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Verena Duregger

Die Pusterer Buben

Eine Südtiroler Heimatgeschichte

Knaus

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Dieses Buch erzählt die Geschichte der Pusterer Buben. Über den Zeitraum von drei Jahren geführte Gespräche mit vielen Zeitzeugen, ihre Erinnerungen, sowie Dokumente und Zeitungsberichte bilden seine Grundlage. In manchen Punkten gingen die Aussagen der Zeitzeugen auseinander. Dies ist zum einen der unterschiedlichen Erinnerung, zum anderen der unterschiedlichen Bewertung der vergangenen Ereignisse geschuldet. Weil eine Rekonstruktion der Ereignisse aufgrund unterschiedlichen Aussagen teilweise nicht möglich war, enthält das Buch fiktionale Elemente. Die Dialoge sind erfunden, lehnen sich aber an die Schilderungen der Zeitzeugen und Dokumente an. Wenn einzelne Zeitzeugen ausdrücklich darum gebeten haben, wurden Namen und Örtlichkeit verändert.

1. Auflage

Copyright © 2014 beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Lektorat: Heike Gronemeier

Gesetzt aus der Albertina von Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12368-0
V002

www.knaus-verlag.de

Für Maria Forer,
der ich nicht mehr, wie versprochen,
aus diesem Buch vorlesen konnte.

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Ein Leben auf dem Sprung – Siegfried, Josef und Heinz (v. l.) nehmen eilig eine Mahlzeit ein.

© Aus dem Buch »Die Puschtra Buibm«, von Siegfried Steger, Edition Arob, Bozen/Mit freundlicher Genehmigung von Siegfried Steger und der Edition Arob

Inhalt

Prolog

1959 Brüchige Idylle

1960 Vorbereitung auf den großen Schlag

1961 Feuernacht, Flucht und Folter

1962 Über alle Berge

1963 Ein verhängnisvolles Foto

1964 Sturm auf Tesselberg

Epilog

Anhang

Die wichtigsten Personen im Überblick

Hinweis zur Dialektschreibung

Literaturverzeichnis

Legende zur Karte

Dank

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Der 11. Juni 1961 war ein Tag wie aus dem Bilderbuch. Die Morgensonne tauchte die Berge rund um Mühlen in zartes Licht. In ein paar Stunden schon würde sie die taunassen Wiesen im Talboden getrocknet haben. Josef Forer stieg die hölzerne Treppe zum Erdgeschoss hinunter. In der Küche dampfte bereits ein Kessel mit Wasser auf dem Herd vor sich hin. Josef musste sich beeilen. Die Kühe waren eingestellt wie ein präzises Uhrwerk, sie kannten weder Sonn- noch Feiertage. Ließ man sie nur eine halbe Stunde warten, wurden sie unruhig. Josef öffnete die Tür, die von der Küche hinüber zum Futterhaus und zum Stall führte.

»Grieß di, Vouto.«

Karl Forer blickte nur kurz auf und brummte seinem Sohn ein knappes »Fong on zi melkn« entgegen. Josef griff sich den Melkschemel, holte den Blecheimer und ging zu der Reihe mit den Kühen. Zehn Milchkühe, drei Schweine und ein Ross teilten sich den Stall, an dessen Außenmauer ein alter Marillenbaum nach oben rankte. Josef befeuchtete die Zitzen mit einem warmen Tuch, umfasste sie mit seinen Händen und richtete den Milchstrahl in den Eimer. Jeder Handgriff saß. Schon als Kind war er bei Tagesanbruch im Stall gewesen, um die Kühe zu melken, sie zu füttern und auszumisten. Und am Abend noch einmal.

Jeden Tag kamen ein paar Leute aus dem Dorf mit kleinen Kannen vorbei, um sich etwas Milch abzuholen. Den Rest verwendeten die Forers für sich. Mit einem Teil wurden die Kälber gemästet, der andere wurde zu Graukäse und Butter verarbeitet.

Während die Männer im Stall waren, bereitete Maria »in Förmass« vor. Für gewöhnlich gab es zum Frühstück eine Brennsuppe, mit einem geschlagenen Ei und einem Löffel Schmalz angereichert, oder ein Mus.

Bevor Josef in seine Tracht schlüpfte, wusch er sich mit warmem Wasser und etwas Seife den Stallgeruch vom Körper. Das Gewand holte er nur zu ganz besonderen Anlässen aus dem Schrank. Ein Schneidermeister aus dem Ort hatte es angefertigt, für alle Mitglieder der Mühlener Musikkapelle. Josef spielte die Trompete, sein jüngerer Bruder Robert die kleine Trommel. In ein paar Stunden würde das ganze Dorf auf den Beinen sein. Es war Herz-Jesu-Sonntag, einer der höchsten Feiertage in Südtirol. Mit Bergfeuern und langen Prozessionen gedachten die Menschen in Mühlen und in ganz Südtirol jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Fronleichnam des Widerstands. Bedroht durch die Truppen Napoleons I. waren die Tiroler Landstände 1793 in Bozen zusammengekommen und hatten feierlich gelobt, das Land dem »Heiligsten Herzen Jesu« anzuvertrauen, sollten die Franzosen mit Gottes Hilfe geschlagen werden. Als 1805 ganz Tirol an das Königreich Bayern gefallen war, hatten die neuen Herrscher empfindlich in das religiöse Brauchtum der Region eingegriffen. Das Rosenkranzgebet war verboten worden, die Weihnachtsmette, das Glockenläuten für Verstorbene und das Herz-Jesu-Fest. Die Angst vor weiteren einschneidenden Veränderungen hatte dazu beigetragen, dass sich die Tiroler 1809 erhoben. Vor der Bergisel-Schlacht gegen Franzosen und Bayern hatte Andreas Hofer das Gelöbnis von 1793 erneuert. Als seine Truppen überraschend siegten, erklärte er den Herz-Jesu-Sonntag zu einem Tag, den es in besonders festlicher Weise zu feiern galt. Und daran hat sich seitdem nichts geändert.

Nach dem Hochamt sammelten sich die Einwohner von Mühlen und Sand in Taufers sowie von Kematen vor der Hauptkirche an der Pfarre 1 , um sich in den Herz-Jesu-Prozessionszug einzureihen. Die unverheirateten Buben und Männer marschierten mit einer großen roten Fahne an der Spitze. Dann folgten die verheirateten Männer mit der grünen Fahne, die Musikkapelle und der Pfarrer. Der Geistliche, der über dem weißen Rauchmantel mit den goldenen Verzierungen das reich geschmückte Segensvelum anhatte, schritt unter einem Baldachin einher, die Monstranz in Händen haltend. Schon Wochen vorher war dieses Allerheiligste auf Hochglanz poliert worden, ebenso wie die Bildnisse der Schutzengel, des heiligen Josef und der Muttergottes mit dem Jesuskind, die von Männern aus dem Dorf getragen wurden. Erst dahinter durften sich die Mädchen mit der weißen Gitschnfahne 2 und die Frauen mit der blauen Fahne einreihen.

Jedes Dorf hatte seinen eigenen Prozessionsweg, seine eigenen Statuen und Heiligen, die mitgeführt wurden. Es wurden vier Stationen abgeschritten, an denen jeweils der Anfang eines der vier Evangelien vorgetragen wurde. Dazwischen spielte die Kapelle.

Der Zug führte von der Pfarre zunächst nach Sand in Taufers zum alten Hotel Post. Martha, die Besitzerin, schmückte die Balkone an diesem Tag immer mit gestickten Bildnissen von Herz-Jesu und weiß-roten Tüchern. Vor dem Haus wurde ein Tischchen aufgestellt, ein provisorischer Altar, auf dem der Pfarrer die Monstranz abstellen konnte, um das Evangelium zu verlesen. Vom Hotel Post zog die Prozession über den Feldweg in den breiten Tauferer Boden hinein, vorbei an prachtvollen Kastanienbäumen zum »Hohen Kreuz«, einem großen Wegkreuz an der Straße nach Kematen. Jedes Mal, wenn der Pfarrer seinen Segen erteilt hatte, ertönte vom Melcheranger herüber das Krachen der Böller. War die Prozession dann wieder bei der Pfarrkirche, der letzten Station, angelangt, blieb Zeit für einen ausgiebigen Ratsch. Nach all dem »Gegrüßet seist du Maria« konnte das nicht schaden. Die Alten beklagten die Zeitenwende, tuschelten über die Mädchen, die sich statt mit Kopftuch und Pusterer Dirndl in einem »neumodischen Gwand« und Bubikopf in die Prozession eingereiht hatten. Und die Jungen belächelten manchen Bauern, der sich mit Gamsbart oder Auerhahnfedern am Hut herausgeputzt hatte. Nach der Prozession machten sich die Leute nach und nach auf den Heimweg in die verschiedenen Dörfer. Viele Mühlener kehrten noch in der Unterkohlgrube 3 ein. Ein Viertel Rotwein und noch eines, eine Runde Karten spielen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen.

Die Unterkohlgrube war eines jener Wirtshäuser, wie man sie heute kaum noch findet. Gleich neben der Kirche gelegen, mit einer holzgetäfelten Stube und schweren Holztischen, deren unzählige Kerben und speckig-glänzende Tischplatten von den vielen Händen erzählten, die im Laufe der Jahrzehnte darübergestrichen hatten. Ein Ort, an dem Zeit relativ ist, an dem die immer selben Leute zusammenkamen, jeder in seinem ganz eigenen Rhythmus. Manche schauten nur am Sonntag vorbei, gleich nach der Messe auf ein Bier oder einen Schnaps, und blieben dann auf demselben Platz sitzen, bis es draußen dämmerte oder die Frau eines der Kinder schickte, um den Vater heimzuholen. Andere kamen mehrmals die Woche, nachdem das Tagwerk verrichtet, die Arbeit im Stall beendet war. Wenn die Wirtsstube voll war, konnte man vom Budel 4 aus nicht mehr sehen, wer da beisammenhockte. Dichter Rauch hing über den Tischen, und vor allem im Winter, wenn der Kachelofen eingeheizt war und die Fenster geschlossen blieben, grub sich der Geruch aus Alkohol, Rauch und Essen tief in die Kleider. Und geraucht haben damals viele Gäste der Unterkohlgrube. Wer es sich leisten konnte, griff zu Zigaretten der Marke »Alfa«, sie galten als die besten, oder steckte sich eine »Toscanelli«-Zigarre an. Frieda Steger, die Wirtin, murrte zwar manchmal über den Gestank, aber sie wusste auch, dass die Unterkohlgrube für viele Mühlener eben so etwas wie eine zweite gute Stube war.

Frieda war die Seele des Gasthauses, ohne sie lief nichts. Während aus dem Radio Volksmusik dudelte, eilte sie unermüdlich zwischen der Wirtsstube und der Küche hin und her, wo sie mit Topfen und Schnittlauch gefüllte Krapfen im heißen Fett herausbuk. Jedem, der vorbeischaute, drückte sie einen davon in die Hand. »Solscht amo eppas guits hobm.« Das mochte vielleicht nicht gut für den Geldbeutel sein, aber die Leute waren umso lieber hier.

Die Einheimischen hatten in der Unterkohlgrube ihren festen Platz, man saß immer am selben Tisch. Wenn aber ein reicherer Bauer zur Tür hereinkam, musste ein anderer aufstehen und ihm Platz machen. Reich war nicht nur, wer viel Vieh im Stall hatte, sondern vor allem, wer viel Wald besaß. Und wenn sich jemand zu einer Runde dazugesellte, war es Brauch, ihm aus Höflichkeit einen Schluck aus dem eigenen Glas anzubieten. Die meisten tranken Rotwein, eine Kalterer Auslese vom Fass oder Bier. An guten Tagen mussten Friedas Töchter oft in den Keller hinunter, um den Fünfliterkrug aufzufüllen, aus dem die Mutter dann Achtel und Viertel ausschenkte. Wenn die Mühlwalder, die in Deutschland oder der Schweiz eine Arbeit gefunden hatten, alle heilige Zeiten zu den großen Festtagen in die Unterkohlgrube kamen, bestellten sie sogar einen Liter. Neben dem Wein und Gösser- oder Puntigamer-Bier gab es Mineralwasser in Siphonflaschen und Orangenlimonade, die alle nur als »Kracherle« bezeichneten, wegen des Zischgeräuschs beim Öffnen der Flaschen. Die Kracherle kauften die Stegers in Sand in Taufers bei Fritz Leimegger, der wegen seiner Limonadenproduktion von allen nur der »Kracherle-Macher-Fritz« genannt wurde. Wenn die Vorräte zur Neige gingen, spannte Siegfried, der Älteste der Steger-Buben, das Ross vor den Karren und fuhr hinauf, um ein paar Kisten Limonade zu holen und die leeren Flaschen zurückzubringen. Schnaps gab es in der Unterkohlgrube natürlich auch: einen klaren Treber, Eiercognac und »Millefiori«, einen italienischen Likör. Nur Kaffee wurde nicht oft bestellt, obwohl die Stegers früh eine richtige Espressomaschine angeschafft hatten. Und sie hatten sogar einen Eiskasten. Eine Zeit lang waren die Leute aus dem Dorf nur vorbeigekommen, um sich dieses neumodische Gerät einmal aus der Nähe anzuschauen.

Wenn nach der Sonntagsmesse auch die Bauern in der Unterkohlgrube einkehrten, die ihre Höfe eine gute Stunde Fußmarsch entfernt in Außermühlwald hatten, tischte Frieda Leberknödelsuppe oder Knödel mit Gulasch auf. Bei den Einheimischen hießen diese Gäste nur »die Schattenberger«, weil die Sonne dieser Talseite im Winter für drei Monate den Rücken kehrte. Frauen sah man in der Unterkohlgrube selten. Einzig die Jöselin kam manchmal, um einen Kaffee mit Frieda zu trinken und ein bisschen zu ratschen. Das taten die beiden aber immer in der Küche, nie in der Gaststube. Und die ganz Jungen hatten am Abend in der Unterkohlgrube auch nichts zu suchen. Spazierten sie doch einmal zur Tür herein, wurden sie schnell hinauskomplimentiert; wenn das als Lektion noch nicht reichte, landete mancher auch mal im Wassertrog draußen vor der Tür.

Nur wenn am letzten Oktoberwochenende in Bruneck der Stegener Markt stattfand, waren mehr »Weiberleut« zu sehen. Für diesen »größten Markt in ganz Tirol«, wie das Fest angepriesen wurde, trieben die Bauern aus den umliegenden Tälern mit ihren Knechten das Vieh am Vorabend zur Unterkohlgrube, aßen ein Schweinsbratl von Tellern, auf denen ein roter Tiroler Adler prangte, und übernachteten in einer der Kammern des Gasthauses, bevor sie früh am nächsten Tag nach Bruneck weiterzogen. An solchen Marktwochenenden tummelten sich Hunderte Stück Vieh vor der Unterkohlgrube, die im Tal nur »Golla« genannt wurde. So, wie Josef Forer »der Luckner« war, war Siegfried Steger »der Golla« – der Name von Haus und Hof ging auf deren Bewohner über.

Für die Stegers waren solche Großereignisse eine Freude, weil viel Geld in die Kasse kam. Für Frieda und die Töchter war es aber auch eine Schinderei. Nicht nur, weil der große Saal an solchen Abenden geöffnet wurde. Manche Bauern scherten ihre Schafe direkt vor dem Wirtshaus, andere brachten Zicklein und Ferkel, manchmal sogar ein Kalb mit hinein in die Gaststube, um sie gleich dort zu verkaufen. Wenn Frieda sich lautstark darüber beschwerte – »Na, so eine Sauerei!« –, erntete sie nur Gelächter. Jeder wusste, dass ihnen die Wirtin das nicht wirklich übel nahm. Auch wenn sie und die Mädchen nach einem solchen Markttag den Holzboden in der Stube, dem Saal und der Labe 5 , auf dem sich Dreck und Stroh angesammelt hatten, stundenlang auf Knien scheuern mussten – mit Kernseife, einer Bürste und jeder Menge heißem Wasser, das einem die Haut an den Händen aufplatzen ließ. Nach einer Weile fuhr einem der Schmerz durch den ganzen Körper, von den Knien abwärts in die Zehenspitzen hinein und von den Schultern bis in die Finger. Beschwert hat sich Frieda nie, schließlich hatten sie und Hans sechs Kinder durchzubringen. Ein Segen, ein Himmelsgeschenk, wie der Pfarrer immer wieder betonte, vor allem nach einem ordentlichen Glas Wein.

1938 hatten sie ihr erstes Kind bekommen, ein Mädchen, und es auf den Namen Amalia getauft. Nur ein Jahr später war Siegfried gekommen, dann Lina, Anna, Josef und 1947 das Nesthäkchen Elsa. Die Kinder waren von klein auf daran gewöhnt mitanzupacken. Amalia und Lina, die beiden älteren Mädchen, spülten die Krüge und Gläser aus, leerten die Aschenbecher und putzten die Tische. Siegfried half dem Vater beim Schlachten. Schon mit 14 konnte er allein ein Kalb »aufarbeiten«. Normalerweise schlachteten und wursteten sie nur für den Hausgebrauch, aber dass »der Golla das gut kann«, hatte sich längst herumgesprochen. Im Spätherbst, wenn die Bauern ihre über den Sommer gut genährten Schweine zu Speck und Hauswürsten verarbeiten wollten, gab es richtig zu tun. Tag für Tag brachten sie ihre Tiere zum Wirt der Unterkohlgrube. Hans verlangte nur selten etwas fürs Schlachten, was Frieda zur Verzweiflung brachte. Wäre es nach ihrem Mann gegangen, hätte er überhaupt alles verschenkt … Es war schon recht, dass sie ihm hin und wieder auf die Finger klopfte und die Finanzen im Auge behielt. Richtig böse sein konnte sie ihm ohnehin nicht. Wenn er donnerstags um halb acht am Abend das Radio ganz laut aufdrehte – da kam die Volksmusik aus Böhmen – und mit seinen Töchtern tanzend durch den großen Saal wirbelte, wusste sie, dass der Hans schon der Richtige war.

Am Herz-Jesu-Sonntag 1961 war die Unterkohlgrube rappelvoll. Seit der Prozession waren ein paar Stunden vergangen, dementsprechend ausgelassen war die Stimmung unter den Gästen. Krug um Krug wurde zu den Tischen getragen, alle vertrieben sich die Zeit, bis es dunkel wurde und die Herz-Jesu-Feuer von den Bergkämmen herableuchten würden. Siegfried Steger schleppte einen weiteren Kasten Puntigamer in die Wirtsstube und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Mamme, i muss weg, i bin mitm Josef verabredet. Wegen dem Feuer obn af do Gisse 6

Frieda nickte. »Obo kimm net so spout zrugg. Des weard heint a longa Nocht fü ins. Und schaug nouch, ob do Vouto Hilfe im Stoll braucht.«

Es war kurz vor acht, als Siegfried wieder zurück in die Wirtsstube kam.

»Ischt olls fertig, i geah itz.« Er griff seine Jacke vom Haken und schob sich durch das Gedränge Richtung Tür.

»Ist der Steger Siegfried da?«

»Jo? Der bin i. Wer will des wissn?«

Siegfried hatte die beiden Männer noch nie gesehen. Einer von ihnen packte ihn am Arm und bugsierte ihn energisch nach draußen. Er blickte sich mehrmals um, und als er sicher war, dass niemand ihn hören konnte, raunte er: »Haunold.«

Siegfried sah ihn überrascht an. Das Losungswort für den großen Schlag. »Wo König Ortler seine Stirn hoch in die Lüfte reckt, bis zu des Haunolds Alpenreich, das tausend Blumen deckt: Dort ist mein schönes Heimatland mit seinem schweren Leid, mit seinen stolzen Bergeshöh’n, mit seiner stolzen Freud’«, heißt es in einem alten Tiroler Heimatlied. Er hatte gewusst, dass es irgendwann so weit sein würde. Dass die ganze Welt endlich erfahren würde, dass in Südtirol seit Jahren ein Konflikt schwelte und das Klima zwischen Deutschen und Italienern noch immer vergiftet war. An diesem Herz-Jesu-Sonntag also sollte Südtirol brennen.

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Gründungsfest der Freiwilligen Feuerwehr von Mühlen in Taufers auf dem Platz vor dem Gasthaus Unterkohlgrube.

© Fotoarchiv »promill«, Mühlen in Taufers

Südtirol, Mitte des vergangenen Jahrhunderts: Für die Einheimischen gibt es kaum noch Arbeit, die wenigen öffentlichen Beamtenstellen werden fast ausschließlich mit Italienern besetzt. Zu Hunderten kommen sie aus dem Süden, um in der Grenzregion zu Österreich zu arbeiten. Der Widerstand im ganzen Land wächst. Ein Südtiroler kann viel ertragen. Demütigung, Häme, Unterdrückung, aber irgendwann genügt ein vermeintlich kleiner Anlass, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Josef Forer ist 19 Jahre alt, als ihm ein Carabiniere auf dem Dorfplatz von Mühlen den Anstecker mit dem Tiroler Adler vom Revers reißt und ihn zertritt. Es ist der Moment, in dem Josef und einige seiner Freunde beschließen, den Italienern zu zeigen, »wer der Herr im Land ist«. Es ist der Beginn einer unglaublichen Geschichte, der Geschichte der Pusterer Buben oder »Puschtra Buibn«, wie die Einheimischen die Männer nennen, die bis heute aus ihrer Heimat verbannt sind.

Wenn man diese Geschichte verstehen will, muss man aber weit vor dem Jahr 1961 ansetzen. Sie beginnt am 10. September 1919 im Schloss Saint-Germain-en-Laye. Hier wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs einer der Verträge unterzeichnet, die den Krieg in Europa formal beendeten. Der Teilvertrag von Saint-Germain regelte die Auflösung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und legte die Grenzen für die neue Republik Deutschösterreich fest. Südtirol wurde dem Königreich Italien zugesprochen, das nach dem Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten zu den Siegermächten gehörte.

Mit Benito Mussolinis Machtergreifung 1922 begannen erste Repressalien der Faschisten gegen die deutschsprachige Bevölkerung: Der Deutschunterricht an Schulen wurde ebenso verboten wie Vereine, die sich der Wahrung alter – und damit deutsch-österreichischer Traditionen – verschrieben hatten. Selbst Orts- und Flurnamen sollten ins Italienische übertragen werden. Eine Aufgabe, mit der Ettore Tolomei betraut wurde, ein Faschist der ersten Stunde. Schon bei der Einnahme des Bozner Rathauses durch Mussolinis »Schwarzhemden« 1922 hatte er Flugblätter verteilen lassen, in denen er Hasstiraden gegen die deutschsprachige Bevölkerung verbreitete: »Ein Schrei genügt, und wir haben diesen schweinischen Abschaum eines überständigen Österreich hinweggefegt.«

Tolomei trieb die Italianisierung konsequent voran. Der traurige Höhepunkt: Aus Johann wurde »Giovanni«, aus Wilhelm »Guglielmo«. Selbst die Toten wurden umbenannt; auf dem Grabstein von Siegfried Stegers Großvater stand nun der Name »Piero«, nicht Peter. Auch die Rückführung von Familiennamen in die vermeintlich »ursprüngliche« lateinisch-italienische Form war Teil des Maßnahmenpakets. Für Namen, die sich partout nicht rückführen ließen, hatte Tolomei mehrere Varianten vorbereitet. Aus dem Familiennamen Steger wäre wahlweise »Ponti« oder »Dalponte« geworden, aus Forer »Dalpino« oder »Pini«, aus Oberleiter »Sopracosta« und aus Oberlechner »Sopramaso«. Dass es dazu nicht in letzter Konsequenz kam, ist einem folgenreichen Abkommen zu verdanken, das 1939 zwischen Hitler und Mussolini geschlossen wurde. Die deutschsprachige und ladinische Bevölkerung Südtirols – damals an die 250.000 Menschen – musste entscheiden, ob sie ins Deutsche Reich übersiedeln (»optieren«) oder in Südtirol bleiben und damit der völligen Italianisierung zustimmen wollte.

Rund 86 Prozent entschieden sich zunächst dazu, ihre Heimat zu verlassen. Tatsächlich wanderten bis zum Sturz Mussolinis und der Annexion des norditalienischen Alpenvorlands durch die Truppen der Wehrmacht im September 1943 nur 75.000 Südtiroler aus. Zum einen, weil der italienische Staat nach dem Kriegsbeginn nicht mehr die Mittel hatte, den Besitz abzulösen, und auch die deutschen Behörden bremsten. Zum anderen, weil man von Optanten gehört hatte, dass es in der neuen Heimat alles andere als rosig sei. In Südtirol waren die Folgen dennoch gravierend, Optanten und »Dableiber« standen sich unversöhnlich gegenüber. Beide Gruppen bezichtigten sich gegenseitig des »Verrats an der Heimat«.

Am 5. September 1946 unterzeichneten der österreichische Außenminister Karl Gruber und der italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi in Paris den sogenannten Pariser Vertrag (auch Gruber-De-Gasperi-Abkommen genannt). Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Bestandteil in den italienischen Friedensvertrag aufgenommen und erhielt damit eine völkerrechtliche Absicherung. Der Pariser Vertrag sicherte – zumindest theoretisch – die Gleichbehandlung der verschiedenen Volksgruppen in Italien. Den Südtirolern wurden innerhalb der Region Trentino-Alto Adige autonome Rechte zugestanden, darunter unter anderem das Recht auf den Gebrauch der Muttersprache bei Polizei, Gericht und öffentlichen Ämtern. Eine Scheinautonomie, die im Alltag allzu oft missachtet wurde.

In der Folge kehrten viele Optanten in ihre Heimat zurück. Rein juristisch galten sie bis Februar 1948, wie der Großteil der »Dableiber«, die zunächst optiert hatten, für die Regierung in Rom als rechtlose Displaced Persons.

Rom legte das Gruber-De-Gasperi-Abkommen sehr restriktiv aus. Die Bildung der neuen Region Trentino-Alto Adige hatte neue Verhältnisse geschaffen, was Minder- und Mehrheiten in der Bevölkerung anging. Durch die Ausweitung um das Trentino wurde die Zahl der Deutschsprachigen in der Region künstlich reduziert. Seit den Fünfzigerjahren wurde zudem die Ansiedlung von Italienern aus dem armen Süden des Landes massiv vorangetrieben. 1918 lebten 7000 Italiener in Südtirol, zu Beginn der Sechzigerjahre 130.000. Während in Bozen 1920 im Gemeinderat kein einziger Italiener saß, waren es 1961 bereits 31 – bei nur noch neun Südtirolern. Rom pumpte Geld für neue Industrien und Wohnbauprojekte in den Norden, die fast ausschließlich den Zuzüglern zugutekamen. Die Arbeitslosigkeit unter den Einheimischen stieg. Weil in Südtirol nur der Älteste den Hof übernehmen konnte, damit der Besitz beisammen blieb, mussten viele junge Männer ihr Glück im Ausland suchen. In ihren Dörfern hatten sie kaum eine Chance. Hinzu kam, dass die Berglandwirtschaft an Bedeutung verlor, Alternativen wie der Tourismus noch in den Anfängen steckten. Die wirtschaftliche Krise wurde zur sozialen, wobei viele Einheimische jene Krise als Folge der Unterdrückung durch »die Italiener« betrachteten. Als ein gezieltes Ausbluten der Heimat.

Es sollte 26 Jahre dauern, bis die deutsche und die ladinische Bevölkerung mit dem Zweiten Autonomiestatut aus dem Jahr 1972 in Italien zu den verfassungsrechtlich geschützten Minderheiten gehörte. Und erst weitere vier Jahre später wurde das »Proporz-Dekret« verabschiedet. Seitdem regelt ein »ethnischer Proporz« die Vergabe öffentlicher Stellen im Verhältnis zur Sprachgruppe – ein Grundsatz, der bereits im Pariser Vertrag enthalten war, aber jahrzehntelang nicht umgesetzt worden war. Geklärt oder gar bereinigt ist das Verhältnis zwischen deutschen Südtirolern und Italienern dennoch nicht. Zu tief die Gräben, die sich bis dahin gebildet hatten. Selbst heute, im vereinten Europa, reicht eine einzige Äußerung, um die Wogen hochschlagen zu lassen. Als sich zum Beispiel Luis Durnwalder, bis 2013 Südtiroler Landeshauptmann, weigerte, im Frühjahr 2011 an den 150-Jahr-Feiern der Republik Italien teilzunehmen, liefen Regierung und italienische Medien Sturm. Als Begründung hatte er angeführt: »Wir sind eine österreichische Minderheit.« Gleichermaßen sorgen die Italiener für Empörung, wenn sie an bestimmten staatlichen Feiertagen vor dem faschistischen Siegesdenkmal in Bozen Kränze niederlegen oder wenn beim Alpini-Denkmal in Bruneck, dem sogenannten Kapuziner-Wastl, Politiker der italienischen Rechten aufmarschieren. Die Spuren des italienischen Faschismus sind bis heute in Südtirol sichtbar. Nicht nur in Form des Mussolini-Frieses auf dem Finanzamt in Bozen oder des Siegesdenkmals auf dem gleichnamigen Platz in der Landeshauptstadt. Undenkbar in anderen Gegenden Europas.

Die Schatten der Vergangenheit, sie mögen vielleicht kürzer werden, aber sie sind noch nicht verschwunden. In den Jahren bis 1972 überlagerten diese Schatten den Alltag in Südtirol in einer Weise, die uns heute unvorstellbar erscheinen mag. Die öffentliche Diskussion wurde beherrscht von Nationalismus auf beiden Seiten, neofaschistische Parteien erlebten einen ungeahnten Zulauf. Die Südtiroler waren zudem gespalten in gemäßigte Kräfte, die auf eine konsequente Umsetzung des Pariser Vertrags pochten, und denjenigen, denen das nicht weit genug ging. Sie wollten die Selbstbestimmung, die Loslösung von Rom bzw. Trient, verbunden mit dem Recht, selbst über eine Zugehörigkeit zum Staat Italien abzustimmen. Mit einer (Schein-)Autonomie, wie sie sie im Alltag erlebten, wollten sie sich nicht zufrieden geben. 7 Einig waren sich beide Parteien nur darin, dass sich das Land seit 1945 auf einem »Todesmarsch« befände, »wenn nicht noch in letzter Sekunde Rettung kommt«, so Kanonikus Michael Gamper in der Zeitung Dolomiten.

Die Befürworter der Autonomie kritisierten vor allem die zunehmende Ansiedlung von Süditalienern, die mit großen Wohnbauprojekten und dem Versprechen auf Arbeit in den Norden gelockt wurden. Rom würde so lange abwarten, bis die Italiener die Mehrheit hätten – und dann wäre man machtlos. Für die Anhänger der Selbstbestimmung Anlass genug, eine härtere Gangart zu fordern. Dass Rom nicht einmal die Minimalforderungen des Pariser Vertrags umsetzte, war für sie ein deutliches Zeichen.

Die Hoffnungen vieler Südtiroler ruhten daher auf Österreich. Im Pariser Vertrag war es als Schutzmacht Südtirols anerkannt worden. Und als Österreich 1955 mit dem Staatsvertrag auch außenpolitische Handlungsfreiheit erhielt, forderte der Tiroler Landtag umgehend eine vollständige Umsetzung der Vereinbarungen des Pariser Vertrags und kritisierte die Zuwanderung aus dem Süden. In der italienischen Presse hieß es, die Einwanderung sei auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen, deren Wirkung zu verhindern widersinnig wäre; darüber hinaus dürfe es in einem demokratischen Land keine Behinderung des »freien Verkehrs« geben. Historische Dokumente belegen allerdings, dass Rom tatsächlich das Prinzip der »51-Prozent-Politik« verfolgte, also eine gezielte Unterwanderung. Auch die Missachtung und später das Verbot von Brauchtum und Tradition hatte System.

In den folgenden Jahren begann ein politisches Tauziehen, das geprägt war von Misstrauen und Spitzfindigkeiten. Österreichische und italienische Delegationen trafen sich zu verschiedenen »Gesprächen«. Rom sperrte sich anfangs allein schon gegen den Begriff »Verhandlungen«, es gebe schließlich gar nichts zu verhandeln, die Maßgaben des Pariser Abkommens würden erfüllt. Zudem zog man Österreichs Status als Schutzmacht in Zweifel. Südtirol sei eine inneritalienische Angelegenheit, kein Problem, das durch Intervention aus dem Ausland behoben werden müsse.

Die vielen »Sondierungsgespräche« blieben ohne nennenswerte Ergebnisse, weshalb das »Südtirolproblem« im Juni 1960 auf die Agenda der UNO-Vollversammlung gesetzt wurde. Am 31. Oktober verabschiedeten die Delegierten einstimmig eine Resolution: Die Frage der Autonomie sei »unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Volkscharakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Südtiroler zu behandeln«. Beide Staaten wurden zur Fortsetzung ihrer Gespräche aufgefordert. Sollten die Verhandlungen in dem dafür vorgesehenen Zeitraum kein Ergebnis bringen, würde das Thema erneut auf die Tagesordnung kommen.

Gemäß UNO-Auftrag trafen sich die Außenminister Österreichs und Italiens im Januar, Mai und Juni 1961, unter anderem in Mailand und Klagenfurt. Auch dies brachte keinen Durchbruch. Italien erklärte sich lediglich zu einer »besseren Durchführung« des vorliegenden Autonomiestatuts bereit, widersetzte sich aber der Forderung nach einer umfassenden Landesautonomie. Man befürchtete, dies könne ein erster Schritt zum (Wieder-)Anschluss Südtirols an Österreich sein. Gut zweieinhalb Wochen später kam es am Herz-Jesu-Sonntag 1961 im ganzen Land zu einer Serie von Sprengstoffanschlägen. Mit der »Feuernacht« erreichte die Gewalt einen ersten bitteren Höhepunkt.

Meine eigene, ganz persönliche Geschichte der Pusterer Buben beginnt an einem Tag im September 2010. Der Sommer war vorbei, der Herbst schickte seine ersten Vorboten und mit ihnen das Gefühl jener Melancholie, die mich in jedem Jahr erfasst, wenn über den Häusern meines Südtiroler Heimatortes Sand in Taufers der Rauch aus den Schornsteinen aufsteigt, über den Wiesen bis zum Mittag der Bodennebel hängt und die Wälder sich von den Bergen herab zu verfärben beginnen. Ich saß gerade am Schreibtisch und machte mir rasch noch ein paar Notizen zu einer Reisereportage über die Sprachminderheiten des Trentino, als es an der Haustür klingelte. Ein Nachbar, den ich flüchtig kannte, stand davor, er wollte wissen, ob er hier richtig sei – »bei der Journalistin«. Ich bejahte und bat ihn herein. Ich hatte keine Ahnung, was ihn zu mir geführt hatte, vor allem hatte ich kaum Zeit. Bald würde mein Zug nach München gehen, wo ich seit einigen Jahren arbeitete.

Kaum hatte er in der Stube Platz genommen, kam er zur Sache. Es müsse endlich etwas »in der Sache um die Puschtra Buibn« geschehen! Er sei schon länger auf der Suche nach jemandem, der darüber berichten würde. Ob ich mich vielleicht …?

Die Puschtra Buibn? Während ich ihm gegenübersaß, suchte ich in Gedanken nach einem Anhaltspunkt. Der Begriff sagte mit etwas, aber was er mit »der Sache« meinte, war mir nicht auf Anhieb klar. Ich versprach ihm, mich zu informieren und bei ihm zu melden, sobald ich wieder zurück in Südtirol wäre.

Auf der vier Stunden langen Fahrt über den Brenner, die über zwei Staatsgrenzen führt, die nur noch an den Überresten verwaister Grenzhäuschen zu erkennen sind, wird mir bewusst, dass ich nicht viel über die Geschichte meiner Heimat weiß. Wie alle aus meiner Generation habe ich in der Schule zwar davon gehört, dass es einmal die »Südtirolattentäter« oder auch »die Freiheitskämpfer« gegeben hat. Aber wer diese Männer waren und was sie zu ihren Taten bewogen hatte, darüber wusste ich nur wenig. Dabei stammten drei der vier Pusterer Buben sogar aus meinem Nachbarort.

In den Wochen nach meiner Rückkehr aus München zapfte ich alle möglichen Quellen an, um mehr über sie und ihre Zeit zu erfahren. Mein Vater erzählte mir, dass er als Student in Padua Ende der Sechzigerjahre »dinamitardo«, Sprengstoffattentäter, genannt wurde. Als ich nachfragte, meinte er nur trocken: »Ich bin Südtiroler. Und in den Augen vieler Italiener verübten damals eben alle Südtiroler Anschläge.« Und meine Mutter erinnerte sich daran, dass im Sommer 1964 Soldaten ihr Elternhaus auf den Kopf gestellt hatten, in der Hoffnung, Hinweise auf flüchtige oder potenzielle Attentäter zu finden. Für meine Eltern waren die Geschehnisse im Südtirol der Fünfziger- und Sechzigerjahre persönlich erlebte Geschichte. Für mich waren sie bis dahin Vergangenheit gewesen. Ein – eher dürres – Kapitel im Geschichtsbuch.

Je tiefer ich in die Thematik einstieg, umso größer die Verwunderung, wie wenig ich fand. Und umso stärker meine Neugier. Niemand hatte bis dahin die gemeinsame Geschichte der vier Pusterer Buben aufgeschrieben. In jedem Buch oder in jedem Artikel über diese Zeit sind nicht mehr als ein paar Zeilen über sie zu finden. Niemand, der ihre Rolle im Südtiroler Freiheitskampf ausführlich und ihrer Bedeutung gemäß eingeordnet hätte, obwohl sie zu den vor Gericht am härtesten verurteilten Südtirolattentätern gehören.

Ihre Geschichte ließ mich nicht mehr los. Wenn ich es wirklich anpacken wollte, musste ich mich beeilen. Einer der Pusterer war bereits 2006 gestorben, seine Sicht auf die Vergangenheit würde ich nie erfahren. Und die anderen mussten inzwischen in ihren Siebzigern sein.

Wieder zurück in Südtirol, traf ich mich mit dem Nachbarn, der mich auf das Thema gebracht hatte. Er erzählte mir, dass Robert Forer in Mühlen in Taufers lebt. Sein Bruder Josef ist einer der Pusterer Buben. Der Nachbar kannte Robert und vereinbarte ein erstes Treffen.

Gespannt und nervös steige ich vor dem Oberluckner-Hof aus dem Auto. Hier, nur fünf Autominuten von meinem Zuhause, ist einer der Pusterer Buben aufgewachsen. Robert Forer macht die Tür auf und bittet uns herein in die Stube.

Es wird ein langes Gespräch. Robert erzählt mir, wie sich die Entscheidung seines Bruders, mit dem Kampf um die Heimat alles auf eine Karte zu setzen, auf die ganze Familie auswirkte. Die Frage, warum alles so hat kommen müssen, habe er sich früher nicht gestellt. Robert war damals 13 und bewunderte den älteren Bruder, der schon immer einen eigenen Kopf gehabt habe. So wie mit den Bienen, die er unbedingt hatte haben wollen. Der Vater habe sie weggegeben, als Josef untertauchen musste. Und dann seien gerade die Bienen ein Stachel gewesen, der sie alle immer daran erinnert habe, dass einer fehlte. Heimweh frisst die Seele auf. So pathetisch würde das hier niemand ausdrücken, man steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden und spricht nicht von Gefühlen, aber am Ende des Tages ist es eben doch so, dass eine Lücke bleibt.

Robert macht eine lange Pause und blickt aus dem Fenster. Ich drehe etwas unentschlossen meine Kaffeetasse hin und her, dann sage ich: »Ich würde Josef gerne kennenlernen.«

»Ich werde sehen, was sich machen lässt. Ruf mich einfach in ein paar Tagen an.«

Schon nach diesem einen Treffen bin ich mir sicher: Das ist für mich als Journalistin das Thema meines Lebens. Nach ein paar Tagen rufe ich Robert an. Ich habe mich nicht getäuscht: Der »Familienrat« hat für mich gestimmt, der erste entscheidende Schritt ist getan. Josef erzählt mir später, dass er in der Vergangenheit eher schlechte Erfahrungen mit der Presse gemacht hat. Am Ende hätten Sachen in der Zeitung gestanden, die er so nie gesagt haben wollte. Als ich nachfrage, warum der zu zweimal lebenslänglich Verurteilte trotzdem mit mir reden wolle, ist die Antwort denkbar einfach. Ich sei eine der »Ihren«, eine Südtirolerin, aus dem Nachbarort stammend. Über ein paar Ecken gibt es sogar Berührungspunkte, mein Großvater mütterlicherseits war als umtriebiger Holzhändler im ganzen Tal bekannt. Aber vielleicht ist auch ganz unabhängig davon einfach die Zeit gekommen, um über das Erlebte zu sprechen.

Josef Forer lebt in Ladis in Tirol, einem 500-Seelen-Ort am Fuße der Samnaungruppe im Oberinntal. Dort führt er sein eigenes Hotel. Seine Mutter Maria wird mir später erzählen, wie stolz sie darauf ist, dass Josef es in der Fremde zu etwas gebracht hat.

Einige Wochen nach dem Telefonat sitze ich tatsächlich in Josef Forers Stube in dem Haus, das er neben dem Hotelbetrieb gebaut hat. Er ist erst kurz vor meinem Eintreffen aus dem Wald zurückgekommen. Der passionierte Jäger verbringt jede freie Minute in der Natur. »Wer so viel draußen war wie ich in meinem Leben, hat eine starke Verbindung zur Natur. Das gibt einem viel Kraft, wenn man mit der Natur in Einklang ist«, sagt er. Zur Begrüßung tischt er einen Teller mit Käse und Speck auf. Manchmal räuchert er ihn noch selbst, erzählt er, wenn er die Zeit dafür findet. Auch den schweren Tisch hat er selbst gezimmert, genauso wie die anderen Holzmöbel im Haus, selbst die filigranen Verzierungen am Schrank hat er mit seinen eigenen Händen geschaffen.

Während ich schweigend ein Stück Brot mit Speck esse, frage ich mich, ob Josef wohl darüber lachen müsste, wenn ich ihm erzählte, dass ich Angst habe, dass mir im Gespräch ein Wort auf Italienisch herausrutscht. Wäre ich dann noch »eine der Ihren«?

Als hätte ich zu viel darüber nachgedacht, passiert mir wenig später genau das. »Magari hat er das gar nicht gewusst«, höre ich mich plötzlich sagen. Eine Floskel, die übersetzt so viel heißt wie »möglicherweise« oder auch »und wie«. Ich zucke innerlich zusammen und blicke zu Josef. Aber er reagiert überhaupt nicht.

Nach ein bisschen Vorgeplänkel über den guten Speck und das Hotel hält Josef mit einem Mal inne und schaut mich so durchdringend an, als reichte sein Blick bis nach Südtirol.

»So. Du willst also über uns schreiben?«

»Ja.«

Ich bin auf alles gefasst. Auf bohrende Nachfragen, auf lange Erklärungen meinerseits, auf ein Warum überhaupt und im Besonderen – nicht aber auf diese eine schlichte Frage: »Gut. Was willst du wissen?«

Wo beginnen? Was ist der Kern von allem? Am Ende sage auch ich nur einen Satz: »Erzähl mir von daheim.«

1Die Häusergruppe rund um die Pfarrkirche wird »Pfarre« genannt.

2Gitsche bedeutet Mädchen.

3Der Name des Gasthauses geht auf das Köhlerhandwerk zurück.

4Tresen.

5Als »Labe« wird in alten Bauernhäusern der Flur bezeichnet. Ein Stockwerk darüber befindet sich die Oberlabe.

6Als »Gisse« wird im Dialekt eine Steinmure bezeichnet; der Begriff wird aber auch für Schutthalden bzw. Schuttkegel verwendet, also einen weiten Bereich, wo ein Gebirgsbach im Laufe der Jahrhunderte bei Hochwasser sein Geschiebe ablagert.

7Den Südtirolern wurde mit dem ersten Autonomiestatut aus dem Jahr 1948 eine echte Selbstverwaltung verwehrt, da die wichtigen Entscheidungen in Trient getroffen wurden. In der neu geschaffenen Region Trentino stellten die Italiener die Mehrheit.

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