Was wir Ihnen hier vorlegen, ist ein Experiment. Ein Versuch. Ein dreifacher Versuch sogar. Erstens nämlich der Versuch, eine allgemein verständliche Sprache und Darstellungsform für die historischen Bücher des Neuen Testaments zu finden. Zweitens der Versuch, die vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes in einem einzigen Evangelium aufgehen zu lassen. Und drittens der Versuch, dieses Evangelium mit der Apostelgeschichte zu einer durchlaufenden großen Erzählung vom Ursprung des Christentums zu verbinden.
Was hat uns zu diesem Experiment bewogen?
Die Texte des Neuen Testaments sind vielen fremd geworden. Es sind alte Texte, kaum noch verständlich, den wenigsten noch vertraut. Man könnte sie, wie andere alte Texte auch, den Fachleuten überlassen, wären sie nicht der dramatische Urstoff des Abendlands. Viele Jahrhunderte lang haben Künstler, Gelehrte und einfache Menschen aus dieser Inspirationsquelle geschöpft. Unsere Kultur ist auf diesen Geschichten errichtet worden. Nach wie vor verstehen wir unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart, verstehen wir auch uns selbst besser, wenn wir wissen, welche geistigen Kräfte bei der Entstehung des Christentums am Werk waren. Und schließlich hat sich bis heute die Überzeugung gehalten, es bei diesen Schriften mit Gottes Wort zu tun zu haben. Gründe genug für uns, den Versuch zu wagen, Evangelien und Apostelgeschichte in neuer Unmittelbarkeit und Frische zu präsentieren. (Wobei uns, dies sei vorweggeschickt, das Münchner Neue Testament als Grundlage gedient hat, die Übersetzung also, die dem griechischen Original am nächsten kommt.)
Unsere Absicht war es, dem heutigen Leser die Scheu vor den alten Texten zu nehmen. Wir wollten die Befürchtung zerstreuen, dass diese Texte sich nur dem Gläubigen erschließen, der Unvoreingenommene sich an ihnen jedoch vergeblich abmüht. Wir wollten, kurz gesagt, das Kernstück des Neuen Testaments wieder allen zugänglich machen – denen, die sich ihm aus bloßer Neugier, und denen, die sich ihm mit den höchsten Erwartungen nähern.
Ein fünftes Evangelium also, und eine zweite Apostelgeschichte. Nach Inhalt und Aufbau stimmen beide weitgehend mit den Originaltexten überein. Unsere Fassung stellt also ein Äquivalent für die biblischen Evangelien und die biblische Apostelgeschichte dar, und wer sich fragt, was eigentlich drinsteht in den historischen Büchern des Neuen Testaments, kann sich an unsere Darstellung halten. Trotzdem stellt sich die Frage: Wie verhält sich unsere Fassung zu den Originaltexten? Welche Eingriffe haben wir uns erlaubt, welche Abstriche oder Ergänzungen vorgenommen? Und wie sind wir bei der Zusammenfassung von vier Evangelien zu einem einzigen vorgegangen?
Zunächst einmal: Wir haben größeres Gewicht auf die Erzählung gelegt. Wir haben uns die Freiheit genommen, ausführlicher und anschaulicher zu erzählen – nicht, um künstlich zu dramatisieren, wo die Autoren der Originaltexte nur knapp und nüchtern berichten, sondern weil es der Verständlichkeit zugute kommt, der äußeren Plausibilität der Handlung wie der inneren Plausibilität der Personen. Es stimmt, die Evangelisten machen von erzählerischen Elementen nur sparsamen Gebrauch. Man kann sagen: Die Evangelien sind als durchgehende Erzählung angelegt, aber nicht ausgeführt. Nichtsdestoweniger bergen sie ein ungenutztes, oft auch einfach übersehenes erzählerisches Potenzial.
Grundsätzlich haben wir uns von der Überzeugung leiten lassen: Die Evangelisten hätten nicht die Form der Erzählung gewählt, wenn es nicht etwas zu erzählen gegeben hätte. Wenn nicht erlebte Wirklichkeit in die Evangelien (und die Apostelgeschichte) eingeflossen wäre. Wenn es, mit anderen Worten, in diesen Texten neben der theologischen Ebene nicht auch eine Ereignisebene gäbe. Wahr ist, dass beide Ebenen oft nicht säuberlich zu trennen sind. Unzutreffend aber ist, dass die Ereignisebene ganz verschüttet, ganz von Theologie überlagert wäre. Überall schimmert Lebenswirklichkeit durch, nicht nur die einer Epoche, sondern auch die bestimmter Menschen, nämlich des Jesus von Nazareth und seiner – männlichen wie weiblichen – Weggefährten. Unsere Fassung nimmt die biblischen Vorlagen deshalb als erzählende Literatur ernst. Sie schöpft aus, was an erzählerischem Potenzial in diesen Texten steckt, ohne Abstriche an ihrem theologischen Potenzial vorzunehmen.
Um den Erzählfluss zu gewährleisten, haben wir Lücken im Handlungsablauf behutsam geschlossen. Die Evangelisten begnügen sich gelegentlich damit, Reden oder Ereignisse lose aneinanderzureihen; in solchen Fällen war es nötig, Unverbundenes zu verbinden und Handlungssprünge zu überbrücken. Die Reden und Aussprüche Jesu allerdings wurden so wortgetreu wie möglich übernommen. Wo wir uns Einschübe erlauben, dienen diese der Verständlichkeit, der Erläuterung eines nicht ohne weiteres verständlichen Gedankengangs. Wir sind mit solchen Einschüben aber sehr sparsam umgegangen. Hingegen haben wir vor allem an den langen Reden der Apostelgeschichte Kürzungen vorgenommen, in diesem Fall aus dramaturgischen Gründen: Der Wortreichtum antiker Rhetorik ist heute nicht mehr jedermanns Sache, er trägt auch nicht unbedingt zur Verständlichkeit einer Argumentation bei – wir haben uns daher oft zu einer gerafften Wiedergabe entschlossen.
Abweichungen vom Original stellen jene Passagen dar, in denen wir zusätzliche historische oder theologische Informationen einfließen lassen – Informationen, die der antike Leser nicht benötigte, weil er mit den Verhältnissen vertraut war, weil ihm die Welt, in der die Evangelien spielen, vor Augen stand. Solche erläuternden Passagen erschienen uns unerlässlich, weil sie dem heutigen Leser die Augen für historische Zusammenhänge, gesellschaftliche Konstellationen und religiöse Positionen öffnen, die sich aus den Originaltexten nicht ohne Hintergrundwissen erschließen. In keinem Fall aber war es unsere Absicht, klüger sein zu wollen als die Evangelisten. Das heißt: Wir bewegen uns in ihrem Horizont, wir nehmen keine modernen Korrekturen an ihrem Weltbild, ihrer Denk- und Sichtweise vor, wir rationalisieren nicht, wir verfolgen kein »Entmythologisierungsprogramm«. Dämonen bleiben Dämonen, Wunder bleiben Wunder.
Das Leitmotiv unserer Arbeit war, Eigenmächtigkeiten auf ein Minimum zu beschränken. Eingriffe in den Inhalt haben wir uns grundsätzlich versagt. Die theologischen Intentionen der Evangelisten sollen auch in unserer Fassung unverfälscht zum Ausdruck kommen. Genauso haben wir uns bemüht, die Atmosphäre, die Stimmung dieser Geschichten wiederzugeben, den lakonischen Duktus der Erzählungen, die unaufgeregte, beinahe modern anmutende Nüchternheit der Originaltexte beizubehalten. Und Fragen, die die Evangelisten offen lassen, maßen auch wir uns nicht an zu beantworten – wo sie zum Beispiel schlicht von Jesu »Brüdern und Schwestern« sprechen, wollen wir nicht entscheiden, in welchem Sinne das gemeint ist. Dies sei vorausgeschickt, bevor wir uns einer nun allerdings unerhörten Eigenmächtigkeit zuwenden: der Zusammenfassung aller vier Evangelien zu einem einzigen.
Es ist, zugegebenermaßen, ein kühnes Unterfangen. Und das Ergebnis wird nie vollständig befriedigen können – dazu sind die Differenzen, die sich insbesondere zwischen den Synoptikern Matthäus, Markus und Lukas auf der einen Seite und Johannes auf der anderen Seite auftun, zu groß. Wenn wir uns trotzdem dazu entschlossen haben, dann im Hinblick auf alle, die einen ersten Eindruck von den biblischen Texten gewinnen wollen, also die interessierten theologischen Laien, die neugierigen religiösen Outsider. Ihnen erleichtert es den Einstieg wesentlich, wenn sie sich nicht durch vier verschiedene und durchaus unterschiedliche Texte arbeiten müssen, sondern sich an einen einzigen Text halten können, der die Stärken aller vier Evangelien in sich vereint. Doch auch jene, die mit den Originaltexten vertraut sind, werden von dieser Gesamtdarstellung profitieren. Es hat sich nämlich zu unserer eigenen Überraschung gezeigt, dass durch die Gesamtschau ein klareres Bild entsteht. Mit einem Mal lässt sich die Logik, die dem Ablauf der Ereignisse innewohnt, leichter begreifen, lässt sich die Handlungsweise der Hauptfiguren leichter nachvollziehen, gewinnt die Geschichte auch psychologisch an Plausibilität. Letztlich tritt uns die Gestalt Jesu in dieser Fassung unerwartet lebendig vor Augen, und es entsteht tatsächlich so etwas wie eine Biografie dieses Jesus von Nazareth – ohne dass sein Geheimnis wegerklärt, seine Rätselhaftigkeit ausgeblendet werden müsste.
Die Schwierigkeiten, vor denen man steht, sind immerhin beträchtlich. Welchem Evangelisten soll man von Fall zu Fall folgen? Für welche Version, welche Darstellung, welche Wortwahl entscheidet man sich? Von welchen Kriterien lässt man sich bei der Auswahl leiten? Und – sind die Synoptiker und Johannes überhaupt sinnvoll zu kombinieren?
Wenig Kopfzerbrechen bereiteten natürlich jene Abschnitte, in denen ein bestimmter Evangelist quasi eine Monopolstellung behauptet – so etwa Lukas im Fall der Geburt Jesu samt ihrer Vorgeschichte, so etwa Matthäus im Fall der Bergpredigt. Standen mehrere Versionen einer Episode, eines Gleichnisses, eines Jesusworts zur Wahl, haben wir uns gefragt: Welcher Autor komponiert eine Episode am konsequentesten durch? Bei wem lassen sich am ehesten Spuren erlebter Wirklichkeit ausmachen? Wer hat die historische Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite? Wer beweist den größeren Scharfblick – für Menschen und Situationen? Und schließlich: Wer liefert die anschaulichste Version? Wer findet die überzeugendste sprachliche Form für ein Gleichnis, ein Streitgespräch, eine Serie von Aussprüchen?
Alle diese Kriterien betreffen die Ereignisebene – wir wollten, wie gesagt, eine Fassung erstellen, die sich als durchgehende, in sich stimmige Erzählung lesen lässt. Theologische Diskrepanzen, wie sie sich zwischen den Synoptikern und Johannes ergeben, haben wir eher in Kauf genommen als sachliche Widersprüche. Denn die theologischen Differenzen muss jeder, der die Botschaft der Evangelien ernst nimmt, ohnehin aushalten, ob sich der Stoff nun auf vier Evangelien verteilt oder in einem zusammengefasst wird – logische Brüche im Handlungsablauf aber beschädigen die Glaubwürdigkeit der ganzen Erzählung. Theologen mögen sich an dieser Vermischung unterschiedlicher theologischer Positionen dennoch stoßen, der »normale« Leser vermutlich nicht.
Auswahl und Zusammenstellung richten sich darüber hinaus nach einem weiteren Kriterium: der Bedeutung, die einer Geschichte als Motiv der Kunst zukommt. Zahlreiche Begebenheiten aus Evangelien und Apostelgeschichte gehörten über Jahrhunderte zum Bildprogramm europäischer Maler, dienten europäischen Komponisten als Inspirationsquelle, wurden von europäischen Schriftstellern aufgegriffen und verarbeitet. Diese Geschichten führen gewissermaßen ein künstlerisches Eigenleben, man begegnet ihnen in Museen, in Konzertsälen und literarischen Werken, sie sollten deshalb auch dann ihren Ort in unserem Evangelium finden, wenn sie nicht mit der Darstellung desjenigen Evangelisten vereinbar waren, für den wir uns entschieden hatten. Das beste Beispiel dafür sind die Heiligen Drei Könige, die Sterndeuter oder Weisen aus dem Morgenland.
Diese Sterndeuter gehören dem »Personal« der weniger bekannten Weihnachtsgeschichte des Matthäus an. Kein anderer Evangelist hat ihren Auftritt vermerkt, auch Lukas nicht, dessen Weihnachtsgeschichte wir folgen. So wie Matthäus diese Episode beschreibt, lässt sie sich auch nicht in den lukanischen Bericht integrieren, denn bei Lukas kommt Jesus in einem Stall zur Welt, bei Matthäus sehr viel undramatischer im Wohnhaus seiner Eltern in Bethlehem. Jesu Geburt also in diesem Fall ohne die Heiligen Drei Könige? Undenkbar. Wir wollten auf ein derartig berühmtes Motiv der europäischen Malerei, auf ein derartig tief in der Tradition verwurzeltes Element der Weihnachtsgeschichte nicht verzichten und haben einen Weg gefunden, sie trotzdem in unsere Fassung aufzunehmen.
Vor die größten Probleme stellte uns aber die Unverträglichkeit des Johannesevangeliums mit den Evangelien der Synoptiker auf der Ereignisebene. Würde sich das eine mit dem anderen auch nur an wenigen Stellen verknüpfen lassen, ohne dem einen oder den anderen Gewalt anzutun? Denn schon im Aufbau weichen sie stark voneinander ab. Schon der Zeitrahmen ist jeweils ein anderer, schon die Wanderbewegungen Jesu sind jeweils andere.
Bei Johannes erstreckt sich das Wirken Jesu über einen Zeitraum von ungefähr drei Jahren (was uns realistisch erscheint), und dieser Zeitraum ist mit mehrfachen Wanderungen zwischen Galiläa und Jerusalem gefüllt (was uns ebenfalls realistisch erscheint). Die Synoptiker dagegen fassen Jesu Wirken im zeitlichen Rahmen eines knappen Jahres zusammen, und die Stoßrichtung seiner Wanderbewegungen ist eindeutig: Sie zielt von Galiläa auf Jerusalem. Ganz offenbar machen die Synoptiker etwas, was Johannes nicht tut: Sie unterwerfen den Aufbau ihrer Evangelien einer theologischen Dramaturgie. Trotzdem haben wir in diesem Fall das Kriterium der historischen Wahrscheinlichkeit unberücksichtigt gelassen und sind dem Aufbau der synoptischen Evangelien gefolgt. Warum?
Zum einen deshalb, weil die theologische Dramaturgie der Synoptiker nicht zwangsläufig gegen die historische Wahrscheinlichkeit der von ihnen beschriebenen Wanderbewegungen Jesu innerhalb von Galiläa spricht. Zwar unterschlagen sie viele Aktivitäten Jesu außerhalb Galiläas, könnten seine Aktivitäten innerhalb Galiläas aber dennoch einigermaßen korrekt wiedergegeben haben. Zum anderen deshalb, weil der Aufbau der Synoptiker den Vorzug der Klarheit hat. Sie ersparen uns das Hin und Her bei Johannes, sie konzentrieren sich auf den überschaubaren Bereich des Sees Gennesaret und umliegender Gefilde, und sie nehmen den Leser gewissermaßen bei der Hand, wenn sie ihn mit Jesus zum ersten und einzigen Mal nach Jerusalem führen. Außerdem: Der Jesus der Synoptiker ist der ungleich bekanntere. So stellen wir ihn uns vor – vor der Kulisse des Sees Gennesaret, in der Gesellschaft der Fischer, mit ihnen auf den See hinausfahrend, in den Dörfern und Städten Galiläas heilend und predigend. Der Jesus des Johannes hingegen, der Jesus der häufigen Jerusalemaufenthalte, der langen Reden und Streitgespräche, dieser Jesus hat es nie zu vergleichbarer Bekanntheit gebracht. Ein Evangelium, das in Aufbau und Anlage Johannes gefolgt wäre, hätte nur befremdet und verwirrt.
Wir haben uns deshalb im Wesentlichen an die Komposition der Synoptiker gehalten. Dennoch hat Johannes mehrfach Eingang in unsere Fassung gefunden, aus dem einfachen Grund, weil es bei aller Unterschiedlichkeit durchaus Berührungspunkte gibt. Vor allem am Anfang und am Ende der Geschichte laufen die Chronologie des Johannes und die der Synoptiker parallel, nämlich in der Episode mit Johannes dem Täufer, deren Schauplatz der Jordan ist, und in der Ereignisfolge, die nach Jesu Eintreffen in Jerusalem auf seinen Tod und seine Auferstehung zuläuft. Aber auch zwischendurch lassen sich Gemeinsamkeiten finden, etwa bei der Tempelreinigung und der Speisung der Fünftausend, die zum Repertoire aller vier Evangelisten gehören. Und immer, wenn sich solche Übereinstimmungen ergeben, haben wir der Version des Johannes den Vorzug gegeben, denn Johannes erweist sich in vielen Fällen als der genauere Beobachter, der zuverlässigere Chronist. Beinahe wie ein Protokollschreiber hält er Namen, Zahlen und Zeiten fest und liefert auch solche Informationen, die theologisch nicht von Belang, aber für das Verständnis der Geschichte und ihrer Hintergründe aufschlussreich sind. Das erstaunlichste Beispiel für die Genauigkeit des Johannes ist die so genannte Entlarvung des Verräters während des letzten Abendmahls. Wir wollen darauf näher eingehen.
Alle drei Synoptiker erzählen diese Geschichte mit merkwürdiger Unentschlossenheit. Sie erwähnen eine Schüssel, sie erwähnen die Hand Jesu, und irgendwie spielt bei der Kennzeichnung des Verräters beides eine Rolle, doch man versteht nicht recht, welche, und auch der Ausgang dieser Episode bleibt ungewiss – wie reagieren die Jünger? Warum hält niemand den Verräter Judas auf? Bei den Synoptikern verläuft die Entlarvungsgeschichte sozusagen im Sande. Nicht so bei Johannes. Hier füttert Jesus den Judas buchstäblich mit einem Stück Brot, das er zuvor in die Schüssel mit dem Sud getunkt hat – er reicht es ihm also nicht, er führt es an seinen Mund. Diese Geste ist bis auf den heutigen Tag im ganzen semitischen Raum verbreitet, auch Jesu Jüngern war sie selbstverständlich vertraut, weshalb Johannes seiner Beschreibung keinerlei Erklärung folgen lässt – er durfte davon ausgehen, dass jeder sie versteht. Und wie wurde sie verstanden, wie ist sie heute noch gemeint? Als Liebesbeweis. Als Auszeichnung eines sehr guten Freundes, einer engen Freundin, auch eines hohen Ehrengastes. In jedem Fall ist sie Ausdruck herzlichen Einverständnisses oder größter Wertschätzung.
Und jetzt wird verständlich, dass die Jünger, wie Johannes weiter schreibt, nichts unternehmen, um Judas aufzuhalten – gleichsam erstarrt rätseln sie, wie Verrat und Liebesbeweis zusammenpassen, während Judas unbehelligt den Raum verlässt. Unseres Wissens ist diese entscheidende Geste noch nie in ihrem wahren Sinn verstanden worden. Handelt es sich also bei dem, was Judas vorhat, überhaupt um Verrat? Jedenfalls eröffnet das richtige Verständnis dieser Geste neue Deutungsmöglichkeiten für die geheimnisvolle Gestalt des Judas, weshalb wir sie in unserer Fassung besonders hervorgehoben haben.
Lassen Sie uns noch einen zweiten Fall anführen, in dem wir uns eine gravierende Abweichung von fest verwurzelten Vorstellungen geleistet haben: Jesu Geburt in Bethlehem. Generationen von Malern haben sie in einen einsamen Stall verlegt, zahllose Krippenmodelle rufen uns zur Weihnachtszeit dieses Szenarium am Ortsrand von Bethlehem ins Gedächtnis. Dort aber gehört die Geburt nicht hin. Im Text des Lukas ist von einem Stall nämlich gar nicht die Rede, wohl aber von zahlreichen Anwesenden, an die sich die Hirten umgehend wenden, nachdem sie die Vorhersage des Engels bestätigt gefunden haben. Dieser Umstand spricht genauso dafür, dass Lukas bei seiner Erzählung an den Stallanbau der Karawanserei von Bethlehem gedacht haben muss, wie die Tatsache, dass Maria alles mitbekommt, was die Hirten über ihren Sohn verbreiten. Wir haben uns in diesem wie auch anderen Fällen dazu entschlossen, dem Wortlaut des Textes den Vorzug vor populären Missverständnissen zu geben.
Zum Schluss sei darauf hingewiesen, dass wir uns nicht immer streng an den Ablauf der Ereignisse, wie die Synoptiker sie schildern, gehalten haben. Bisweilen haben wir Episoden oder Aussprüche vorgezogen oder weiter nach hinten verlegt, weil die Logik der Erzählung solche Verschiebungen erforderlich machte. So platziert Lukas beispielsweise die zwei Schwerter (oder Dolche), die überraschend im Jüngerkreis auftauchen, ans Ende der Abendmahlsszene, also kurz vor die Verhaftung in Getsemani. Offensichtlich ist Lukas hier ein dramaturgischer Fehler unterlaufen – einen Sinn ergibt die Frage der Bewaffnung jedenfalls nur vor dem Aufbruch nach Jerusalem, denn unterwegs hätte man durchaus in die Verlegenheit kommen können, sich verteidigen zu müssen. Wir haben uns die Freiheit genommen, solche logischen Fehler zu korrigieren.
Damit genug der Erläuterungen. Wir hoffen, dass das Experiment einer erzählerischen Aufbereitung von Evangelien und Apostelgeschichte uns den Menschen Jesus von Nazareth wiedergeben kann, der sich unter den Händen der Theologen oft genug in einen blassen Schemen aufgelöst hat. Wir hoffen auch, dass unsere Fassung ein unbefangenes Lesen ermöglicht – nicht häppchenweise, was immer zur sofortigen theologischen Ausdeutung verleitet, sondern am Stück, in einem Zug, was die Augen für Zusammenhänge und Entwicklungen öffnet und Personen immer deutlicher, immer plastischer hervortreten lässt. Denn die Geschichte Jesu lebt nicht so sehr von Ausdeutungen als vielmehr vom Erzählen. Von Anfang an war es so, und wird auch künftig so sein.
Titelfoto
Christusdarstellung auf einem Fresko in der ehemaligen Sophienkirche in Iznik/Türkei (vermutlich 7. Jahrhundert).
Inhalt
Die judäische Wüste zwischen Jerusalem und Jericho. Zu allen Zeiten galt die Wüste als Ort der Gottesnähe, der Besinnung und des Neuanfangs.
Eine Vorgeschichte
Herodes der Große ließ das Herodeion als gut gesicherte Palastanlage auf dem Gipfel einer kegelförmigen Aufschüttung anlegen. Als er wenige Jahre nach der Geburt Jesu starb, fand er hier auch seine letzte Ruhestätte.
1. Am Jordan
In Madaba (Jordanien) hat sich eine antike Landkarte Israels aus Tausenden von Mosaiksteinen erhalten. Am oberen Bildrand ist die Stelle am Jordanufer, an der Johannes taufte, mit AINON gekennzeichnet.
2. Ich will, werde gesund
Hier, am Nordufer des Sees Gennesaret, beginnt die Geschichte des Christentums. Auf dem Bild blickt man vom Berg der Seligpreisungen auf den abendlichen See.
3. Junger Wein in neue Schläuche
Jenseits des Jordaneinflusses in den See Gennesaret lag der Fischerort Betsaida, zu deutsch »Fischhausen«. Vier von Jesu Schülern stammten hierher. Im Bild sind die Reste des Hauses eines Weinhändlers zu sehen, besonders gut erkennbar der Zugang zum Weinkeller, in dem sich die Scherben von Weinkrügen fanden.
4. Die Bergpredigt
In der antiken Welt war Gewalt allgegenwärtig, in Form von Kriegen, Gladiatorenspielen, Sklavenjagden und Schauhinrichtungen. Jesu Aufforderung, seine Feinde zu lieben, muss vor diesem Hintergrund umso revolutionärer gewirkt haben. Hier eine Kampfszene auf einem Sarkophag, ein beliebtes Motiv.
5. Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns
Als wären wir soeben Zeugen der Stillung des Sturms geworden... Abendliche Stürme sind bis heute nichts Ungewöhnliches auf dem See Gennesaret.
6. Die Gleichnisse
In Machairos, einer Grenzfestung des Königs Herodes unweit des Toten Meers, hielt dessen Nachfolger Antipas Johannes den Täufer gefangen, bevor er ihn, ebenfalls dort, enthaupten ließ.
7. Am Wendepunkt
Spannungen zwischen Juden und Römern prägten die Zeit Jesu. Die Felsenfestung Massada am Toten Meer wurde zum Symbol des jüdischen Widerstands gegen die verhasste Besatzungsmacht. Auch Jesus wusste, dass er durch die Hände der Römer sterben würde.
8. Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren
Die Stadt Gamla im Hügelland östlich des Sees Gennesaret war ein berüchtigtes Widerstandsnest, Heimatort vieler Untergrundkämpfer gegen die römische Besatzungsmacht. Unten links erkennt man die Grundmauern der Synagoge von Gamla. An Orten wie diesem trat Jesus am Sabbat als Gastredner auf.
9. Barmherziger Samariter und verlorener Sohn
Wohl aus Sicherheitsgründen wählte Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem die Route durch das Hügelland jenseits des Jordans. Heute gehört die grüne Jordansenke im Vordergrund zu Israel, die kahle Hügellandschaft dahinter zu Jordanien.
10. Unterwegs nach Jerusalem
Der Weg, den Jesus von Jericho nach Jerusalem nahm, verlief möglicherweise am Hang des tief eingeschnittenen Wadi Kelt. Dieser Streckenabschnitt war wegen der Wegelagerer gefürchtet, er ist auch Schauplatz des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter.
11. Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein
Der Tempel von Jerusalem war das größte Heiligtum seiner Zeit, Anziehungspunkt nicht nur für alle Juden in und außerhalb Judäas, sondern auch für Tempeltouristen aus der gesamten Mittelmeerwelt. Der Eingang fürs einfache Volk liegt an der Stirnseite rechts, darüber die Halle des Salomon.
12. Das Letzte Abendmahl
Diese antike Treppe führte vom Haus des Hohepriesters Kajaphas hinauf zum Gästehaus der Essener auf dem Zionsberg, das als Schauplatz des letzten Abendmahls in Betracht kommt. Wenn es in Jerusalem einen Ort gibt, der mit Bestimmtheit mit Jesus in Verbindung gebracht werden kann, dann diese Treppe.
13. Kreuzigung und Auferstehung
Die einzige Spur, die Pontius Pilatus in Palästina hinterlassen hat, ist dieser Gedenkstein mit seinem – leicht verstümmelten – Namenszug. Ursprünglich saß er in der Mauer des Theaters von Caesarea.
14. Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen
Das Allerheiligste im Zentrum des Tempelbezirks von Jerusalem. So wie in diesem Modell könnten Tempel und Stadt zur Zeit Jesu ausgesehen haben. Gut erkennbar sind die Säulenhallen, die die verschiedenen Tempelhöfe einrahmten.
15. Saulus von Tarsus
Dieses Paulus-Porträt stammt aus der Kimissistis-Theokou-Kirche in Mesanagros auf Rhodos, wo der Apostel auf seiner dritten Missionsreise Station machte.
16. Aufbruchstimmung in Antiochia
Das antike Antiochia ist die Geburtsstätte des modernen, weltoffenen Christentums. Die Stadt wurde durch mehrere Erdbeben vollständig zerstört und liegt heute metertief unter der türkischen Stadt Antakya begraben. Letzte Zeugen der einstigen Pracht sind Bodenmosaiken aus den Villen der Reichen am Stadtrand.
17. Die erste Missionsreise
Von Zypern kommend gingen Paulus, Barnabas und Markus in der kleinasiatischen Hafenstadt Perge an Land (unweit des heutigen Antalya). Links sieht man die Ruine des Stadttors aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., hinten rechts die Säulen des Marktplatzes.
18. Die zweite Missionsreise
Im Jahr 50 betrat der Apostel Paulus hier, in der mazedonischen Hafenstadt Neapolis (heute Kavala), erstmals europäischen Boden.
19. Die dritte Missionsreise
Der Schauplatz des Tumults, den der Aufstand der Silberschmiede in Ephesus auslöste, ist noch erhalten: das Theater von Ephesus, eines der größten der antiken Welt. 25000 Zuschauer fanden hier Platz.
20. Paulus in römischer Gefangenschaft
Die Hafenstadt Caesarea dürfte der angenehmste Ort der ganzen römischen Provinz Palästina gewesen sein – nicht nur für den römischen Prokurator, auch für einen Gefangenen wie Paulus. Der Klippenpalast ist zwar im Meer versunken, doch in der Stadt haben sich noch Reste der herrschaftlichen Wohnungen römischer Beamter erhalten.
21. Die Überfahrt nach Rom
Zur Entstehungszeit des Neuen Testaments wurden viele Orte an den Küsten des Mittelmeers auf festen Routen und nach Fahrplan angefahren. Reine Passagierschiffe allerdings gab es nicht, auch Paulus musste auf seinen Reisen Frachtschiffe nehmen, die zusätzlich Passagiere beförderten.