Das Buch
Schon lange vermisst Artemis Fowl seinen Vater. Nur weil dieser als verschollen galt, ist der inzwischen Dreizehnjährige überhaupt zum Meisterverbrecher geworden. Aber Artemis hat die Hoffnung nie aufgegeben – und jetzt führt eine Spur ins eisige Murmansk: Sein Vater soll zwar leben, sich aber in den Händen einer Erpresserbande befinden, die vor nichts zurückschreckt.
In Begleitung seines treuen Dieners Butler macht sich Artemis Fowl auf den Weg ins eisige Russland. Doch der Rettungsversuch verläuft anders, als er es sich in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hätte. Denn schließlich sind da noch die Unterirdischen, und die haben ihren Zwist mit Artemis nicht vergessen …
Die Situation verlangt nach perfekter Planung und äußerster Vorsicht: Schätzt Artemis Fowl den Mut der Elfe Holly Short richtig ein? Wie viel Verlass ist auf die energische Art von Commander Root, dem Chef der Untergrundpolizei? Wird der Erfindungsgeist des Zentauren Foaly zur Gefahr? Und was ist mit Mulch Diggums, dem verwegenen Gräber mit dem ganz speziellen Abgasproblem? Sie alle richtig einzuschätzen ist nicht leicht, vor allem wenn man selbst an seine Grenzen stößt. Denn nicht immer zählt nur der IQ …
Der Autor
Eoin Colfer ist Lehrer und lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Wexford, Irland, nachdem er mehrere Jahre in Saudi-Arabien, Tunesien und Italien unterrichtet hat. Seine Bücher sind längst kein Geheimtipp mehr. Mit Artemis Fowl gelang ihm der internationale Durchbruch.
Von Eoin Colfer sind in unserem Hause bereits erschienen:
In der Artemis-Fowl-Reihe:
Artemis Fowl
Artemis Fowl – Die Verschwörung
Artemis Fowl – Der Geheimcode
Artemis Fowl – Die Rache
Artemis Fowl – Die verlorene Kolonie
Artemis Fowl – Das Zeitparadox
Artemis Fowl – Der Atlantis-Komplex
Artemis Fowl – Die Akte
Weitere Titel des Autors:
Meg Finn und die Liste der vier Wünsche
Fletcher Moon – Privatdetektiv
Cosmo Hill – Der Supernaturalist
Der Tod ist ein bleibender Schaden (HC-Ausgabe)
Im Alter von dreizehn Jahren wies unser Untersuchungsobjekt Artemis Fowl Zeichen einer Intelligenz auf, die größer war als die sämtlicher Menschenwesen seit Wolfgang Amadeus Mozart. Artemis hatte in einem Online-Turnier den Schach-Europameister Evan Kashoggi geschlagen, fast dreißig Erfindungen patentieren lassen und den Architekturwettbewerb zur Gestaltung des neuen Opernhauses in Dublin gewonnen. Darüber hinaus hatte er ein Computerprogramm geschrieben, das mehrere Millionen Dollar von Schweizer Bankkonten auf sein eigenes umleitete, über ein Dutzend impressionistische Gemälde gefälscht und das Erdvolk um einen beträchtlichen Teil seines Goldes beraubt.
Warum tat er das? Was trieb Artemis dazu, sich in verbrecherische Unternehmungen zu stürzen? Die Antwort darauf hängt mit seinem Vater zusammen.
Artemis Fowl senior war der Anführer eines Verbrecherimperiums, das sich vom Dubliner Hafengelände bis in die dunklen Ecken von Tokio erstreckte. Er verfolgte seit einiger Zeit jedoch den Plan, sich als gesetzestreuer Geschäftsmann niederzulassen. Dazu hatte er ein Frachtschiff gekauft, es mit einer Viertelmillion Dosen Cola beladen und sich auf den Weg nach Murmansk in Nordrussland gemacht. Das Geschäft versprach, auf Jahrzehnte hinaus gute Profite abzuwerfen.
Die russische Mafija war allerdings nicht gerade begeistert darüber, dass ein irischer Geschäftsmann sich ein Stück von ihrem Kuchen abschneiden wollte, und versenkte die Fowl Star in der Kola-Bucht. Artemis Fowl der Erste wurde als vermisst gemeldet und schließlich für tot erklärt.
Nun war Artemis junior auf einmal der Kopf eines Imperiums, dessen Mittel allerdings stark eingeschränkt waren. Um das Familienvermögen wieder aufzubauen, begann er seine Verbrecherkarriere, die ihm innerhalb von nur zwei Jahren fünfzehn Millionen Pfund einbringen sollte.
Dies beträchtliche Vermögen gab Artemis zum größten Teil für Rettungsexpeditionen nach Russland aus. Denn er weigerte sich, an den Tod seines Vaters zu glauben, auch wenn dieser mit jedem verstreichenden Tag wahrscheinlicher wurde.
Artemis ging anderen Jugendlichen aus dem Weg und hasste es, dass er zur Schule gehen musste. Viel lieber verbrachte er seine Zeit damit, das nächste Verbrechen zu planen.
So war seine Verwicklung in die Verschwörung der Unterirdischen, egal wie traumatisch, erschreckend und gefährlich sie auch war, vermutlich das Beste, was ihm passieren konnte. Immerhin kam er dabei an die frische Luft und lernte neue Leute kennen.
Dumm war nur, dass die meisten von ihnen versuchten, Artemis zu töten.
Professor J. Argon, Psychologenverband
(Bericht erstellt im Auftrag der Zentralen Untergrund-Polizei)
Die beiden Russen drängten sich in dem vergeblichen Versuch, die arktische Kälte abzuwehren, um ein brennendes Fass. Die Kola-Bucht zählt nicht zu den Orten, an denen man sich nach Wintereinbruch Anfang September noch gerne aufhält, und Murmansk schon gar nicht. In Murmansk tragen sogar die Eisbären Schals. Nirgendwo ist es kälter, außer vielleicht in Norilsk.
Die Männer waren Auftragskiller der Mafija und eher gewohnt, ihre Abende in gestohlenen BMWs zu verbringen. Der Größere von beiden, Michail Wassikin, schob den Ärmel seines Pelzmantels hoch und warf einen Blick auf seine unechte Rolex.
»Das Ding friert mir noch ein«, sagte er und klopfte vorsichtig auf den Außenring. »Und was soll ich dann damit anfangen?«
»Hör auf zu jammern«, erwiderte sein Partner Kamar. »Schließlich ist es deine Schuld, dass wir überhaupt hier festsitzen.«
Wassikin blickte auf. »Wieso das denn?«
»Unser Auftrag war klar: Versenkt die Fowl Star. Du brauchtest nichts anderes zu tun, als den Laderaum in die Luft zu jagen. Ein schönes, dickes Loch in den Laderaum, und schon wäre sie abgesoffen. Aber nein, der große Wassikin trifft das Heck. Und hat nicht mal eine Ersatzrakete, um das Ganze zu Ende zu bringen. Jetzt hocken wir hier und müssen nach Überlebenden suchen.«
»Was willst du, sie ist doch untergegangen.«
Kamar zuckte die Achseln. »Ja, aber wie! Bei dem Tempo hatten die Passagiere jede Menge Zeit, sich an irgendwas festzuhalten. Wassikin, der berühmte Scharfschütze! Da schießt ja meine Großmutter besser.«
Ljubtschin, der Mafija-Mann kam den Kai entlang, bevor die beiden sich richtig in der Wolle hatten.
»Wie läuft’s?«, fragte der Jakute, der aussah wie ein Bär.
Wassikin spuckte über die Kaimauer. »Wie soll’s schon laufen? Habt ihr was gefunden?«
»Nur tote Fische und kaputte Kisten«, sagte der Jakute und drückte den beiden Killern einen dampfenden Becher in die Hand. »Nichts was noch gelebt hätte. Und jetzt ist es schon über acht Stunden her. Ein paar gute Männer suchen die ganze Küste bis zum Grünen Kap ab.«
Kamar nahm einen tiefen Schluck, spuckte ihn jedoch sofort wieder aus. »Was ist denn das für ein Zeug? Pech?«
Ljubtschin lachte. »Heiße Cola. Von der Fowl Star. Wird kistenweise ans Ufer gespült. Heute trägt die Kola-Bucht ihren Namen zu Recht.«
»Pass bloß auf«, knurrte Wassikin und kippte die Flüssigkeit in den Schnee. »Das Wetter hier hebt nicht gerade meine Laune. Also spar dir deine blöden Witze. Mir reicht’s, dass ich mir Kamars Sprüche anhören muss.«
»Nicht mehr lange«, entgegnete sein Partner. »Noch eine Kontrollrunde, dann brechen wir die Suche ab. Keiner kann acht Stunden in dem Wasser hier überleben.«
Wassikin hielt seinen leeren Becher hoch. »Hast du nicht was Stärkeres? Einen Schluck Wodka, um die Kälte zu vertreiben? Ich weiß doch, dass du immer ’nen Flachmann mit dir rumträgst.«
Ljubtschin griff in seine Hüfttasche und hielt inne, als das Walkie-Talkie an seinem Gürtel zu fiepen begann. Drei kurze Signale. »Drei Piepser. Das ist das Zeichen.«
»Das Zeichen wofür?«
Ljubtschin rannte schon den Kai hinunter. Über die Schulter rief er ihnen zu: »Dafür, dass die von der K9 jemanden gefunden haben.«
Der Überlebende war kein Russe, das sah man schon an seiner Kleidung. Alles, vom Designer-Anzug bis zum Ledermantel, stammte eindeutig aus Westeuropa oder sogar aus Amerika. Die Sachen waren maßgeschneidert und aus Materialien von bester Qualität.
Obwohl die Kleidung des Mannes relativ unversehrt geblieben war, ließ sich das von seinem Körper nicht gerade behaupten. Seine bloßen Hände und Füße waren übersät mit Frostbeulen, ein Bein war unterhalb des Knies merkwürdig verdreht, und sein Gesicht war eine schauerliche Maske von Verbrennungen.
Der Suchtrupp hatte aus einer Plane eine Trage gebastelt und ihn von der Spalte in der Eiswüste, wo man ihn gefunden hatte, zum Hafen herübergetragen. Die Männer umringten ihre Beute und stampften mit den Füßen, um die Kälte aus ihren Stiefeln zu vertreiben. Wassikin bahnte sich mit Hilfe der Ellbogen einen Weg durch die Menge und ging in die Hocke, um sich den Mann genauer anzuschauen. »Das Bein wird er verlieren, so viel steht fest«, bemerkte er. »Und ein paar Finger. Das Gesicht sieht auch ziemlich übel aus.«
»Danke, Doktor Michail«, spöttelte Kamar. »Irgendwelche Papiere?«
Wassikin tastete mit den geübten Bewegungen eines Taschendiebs nach dem Wichtigsten: Brieftasche und Uhr. »Nichts. Wie seltsam. Man sollte doch meinen, dass ein so reicher Mann ein paar persönliche Dinge bei sich hat, oder nicht?«
Kamar nickte. »Sehe ich genauso.« Er wandte sich zu den umstehenden Männern. »Zehn Sekunden, oder es gibt Ärger. Das Geld könnt ihr behalten, alles andere will ich zurück.«
Den Matrosen war anzusehen, was sie dachten. Der Mann war nicht groß. Aber er war von der Mafija, vom organisierten Verbrechen Russlands.
Eine lederne Brieftasche flog über die Köpfe hinweg aus der Menge und landete in einer Falte der Plane. Sekunden später folgte eine Armbanduhr von Cartier. Gold, mit Diamanten verziert. Ihr Wert entsprach etwa fünf durchschnittlichen russischen Jahreslöhnen.
»Kluge Entscheidung«, sagte Kamar und bückte sich, um die Schätze aufzuheben.
»Und?«, fragte Wassikin. »Nehmen wir ihn mit?«
Kamar zog eine Platin-VisaCard aus der Brieftasche und las den Namen, der darauf stand. »Oh ja, und ob wir das tun«, erwiderte er und griff nach seinem Handy. »Wir nehmen ihn mit und packen ihn schön warm ein. Sonst holt er sich womöglich noch ’ne Lungenentzündung, bei dem Glück, das wir haben. Und das wär das Letzte, was wir wollen. Der gute Mann ist wie ein Sechser im Lotto.«
Kamar war ganz aus dem Häuschen, ein ungewöhnlicher Anblick.
Wassikin rappelte sich hoch. »Wen rufst du an? Wer ist der Kerl?«
Kamar drückte auf eine Kurzwahltaste. »Na, Britwa. Was dachtest du denn?«
Wassikin wurde blass. So ein Anruf beim Boss war gefährlich. Britwa war berüchtigt dafür, den Überbringer schlechter Nachrichten zu erschießen. »Also bedeutet es was Gutes, ja? Du hast eine gute Nachricht für ihn?«
Kamar hielt seinem Partner die VisaCard unter die Nase. »Lies.«
Wassikin betrachtete die Karte eingehend. »Ich kann kein angliski. Was steht da? Wie heißt der Kerl?«
Kamar sagte es ihm. Langsam breitete sich ein Lächeln auf Michails Gesicht aus. »Ruf an«, drängte er.
Der Verlust ihres Mannes hatte auf Angeline Fowl eine tragische Wirkung gehabt. Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und sich geweigert, den Raum zu verlassen. Vollkommen in ihre Gedankenwelt versunken, hatte sie sich Träumen von der Vergangenheit hingegeben, statt sich um das wirkliche Leben zu kümmern. Vermutlich hätte sie sich nie davon erholt, hätte ihr Sohn Artemis der Zweite nicht einen Handel mit Holly Short, der Elfe, abgeschlossen: die geistige Gesundheit seiner Mutter im Austausch gegen die Hälfte des erpressten Golds, das er der Polizei der Unterirdischen abgeluchst hatte. Und als seine Mutter wieder geheilt war, hatte Artemis junior seine ganze Energie darauf konzentriert, seinen Vater wiederzufinden. Dazu investierte er große Teile des Familienvermögens in Expeditionen nach Russland, Geheimdienstermittlungen vor Ort und Suchfirmen im Internet.
Der junge Artemis hatte eine doppelte Portion der Fowlschen Findigkeit geerbt. Nach der Heilung seiner Mutter, einer schönen und ehrenwerten Frau, wurde es für ihn aber immer schwieriger, seine genialen Verbrecherpläne in die Tat umzusetzen. Dabei war dies nun einmal unabdingbar, um die nötigen Mittel für die Suche nach seinem Vater zusammenzubekommen.
Angeline Fowl bereiteten Artemis’ Besessenheit und die möglichen Auswirkungen des vergangenen Jahres auf ihn Sorgen. Daher meldete sie ihren dreizehnjährigen Sohn zur Behandlung beim Schulpsychologen an.
Er konnte einem wirklich Leid tun. Der Psychologe, versteht sich …
Dr. Po lehnte sich in seinem gepolsterten Sessel zurück und ließ den Blick über das Blatt Papier vor sich wandern. »Nun, Master Fowl, dann wollen wir uns mal unterhalten.«
Artemis stieß einen tiefen Seufzer aus und strich sich das dunkle Haar aus der blassen, hohen Stirn. Wann würden die Leute endlich begreifen, dass man ein Gehirn wie seines nicht sezieren konnte? Er hatte bereits mehr psychologische Fachbücher gelesen als der Psychologe. Er hatte sogar einen Artikel in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, unter dem Pseudonym Dr. F. Roy Dean Schlippe.
»Wie Sie wünschen, Doktor. Unterhalten wir uns über Ihren Sessel. Viktorianisch?«
Po strich zärtlich über die lederne Armlehne. »Ja, in der Tat. Ein Familienerbstück gewissermaßen. Mein Großvater hat ihn auf einer Auktion bei Sotheby’s erstanden. Angeblich stand er früher im Buckingham Palace. Der Lieblingssessel der Königin.«
Um Artemis’ Mundwinkel spielte ein gespanntes Lächeln. »Tatsächlich, Doktor? Normalerweise gestatten sie im Palast keine Fälschungen.«
Pos Hand hielt in der Bewegung inne. »Fälschung? Ich versichere dir, das Stück ist absolut echt.«
Artemis beugte sich vor, um es genauer zu betrachten. »Ja, geschickt gemacht. Aber sehen Sie hier.« Pos Blick folgte dem Finger des Jungen. »Die Nägel. Sehen Sie das Kreuzmuster auf den Köpfen? Maschinell hergestellt. Frühestens um 1920. Ihr Großvater hat sich übers Ohr hauen lassen. Aber was soll’s? Ein Sessel ist ein Sessel. Ein Möbelstück, ein vollkommen unbedeutender Gebrauchsgegenstand, nicht wahr, Doktor?«
Po kritzelte hektisch etwas aufs Papier, um seine Bestürzung zu verbergen. »Ja, Artemis, sehr clever. Genau wie es in deiner Akte steht. Du spielst deine kleinen Spielchen. Wie wär’s, wenn wir uns jetzt wieder dir selbst zuwenden?«
Artemis Fowl der Zweite zupfte die Bügelfalten seiner Hose zurecht. »Es gibt dabei ein Problem, Doktor.«
»Ach ja? Und das wäre?«
»Das Problem ist, dass ich die klassischen Antworten auf alle Fragen weiß, die Sie mir stellen werden.«
Eine ganze Minute machte sich Dr. Po auf seinem Block Notizen. »Ja, wir haben in der Tat ein Problem, Artemis. Aber das ist es nicht«, sagte er schließlich.
Artemis hätte beinahe gelächelt. Zweifellos würde der Doktor ihn wieder einmal mit einer dieser öden Theorien beglücken. Welche Störung würde er wohl diesmal haben? Multiple Persönlichkeit? Oder vielleicht war er ein pathologischer Lügner?
»Dein Problem liegt auf der Hand: Du respektierst niemanden genug, um ihn als ebenbürtig zu betrachten.«
Die Feststellung brachte Artemis aus der Fassung. Dieser Psychologe war intelligenter als der Rest. »Das ist lächerlich. Es gibt durchaus Leute, die ich in höchstem Maße schätze.«
Po sah nicht von seinem Notizblock auf. »Tatsächlich? Wen denn zum Beispiel?«
Artemis überlegte einen Moment. »Albert Einstein. Seine Theorien waren meistens zutreffend. Und Archimedes, der griechische Mathematiker.«
»Wie wäre es mit jemandem, den du persönlich kennst?«
Artemis dachte angestrengt nach. Ihm fiel niemand ein.
»Nanu? Schweigen?«
Artemis zuckte die Achseln. »Warum sagen Sie es mir nicht, Dr. Po, da Sie doch anscheinend alle Antworten kennen?«
Po klickte ein Fenster auf seinem Laptop an. »Erstaunlich. Jedes Mal, wenn ich das hier lese …«
»Meine Akte, nehme ich an?«
»Ja. Sie erklärt eine ganze Menge.«
»Zum Beispiel?«, fragte Artemis, der gegen seinen Willen Neugierde verspürte.
Dr. Po druckte eine Seite aus. »Da ist zunächst dein Begleiter, Butler. Ein Leibwächter, wenn ich richtig verstehe. Kaum der passende Umgang für einen leicht beeinflussbaren Jungen. Dann deine Mutter. Eine wunderbare Frau, wie ich finde, die jedoch auf dein Verhalten nicht den geringsten Einfluss hat. Und schließlich dein Vater. Den Angaben hier zufolge war er nicht gerade ein Vorbild, auch als er noch lebte.«
Der Pfeil saß, aber Artemis wollte dem Psychologen nicht zeigen, wie getroffen er war. »Ihre Unterlagen sind nicht korrekt, Doktor«, sagte er. »Mein Vater lebt noch. Vermisst, ja, aber er ist am Leben.«
Po überprüfte das Blatt. »In der Tat? Ich dachte, er werde seit beinahe zwei Jahren vermisst. Das Gericht hat ihn offiziell für tot erklärt.«
Artemis ließ sich nichts anmerken, obwohl sein Herz heftig pochte. »Es ist mir egal, was das Gericht sagt. Er lebt, und ich werde ihn finden.«
Wieder kritzelte Po etwas auf seinen Block. »Aber selbst wenn dein Vater zurückkäme, was dann?«, fragte er. »Würdest du in seine Fußstapfen treten? Ein Verbrecher werden wie er? Vielleicht bist du’s ja schon?«
»Mein Vater ist kein Verbrecher«, widersprach Artemis gereizt. »Er hat unser gesamtes Vermögen in legale Unternehmungen investiert. Das Murmansk-Projekt war absolut einwandfrei.«
»Du weichst mir aus, Artemis.«
Doch Artemis hatte genug von dieser Art Befragung. Es wurde Zeit für eins seiner kleinen Spiele. »Nun ja, Doktor«, erwiderte er kleinlaut. »Das ist ein schwieriges Thema. Ich frage mich manchmal, ob ich nicht an einer Depression leide.«
»Ja, das wäre durchaus möglich.« Po spürte, der Durchbruch war nahe. »Und stimmt es?«
Artemis schlug die Hände vors Gesicht. »Ach, Doktor, es ist meine Mutter.«
»Deine Mutter?«, hakte Po nach, bemüht, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Artemis hatte allein in diesem Jahr in St. Bartleby’s bereits ein halbes Dutzend Schulpsychologen verschlissen, und auch Po war mittlerweile drauf und dran, die Koffer zu packen. Aber jetzt …
»Meine Mutter, sie –«
Po beugte sich auf seinem unechten viktorianischen Sessel vor. »Ja, was ist mit deiner Mutter?«
»Sie zwingt mich dazu, diese alberne Therapie über mich ergehen zu lassen, obwohl diese so genannten Psychologen kaum etwas anderes sind als fehlgeleitete Weltverbesserer mit Diplom.«
Po seufzte. »Nun gut, Artemis. Tu, was du willst, aber du wirst niemals Frieden finden, wenn du weiter vor deinen Problemen davonläufst.«
Das Vibrieren seines Handys erlöste Artemis von weiteren Analysen. Ein Anruf kam über die verschlüsselte Sicherheitsleitung. Nur eine einzige Person hatte die Nummer. Artemis holte das Handy aus der Tasche und klappte es auf. »Ja?«
Butlers Stimme tönte aus dem Lautsprecher. »Ich bin’s, Artemis.«
»Ich weiß. Ich bin gerade in einer Besprechung.«
»Wir haben eine Nachricht bekommen.«
»Aha. Von wem?«
»Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Aber es geht um die Fowl Star.«
Artemis war wie elektrisiert. »Wo sind Sie?«
»Haupteingang.«
»Gut gemacht. Bin schon unterwegs.«
Dr. Po riss sich die Brille von der Nase. »Unsere Sitzung ist noch nicht zu Ende, junger Mann. Wir haben heute einige Fortschritte gemacht, auch wenn du es nicht zugeben willst. Wenn du jetzt gehst, sehe ich mich gezwungen, den Schulleiter zu informieren.«
Doch die Warnung interessierte Artemis nicht. Er war in Gedanken bereits woanders. Ein vertrautes Kribbeln überlief seinen Körper. Dies war der Anfang von etwas Besonderem. Er spürte es ganz deutlich.
Das klassische Bild eines Alrauns ist das eines kleinen Wichts in einem grünen Anzug. In der Vorstellung der Menschen, natürlich. Die Unterirdischen haben ihre eigenen Klischees. Jemand vom Erdvolk stellt sich unter einem Officer der Aufklärungseinheit der Zentralen Untergrund-Polizei meistens einen großmäuligen Troll oder muskelbepackten Elf vor, der direkt von der Bank eines Crunchball-Teams seines College weg rekrutiert worden ist.
Captain Holly Short entspricht keiner dieser Beschreibungen. Genau genommen wäre sie vermutlich die Letzte, von der man annehmen würde, Mitglied der ZUP-Aufklärungseinheit zu sein. Sollte man raten, was sie beruflich macht, würde man angesichts der katzenartigen Bewegungen und der sehnigen, trainierten Muskeln vermutlich auf Kunstturnerin oder Höhlenforscherin tippen. Aber schaut man genauer hin, nicht nur auf ihr hübsches Gesicht, sondern direkt in ihre Augen, findet man dort eine glühende Entschlossenheit, die auf zehn Schritt Entfernung eine Kerze zum Brennen bringen könnte, und eine einsatzerprobte Cleverness und Intelligenz, die sie zu einer der anerkanntesten Officer der Aufklärung gemacht haben.
Technisch gesehen gehörte Holly allerdings nicht mehr zur Aufklärungseinheit. Seit der Artemis-Fowl-Affäre, bei der sie gefangen genommen und als Geisel gehalten worden war, stand ihre Stellung als erster weiblicher Officer der Aufklärung auf dem Prüfstand. Dass sie jetzt nicht zu Hause saß und Däumchen drehte, verdankte sie allein Commander Roots Drohung, ebenfalls den Hut zu nehmen, sollte Holly suspendiert werden. Root wusste, auch wenn die Aufsichtsbehörde dies nicht anerkennen wollte, dass die Entführung nicht Hollys Schuld gewesen war und dass nur ihr schnelles Reaktionsvermögen den Verlust von Menschenleben verhindert hatte.
Doch die Mitglieder des Rates interessierten sich weniger für den Verlust von Menschenleben als für den Verlust von Feengold. Und nach ihrer Überzeugung hatte Holly sie einen ziemlich großen Teil des Entführungsfonds gekostet. Holly wäre nur zu gern an die Erdoberfläche zurückgekehrt und hätte Artemis Fowl so lange am Kragen geschüttelt, bis er das Gold wieder herausrückte, aber so lief es nun mal nicht. Ein Menschenwesen, dem es gelang, einem Unterirdischen sein Gold abzunehmen, durfte es für immer behalten, so stand es im Buch, der Bibel des Erdvolks.
Statt ihr die Dienstmarke abzunehmen, hatte die Aufsichtsbehörde schließlich darauf bestanden, Holly zu Fleißarbeit zu verurteilen und dorthin zu versetzen, wo sie keinen Schaden anrichten konnte. Ein Posten bei der Überwachung war die nahe liegendste Lösung. Also war Holly an die Zoll- und Steuerabteilung ausgeliehen worden, wo man sie in eine Tarnkapsel gesteckt und zur Beobachtung an der Felswand eines Druckaufzugsschachts festgesetzt hatte. Ein absoluter Schnarchjob.
Allerdings war die Schmuggelei für die Zentrale Untergrund-Polizei zu einem echten Problem geworden. Nicht so sehr die Ware selbst, denn das war meist harmloses Zeug: Designer-Sonnenbrillen, DVDs, Cappuccinomaschinen und dergleichen. Nein, die Art, wie diese Sachen beschafft wurden, bereitete Sorgen.
Die B’wa Kell, eine Art Koboldmafia, hatte den Schwarzmarkt fest in der Hand und wurde immer dreister bei den Ausflügen an die Erdoberfläche. Gerüchte sprachen sogar von einem eigenen Frachtshuttle der Kobolde.
Das Beunruhigendste dabei war, dass Kobolde eigentlich richtig dämliche Kreaturen waren. Und wenn nur einer von ihnen je vergessen sollte, seinen Sichtschild einzuschalten, würden Fotos der Kobolde via Satellit sofort über die ganze Welt und alle Nachrichtensender verbreitet. Dann wäre Erdland, die letzte menschenfreie Zone des Planeten, nicht länger ein Geheimnis. Und weil die menschliche Natur nun einmal so war, würde es nicht lange dauern, bis Umweltverschmutzung, Bergbau und Ausbeutung auch unter der Erde an der Tagesordnung wären.
Dies war der Grund, weshalb alle schwarzen Schafe, die auf der Abschussliste der Aufsichtsbehörde landeten, für Monate zum Wachdienst eingeteilt wurden. Und so hockte Holly nun an der Felswand neben dem Eingang zu einem kaum benutzten Schacht.
E37 war ein Druckaufzug, der ins Stadtzentrum von Paris führte. Da die europäische Hauptstadt als Zone mit höchster Risikostufe galt, wurden selten Visa bewilligt. Und wenn, dann nur für ZUP-Einsatzzwecke. Doch obwohl seit Jahrzehnten kein Zivilist mehr den Schacht benutzt hatte, musste er weiterhin rund um die Uhr überwacht werden, was bedeutete, dass sechs Officer in Acht-Stunden-Schichten Dienst taten.
Der Kollege, der Holly zugeteilt war, stellte sich nicht gerade als ein Glücksgriff heraus. Wie die meisten Feenmänner hielt Chix Verbil sich für den grünhäutigen Traum aller Frauen und war mehr damit beschäftigt, Holly anzubaggern, als seine Arbeit zu tun.
»Sie sehen heute wieder fantastisch aus, Captain«, begrüßte er Holly an jenem Abend. »Haben Sie etwas mit Ihrem Haar gemacht?«
Holly stellte die Überwachungskamera scharf und fragte sich, was man mit einem kastanienbraunen Kurzhaarschnitt wohl machen sollte. »Konzentrieren Sie sich, Private. Wir könnten jeden Moment Hals über Kopf in ein Feuergefecht verwickelt werden.«
»Das bezweifle ich, Captain. Die Ecke hier ist still wie ein Grab. Ich liebe solche Jobs. Schön stressfrei. Was zum gemütlich Abhängen.«
Holly ließ den Blick über die Szenerie unter ihr wandern. Verbil hatte Recht. Der einst so lebendige Vorort hatte sich seit der Schließung des Schachts für den Publikumsverkehr in eine Geisterstadt verwandelt. Nur dann und wann tapste ein hungriger Troll an ihrer Kapsel vorbei. Und wenn sich erst die Trolle in einem Gebiet herumzutreiben begannen, dann war es wirklich verlassen.
»Wir sind ganz allein, Captain. Und die Nacht ist noch jung.«
»Lassen Sie den Quatsch, Verbil, und machen Sie Ihre Arbeit. Oder ist der Rang eines Private für Sie nicht niedrig genug?«
»Doch, Holly – Entschuldigung, ich meine, jawohl, Sir.«
Feenmänner. Immer dasselbe. Kaum hatte ein Unterirdischer ein Paar Flügel, hielt er sich für unwiderstehlich.
Holly kaute auf ihrer Unterlippe herum. Auf diesem Beobachtungsposten hatten sie schon genug Steuergold verschwendet. Die Lamettaträger sollten den Laden endlich dichtmachen, aber davon war keine Rede. Posten bei der Überwachung waren ideal, um lästige Officer aus dem Verkehr zu ziehen.
Dennoch war Holly fest entschlossen, ihren Job so gut wie möglich zu machen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie der Aufsichtsbehörde keine weitere Munition liefern, die man gegen sie verwenden könnte.
Holly rief die tägliche Checkliste für die Tarnkapsel auf den Bildschirm. Die Anzeige für die Drucklufthalterung war im grünen Bereich. Genug Gas, um ihre Kapsel vier öde Wochen lang an der Felswand zu halten.
Als Nächstes waren die Thermobilder dran. »Chix, ich möchte, dass Sie auf Kontrollflug gehen. Wir machen einen Thermoscan.«
Verbil grinste. Feenmänner waren ganz versessen aufs Fliegen. »Bin schon unterwegs, Captain«, sagte er und schnallte sich den Thermoscanner vor die Brust.
Holly öffnete eine Klappe an der Tarnkapsel, Verbil sprang hinaus und stieg mit elegantem Schwung hinauf in die Schatten. Der Scanner an seiner Brust tastete den Bereich unter ihm mit wärmeempfindlichen Strahlen ab. Auf dem Monitor erschienen verschwommene Bilder in verschiedenen Grautönen. Ein Lebewesen wäre selbst hinter einer Schicht aus solidem Fels zu erkennen. Doch es war nichts zu sehen, außer ein paar Fluchkröten und dem Hintern eines Trolls, der gerade aus dem Bild watschelte.
Knisternd drang Chix’ Stimme aus dem Lautsprecher. »He, Captain, soll ich mal näher rangehen?«
Das war das Dumme an den tragbaren Scannern – je größer der Abstand, desto schwächer die Strahlen.
»Okay, Chix. Eine Runde noch. Aber seien Sie vorsichtig.«
»Keine Sorge, Holly. Sie werden mich in voller Schönheit zurückkriegen.«
Holly holte Luft, um ihm eine schneidende Antwort zu geben, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Da, auf dem Bildschirm. Etwas bewegte sich.
»Chix, sehen Sie das?«
»Positiv, Captain. Sehen tu ich’s, aber ich weiß nicht, was es ist.«
Holly vergrößerte einen Ausschnitt des Bildschirms. Auf der zweiten Schachtebene bewegten sich zwei Gestalten. Sie waren grau.
»Chix, bleiben Sie, wo Sie sind, und scannen Sie weiter.«
Grau? Wie konnten graue Dinge sich bewegen? Grau bedeutete tote Materie. Keine Wärme, kalt wie ein Grab. Und trotzdem …
»Seien Sie auf der Hut, Private Verbil. Wir haben möglicherweise Feindkontakt.«
Holly schaltete nun auf den Funkkanal des Polizeipräsidiums. Mit Sicherheit verfolgte Foaly, der Cheftechniker der ZUP, ihre Videoeinspeisung auf einem der Monitore in der Kommandozentrale. »Foaly, hast du uns auf Sendung?«
»Hab ich, Holly«, antwortete der Zentaur. »Ich hole euch gerade auf den Hauptschirm.«
»Was hältst du von diesen Schatten? Etwas Graues, das sich bewegt? So was habe ich noch nie gesehen.«
»Ich auch nicht.« Es folgte ein kurzes Schweigen, untermalt vom Klackern einer Tastatur. »Es gibt nur zwei mögliche Erklärungen. Erstens: ein technischer Fehler. Die Schatten könnten Phantombilder von einem anderen System sein. Wie Interferenzen beim Radio.«
»Und zweitens?«
»Das ist so lächerlich, dass ich es kaum erwähnen mag.«
»Komm schon, Foaly, raus damit.«
»Nun, so albern es klingt, es könnte sein, dass jemand einen Weg gefunden hat, mein System zu überlisten.«
Holly erbleichte. Wenn Foaly die Möglichkeit auch nur in Erwägung zog, dann traf sie fast sicher zu. Sie unterbrach die Verbindung zu dem Zentauren und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Private Verbil zu. »Chix! Verschwinden Sie von da, schnell!«
Doch der Feenmann war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen hübschen Captain zu beeindrucken, als dass er den Ernst der Lage begriffen hätte. »Nur die Ruhe, Holly. Ich bin schließlich Profi. Einen Feenmann erwischt so schnell keiner.«
Im gleichen Augenblick fegte ein Geschoss durch eins der Schachtfenster und riss ein faustgroßes Loch in Verbils Flügel.
Holly schob sich eine Neutrino 2000 ins Schulterhalfter, während sie über ihr Helmmikro einen Notruf losließ. »Code 14, ich wiederhole: Code 14. Feenmann getroffen. Wiederhole: getroffen. Wir stehen unter Beschuss. E37. Schicken Sie Sanitätsmagier und Verstärkung.«
Holly schlüpfte durch die Luke, seilte sich zum Tunnelboden ab und duckte sich hinter eine Statue von Frond, dem ersten Elfenkönig. Chix lag in einem Schutthaufen auf der anderen Straßenseite. Es sah nicht gut aus. Die spitzen Zacken einer Mauerruine hatten seinen Helm eingedrückt und die Sprechanlage zerstört.
Sie musste sich beeilen, sonst war es aus mit ihm. Feen hatten nur begrenzte Heilkräfte. Eine Warze konnten sie wegzaubern, aber klaffende Wunden waren zu viel für sie.
»Ich stelle dich zum Commander durch«, drang Foalys Stimme an ihr Ohr. »Sekunde.«
Kurz darauf dröhnte Commander Root über den Äther. Er klang nicht gerade gut gelaunt, aber das war ja nichts Ungewöhnliches. »Captain Short, Sie rühren sich nicht von der Stelle, bis Verstärkung da ist, verstanden?«
»Negativ, Commander. Chix ist verletzt. Ich muss zu ihm.«
»Holly, Captain Kelp ist in ein paar Minuten bei Ihnen. Halten Sie Ihre Position. Ich wiederhole: Halten Sie Ihre Position.«
Holly knirschte hinter ihrem Helmvisier frustriert mit den Zähnen. Sie stand ohnehin schon kurz vor dem Rausschmiss aus der ZUP, und jetzt das. Um Chix zu retten, würde sie einem direkten Befehl zuwiderhandeln müssen.
Root spürte ihr Zögern. »Holly, hören Sie. Ich weiß nicht, womit Sie beschossen werden, aber es hat gereicht, um Verbil aus der Luft zu holen. Ihr ZUP-Anzug bietet keinen Schutz. Also bleiben Sie, wo Sie sind, und warten Sie auf Captain Kelp.«
Captain Trouble Kelp war vermutlich der draufgängerischste Officer der gesamten ZUP, aber es gab keinen, den Holly in diesem Moment lieber als Rückendeckung hinter sich gewusst hätte.
»Tut mir Leid, Sir, aber ich kann nicht länger warten. Chix ist am Flügel erwischt. Sie wissen, was das bedeutet.«
Einen Feenmann in den Flügel zu schießen, war etwas vollkommen anderes, als einen Vogel zu treffen. Die Flügel waren das größte Organ der Feen, und es liefen sieben Hauptschlagadern hindurch. Ein Loch wie dieses musste mindestens drei davon verletzt haben.
Commander Root seufzte. Durch den Lautsprecher klang es wie verstärktes statisches Rauschen. »Also gut, Holly. Aber bleiben Sie in Deckung. Ich will heute keinen meiner Leute verlieren.«
Holly zog die Neutrino aus dem Halfter und stellte sie auf Stufe 2. Bei diesen Scharfschützen würde sie kein Risiko eingehen. Wenn es, wie sie annahm, Kobolde der B’wa Kell waren, würde der erste Schuss sie bei dieser Einstellung für mindestens acht Stunden außer Gefecht setzen.
Sie kauerte sich zusammen und schnellte mit voller Kraft hinter der Statue hervor. Sofort knatterte eine Salve los, die ganze Stücke aus der Statue des Elfenkönigs riss.
Holly rannte zu ihrem verletzten Kameraden, während ihr Geschosse wie ultraschnelle Bienen um den Kopf schwirrten. Normalerweise würde man in einer Situation wie dieser den Verletzten auf keinen Fall bewegen, aber da sie sich mitten in der Schusslinie befanden, blieb Holly keine andere Wahl. Sie packte den Private an seinen Epauletten und zerrte ihn hinter ein verrostetes Liefershuttle.
Chix hatte ziemlich lange da draußen gelegen. Er grinste sie schwach an. »Sie sind gekommen, Cap. Ich wusste, dass Sie kommen würden.«
Holly verbarg nur mühsam ihre Besorgnis. »Natürlich, Chix. Ich lasse doch keinen meiner Männer im Stich.«
»Sehen Sie«, ächzte er, »Sie können mir eben nicht widerstehen.« Dann schloss er die Augen. Sein Flügel hatte einiges abgekriegt. Vielleicht zu viel.
Holly konzentrierte sich auf die Wunde. Heile, dachte sie, und die Magie wallte in ihr auf. Kribbelnd wie tausend Nadeln strömte sie durch ihren Arm bis in die Fingerspitzen. Holly legte die Hand auf Verbils Wunde. Blaue Funken sprangen von ihren Fingern hinein. Sie tanzten um die Wundränder, reparierten die verbrannte Haut und ersetzten das verlorene Blut. Die Atmung des Feenmannes wurde ruhiger, und seine Wangen nahmen wieder eine gesunde grünliche Färbung an.
Holly stieß einen erleichterten Seufzer aus. Chix würde es schaffen. Kontrollflüge waren in Zukunft für ihn wohl gestrichen, aber er würde leben. Holly drehte den Bewusstlosen auf die Seite, sorgfältig darauf bedacht, keinen Druck auf den verletzten Flügel auszuüben. Und jetzt zu den mysteriösen grauen Schatten. Sie schaltete ihre Waffe auf Stufe 3 und lief, ohne zu zögern, auf den Schachteingang zu.
Am allerersten Ausbildungstag in der ZUP-Akademie nimmt sich ein riesiger behaarter Gnom mit dem Brustkasten eines ausgewachsenen Trolls jeden einzelnen Kadetten vor, drückt ihn an die Wand und warnt ihn, während eines Feuergefechts niemals in ein ungeschütztes Gebäude zu laufen. Eine überaus eindringliche Warnung, die er jeden Tag mehrmals jedem Kadetten einhämmert. Und doch tat Holly Short, Captain der ZUP-Aufklärungseinheit, in diesem Augenblick genau dies.
Sie sprengte die Doppeltür des Terminals und hechtete hinter einen schützenden Anmeldeschalter. Nicht einmal vierhundert Jahre zuvor hatte es in diesem Gebäude nur so gewimmelt von Touristen, die auf ihr Oberflächenvisum warteten. Paris war früher ein beliebtes Reiseziel gewesen. Doch scheinbar unausweichlich hatten die Menschenwesen die europäische Hauptstadt immer mehr für sich beansprucht. Der einzige Ort in der Nähe, an dem die Unterirdischen sich jetzt noch sicher fühlten, war das Disneyland Paris, wo sich niemand über kleinwüchsige Wesen wunderte, selbst wenn sie grün waren.
Holly schaltete den Bewegungssensor in ihrem Visier ein und blickte sich durch das Sicherheitsglas des Schalters im Terminal um. Der im Helm eingebaute Computer würde sofort jede Bewegung durch eine orangefarbene Aura markieren. Sie hob gerade rechtzeitig den Kopf, um zu beobachten, wie zwei Gestalten quer durch die Aussichtsgalerie zur Shuttleplattform trabten. Es waren in der Tat Kobolde, die sich der Schnelligkeit halber auf allen vieren fortbewegten und einen Schwebekarren hinter sich herzogen. Sie trugen eine Art reflektierenden Folienanzug samt Helm, der offensichtlich dazu gedacht war, die Wärmesensoren zu überlisten. Sehr clever. Zu clever für Kobolde.
Holly rannte die nächstliegende Treppe hinunter und blieb ihnen so voraus auf ihrem Weg in die tiefer gelegene Ebene. Um sie herum hingen überall verfallene Werbetafeln in ihren Halterungen. ZWEIWÖCHIGE SONNENWENDTOUR. ZWANZIG GOLDGRAMM. KINDER UNTER ZEHN REISEN UMSONST.
Sie hechtete über das Drehkreuz und lief an der Sicherheitskontrolle und den Dutyfree-Shops vorbei. Jetzt kamen auch die beiden Kobolde herunter, ihre Stiefel und Handschuhe trampelten laut auf der stillgelegten Rolltreppe. Der eine verlor in der Eile seinen Helm. Er war groß für einen Kobold, bestimmt über einen Meter. Seine lidlosen Augen rollten panisch hin und her, und die gespaltene Zunge zuckte hervor, um die Pupillen zu befeuchten.
Captain Short feuerte im Laufen ihre Neutrino ab. Eine Ladung traf den Kobold, der ihr am nächsten war, am Hintern. Holly stöhnte. Nicht einmal in der Nähe eines Nervenzentrums! Aber das machte nichts. Die Folienanzüge hatten offensichtlich einen Nachteil: Sie leiteten die Neutrinostöße. Die Ladung strömte durch das Material des Anzugs wie Sturmwellen durch einen Teich. Der Kobold sprang wie elektrisiert gut zwei Meter hoch in die Luft und polterte dann bewusstlos am Fuß der Rolltreppe zu Boden. Der Schwebekarren schlitterte unkontrolliert davon und krachte in ein Gepäckband. Von der Ladefläche rollten Hunderte kleiner, zylindrischer Objekte über den Boden.
Kobold Nummer zwei feuerte eine Salve in Hollys Richtung, doch er verfehlte sie, zum einen deshalb, weil seine Arme vor Nervosität zitterten, andererseits aber auch, weil das mit dem Aus-der-Hüfte-Schießen nur im Film funktioniert. Holly versuchte im Laufen mit ihrer Helmkamera ein Bild von seiner Waffe zu machen, damit der Computer diese mit den in der Datei erfassten vergleichen konnte, aber es wackelte zu sehr.
Die Verfolgungsjagd ging weiter, durch die Gänge bis zur eigentlichen Startrampe. Zu ihrer Überraschung vernahm Holly das Summen von Andockcomputern. Hier durfte es normalerweise gar keinen Strom geben. Die ZUP-Techniker hatten doch die Generatoren abgebaut. Und wozu brauchte jemand hier Strom?
Eigentlich wusste Holly die Antwort bereits. Der Strom wurde gebraucht, um das Schwebegleis und die Startkontrolle zu nutzen. Ihr Verdacht bestätigte sich, als sie den Hangar betrat. Die Kobolde hatten tatsächlich ein Shuttle gebaut!
Unglaublich! Ein Kobold hatte kaum genug Elektrizität im Hirn, um einen Glühwürfel zum Leuchten zu bringen. Wie konnten sie also ein Shuttle bauen? Aber da war es, in seiner Starthalterung verankert, der Albtraum eines jeden Gebrauchtshuttlehändlers. Jedes einzelne Teil hatte mindestens zehn Jahre auf dem Buckel, und die Außenwand war ein Flickenteppich aus Schweißnähten und Nieten.
Holly schluckte ihre Überraschung hinunter und konzentrierte sich wieder auf die Verfolgung. Der Kobold war kurz stehen geblieben, um sich einen Satz Flügel aus dem Laderaum zu schnappen. Sie hätte ihn mit einem Schuss erwischen können, aber es war zu riskant. So, wie das Shuttle aussah, war die Nuklearbatterie wahrscheinlich nur durch eine einzige Bleiplatte abgeschottet.
Der Kobold nutzte ihr Zögern und verschwand im Zuleitungstunnel. Das Schwebegleis führte über den rußgeschwärzten Fels zu dem gewaltigen Schacht. Dieser war nur einer der zahllosen natürlichen Schlote, die Erdmantel und Erdkruste durchzogen. In unregelmäßigen Abständen schossen Magmaströme aus dem flüssigen Zentrum des Planeten Richtung Oberfläche. Ohne diese Überdruckventile wäre die Erde schon vor Äonen von Jahren in Milliarden Einzelteile zerborsten. Die ZUP hatte sich diese natürlichen Kräfte für den Expressaufstieg an die Erdoberfläche nutzbar gemacht. In Notfällen ließen sich Officer der Aufklärung in Titankapseln von den Magmawogen nach oben schießen. Und für gemütlichere Reisen gab es Shuttles, die in den Pausen zwischen den Magmastößen auf Heißluftströmungen die verschiedenen Terminals überall auf der Welt anflogen.