Tanz der Hexen
Kosmos
Umschlagillustration von Ina Biber, München
Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR
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© 2007, 2011 Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-13002-5
Satz: DOPPELPUNKT, Stuttgart
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Post für Franzi
»Was für ein Mistwetter!« Franzi schüttelte die Regentropfen aus ihren roten Haaren und zog die nasse Jacke aus. Ihre Freundinnen Kim und Marie saßen bereits in der gemütlichen Sofaecke des Café Lomo und schlürften dampfenden Kakao.
»Hier, trink einen Schluck, dann geht’s dir gleich besser.« Kim reichte Franzi einen Becher. »Wir haben schon mal einen Kakao Spezial für dich mitbestellt.«
»Super!« Dankbar nahm Franzi den Becher entgegen und schnupperte genießerisch. »Hmmm, das Vanillearoma duftet einfach göttlich.« Kakao Spezial mit Vanillearoma war eine Spezialität des Hauses und das absolute Lieblingsgetränk von Franzi, Kim und Marie – eine der wenigen Vorlieben, die die drei ungleichen Freundinnen teilten. Abgesehen von ihrer Begeisterung für spannende Kriminalfälle natürlich. Als Detektivclub »Die drei !!!« hatten sie bereits zahlreiche knifflige Fälle gelöst und nicht nur einen gefährlichen Handy-Erpresser sowie skrupellose Markenfälscher, sondern zuletzt sogar eine Grabräuber-Bande überführt.
Marie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Du bist übrigens eine halbe Stunde zu spät.«
Franzi schnaufte ärgerlich. »Musst du gerade sagen!«
Dass ausgerechnet Marie zur Pünktlichkeit mahnte, war wirklich ein Witz. Sie kam schließlich selbst andauernd zu spät, weil ihre tausend Hobbys sie voll in Anspruch nahmen. Hin und wieder vergaß sie darüber sogar die Detektivclub-Treffen, was Franzi jedes Mal zur Weißglut brachte. Marie ging nicht nur regelmäßig zum Aerobic-Kurs und zur Theater-AG, sie nahm auch Schauspiel- und Gesangsunterricht, weil sie später einmal Sängerin oder Schauspielerin werden wollte. So wie ihr Vater, der als Kommissar Brockmeier in der Fernsehserie Die Vorstadtwache berühmt geworden war. Herr Grevenbroich verdiente mit der Schauspielerei eine Menge Geld und las seiner Tochter jeden Wunsch von den Augen ab.
Marie wollte etwas erwidern, aber Kim kam ihr zuvor und verhinderte so einen handfesten Streit. »Lasst uns doch erst mal anstoßen, Leute«, sagte sie und hob ihren Becher. »Nur noch eine Woche bis zu den Herbstferien, wenn das kein Grund zum Feiern ist!«
»Stimmt.« Franzi hielt ihren Becher ebenfalls in die Höhe und stieß mit ihren Freundinnen an. Dabei fiel ihr wieder ein, warum sie heute zu spät ins Café Lomo gekommen war. »Ihr erratet nie, was ich hier habe.« Sie zog einen zerknitterten Briefumschlag aus der Hosentasche und machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Einen neuen Liebesbrief von Benni?« Kim grinste vielsagend.
Franzi wurde rot. »Quatsch, natürlich nicht.«
Manchmal war es ihr immer noch etwas peinlich, dass sie vor einer Weile ihren ersten Liebesbrief bekommen hatte. Ausgerechnet von ihrem Skaterkumpel Benni! Obwohl es auch bei Franzi ab und zu kribbelte, wenn sie Benni sah, war sie sich noch nicht so richtig sicher, ob sie wirklich in ihn verliebt war.
»Jetzt mach’s nicht so spannend.« Marie klopfte ungeduldig mit ihren rosa lackierten Fingernägeln gegen den Kakaobecher, den sie in den Händen hielt. Natürlich passte der Nagellack perfekt zu Maries restlichem Styling. Auch ihr kurzer Wollrock, die hohen Stiefel und ihre Lippen leuchteten rosarot. Sie sah aus wie eine Himbeere auf zwei Beinen. Aber das behielt Franzi lieber für sich.
»Das ist ein Brief von meiner Oma Lotti«, begann Franzi und schwenkte den Umschlag.
»Ist das die Oma, die immer Schokoladenkuchen für dich backt?«, fragte Kim.
Franzi grinste. Typisch Kim! Sie stand total auf Süßigkeiten und futterte für ihr Leben gern Schokolade, Gummibärchen und Kuchen. Ihren überdimensionalen Süßigkeitenkonsum entschuldigte sie gerne damit, dass sie als Kopf der drei !!! jede Menge Nervennahrung brauchte. Kim hatte den Club ins Leben gerufen und war für das Detektivtagebuch zuständig, in dem sie alle Fälle und den Fortgang der Ermittlungen genauestens dokumentierte.
»Genau.« Franzi nahm einen Schluck Kakao. »Oma Lottis Schokoladenkuchen ist wirklich sensationell. Sie ist auch sonst supernett. Und was das Beste ist: Sie hat uns eingeladen! Wir sollen sie in den Herbstferien ein paar Tage besuchen. Was sagt ihr dazu?«
»Klasse!« Kims Augen begannen zu leuchten. »Ich hab in den Ferien sowieso noch nichts vor. Außerdem brauche ich dringend mal eine Pause von Ben und Lukas.« Das konnte Franzi gut verstehen. Kims neunjährige Zwillingsbrüder waren schreckliche Nervensägen. »Meinst du, deine Oma backt für uns auch Schokoladenkuchen?«, wollte Kim noch wissen.
Franzi lachte. »Bestimmt. Und sie erzählt euch garantiert auch die Legende vom Märchenwald, das ist nämlich eine ihrer Lieblingsgeschichten.«
»Märchenwald?« Marie horchte auf. »Was bedeutet das?«
»Oma Lottis Haus liegt direkt am Waldrand in der Nähe von Billershausen«, erklärte Franzi. »Das ist ein kleines Dorf, ungefähr fünfundzwanzig Kilometer von hier entfernt. Und der Wald wird Märchenwald genannt.«
»Klingt spannend.« Marie zog ein Buch aus ihrer Umhängetasche. »Dabei fällt mir was ein. Seht mal, was ich vorhin in der Bücherei entdeckt habe.« Sie hielt das Buch in die Höhe.
»Zaubern leicht gemacht – Hexenzauber für Anfänger«, las Kim vor.
Marie nickte eifrig. »Super, oder?« Sie schlug das Inhaltsverzeichnis auf. »Es gibt Wetterzauber, Versöhnungszauber, Wachstumszauber …«
Franzi prustete los. »Wachstumszauber – so ein Unsinn! Du glaubst doch nicht etwa an den Quatsch, oder?«
Marie machte ein beleidigtes Gesicht und schlug das Buch wieder zu. »Was gibt’s denn da zu lachen? Die Hexerei ist eine uralte Kunst. Sie ist heutzutage bloß in Vergessenheit geraten. Und woher willst du so genau wissen, dass die Zaubersprüche nicht funktionieren? Du hast sie schließlich nicht ausprobiert.«
»Das muss ich auch nicht.« Franzi grinste spöttisch. »Es gibt weder Hexen noch Zauberer, da bin ich mir hundertprozentig sicher.«
Seit sich Marie bei ihrem letzten Fall näher mit Tarotkarten und ihren Vorhersagen beschäftigt hatte, interessierte sie sich für übersinnliche Erscheinungen, Gläserrücken, Hexenzauber und anderen Humbug. Franzi konnte damit überhaupt nichts anfangen. Kim war zum Glück auch vernünftig genug, um sich nicht von Maries Begeisterung anstecken zu lassen.
»Es kann ja nicht schaden, wenn Marie die Zaubersprüche mal testet«, sagte Kim diplomatisch. »Auch wenn ich nicht glaube, dass sie tatsächlich funktionieren.«
Franzi hatte keine Lust, sich länger über dieses alberne Hexenthema zu unterhalten. »Was ist jetzt?« Sie wedelte mit dem Briefumschlag. »Seid ihr dabei? Ich hab schon mit meiner Mutter gesprochen, darum bin ich auch zu spät gekommen. Sie ist einverstanden.«
»Ich rede gleich heute Abend mit meinen Eltern«, sagte Kim. »Aber sie haben bestimmt nichts dagegen. Solange eine erwachsene Aufsichtsperson in der Nähe ist, macht meine Mutter normalerweise kein Theater.«
Kims Mutter war ziemlich streng. Neben ihrem Schulfimmel – Schule und Noten gingen für sie über alles – hatte Frau Jülich ständig Angst, dass ihrer Tochter etwas passieren könnte. Eine Sorge, die bei dem gefährlichen Hobby der drei !!! allerdings auch nicht ganz unbegründet war …
»Ich bin dabei.« Marie lehnte sich lässig im Sofa zurück. »Papa ist in den Herbstferien sowieso unterwegs. Er dreht die neue Staffel der Vorstadtwache ab und ist bestimmt froh, wenn ich etwas Nettes vorhabe.«
Maries Vater war das genaue Gegenteil von Frau Jülich. Er vertraute seiner Tochter vollkommen und ließ ihr viele Freiheiten. Das konnte Franzi von ihren Eltern leider nicht behaupten. Sie waren zwar nicht so streng wie Frau Jülich, aber Franzis Mutter konnte mit ihrer überfürsorglichen Art auch ganz schön nerven.
»Prima! Dann ist die Sache abgemacht.« Franzi streckte den Arm aus. »Ich würde sagen, es ist mal wieder Zeit für unseren Power-Spruch.«
Franzi, Kim und Marie legten die Hände übereinander. Dann sagten sie im Chor: »Die drei !!!«
Franzi sagte »Eins!«, Marie »Zwei!« und Kim »Drei!« Zum Schluss hoben sie gleichzeitig die Hände in die Luft und riefen: »POWER!«
Kim war allerdings nicht so richtig bei der Sache. Beim POWER-Ruf blieb ihr Blick an der Eingangstür hängen und ein verzückter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. Franzi brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer gerade das Café Lomo betreten hatte. Wenn Kim dermaßen weggetreten war, konnte das nur an einer Person liegen: Michi Millbrandt.
Michi war ein Freund der drei !!! und half ihnen manchmal bei ihren Ermittlungen. Kim war seit ihrer allerersten Begegnung unsterblich in ihn verliebt, traute sich aber nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Darum himmelte sie ihn mehr oder weniger unauffällig an und hoffte stets auf ein Zeichen seiner Zuneigung.
Franzi drehte sich um. Tatsächlich! Sie hatte richtiggelegen. Michi durchquerte das Café und kam direkt auf sie zu.
»Hallo, Michi«, hauchte Kim, als er neben dem Sofa stehen blieb.
»Na, habt ihr euch wieder die besten Plätze gesichert?« Michi grinste in die Runde.
»Klar. Setz dich doch zu uns«, sagte Franzi schnell, damit Michi nicht merkte, dass Kim vor lauter Verlegenheit kein Wort herausbrachte. Das passierte ihr in Michis Gegenwart leider öfter, und Franzi wusste, dass sie sich hinterher jedes Mal schwarzärgerte.
»Gerne.« Michi nahm neben Kim Platz. »Hallo, Kim, lange nicht gesehen.« Er lächelte ihr zu, dann stutzte er. »Sag mal, warst du beim Friseur? Die kurzen Haare stehen dir richtig gut!«
Kim lief knallrot an. »Danke.« Mehr brachte sie nicht über die Lippen. Stattdessen sah sie Michi tief in die Augen.
Franzi und Marie grinsten sich zu. Eins war klar: Solange sich Michi in der Nähe befand, war Kim nicht ansprechbar. Franzi beschloss, die weitere Ferienplanung auf später zu verschieben. Gegen Liebe war nun mal kein Kraut gewachsen.
Geheimes Tagebuch von Kim Jülich
Samstag, 19:11 Uhr
Warnung: Lesen für Unbefugte (alle außer Kim Jülich) streng verboten! Besonders für Ben und Lukas, die nervigsten Brüder des Universums!
Ich könnte platzen vor Glück! Habe gerade Michi im Café Lomo getroffen. Endlich mal wieder! Wir sind uns in letzter Zeit kaum noch über den Weg gelaufen. Kein Wunder – ich hatte so viel für die Schule zu tun, dass ich ständig zu Hause herumgesessen bin und gelernt habe. Heute haben wir zum Glück die letzte Klassenarbeit vor den Herbstferien geschrieben.
Und wer taucht auf, kaum dass ich mit Franzi und Marie im Café Lomo sitze? Michi! Ich dachte, ich sehe nicht richtig! Als ob er geahnt hätte, dass ich auch da bin. Vielleicht hat er ja meine Sehnsucht gespürt. Ganz bestimmt hat er das! Michi ist wahnsinnig sensibel, ihm kann man so leicht nichts vormachen. Nur dass ich in ihn verliebt bin, scheint er irgendwie nicht zu merken. Obwohl – vielleicht ahnt er doch etwas. Heute hat er mich so lieb mit seinen blaugrünen Augen angesehen, ich bin beinahe dahingeschmolzen. Und erst sein Lächeln! Das haut mich immer wieder glatt um.
Aber das Beste kommt noch: Michi ist doch tatsächlich aufgefallen, dass ich beim Friseur war! Dabei hab ich mir nur die Spitzen schneiden lassen. Nicht einmal Marie hat etwas gemerkt, obwohl ihr normalerweise nichts entgeht, was irgendwie mit Styling zu tun hat. Michi meinte, die kurzen Haare würden mir total stehen. Ist das nicht süß? Ich habe mich total über sein Kompliment gefreut. Leider bekam ich mal wieder kaum ein Wort heraus. Um meine Verlegenheit zu überspielen, hab ich schnell einen Schluck Kakao getrunken – und mich glatt verschluckt. Ich musste so heftig husten, dass mir die Tränen über das Gesicht gelaufen sind und ich knallrot geworden bin. Wie peinlich! Warum muss eigentlich immer mir so etwas passieren?
Aber Michi war toll. Statt mich auszulachen, hat er ein Taschentuch herausgeholt und mir die Tränen von der Wange getupft. Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen! Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten …
Leider war es schon kurz vor sechs und ich musste zum Abendessen nach Hause. Mama macht immer ein furchtbares Theater, wenn einer von uns zu spät zum Essen kommt. Dabei wäre ich so gerne bei Michi geblieben!
Ob wir uns vor den Herbstferien noch einmal sehen? Hoffentlich! Sonst werde ich vor lauter Sehnsucht bestimmt verrückt …
Die Legende vom Märchenwald
»Sind wir bald da?«, keuchte Kim, während sie sich auf ihrem Fahrrad den Hügel hinaufquälte.
»Wir sind doch gerade erst losgefahren.« Franzi schaltete einen Gang herunter und trat kräftig in die Pedale. »Jetzt reiß dich mal ein bisschen zusammen. So anstrengend ist Radfahren nun wirklich nicht.«
Der Radweg nach Billershausen schlängelte sich malerisch zwischen den Feldern hindurch. Die Herbstsonne strahlte vom Himmel und ließ das bunte Laub der Bäume am Wegesrand leuchten. Es war das perfekte Wetter für eine Radtour: trocken, nicht zu warm und nicht zu kalt. Trotzdem hatte Kim schon beim ersten Hügel angefangen herumzujammern. Franzi schüttelte ärgerlich den Kopf. Warum konnte sie nicht einfach den Mund halten und die Tour genießen?
»Du hast gut reden«, beschwerte sich Kim. »Deine Gangschaltung ist ja auch nicht kaputt. Versuch mal, im fünften Gang diese blöden Hügel hinaufzufahren, das ist echte Schwerstarbeit!« Kims Gesicht war rot angelaufen und Schweißperlen liefen ihr über die Stirn.
»Wir können ja bald mal eine Pause einlegen«, schlug Marie vor. Sie trug eine hautenge, rotweiß gestreifte Radlerhose und ein bauchfreies Top, das eigentlich viel zu kühl für die Jahreszeit war. Die Haare hatte sie mit einem roten Tuch zusammengebunden und ihr Zopf flatterte dekorativ im Wind. Mit ihrem Styling hätte sie ohne Probleme an einem Fotoshooting für einen Sportartikel-Katalog teilnehmen können. Auf ihrer Stirn war kein einziger Schweißtropfen zu sehen. Sie nahm die sanften Hügel auf ihrem Hightech-Mountainbike scheinbar ohne jede Anstrengung. Durch ihr regelmäßiges Aerobic-Training war sie allerdings auch ziemlich fit – ganz im Gegensatz zu Kim, die Sport hasste wie die Pest. Diese Abneigung hatte Franzi noch nie nachvollziehen können. Sie liebte es zu skaten, Rad zu fahren oder auf ihrem Pony Tinka stundenlange Ausritte zu unternehmen.
»Gute Idee!« Kim warf Marie einen dankbaren Blick zu.
Sie hatten die höchste Stelle des Hügels erreicht und ließen sich auf der anderen Seite wieder hinunterrollen.
»Okay, von mir aus«, gab Franzi nach. »Aber dann beschwert euch nicht, wenn wir zu spät zum Abendessen kommen.«
Bei einer Baumgruppe hielten sie an und stiegen von den Rädern. Kim rieb sich ihr Hinterteil und verzog das Gesicht.
»Mist, mein Hintern tut jetzt schon weh«, stellte sie fest und ließ sich ins Gras fallen. »Morgen kann ich bestimmt nicht mehr sitzen.«
Franzi rollte mit den Augen. »Du wirst es überleben. Ein bisschen Bewegung tut dir ganz gut. Wir haben unsere gemeinsamen Joggingrunden in letzter Zeit viel zu oft ausfallen lassen.«
»Eigentlich hätte Stefan uns ja auch mit dem Auto nach Billershausen bringen können«, sagte Marie und holte eine Flasche Wasser aus ihrem Rucksack. »Das wäre doch viel praktischer gewesen.«
Kim grinste. »Praktischer – ja klar. Gib’s zu, du machst dir wieder Hoffnungen, seit Stefan nicht mehr mit Sonja zusammen ist.«
Es war ein offenes Geheimnis, dass Marie für Franzis älteren Bruder Stefan schwärmte. Sie ließ keine Gelegenheit aus, um ihn auf sich aufmerksam zu machen – bisher allerdings ohne Erfolg. Stefan interessierte sich nur für seinen alten Opel und ab und zu für Sonja, mit der er eine ziemlich chaotische Beziehung führte. Die beiden hatten sich schon so oft getrennt und wieder versöhnt, dass Franzi es längst aufgegeben hatte, auf dem Laufenden zu bleiben. Sie verstand sowieso nicht, wie sich jemand in ihren Bruder verlieben konnte. Mal ganz davon abgesehen, dass er mit seinen achtzehn Jahren viel zu alt für Marie war.
Marie setzte ihre Sonnenbrille auf und versuchte, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen. »Quatsch. Ich will nichts mehr von Stefan, das ist längst vorbei.« Sie trank einen großen Schluck Wasser und reichte die Flasche an Franzi weiter.
»Na hoffentlich.« Franzi nahm die Wasserflasche mit gerunzelter Stirn entgegen. »Es bringt nämlich überhaupt nichts, wenn du ihn noch länger anhimmelst. Du hast sowieso keine Chance, also vergiss ihn am besten einfach.«
Marie biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Sie sah plötzlich traurig aus, und Franzi tat es beinahe leid, dass sie so direkt gewesen war. Als Stefan vor einiger Zeit wieder mit Sonja zusammengekommen war, hatte es Marie fast das Herz gebrochen. Sie hatte wochenlang schlimmen Liebeskummer gehabt. Aber Franzi war nun mal nicht der Typ, der um den heißen Brei herumredete. Sie bevorzugte klare Worte – auch wenn das für ihre Mitmenschen nicht immer angenehm war.
Kim drückte tröstend Maries Arm und hielt ihr eine Tüte Gummibärchen hin, die sie aus ihrer Satteltasche geholt hatte. »Du schaffst das schon. Denk an die Tarotkarte, die du letztens gezogen hast: Die zwei Kelche.«
»Genau.« Franzi wollte ihre Freundin ebenfalls aufmuntern. »Das bedeutet, dass du dich bald neu verlieben wirst. Vielleicht wartet ja in Billershausen dein Traumprinz auf dich.«
Marie schnaufte verächtlich. »Kann ich mir nicht vorstellen. Was soll ich denn mit einem Dorfbubi? Mein Traumtyp muss schon ein bisschen mehr auf dem Kasten haben. Er muss gut aussehen, intelligent und witzig sein, gern ins Kino gehen und Sport mögen.« Sie nahm ein Gummibärchen und steckte es in den Mund.
»Aha.« Franzi grinste. »Warum zauberst du dir deinen Traumtypen nicht einfach herbei? So ein kleiner Liebeszauber ist doch bestimmt ein Klacks für dich.«
Kim lachte, aber Marie blieb ernst. Sie schob sich ihre Sonnenbrille in die Haare und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen. »Na ja … also … wo du’s jetzt schon ansprichst … ich hab da tatsächlich was versucht …«
Kim hörte auf zu lachen und starrte ihre Freundin mit offenem Mund an. »Nein! Du hast einen Liebeszauber ausprobiert?«
Marie nickte. »Ich weiß, ihr haltet das für Humbug. Aber der Liebeszauber aus dem Hexenbuch klingt echt vielversprechend. Angeblich bewirkt er, dass man seine wahre Liebe findet. Ist das nicht toll?«
»Allerdings.« Kim nahm sich eine Handvoll Gummibärchen aus der Tüte und machte ein interessiertes Gesicht. »Und wie funktioniert das?«
»Also«, begann Marie eifrig. »Du musst eine Strähne von deinen Haaren abschneiden und sie in einer Vollmondnacht in der westlichen Ecke deines Gartens vergraben. Dann sprichst du eine magische Formel und drehst dich dreimal im Kreis. Einmal rechtsherum und zweimal linksherum.«
Franzi runzelte skeptisch die Stirn. »Und was dann?«
»Nichts«, sagte Marie. »Dann gehst du wieder ins Bett.«