Patanjali handeln, der auch zwei Werke über Medizin und Grammatik verfasst hat. Andere bezweifeln das. Wir sollten es also halten wie der christliche Mystiker Thomas von Kempen (1380–1471), der sagte: »Frage nicht, wer das gesagt hat, sondern achte auf das, was gesagt wird.«
Auf die Botschaft kommt es an. Und diese ist umfassend. Wissenschaft und Praxis des Yoga müssen bereits zu Patanjalis Zeiten seit Jahrhunderten existiert haben und so ist es sein Verdienst, erstmals eine strukturierte Darstellung des Yoga vorgelegt zu haben. Seine Schrift gilt bis heute als der Grundlagentext des Yoga überhaupt.
Die knapp 200 Verse – wir können sie auch Sutras oder Aphorismen nennen – sind aneinandergereiht wie Perlen auf einem Faden. Das ist es auch, was das Wort sutra meint: Faden. Es gibt keinen Text, der in vergleichbarer Dichte, Logik und Präzision den Entwicklungsweg des Bewusstseins beschreibt, den man Yoga nennt.
Yoga heißt »Verbindung« oder »Einheit« und ist ein Wort für Weg und Ziel zugleich: Als Ziel steht es für den Bewusstseinszustand des Zu-sich-selbst-gekommen-Seins, für den es viele Namen gibt: Befreiung, Nirvana, Himmelreich, Selbstverwirklichung, Friede, Stille, Erleuchtung und noch zahlreiche andere. Als Weg bezeichnet Yoga die Vielfalt der Methoden, die diesem großen Ziel dienen. Das Yogasutra gibt uns, frei von Dogmen und ohne den erhobenen Zeigefinger der Moral, in liebenswerter Anerkennung des Menschen und seiner Schwächen das Rüstzeug an die Hand, den höchsten Berg zu erklimmen, den es gibt: uns selbst.
Wer keine Flügel hat, kann nicht wissen, wie es sich anfühlt, ein Vogel zu sein. So versucht das erste Kapitel des Yogasutra eigentlich Unmögliches, nämlich das Unsagbare zu sagen. Patanjali gibt uns Hinweise, wie wir einen Seinszustand erlangen können, der uns jene innere Freiheit zurückgibt, die wir eigentlich nie verloren haben. Wir haben sie nur vergessen. Mit wissenschaftlicher Akribie entfaltet er den Wachstumsprozess des Menschen, einen Prozess, der das Abstreifen all dessen bedeutet, was wir nicht wirklich sind, um so zur Wahrheit unseres Seins zu gelangen, zu »wirklichem Wissen«, wie Patanjali auch sagt. Dies geschieht in der meditativen Gipfelerfahrung des Samadhi, und so heißt das erste Kapitel »Samadhi Pada«, also: »Kapitel über Samadhi«. Hier mit »Meditation« überschrieben, setzt es den großen Rahmen und stellt uns das Höchste in Aussicht: das Einswerden mit der Quelle.
Patanjali definiert Yoga als das Zur-Ruhe-Kommen aller mentalen Muster. Sie hindern uns daran zu erkennen, dass unsere wahre Natur reines Gewahrsein ist, jenseits allen Leides, reine Glückseligkeit. Zu dieser Erfahrung will das Yogasutra uns hinführen. Es ist ein Weg der Selbstentwicklung, der uns loslöst von der irrtümlichen und leidhaften Verstrickung in die Welt, deren Erleben vor allem von unseren Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen bestimmt ist. Am Ende des Weges steht die Befreiung von dieser großen Täuschung. Dies ist kaivalya – ein Seinszustand, der über alle Worte hinausgeht.
Im zweiten Kapitel geht es um Sadhana, das heißt »Übung« und meint unsere tägliche, konkrete spirituelle Praxis. Den Rahmen steckt Patanjali mit dem Begriff des Kriya Yoga ab – in kriya steckt kr, was »tun« bedeutet. Auf drei Säulen ruht der Übungsweg: auf der konkreten Bemühung, also den vielfältigen Methoden des Yoga, auf der Selbsterforschung, in der wir uns selbst verstehen lernen, und schließlich auf Isvarah-pranidhana, der Hingabe.
Patanjali spricht über das Leid des Menschen und seine Ursachen. Zu ihrer Überwindung entfaltet er ein Übungssystem aus acht Elementen, das Kriya Yoga mit konkretem Leben erfüllt. Er lässt uns auch wissen, wie bereichernd und wunderbar die Früchte sind, die wir bereits auf dem Weg ernten können. Fünf äußere Elemente stellt er uns in diesem Kapitel genauer vor: Dies sind Regeln für den Umgang mit uns selbst und der Welt, die Arbeit mit unserem Körper und seiner Lebensenergie, und der Rückzug der Sinne, jenes Loslassen in die Entspannung hinein, das zur Brücke wird für die drei inneren Elemente, die im dritten Kapitel folgen.
Oft wird das Yogasutra auf das zweite Kapitel verkürzt. Das ist einerseits bedauerlich, weil Patanjali doch so viel mehr zu sagen hat. Andererseits ist dies nicht so schlimm, weil mystische Texte immer gleichsam holografisch sind – so wie Gott und die Welt: Im Teil steckt schon das Ganze. Und so begegnen wir dem ganzen Gebäude gewissermaßen auch dann, wenn wir nur einen Teil studieren. Ich will den Leser dennoch ermutigen, das ganze Yogasutra zu lesen – es ist ein lohnenswertes Unterfangen, denn letztlich bedeutet es, uns selbst zu studieren.
Das dritte Kapitel – »Loslösung: Vibhuti Pada« – schließt die Darlegung der acht Elemente des Yoga ab – und entführt uns dann in eine Welt der Wunder. Es beginnt mit den drei inneren Gliedern des Yoga. Alle äußere Praxis, die Gegenstand des zweiten Kapitels war, dient allein dem Zweck, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, sich den inneren Übungen widmen zu können: Konzentration, Meditation und – als Gipfelpunkt – Samadhi. Sie sind innigst miteinander verbunden, ein Element fließt ganz natürlich zum nächsten hin. Gemeinsam bewirken sie jene Transformation des Bewusstseins, die wir Loslösung nennen können – ein Weg zu innerer Freiheit.
Der zweite, größere Teil des Kapitels beschäftigt sich mit den ungewöhnlichen Fähigkeiten, die sich auf dem spirituellen Weg entwickeln können. Die Yogis nennen sie vibhutis (oder auch siddhis), und so nennt Patanjali das dritte Kapitel vibhuti pada. Wir werden sehen, dass die Entwicklung besonderer psychischer Fähigkeiten eng verbunden ist mit dem zunehmenden Gewahrsein unseres inneren Kosmos und den Kräften, die in unserem Körper wirken. Am Ende des Prozesses steht die Loslösung von kaya und Chitta, also von Körper und individuellem Bewusstsein, und die befreiende Erfahrung, dass wir keines von beiden sind, sondern reines, absolutes Gewahrsein.
Das dritte Kapitel des Yogasutra gehört zu den faszinierendsten und geheimnisvollsten Texten der spirituellen Weltliteratur. Es ist zugleich jenes, das am wenigsten kommentiert wurde. Dabei transportiert es auf knappem Raum einen ungeheuren Reichtum an yogischen Ideen und weist zudem eine innere Bewegung und Struktur auf, die nach einem weitergehenden Aufschließen geradezu ruft. Diesem Rufen habe ich hier zu folgen versucht.
Das letzte, vierte Kapitel ist das kürzeste. Es heißt kaivalya, Befreiung. Patanjali stellt die spirituelle Evolution als natürlichen Prozess dar. Ob wir wollen oder nicht, ob es uns bewusst ist oder nicht: Wir sind hier, um uns von der Verstrickung in die Welt zu lösen und schließlich »nach Hause« zu gehen. Allein diesem Zweck dient die Welt: Uns erkennen zu lassen, dass wir nicht von ihr sind. Alles Üben dient nur dem Öffnen von Schleusen, dem Entfernen von Blockaden auf allen Ebenen unseres Seins, um diese natürliche Entwicklung ihren Gang nehmen zu lassen. Es gilt nicht, etwas auf dem Yoga-Weg hinzuzugewinnen, sondern Gepäck zurückzulassen. Wenn wir ganz nach oben wollen, müssen wir alles loslassen, was uns beschwert.
Patanjali zeigt sich als aufgeklärter Psychologe, wenn er uns über die Mechanik der tief in uns wirkenden Denk- und Verhaltensmuster belehrt. Er denkt wie die Avantgarde der Physiker, wenn er feststellt, dass auf der fundamentalen Ebene materieller Existenz alle Dinge eins sind. Er ist moderner Erkenntnistheoretiker, wenn er das Problem von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Existenz thematisiert. Und er ist verwirklichter Geist im reinsten Sinne des Wortes, wenn er sich am Ende des Kapitels dem ultimativen Prozess des Loslassens widmet, dem Loslassen all dessen, was wir auf dem Yoga-Weg gewonnen haben. Auch das müssen wir loslassen, um wirklich frei zu werden.