Cover

LINDA CHAPMAN

DAS BUCH ZUM FILM

Nach dem Drehbuch von Jack Thorne

Nach dem gleichnamigen Roman

von Frances Hodgson Burnett

Aus dem Englischen von Sabine Rahn

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2020,

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Originally published in English in Great Britain by HarperCollins

Children’s Books, a division of HarperCollinsPublishers Ltd, under the title:

THE SECRET GARDEN: THE STORY OF THE MOVIE

Written by Linda Chapman | Based on the screenplay by Jack Thorne,

and based on the original novel by Frances Hodgson Burnett

© 2020 STUDIOCANAL S.A.S., All rights reserved.

Translation by Sabine Rahn © 2020 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag,

translated under licence from HarperCollinsPublishers Ltd.

Linda Chapman asserts the moral right to be identified as the author of the work.

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie unter

Verwendung des STUDIOCANAL Filmplakats für »Der Geheime Garten«

MK · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26490-1
V002

www.cbj-verlag.de

1 – Nacht voller Geräusche

1

Nacht voller Geräusche

Mary Lennox konnte nicht schlafen. Der große Ventilator an der Decke drehte sich langsam, aber es war trotzdem viel zu warm. Das Zirpen und Surren der Insekten draußen in der dunklen indischen Nacht wurde übertönt von schreienden Menschen.

›Die Diener sind aber sehr laut heute Abend!‹, dachte Mary. ›Warum ermahnt Daddy sie nicht, leise zu sein?‹

Sie setzte sich in ihrem Bett auf, strich sich das kinnlange Haar hinter die Ohren und nahm ihre Stoffpuppe auf den Arm.

»Kannst du auch nicht schlafen, Jemima?«

Jemima starrte Mary stumm an.

Mary tat oft so, als ob Jemima alles verstehen könnte, was sie sagte. Wenn sie mit ihrer Puppe sprach oder ihr Geschichten erzählte, fühlte sie sich nicht so allein, und es war nicht so langweilig. Mary hatte keine Geschwister und außer ihrer Ayah, dem indischen Kindermädchen, waren die Diener ihr gegenüber zurückhaltend. Draußen spielen durfte sie nicht oft, weil die Sonne hier so heiß war. Ihr Vater war zu beschäftigt mit seiner Arbeit und konnte nicht so häufig mit ihr spielen, wie sie das gerne gehabt hätte. Und ihre Mutter …

Mary biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht leiden konnte. Manchmal hatte Mary sogar den Verdacht, dass ihre Mutter sie regelrecht hasste.

›Egal, ich hasse sie auch!‹, dachte Mary mürrisch.

Irgendwo im Haus schrie jemand, dann krachte es und eine Tür wurde zugeschlagen. Ein Hauch von Angst nistete sich in Marys Bauch ein, während sie auf ihre Zimmertür starrte. Was war da bloß los?

Mary hatte ihren Vater mit seinen Freunden darüber sprechen hören, dass es in Indien im Augenblick große Unruhen gab. Mary verstand das alles nicht ganz genau, aber es hörte sich ein bisschen so an, als ob die Inder nicht mehr wollten, dass die Engländer in Indien blieben, so, als ob die Inder wollten, dass sie ausreisten.

Ihr Vater hatte mit seinen Freunden darüber gesprochen, dass es auf den Straßen immer wieder zu Kämpfen kam. Aber sicherlich waren solche Straßen ganz weit weg in weit entfernten Städten. Die indischen Diener, die bei der Familie Lennox arbeiteten, taten, was man ihnen sagte, deshalb konnte Mary sich nicht vorstellen, dass sie kämpfen wollten. Nein, hier war sie bestimmt sicher. Ihr würde nichts passieren!

Sie versuchte, nicht auf das gedämpfte Scheppern und Krachen sowie die Rufe von draußen zu hören und streichelte über Jemimas wollenes Haar.

»Hast du Angst, Jemima?«, flüsterte sie. »Musst du nicht! Das sind nur die Erwachsenen, die so sind, wie sie sind. Soll ich dir eine Geschichte erzählen, damit du dich besser fühlst?«

Sie zündete eine Laterne an, verließ ihr Bett und brachte Jemima in ihre Höhle, die sie sich in der Mitte des Zimmers aus Kissen und Decken gebaut hatte. Sie erzählte eine ihrer Lieblingsgeschichten, die sie mit Schattenpuppen auch gleich nachspielte, während sie sprach. Es war eine Geschichte, die ihre Ayah ihr erzählt hatte. Sie handelte von dem Jungen Rama und dem Mädchen Sita, die einander sehr liebten. Doch eines Tages wurde Sita von einem Dämon entführt. Ayahs Geschichten waren immer aufregend und voller Götter, Dämonen und Magie.

Als Mary zum Ende der Geschichte kam, war der Lärm von draußen leiser geworden und ihre Augenlider waren schwer.

»Rama hatte den Dämon mit Sita fast eingeholt, aber dann schleuderte der Dämon Feuer auf Rama und hielt ihn in den Flammen gefangen«, erzählte sie und gähnte. »Zum Glück hatte der Feuergott Agni das beobachtet. Er teilte die Flammen und flog mit Rama hoch in die Wolken. Danach machten die beiden sich zusammen auf, um weiter nach Ramas Liebster zu suchen«, schloss sie.

Sie blies die Laterne aus und sank mit Jemima in ihren Armen zurück in die Kissen. Die Augen fielen ihr zu und wenige Augenblicke später war sie tief eingeschlafen.

Ein feuchter grüner Rasen … Blumenbeete voller bunter Blumen … Bäume, deren Äste schwer von Blüten waren … Mary rannte einen Pfad entlang, vorüber an Statuen … Ein Erwachsener hielt sie an der Hand. Sie lachte, versuchte nicht hinzufallen und war froh, ganz wunderbar rundherum froh …

Als Mary aufwachte, versuchte sie noch einen Moment lang ihren schönen Traum festzuhalten, aber der verschwand – wie immer. Dieser Traumgarten sah so anders aus als alle Gärten, die sie kannte, aber wenn sie dort war, wirkte er so echt und wirklich – und dort fühlte sie sich immer wohl und glücklich! Mit einem Seufzer rieb sie sich die Augen.

Das Erste, was ihr auffiel, war, dass die Läden immer noch offen waren und wie hell es draußen schon wieder war. Sonnenlicht strömte in ihr Zimmer.

Marys Magen knurrte. Wo war ihre Ayah? Wieso hatte sie ihr noch kein Frühstück gebracht?

Hungrig und verärgert setzte sie sich in ihrer Kissenhöhle auf.

»Ayah!«, schrie sie.

Zu ihrer Überraschung ging die Tür nicht auf und Ayahs freundliches Gesicht schaute nicht ins Zimmer. Mit noch viel mehr Ärger rief Mary lauter: »Ayah! Ich rufe dich! Es ist schon spät und ich bin immer noch nicht angezogen.« Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie noch einmal schrie: »Ayah!«

Mary wartete. Es kam immer noch niemand. Was war da los? Im Haus war es sehr ruhig. Das war eigenartig, denn für gewöhnlich konnte sie die Diener hin und her laufen hören.

Ein großes Unbehagen überfiel sie, als ihr die seltsamen Geräusche in der vergangenen Nacht einfielen.

»Sollen … sollen wir vielleicht mal nach draußen gehen und schauen, ob wir jemanden finden, Jemima?« Sie versuchte, mutig zu klingen, aber ihre Stimme zitterte leicht. »Doch, ich glaube, das ist eine gute Idee!«, fuhr sie fort. »Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf. Wir suchen Daddy und der findet dann Ayah für uns!«

Sie öffnete die Zimmertür und blieb stehen. Im Korridor vor ihrer Tür herrschte ein riesiges Durcheinander. Bilder waren von der Wand gerissen worden und lagen jetzt ohne ihre goldenen Rahmen auf dem Boden. Mit klopfendem Herzen lief sie durch das Haus. In jedem Zimmer das Gleiche: Zerrissene Vorhänge, zerbrochene Gegenstände, die meisten Möbel waren verschwunden, und in der Küche standen alle Schränke offen und die Regale waren leer. Alles von Wert war verschwunden. Aber am schlimmsten war, dass überhaupt niemand da war.

»Vater? Daddy? Ayah?« Marys Stimme klang ängstlich.

Sie stieß die Verandatüren auf. Die Sonne schien hell, aber der Garten war ebenso verlassen wie das Haus. Mary klammerte sich an Jemima.

»Wo sind die alle hin?«, flüsterte sie.

2 – Eine lange Reise

2

Eine lange Reise

Mary saß auf einer hölzernen Bank an Deck eines enorm großen Schiffes, das von Indien nach England über das Meer tuckerte.

Sie hielt Jemima im Arm, saß aufrecht mit geradem Rücken und starrte schweigend in den Himmel. Ganz in ihrer Nähe spielten einige Kinder lärmend an Deck, aber Mary spielte nicht mit. Es waren einige Wochen vergangen, seitdem sie feststellen musste, dass ihr Zuhause geplündert worden war, aber es kam ihr vor, als sei das schon eine Ewigkeit her.

Zwei Tage lang war sie alleine gewesen, ehe zwei englische Offiziere aufgetaucht waren. Sie waren überrascht gewesen, sie dort zu finden – schmutzig, durstig, hungrig. Die beiden hatten sie in ein Krankenhaus gebracht. Mary hatte sie gefragt, wo ihre Eltern waren, aber die Offiziere hatten ihr nur geantwortet, dass sie ein braves Mädchen sein und sich keine Sorgen machen solle.

Die Schwester im Krankenhaus gab ihr zu essen und zu trinken, badete sie und brachte ihr frische Kleider. Dann wurde Mary von einem Arzt untersucht. Weder die Krankenschwester noch der Arzt wollten ihr jedoch ihre Fragen über ihre Eltern beantworten.

Während sie in einem kleinen Raum wartete und überlegte, wann ihr Vater wohl endlich kommen würde, um sie nach Hause zu bringen, und was er wohl dazu sagen würde, wenn er sah, dass alle Diener verschwunden waren, hörte sie, wie die beiden Offiziere sich nebenan leise unterhielten.

»Das ist ja wirklich ein ganz schöner Schlamassel!«, sagte der eine düster. »Das arme Kind! Hätten wir die Familie nur sofort evakuiert, als die Unruhen ausgebrochen sind. Die Cholera-Epidemie hätte für sie nicht zu einer ungünstigeren Zeit ausbrechen können!«

Mary spitzte die Ohren. Sie wusste, dass Cholera eine Krankheit war, an der Menschen sterben konnten. Aber was hatte das mit ihrer Familie zu tun?

»Der Doktor hat mir erzählt, dass die Mutter der Kleinen sich ganz überraschend mit Cholera angesteckt hatte. Ihr Vater hat sie noch in derselben Nacht hierhergebracht, doch da war es schon zu spät«, fuhr der erste Offizier fort.

Mary erstarrte. Sie hatte eine ganz ungute Vorahnung: Zu spät für was?

»Die Mutter ist noch in derselben Nacht gestorben – und am folgenden Morgen starb auch der Vater.«

Marys Herz schlug auf einmal so schnell, dass sie dachte, ihr würde die Brust zerspringen. Ihre Mutter, ihr Daddy … beide tot? Sie hielt die Luft an. Nein, die beiden konnten unmöglich tot sein! Unmöglich! Doch noch während sie das dachte, wusste sie mit schrecklicher schmerzender Gewissheit, dass es wahr sein musste. Den Offizieren würde bei so etwas ganz sicher kein Fehler unterlaufen. Der Schluchzer, der ihr entfuhr, war zur Hälfte ein Wimmern, zur Hälfte ein erstickter Schrei.

Mary hörte Schritte, dann schaute einer der beiden Offiziere herein.

»Oh Gott, sie ist hier!«

Er räusperte sich verlegen und hatte ganz offensichtlich nicht die geringste Ahnung, wie er ein zehnjähriges Mädchen trösten sollte.

Sein Begleiter kam hinzu und sagte: »Was um alles in der Welt sollen wir jetzt mit ihr machen? Hierbleiben kann sie ja nicht!«

Mit verweinten Augen sah Mary, wie der erste Offizier in seinen Notizen blätterte. »Sie hat einen verwitweten Onkel in England«, verkündete er. »Wir schicken sie zusammen mit den anderen Kindern per Schiff dorthin zurück.«

Von da an wurde Mary herumgereicht wie ein nicht bestelltes Päckchen. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kam sie zuerst zu einem Pfarrer namens Crawford, der verheiratet war und selbst fünf Kinder hatte.

Mary hörte die Erwachsenen immer wieder sagen, dass es besser für sie sei, mit anderen Kindern zusammen zu sein – auch wenn sie ganz und gar nicht verstand, wieso. Mit den Crawford-Kindern wollte sie nicht spielen – die waren viel jünger als Mary und fragten sie andauernd nach ihren Eltern und wie sie gestorben waren. Davon wurde Mary traurig und sie hatte keine Lust, die Fragen zu beantworten. Schließlich war es mit ihrer Geduld zu Ende: Sie zerriss ein Bild, dass das jüngste Kind für sie gemalt hatte, und schrie alle an, dass sie sie gefälligst in Ruhe lassen sollten. Von da an blieben die Kinder ihr vom Leib und beobachteten sie aus der Ferne wie ein seltsames, wildes Tier. Doch das war Mary egal. Sie hatte ohnehin das Gefühl, als ob nichts ihr je wieder etwas ausmachen könnte.

Manchmal hörte sie wie der Pfarrer mit seiner stämmigen, wohlmeinenden Frau flüsternd über sie sprach: »Armes Kind … man hat eine Nachricht nach England geschickt … Er ist ein angeheirateter Onkel, weißt du … war mit der Zwillingsschwester von Marys Mutter verheiratet, die ist aber schon seit Jahren tot. So eine Tragödie, der arme Mann … aber er ist Marys einziger lebender Verwandter. Er wird sie wohl aufnehmen müssen, ob er will oder nicht …«

Schließlich kam ein Telegramm.

»Das Schiff, das dich nach England bringen wird, fährt schon morgen«, sagte Mrs Crawford zu Mary. »Dein Onkel, Mr Craven, der mit deiner Tante Grace verheiratet war, ist damit einverstanden, dich aufzunehmen. Er lebt in Yorkshire auf einem Anwesen, das Misselthwaite Manor heißt. Du hast Glück, Mary, dein Onkel ist ein reicher Mann!«

Mary schluckte. Wie konnte Mrs Crawford behaupten, dass sie Glück hatte? Ihre Eltern waren tot und sie musste bei irgendeinem alten Onkel in einem gruseligen Haus in einem fremden Land leben! Tränen stiegen ihr in die Augen. Aber vor den Crawfords wollte sie nicht weinen – niemals!

Mit zusammengepressten Lippen nickte sie und lief die Treppen hinauf. Sie stürmte in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich, warf sich auf ihr Bett und schluchzte in das Kissen.

Auf dem Schiff, das Mary von Bombay nach England brachte, war es voll und laut. An Bord waren viele Familien, die wegen der Unruhen in Indien nach England zurückkehrten. Mary musste gemeinsam mit den anderen Kindern essen und tun, was man ihr sagte. Sie fand es schrecklich: Das Essen schmeckte furchtbar und die anderen Kinder waren wild und laut.

Gleich am ersten Tag hatte sie ihren Teller mit Essen von sich geschoben und gesagt: »Das ist ja widerlich!«

Der schmuddelige Junge, der neben ihr saß, schnappte sich ihren Teller und häufte ihre Portion auf seinen eigenen Teller.

Mary starrte ihn empört an. »Ich habe nicht erlaubt, dass du dir das nehmen darfst!«

»Du hast es aber auch nicht verboten«, erwiderte der Junge. »Wenn du es nicht isst, esse ich es.«

»Du verstehst das nicht!«, rief Mary. »Ich brauche besseres Essen als das! Meine Eltern sind tot!«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Wir hatten alle unsere Verluste, Kleine!«

Mary beobachtete wie er ihre Portion herunterschlang. Sie mochte diesen Jungen nicht besonders, aber er war der Erste, der bisher überhaupt mit ihr gesprochen hatte.

»Möchtest du … möchtest du vielleicht eine Geschichte hören?«, fragte sie zaghaft.

Er sah sie verächtlich an. »Nein. Ich bin doch kein Kind mehr!« Er stand auf, ging und setzte sich zu jemand anderem. Mary blieb allein zurück. Ab da sprach sie kaum noch ein Wort mit jemandem.

Sie stand auf und ging zum Geländer an der Seite des Schiffes. Tief unter ihr wogte der blaue Ozean. Sie hob Jemima hoch. Sie konnte ja ihr eine von Ayahs Geschichten erzählen sich in die Erzählung flüchten und alles um sich herum für eine Weile vergessen. Geschichten zu erzählen, war schon immer ihre Art gewesen, über Sachen hinwegzukommen – etwa, wenn ihre Mutter sie mal wieder nicht sehen wollte oder ihr Vater zu beschäftigt war, um mit ihr zu spielen.

»Ich werde dir eine Geschichte erzählen, Jemima«, sagte sie. »Genau wie früher zu Hause. Es war einmal ein Herrscher über die Meere. Sein Name war Varuna und er … und er …«

Die Worte schienen in ihrem Kopf vertrocknet zu sein. Sie nahm noch einen Anlauf: »Varuna war sehr mächtig. Er …« Sie stockte. Aber es war wie verhext, der einzige Gedanke, den sie fassen konnte, war der an zu Hause.

»Jetzt habe ich kein Zuhause mehr, Jemima«, flüsterte sie. »Ich gehöre nirgendwohin und zu niemandem!«

Als Mary in Jemimas ausdrucksloses Gesicht blickte, spürte sie einen Stich im Herzen. Jemima war nur eine Puppe, keine Freundin. Nur Kinder spielten mit Puppen. Und Kinder hatten zu essen, was man ihnen gab und still zu sein. Kinder konnte man schicken, wohin man wollte. Kinder mussten tun, was die Erwachsenen ihnen sagten.

Mary fasste einen Entschluss. »Ich bin kein Kind!«, sagte sie grimmig. »Jetzt nicht mehr!«

Sie ließ Jemima fallen. Als die Puppe weit unten auf dem Wasser aufschlug, erschrak Mary.

Was hatte sie da gerade getan?

Jemima schaukelte noch einen Moment auf dem Wasser und starrte ein letztes Mal zu Mary hinauf, dann zogen die Wellen sie nach unten.

Mary hatte einen Kloß im Hals, aber sie schluckte ihn hinunter. Keine Tränen mehr, schwor sie sich. Trotzig hob sie das Kinn. Nein, sie würde nicht mehr weinen, nicht jetzt und nie wieder.

Mit verschränkten Armen wandte sie der Reling den Rücken zu. In ihrem gebrochenen Herzen war ein Schloss zugeschnappt.