
Für meine Patenkinder
Cleo-Josephin und Lena
Folgt immer eurem Herzen
CIARAN
Der erste Lichtstrahl ist der schlimmste. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, doch es hilft nichts. Erinnerungen lassen sich nicht wegatmen. Mit verkrampften Händen stehe ich da, während sich die Pforte öffnet, und blicke dem fremden Licht entgegen, das mich jedes Mal aufs Neue wie einen alten Feind begrüßt. Einen dunklen Moment lang stockt mir der Atem, das Bild der Gegenwart verschwimmt vor meinen Augen und ich spüre den frischen, ungetrübten Schmerz in meinem Herzen. Doch dann hämmert mir das gedämpfte Abendkonzert einiger Waldvögel erbarmungslos die harte Wirklichkeit ins Bewusstsein und der vertraute und zugleich fremde Waldgeruch dringt mir in die Nase. Es ist nicht meine Welt, die ich im Licht der untergehenden Sonne abschätzig betrachte.
Erst als von hinten eine genervte Stimme an mein Ohr dringt, merke ich, dass ich wie hypnotisiert auf den Wald vor mir starre. Es ist die gleiche Stimme wie immer. Mein Aufpasser.
»Ciaran, wie oft soll ich es noch sagen?«
Einen tiefen Atemzug lang schließe ich die Augen, frage mich, was schlimmer ist: die zerstörerische Welt der Menschen oder die zerstörte Welt in meinem Inneren. Doch als ich die Augen wieder öffne, sind beide noch da. Genau wie Bela. Erbarmungslos wirft er noch mehr zu Worten geformte Realität nach mir.
»Wenn du jedes Mal deine düsteren Farben in die Menschenwelt entlässt und den Farbfluss behinderst, wirst du nicht mehr lange der Hüter der Pforte sein. Die Welt dort ist schon dunkel genug. Nicht auszudenken, was passiert, wenn auch du sie noch mit deinem Selbsthass überschwemmst.«
Die Abschätzigkeit zeichnet harte Kanten in sein Gesicht und nimmt ihm, was ihn sonst charmant wirken lässt. Verachtung steht niemandem gut. Bittere Gedanken steigen in mir auf, während ich mich zu ihm umdrehe.
»Lass gut sein, Bela«, sage ich, »ich weiß sehr genau, was ich zu tun habe.«
Er sieht die Dunkelheit meiner Gefühle trotzdem. Sie steht im starken Kontrast zu dem weißen Gefühlsdunst, der Bela umgibt und der uns so deutlich voneinander unterscheidet.
Also trete ich zur Seite, wie ein guter Hüter das tun sollte, und lasse den Gefühlsfarben von Keloria freien Lauf, während sie die Menschenwelt erobern – so wie es seit jeher war und immer sein wird.
Doch Bela lässt nicht locker. Er nimmt seine Aufgabe viel zu ernst. Als ob er sich das reine Weiß seiner Gefühlsfarbe verdienen müsste, indem er Fleißpunkte sammelt.
»Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob du deine Aufgabe wirklich verstanden hast. Ob du verstanden hast, wie wichtig sie ist. Wir sorgen dafür, dass die Menschen lieben können, dass sie Heiterkeit und Glück verspüren. Wir bringen das strahlende Rot und das hoffnungsvolle Grün in ihre Welt, auch wenn ihre Augen blind dafür sind.«
Er belehrt mich wie ein Kind. Als ob ich nicht genau wüsste, wie die Gefühle in die Welt der Menschen kommen. Genau die richtige Dosis, nicht zu viel und nicht zu wenig, genau das, was ihre plumpen Seelen ertragen können. Deshalb öffnen wir jeden Morgen und jeden Abend, immer bei Einbruch der Dämmerung, unsere Pforten.
»Du, Ciaran, bist der Hüter dieser Pforte.«
Ich presse die Lippen aufeinander. Seine Vorträge enden immer gleich, fast jeden Tag trichtert er es mir ein.
»Auch wenn du diese ehrenvolle Aufgabe nicht verdient hast.«
Am liebsten würde ich die Augen wieder schließen, um Bela nicht mehr sehen zu müssen. Aber ich weiß, dass ich ihn besänftigen muss.
»Du hast natürlich recht«, antworte ich ihm zerknirscht und hoffe inständig, dass er mich jetzt in Ruhe lässt.
»Fünfzehn Minuten, Ciaran, bis die Pforte wieder schließt. Schaffst du das oder muss ich dir so lange auf die Finger schauen?«
Bevor es mir gelingt, meine Fassungslosigkeit über seine dreiste Art hinunterzuwürgen, sagt er ihn – diesen einen Satz, der die Schatten in meinem Herzen in reinste tiefschwarze Finsternis verwandelt.
»Nicht, dass wieder jemand durch deine Schuld stirbt.«
Dabei zieht er eine Augenbraue hoch und sieht mich herausfordernd an, fast als hoffe er, ich würde zum Gegenschlag ausholen.
Mein Herz rast. Es gibt nichts, was ich dazu sagen könnte, denn Bela hat recht.
Einen Moment lang wartet er noch auf eine Reaktion von mir, dann dreht er sich um und geht. Ich starre ihm nach, sehe seinen aufwendig bestickten Gehrock und sein schneeweißes Haar im Wind wehen, bevor eine graue Wolke frischer Verzweiflung beginnt mich einzuhüllen und die Welt um mich herum verschluckt. So wie sie damals in jener Nacht verschluckt wurde. Ich sehe ihre Farbe, ihre leuchtenden, pulsierenden Gefühle, die von dem erbarmungslosen Rot ihres eigenen Blutes hinweggespült wurden, bis nichts mehr übrig war als totes Grau. Nie wieder werde ich ihre Farbe sehen. Die schönste Farbe, die Keloria je hervorgebracht hat. Nie wieder.
Ein wilder kunterbunter Schweif reißt mich aus meiner Erinnerung. Er rauscht an mir vorbei wie ein reißender Fluss nach dem Frühlingsregen, vermischt sich mit dem tiefen Schwarz meiner Gefühle und löst mich aus meiner Starre. In Gedanken verfluche ich Bela, weil er durch seine hässliche Bemerkung genau das heraufbeschworen hat, was er verhindern wollte.
Meine Beine gehorchen mir erst, als es schon zu spät ist. Durch die weit geöffnete Pforte von Keloria sehe ich gerade noch das zierliche Hinterteil des Unglücks, das soeben in die Menschenwelt eingedrungen ist. Ein Unglück mit Namen Tarka. Ein Einhorn. Keine Ahnung, wo es plötzlich hergekommen ist. Und jetzt galoppiert es mit erhobenem Schweif hinaus in den Menschenwald. Meine Gefühle der Vergangenheit haben mich die Gegenwart nicht sehen lassen. Wie konnte mir das nur passieren?
Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, laufe ich los, verlasse meine Pforte, die zu bewachen meine oberste Pflicht ist. Wenn ich Tarka noch rechtzeitig einfange und zurückbringe, bevor das Tor sich schließt, wird es vielleicht niemand bemerken. Also renne ich und rufe immer wieder seinen Namen – obwohl ich weiß, dass junge Einhörner in ihrer Euphorie und Neugierde nicht zu bremsen sind. Ich folge dem bunten Farbenschweif, der hier im Menschenwald viel weniger Farben zu enthalten scheint als bei uns in Keloria. Ich merke schnell, dass ich die Dunkelheit im Wald unterschätzt habe und mir die Farblosigkeit der menschlichen Welt die Sicht erschwert. Irgendwann verschwindet Tarkas weiß leuchtendes Fell zwischen den Schatten der Bäume und kurz darauf verklingt auch sein Wiehern. Ich habe versagt. So wie ich immer versage. Ich bin kein Hüter, ich bin nur noch eine Hülle, angefüllt mit allen Schattierungen von Einsamkeit und Schuld.
Als ich es höre, ist mein Schicksal längst besiegelt. Das dreifache Klingen, das durch den Wald hallt wie der Ruf einer Nachtigall, macht mir die Hoffnungslosigkeit meiner Situation bewusst. Dennoch kehre ich um und eile zurück, weil ich es mit eigenen Augen sehen muss. Zu spät gibt mich das Unterholz wieder frei, schenkt mir einen letzten höhnischen Blick auf die leuchtenden Farben meiner Heimat. Doch schon im nächsten Augenblick ist das Unheil über mich hereingebrochen, denn die Pforte nach Keloria hat sich bis zur Morgendämmerung geschlossen.
Atemlos starre ich auf das hohe Tor und beobachte, wie es mit der Felswand verschmilzt und vor meinen Augen verschwindet. Ein starker Schwindel überfällt mich. Es ist nicht wieder rückgängig zu machen. Ich habe mich eben aus meinem eigenen Land ausgesperrt. Es wird eine lange Nacht sein, die da auf mich zukommt. Vielleicht sogar die längste meines Lebens.
JESSI
Ich bleibe stehen und halte den Atem an. Da ist es wieder! Hauchzart und verheißungsvoll. Dieses kaum vernehmbare Flüstern im Wald, der Singsang unbekannter Stimmen. Er kommt irgendwo aus dem Dickicht vor mir. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf ein Stück nach links und versuche zu ergründen, ob das Geräusch dadurch lauter wird, aber ich kann keinen Unterschied erkennen. Einmal mehr wünsche ich mir das feine Gehör der Waldtiere. Es ist jetzt das fünfte Mal, dass ich das Flüstern höre, immer abends, beim Sonnenuntergang. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch, der dann noch durch den Wald läuft, bis auf ein paar Jogger und Jäger vielleicht, aber die hören nur ihren eigenen Atem oder das Knarzen ihrer Schuhe auf dem Weg. Sie schleichen nicht so, wie ich es tue, seit ich es zufällig zum ersten Mal gehört habe.
Meine Mutter würde mir garantiert Hausarrest geben, wenn sie wüsste, dass ich hier in der Dämmerung allein durch den »Schauderwald« streife. Alle bei uns im Dorf nennen ihn so. Kaum jemand kommt freiwillig hierher, nicht einmal tagsüber. Die alten Leute erzählen Geschichten über diesen Wald und sein fast undurchdringbares Fichtendickicht. Wölfe treiben hier angeblich ihr Unwesen, heimtückische Wurzeln wachsen aus dem Boden und gespenstische Wesen wohnen in den Felsformationen. Es soll sogar sumpfige Löcher im Boden geben, gerade groß genug, um einen Menschen in sein finsteres, moderiges Grab hinabzuziehen. »Jessi«, hat meine Großmutter einmal gesagt, »halte dich vom Schauderwald fern, denn dort geht es nicht mit rechten Dingen zu.«
Natürlich ist das alles völliger Quatsch. Ich kenne mittlerweile genügend Holzarbeiter und Pilzsucher, die sich in diesen dunkelsten Teil unseres Waldes gewagt haben und weder von Wölfen noch von Sümpfen verschlungen wurden. Und dennoch gibt es niemanden, der diesen Wald gern betritt. Jeder, den ich bisher danach gefragt habe, erzählt von einem seltsamen Beben in seinem Innersten, von Zähneklappern und Gänsehaut. Auch mir stellen sich nun die Nackenhaare auf, weil mein Körper weiß, wozu mein Gehirn ihn gleich zwingen wird.
»Nun komm schon, Jessi, sei kein Feigling«, raune ich mir selbst zu. »Es sind nur Bäume!«
Damit verlasse ich den Weg und folge dem Flüstern, hinein in den Schlund des Schauderwalds.
Ich habe wohl instinktiv den richtigen Weg gewählt, denn nachdem ich mich eine Weile unter den abgestorbenen Zweigen der Fichten hindurchgeduckt und dornige Ranken zur Seite geschoben habe, werden die Stimmen lauter. Mit klopfendem Herzen schleiche ich vorsichtig weiter und trete bewusst nur auf feuchte Stellen, damit auch ja kein Laub unter meinen Füßen raschelt. Es dauert nicht lang, bis ich mein eigenes Blut in den Ohren rauschen höre. Meine Hände fangen an zu schwitzen. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Die Stimmen sind jetzt ganz nah, irgendwo links von mir. Ich kann fast die Worte erahnen. Innerlich verfluche ich mich selbst. Wieso bin ich nicht längst umgekehrt und nach Hause gegangen? Kein Wunder, dass meine Mutter mich für naiv hält. Sollte mich wirklich ein Wolf anfallen oder ich in ein Sumpfloch treten, bin ich hier ganz auf mich allein gestellt. Niemand wird mich je finden und es wird mir so ergehen wie den beiden Wanderern, die vor einigen Jahren hier verschwunden sind. Es kam nie ans Tageslicht, was damals mit ihnen passiert ist.
Auch die Umstände meines Todes werden nie geklärt werden, denn niemand weiß, dass ich hier bin, weil ich behauptet habe, in den Jugendtreff zu gehen. Vielleicht ist dies das Geheimnis des Waldes – er tötet seine Opfer unbemerkt, wie ein Puma, der sich von hinten anschleicht, wie ein Geist, der aus dem Nebel steigt, wie ein … Ein dürrer Ast knackt unter meinem Schritt.
»Habt ihr das gehört?«
Der erste Satz, der deutlich zu verstehen war. Eindeutig von einem Menschen gesprochen. Oder etwa nicht? So lautlos wie möglich gehe ich hinter einem dicken Fichtenstamm in Deckung, kauere mich auf den Boden und mache mich ganz klein. In der anbrechenden Dunkelheit könnte man mich so vielleicht übersehen oder für einen Felsbrocken oder einen Ameisenhügel halten.
»Doch, da war was«, höre ich die Stimme wieder. »Ich gehe nachschauen.«
»Lass doch. War sicher nur ein Reh oder ein Fuchs«, mischt sich eine andere Stimme ein.
Doch der erste Sprecher lässt sich durch diesen Einwand offenbar nicht aufhalten. Sekunden später raschelt das trockene Laub und Schritte nähern sich. Jetzt klopft mein Herz tatsächlich bis zum Hals. Wäre ich doch nie hierhergekommen! Warum kann ich meine Neugierde nicht anderweitig stillen, wie jeder normale Mensch? Zitternd frage ich mich, wer da wohl gerade auf mich zukommt und was er mit mir tun wird, wenn er mich findet.
»Hey, Alter!«, schreit nun eine dritte Stimme durch den Wald. »Wenn du unbedingt deinen Hallus folgen willst, dann lass gefälligst die Tüte da!«
Jetzt sehe ich es, keine zwanzig Meter von mir entfernt – ein Glimmen, wie von einer Zigarette, und eine tiefschwarze Gestalt, deren Umrisse sich kaum von den Büschen dahinter abheben. Instinktiv schüttle ich den Kopf über meinen Leichtsinn. Ich bin tatsächlich nur einer Bande von Idioten gefolgt, die sich im Schauderwald zum Kiffen treffen? Das ist keine besonders abenteuerliche Entdeckung, aber dennoch eine gefährliche. Diese drei Typen werden sicher einen Grund haben, warum sie sich gerade hier treffen und nicht irgendwo auf einem Dachboden oder in einer Garage. Wer sich den sicher einsamsten Ort im Umkreis von mehreren hundert Kilometern für ein Treffen aussucht, der hat garantiert mehr zu verbergen als ein bisschen Marihuana.
Eine zweite Silhouette tritt neben die erste.
»Was ist das?«, fragt die dazugehörige Stimme. »Da, hinter dem Baum, siehst du das?« Jetzt dreht er sich in meine Richtung und zeigt auf mich. »Bewegt sich das? Komm, wir sehen mal nach!«
Nun kommen sie tatsächlich auf mich zu. Ich sollte aufspringen und wegrennen. Doch meine Glieder gehorchen mir nicht. Wie erstarrt bleibe ich sitzen, zusammengekrümmt, als wolle ich im Waldboden versinken.
Wenige Meter bevor die beiden Gestalten mich erreichen, geschieht plötzlich etwas Seltsames: Ein Lichtschein dringt hinter ihnen durch den Wald, so wehmütig wie der letzte Strahl der Abendsonne und so lebhaft wie ein gewaltiges Lagerfeuer. Es ist kein gleißendes Licht, eher ein sanftes, das durch die dürren Fichtenstämme und Büsche schwebt, nach oben in die Baumkronen steigt und dann verschwindet. Dem Licht folgt ein Sturm, doch er besteht nicht aus Wind. Es ist ein Sturm, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe, denn er bringt nicht etwa meine Haare zum Flattern, sondern mein Herz. Es tobt und hämmert und hüpft, ähnlich wie damals als Niklas auf dem Schützenfest seine Arme um mich legte und seine Lippen auf meine presste.
Die beiden Gestalten vor mir scheinen es auch zu spüren. Dem einen entfährt ein seltsames Geräusch, wie ein Knurren. Fast rechne ich damit, dass er sich vor meinen Augen in einen Werwolf verwandelt. Doch nichts geschieht.
»Hast du das … auch gespürt?«, fragt einer der Typen. Dabei zittert seine Stimme. »Was war das denn?«
»Keine Ahnung«, sagt der andere. »Aber wir werden es herausfinden. Komm!«
Damit machen sie kehrt und hasten in die Gegenrichtung davon. Das ist meine Chance. Blitzschnell springe ich auf und renne den Weg zurück, den ich gekommen bin. Ich achte nicht auf die Dornen, die meine Haut zerkratzen, spüre die scharfen Schnitte der Fichtenzweige nicht in meinem Gesicht. Je schneller ich renne, desto größer wird meine Furcht. Nur raus aus diesem Wald!
Hinter mir höre ich nun wieder Schritte. Wahrscheinlich habe ich mein Versteck zu früh aufgegeben und die drei Kerle haben mich bemerkt. Ich drehe mich nicht um, sehe nur den Weg vor mir, wie durch einen Tunnel. Die Angst verleiht mir ungeahnte Schnelligkeit und dennoch kommen meine Verfolger mir in rasendem Tempo näher. Nur noch wenige Sekunden und sie haben mich eingeholt!
Noch während ich das denke, verfängt mein Fuß sich in einer Wurzel und ich schlage der Länge nach hin. Unkontrolliert schliddert mein Körper über den Waldboden und meine Hände landen mitten in einem sumpfigen Morast. Ich fühle ihn durch meine Finger quellen, als ich sie zusammenkrampfe, um irgendwo Halt zu finden. Es ist vorbei, ich habe verloren! Panisch drehe ich mich um.
Da saust es einfach an mir vorbei, mit wehendem Schweif und trommelnden Hufen. Ein schneeweißes Pferd, dem irgendein Idiot ein Horn auf die Stirn geklebt hat. Wo auch immer dieses Tier herkommt, es scheint ebenso geschockt von den Geschehnissen im Schauderwald zu sein wie ich.
Mein Puls rast immer noch. Während der Schimmel über einen letzten Graben setzt und anschließend auf dem Waldweg in Richtung des Dorfes rennt, scanne ich mit meinem Blick den Wald – es ist niemand mehr da. Also bin ich die ganze Zeit vor einem Pferd davongerannt.
Mühsam rappele ich mich hoch und mache zwei vorsichtige Schritte. Das Auftreten fühlt sich ganz normal an, offenbar habe ich mir bei dem Sturz nichts verstaucht oder gar gebrochen. Dennoch traue ich mich jetzt nicht mehr zu rennen. Erst als ich wieder auf dem Weg bin, beginne ich langsam zu joggen und versuche meine Sinne beieinander zu halten. Durch die lichten Baumkronen rechts von mir sehe ich rosafarbenes Abendrot am Himmel. Die Sonne muss gerade untergegangen sein. Um diese Zeit sollte wirklich niemand mehr hier draußen sein.
Ich wende den Blick wieder nach vorn und erstarre. Dort, mitten auf dem Weg, steht ein Junge. Ein schwarzer Junge. Seine Haare sind schwarz, seine Kleidung ist schwarz und sein Blick ebenso, soweit ich das erkennen kann. Es ist die schauderhafteste Begegnung, die ein 17-jähriges Mädchen im Wald haben könnte, und sie passiert genau mir – gruselig! Ich bleibe abrupt stehen, spüre erneut die Panik mit kalten Fingern nach mir greifen. Der Junge scheint genauso entgeistert zu sein wie ich. Er sagt kein Wort, bewegt sich nicht, sieht mich nur an. Ich schlucke.
»W…w…wer bist du?«, krächze ich.
»Was interessiert dich das?«, murrt er mit tiefer Stimme. Es klingt so abschätzig, beinahe hasserfüllt, dass mir der Atem stockt.
Um ihm meine Furcht nicht zu zeigen, stemme ich die Hände in die Hüften und schaue ihm direkt in seine schwarzen Augen. So habe ich das im Selbstverteidigungskurs gelernt – keine Schwäche zeigen, kein leichtes Opfer sein!
»Und … warum stehst du um diese Zeit plötzlich auf dem Weg?«
Ich frage ihn lieber nicht, ob er einer von den Kiffern ist, um mich nicht zu verraten.
»Wieso stehst du plötzlich auf diesem Weg?«, kontert er und behält dabei seine lauernde Haltung bei. Er starrt mich weiter an, als wäre mein Gesicht mit rosaroten Flecken übersät oder als hätte ich das Horn auf der Stirn und nicht dieses Pferd.
»Hast du auch … das Pferd mit dem Horn gesehen?«, frage ich, einfach um irgendetwas aus meiner engen Kehle hervorzuwürgen.
Nun werden seine Augen noch stechender, als sie es die ganze Zeit schon waren. Ich habe keine Ahnung, warum er mich so ansieht, fast wie ein Raubtier, das mich gern fressen würde. Unwillkürlich mache ich einen Schritt zurück.
»Du kannst das Horn sehen?«, stößt er schließlich hervor. »Und auch die Glückssträhnen?«
»Glückssträhnen?«, wiederhole ich verständnislos.
Er kneift die Lippen zusammen wie einer, der mehr weiß, als er preisgeben will.
»Wohin ist er gerannt?«, fragt er schließlich.
Ich deute den Weg entlang, genau dorthin, wo ich hingehen würde, wenn dieser seltsame Junge mir nicht im Weg stünde. »Ins Dorf.«
Daraufhin dringt ein sachtes Stöhnen aus seiner Kehle und er rollt mit den Augen. »Dann muss ich ihn wohl dort suchen.«
Damit macht er auf dem Absatz kehrt und geht den Weg weiter, ohne noch ein Wort zu verlieren.
Einen Moment lang schaue ich ihm hinterher und spiele mit dem Gedanken, so lange auszuharren, bis er um die nächste Wegbiegung verschwunden ist, und dann zu fliehen. Doch plötzlich schreit hinter mir ein Käuzchen, unheimlich wie in einem Gruselfilm, und ich beschließe, dass ein verrückter schwarzer Junge, der seine Pferde mit Hörnern beklebt, im Augenblick eine bessere Gesellschaft ist als gar niemand. Zumal der Typ nicht darauf aus zu sein scheint, mir etwas anzutun.
Also renne ich hinter ihm her, bis ich ihn erreicht habe. Er versteift sich merklich, als ich neben ihm meine Schritte verlangsame. Ohne mich anzusehen, geht er weiter geradeaus.
»Wie heißt dein Pferd?«, frage ich.
»Tarka.«
»Und wieso hast du es als Einhorn verkleidet?«
Eine seiner Augenbrauen wandert nach oben. Ich deute das als einen Anflug von Emotion, also ein gutes Zeichen.
»Hab ich nicht«, lautet die einsilbige Antwort.
»Wer dann?«, hake ich nach.
»Niemand.«
Ich hasse solche leeren Gespräche, die sich anfühlen wie Bohrungen ins tiefste Nichts. Man würde eher auf den Erdkern stoßen, als einen Tropfen Öl zu finden. Trotzdem versuche ich noch einmal, etwas aus ihm herauszubekommen.
»Also ist Tarka ein echtes Einhorn, das einem magischen Brunnen oder einem verwunschenen Baum entsprungen ist. Und du bist der Prinz, der es unter Einsatz seines Lebens nach Nimmerland zurückbringen muss.«
»Keloria …«
»Ich heiße Jessi«, verbessere ich ihn grinsend.
Er rollt wieder mit den Augen und macht einen tiefen, genervten Atemzug.
»Keloria ist das Land, wohin er zurückgebracht werden muss. Und ich bin kein Prinz, sondern nur ein Hüter. Ein Hüter, der seine Pflicht vernachlässigt hat. Bis zur nächsten Dämmerung muss ich ihn eingefangen haben.«
Was für eine witzige Geschichte! Der schwarze Junge aus dem Wald scheint mehr Humor zu haben, als ich ihm zugetraut hätte. Oder zumindest Fantasie. Ich beschließe, das Spielchen mitzuspielen.
»Ah, alles klar, ein Hüter also. Kein Problem, ich helfe dir, dein Einhorn einzufangen.« Dabei entweicht mir ein Kichern, das leider immer noch hysterisch klingt. Die letzte halbe Stunde hat mir definitiv einen heftigen Gefühlscocktail beschert.
»Okay, du … Hüter einer fremden Welt … Verrätst du mir vielleicht deinen Namen, nachdem ich dir meinen gesagt habe?«, versuche ich erneut mein Glück.
Er schweigt so lange, dass ich mich schon damit abfinde, keine Antwort mehr zu bekommen. Dann sagt er so leise wie das Flüstern der Dämmerung im Schauderwald: »Ciaran.«
Was soll das denn für ein Name sein? Den hat er sich doch sicher nur ausgedacht.
Schweigend laufen wir weiter bis zum Dorf. Ciaran hat einen ziemlich flotten Schritt, hin und wieder muss ich ein paar Schritte schneller gehen, um an seiner Seite zu bleiben. Unterwegs scheint er die ganze Zeit zu grübeln.
»Wo rennen Einhörner normalerweise hin?«, frage ich, als die ersten beleuchteten Fenster vor uns auftauchen. »Es gibt einen Bauern in der Dorfmitte, der Pferde hält. Vielleicht finden wir es da.«
»Nein, Einhörner können mit Pferden nichts anfangen«, antwortet Ciaran. »Sie schauen auf sie herab. Sind stolze Kreaturen, fast schon arrogant.«
So viele Worte am Stück! Ein kleines Glucksen steigt in meiner Kehle hoch. Bei seiner nächsten Frage wird es zu einem wilden Kichern.
»Gibt es vielleicht Statuen in diesem Ort?«
Ich kann mich kaum mehr halten vor Lachen. Ciaran schickt mir einen finsteren Blick. Jetzt, im Schein der Straßenlaternen, kann ich sehen, dass seine Augen nicht wirklich schwarz sind, aber von dunklem Braun. Sie sind so tief und voller Abgründe, dass mir mein Lachen im Hals stecken bleibt.
»Du hast keine Ahnung, wo du hier bist, oder?«
Er reagiert nicht, gibt nicht die kleinste Erklärung dazu ab. Will er etwa geheim halten, wo er herkommt? Um mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen, übergehe ich die Situation einfach.
»Das hier ist Auendorf. Es ist ein winziges Kaff auf der Schwäbischen Alb. Wir haben eine Kirche, eine Kneipe, eine Schnapsbrennerei und sehr viele Kühe. Und so viele Hagebutten, dass wir Marmelade daraus kochen. Aber weder Internet noch … Statuen.«
»Ich verstehe«, antwortet er, obwohl es überhaupt nicht so klingt. »Andere leblose Objekte mit menschlichem oder tierischem Aussehen?«
»Ähm …«, mache ich, »nein.«
»Dann müssen wir eben auf gut Glück suchen«, beschließt er und marschiert los.
Ich könnte jetzt nach Hause gehen oder zumindest in den Jugendtreff, der sich in einem Bauwagen am anderen Ende des Dorfes befindet. Nach alldem, was mir heute Abend widerfahren ist, täte ich vermutlich gut daran, keine weiteren Ausflüge mehr zu unternehmen. Zumindest nicht in der Gesellschaft eines schwarz gekleideten Verrückten. Doch meine Neugier besiegt wieder einmal meine Vernunft. Also schließe ich mich Ciaran an, der mit eingezogenen Schultern und gerunzelter Stirn durch die leeren Straßen unseres Dorfs streift. Ein Glück, dass niemand mehr unterwegs ist, der uns sehen könnte.
Nun kann ich sogar die Einzelheiten seiner Kleidung erkennen. Das Auffälligste an ihm ist der schwere schwarze Mantel, der fast bis zum Boden reicht. Anstelle eines Kragens hat er eine Kapuze, die Ciaran sich jetzt auch noch über den Kopf zieht. Seine Hose ist aus einem seltsam groben Stoff, wie von Hand gewebt, dazu trägt er einen ledernen Gürtel, in den allerhand Zeichen eingeprägt sind und an dem ein mittelalterlich anmutender Beutel hängt. Sein Oberteil ist ebenfalls aus schwarzem Leder und mit Schnallen und Knöpfen geschmückt.
»Ist dir nicht heiß?«, frage ich ihn. »Ich meine, immerhin ist Sommer und du rennst hier mit so vielen schwarzen Klamotten herum.«
»Klamotten«, wiederholt er, als hätte er das Wort noch nie gehört. Eines muss man ihm lassen: Er spielt seine Rolle als geheimnisvoller Hüter wirklich gut.
Da kommt mir ein Einfall. »Jetzt weiß ich es! Du bist vom Zirkus!«
Ich bin so begeistert von meinem Geistesblitz, dass ich einen kleinen Hüpfer mache.
Aber Ciaran dämpft meine Freude, indem er wieder nur geistesabwesend das Wort nachplappert: »Zirkus …«
Ich will gerade mein Missfallen über seine Verschlossenheit kundtun, da bleibt er plötzlich stehen und streift sich die Kapuze vom Kopf. Sein stechender Blick richtet sich ein paar Meter nach vorn, auf den Vorgarten von Tante Frieda. Tante Frieda ist das, was man bei uns eine »alte Schrulle« nennt. Sie hatte nie Kinder und wahrscheinlich auch keinen Mann, lebt in einem leicht heruntergekommenen Häuschen und hat die Angewohnheit, jedes einzelne Dekorationsobjekt, das sie in ihrem Leben erstanden oder geschenkt bekommen hat, irgendwo aufzustellen. Als in ihrem Haus kein Platz mehr war, machte sie einfach im Garten weiter. Deshalb stehen und sitzen nun jede Menge Plastikpüppchen, Vogeltränken, Vasen, Tonfiguren, Zinnkrüge, Modelleisenbahnwaggons und Porzellankätzchen auf ihren Fensterbänken, Treppen und überall im Garten. Und dazwischen lauter Gartenzwerge.
Und direkt über einer besonders geschmacklosen Figurengruppe – zwei bunt behosten Zwergen beim Bockspringen – thront doch tatsächlich Tarka, das angebliche Einhorn.
Ciaran gibt ein tiefes Stöhnen von sich. »Hast du nicht gesagt, ihr hättet hier keine leblosen Objekte mit menschlichem oder tierischem Aussehen?«
Ehe ich ihm antworten kann, senkt das Pferd den Kopf und berührt mit seinem Horn die beiden Zwerge. Ganz kurz leuchtet die Spitze auf und im nächsten Moment passiert es: Die Zwerge bewegen sich! Der eine, der eigentlich im Sprung über den Hintern des anderen eingefroren war, führt diesen zu Ende, dreht sich keck um sich selbst und setzt gleich zum nächsten Sprung an, während der andere nur grinsend die Ellbogen auf seine Knie stützt.
Ich blinzele, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, doch die Szene vor meinen Augen ändert sich kein bisschen. Immer wieder, in einer endlosen Schleife, springt der Gartenzwerg über den anderen hinweg.
Tarka hebt den Kopf in unsere Richtung und wiehert.
»Hör auf damit!«, raunt Ciaran ihm zu, während er sich in geduckter Haltung auf das Pferd … das … Einhorn zubewegt. Träume ich?
Tarka wiehert erneut und macht einen großen Sprung zur Seite, um seinem Verfolger auszuweichen. Aber offenbar faszinieren ihn all die skurrilen Figürchen von Tante Frieda viel zu sehr, um gleich wieder Reißaus zu nehmen.
Erneut senkt er sein Horn und erweckt einen weiteren Gartenzwerg, ein Porzellankätzchen und eine verwitterte Buddhastatue aus Holz zum Leben. Alle drei blinzeln mit den Augenlidern, soweit vorhanden, und setzen sich in Bewegung. Das Kätzchen schnurrt um Tarkas Hufe herum, der Buddha faltet die Hände und der Gartenzwerg stellt sich vor eine nachlässig geschnittene Buchskugel, zieht seine Hose herunter und pinkelt dagegen.
Inzwischen hat Ciaran den Zaun des Gartens erreicht und schwingt sich mit einer lässigen Bewegung darüber. Das Einhorn scheint immer noch nicht genug zu haben. Fast schon trotzig schlägt es mit seinem Horn um sich. Dadurch kommt die Eisenbahn in Fahrt und das angeschimmelte Plastikpüppchen daneben wischt sich mit pikiertem Gesichtsausdruck den Grünspan von den Armen. Drei weitere Zwerge laufen nun mit Rechen und Besen bewaffnet wie eine bezipfelte Armee durch den Garten und rupfen Unkraut aus, ein vierter fährt mit einer Schubkarre hinterher.
Mit steifen Schritten und weit aufgerissenen Augen nähere ich mich der Szenerie. Selbst wenn ich wollte, würde ich kein Wort herausbringen angesichts des vollkommen realen Kinofilms vor meinen Augen.
Ciaran greift in den seltsamen kleinen Beutel an seinem Gürtel. Als er seine Hand wieder herauszieht und die Faust öffnet, erkenne ich ein feines Pulver auf seiner Handfläche. Es ist fast durchsichtig, reflektiert aber alle Farben des Regenbogens, wie Salzkristalle, die jemand mit Glitzerpuder bestäubt hat. Mit einer ausladenden Handbewegung schleudert er es über die Gartenzwerge, die ihm am nächsten stehen. Auf der Stelle frieren die Zipfelsoldaten mitten in ihren Bewegungen ein und der pinkelnde Zwerg bleibt mit heruntergelassener Hose starr vor dem Buchsbaum stehen. Die zweite Ladung des Pulvers trifft das Püppchen, den Buddha und die Katze. Nur der kleine Waggon bahnt sich weiterhin führungslos seinen Weg durch den Garten. Genau in dem Moment, in dem Ciaran auch ihn wieder einfriert, öffnet sich die Tür und Tante Frieda kommt heraus. Mit ihren türkisfarbenen Plüschhausschuhen, dem gesteppten Morgenmantel, der riesigen Hornbrille und den Lockenwicklern im Haar steht sie da und gafft Ciaran und Tarka an.
»Was macht das Pferd in meinem Garten?«, kreischt sie dann urplötzlich los. »Lass meine Zwerge in Ruhe, du Schindmähre!«
Schneller als ich es ihr zugetraut hätte, greift sie in ihren Windfang und zieht einen Besen hervor. Tarkas Augen werden bei diesem Anblick ganz groß vor Entsetzen. Er stellt sich auf die Hinterhufe, steigt senkrecht in die Luft und galoppiert dann mit drei weiten Sprüngen durch die zahlreichen Gartenzwerge hindurch, ohne auch nur einen einzigen davon zu berühren. Dann setzt er über den Zaun und stürmt die Straße entlang.
»Und du!« Nun scheint Tante Frieda es auf Ciaran abgesehen zu haben. Drohend und mit hoch erhobenem Besen kommt sie auf ihn zu. »Schwarze Krähe, verschwinde aus …« Da fällt ihr Blick auf den pinkelnden Gartenzwerg und ihre Gesichtszüge entgleiten ihr. Sie lässt den Besen sinken und ihr Kinn beginnt beunruhigend zu zucken. Ich selbst kann nur den nackten Hintern des Zwergs erkennen. Aber Tante Frieda sieht ihn von vorn.
»Was ist das für eine Sauerei?«, schreit sie, während sich ihre durch die Brillengläser vergrößerten Augen wutentbrannt auf Ciaran richten. »Was für einen Schweinkram hast du mir da in den Garten gestellt?«
»Das ist nicht mein Werk«, antwortet er gefasst. »Eher ein unziemlicher Gedanke des Künstlers, der ihn angefertigt hat. Man weiß nie, welche Gefühle in solchen Objekten verborgen sind.«
»W…was?«, stottert Tante Frieda. Und im gleichen Moment wird sie von einer glitzernden Pulverwolke aus Ciarans Hand eingehüllt. Sie blinzelt ein paarmal, dann schaut sie verwirrt von ihm zu mir und wieder zurück. »Ähm … kann ich noch etwas für Sie tun?«, fragt sie irritiert.
»Nein, wir haben ja alles besprochen«, sagt Ciaran. Dann bückt er sich nach dem »unziemlichen« Gartenzwerg und verbirgt ihn unter seinem schwarzen Mantel. »Ich lasse Ihnen bald einen Ersatz schicken.«
»Danke«, sagt Tante Frieda, bevor sie sich am Kopf kratzt und dabei versehentlich einen ihrer Lockenwickler löst. Unendlich langsam geht sie zurück in ihr Haus.
Ciaran setzt wieder über den Gartenzaun und schließt zu mir auf. Ich bin nicht weniger verwirrt als Tante Frieda. Die richtigen Worte wollen mir nicht einfallen. Ein Einhorn also. Eines, das Gartenzwerge zum Leben erweckt, lustige und ernste, sportliche und unziemliche.
»Es ist wirklich ein Einhorn, oder?«, bringe ich hervor.
»Das habe ich dir doch gesagt.«
»Und sein Hobby ist, leblose Figuren zum Tanzen zu bringen … oder zum Pinkeln?«
Er nickt. »Manchmal entwischen uns Wesen wie Tarka. Geschöpfe, die es in eurer Welt nicht gibt. Im Normalfall fangen wir sie aber wieder ein.«
»Im Normalfall?«
»Ja. Einige von ihnen haben wir nicht mehr zu fassen bekommen. So wie Plesia zum Beispiel. Ihr sagt wohl Nessi zu ihr.«
»Das Ungeheuer von Loch Ness?«, würge ich hervor.
»Ja. Auch ein paar Werwölfe haben wir nicht mehr gefunden, zwei Yetis und ein paar Incubi – die sind an euren Albträumen schuld. Aber Einhörner können sich nicht so gut verstecken. Sie sind also nie lange unterwegs. Es ist eine große Schande für einen Hüter, wenn ihm so etwas passiert. Ein Moment der Unachtsamkeit und schon ist es geschehen.«
Ich nicke, immer noch fassungslos. Dabei bemerke ich, dass Ciarans Hand wieder in seinen Beutel wandert. Als er sie herauszieht, erkenne ich denselben Glitzerstaub, mit dem er die Gartenzwerge betäubt und Tante Frieda ruhiggestellt hat.
»Was ist das?«, frage ich und mache einen Schritt rückwärts.
»Das sorgt dafür, dass du in aller Ruhe dein Leben in deiner Welt weiterleben kannst.«
Auf eine Gehirnwäsche habe ich nicht die geringste Lust. Gerade jetzt, wo es anfängt, spannend zu werden!
»Hey, ich … Warte!«, stammele ich. »Ich glaube … ich kann dir helfen, Tarka einzufangen. Ich kenne mich mit Pfe… mit Einhörnern aus!«
Eine schwache Gefühlsregung zeigt sich auf seinem Gesicht. Es ist kein Lächeln, sondern eher ein angestrengtes Hochziehen seiner Mundwinkel. Wahrscheinlich benutzt er diesen Teil seiner Gesichtsmuskulatur nicht sonderlich oft.
»Wie willst du denn ein Einhorn betören, Menschenmädchen?«, fragt er spöttisch.
Betören also. Nicht etwa mit dem Lasso einfangen. Das ist ein Hinweis, der hilfreich sein könnte. Ich pokere. »Du wirst schon sehen!«, sage ich. Dabei setze ich ein möglichst selbstsicheres Grinsen auf.
Anscheinend habe ich gut geschauspielert. Oder er ist so sehr in Bedrängnis, dass er es darauf ankommen lassen will, denn er steckt sein Pulver in den Beutel zurück. Stattdessen greift er nun unter seinen Mantel und holt den Gartenzwerg hervor. Beim Anblick seiner Vorderseite verstehe ich, dass Tante Frieda so außer Fassung geraten ist. Die Größenverhältnisse seiner Körperteile stehen wirklich in keinem Verhältnis zueinander.
»Damit lockst du ihn. Und wenn du nah genug an ihm dran bist, legst du ihm dieses Band um den Hals.«
Er hält mir ein rotes Stoffband unter die Nase, das an einem Ende zu einer Schlinge geflochten ist.
»Warum ist es rot?«, frage ich, einfach um irgendetwas zu sagen.
Ciaran runzelt die Stirn. »Es ist nicht rot. Es ist amarant.«
»Aha«, murmele ich.
Sein dunkler Blick trifft mich ohne Vorwarnung. Er schürzt die Lippen und sieht mich verächtlich an.
»Du würdest nicht einmal den Unterschied zwischen Falun und Karmesin erkennen, habe ich recht? Für dich ist einfach alles nur Rot.«
Unsicher betrachte ich die Stoffschlinge, die er mir immer noch entgegenhält. Sie sieht genauso rot aus wie zuvor. Ich zucke mit den Schultern. Dann greife ich nach beidem, dem Gartenzwerg und dem Band, und wir machen uns erneut auf die Suche nach Tarka.
Keine fünf Minuten später werden wir wieder fündig. Diesmal steht das Einhorn vor einem Neubau in derselben Straße und starrt ehrfürchtig auf zwei riesige Steinlöwen, die vor dem Eingang aufgestellt sind.
»Bitte schön, versuch dein Glück«, brummt Ciaran.
Ich zögere.
»Wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe, kannst du diese Raubtiere dann wieder versteinern, ehe sie mich fressen?«, frage ich.
Er nickt. Dabei fallen ihm die schwarzen Haare in die Stirn. Mit einer lässigen Handbewegung schnippt er sie zur Seite.
»Nun mach schon!«
Er glaubt ganz eindeutig nicht an meinen Erfolg. Mir geht es ähnlich. Vielleicht sollte ich jetzt besser die Gelegenheit nutzen und Hals über Kopf davonrennen, ehe etwas wirklich Gefährliches passiert. Aber meine unsägliche Neugier verhindert, dass ich es tue. Neugier und … eine seltsame Form von Anziehung, die dieser düstere Junge auf mich ausübt. Warum auch immer.
Also schleiche ich mich geduckt auf das Einhorn zu, wie ich es vorhin bei Ciaran gesehen habe. So leise wie möglich nähere ich mich ihm, den Gartenzwerg in der linken Hand nach vorn gestreckt, die rechte mit der Schlinge hinter meinem Rücken verborgen.
Bis auf wenige Meter komme ich an ihn heran, dann dreht Tarka sich zu mir um und schaut mich an. Ich habe noch nie einem Einhorn in die Augen gesehen. Was darin steht, ist mit Worten nicht zu beschreiben, vielmehr ist es ein Gefühl. Ein Gefühl, so tief wie ein Ozean, so feurig wie ein Vulkan und so prickelnd wie ein Kuss. Die Augen eines Einhorns haben alle Farben der Welt und doch keine einzige davon, sie bringen dich zum Blinzeln und machen dich von innen heraus warm.
»Tarka«, flüstere ich, »komm zu mir!«
Ich weiß überhaupt nicht, was ich da mache. Trotzdem funktioniert es. So selbstverständlich, als hätte er sich nie für die Steinlöwen interessiert, wendet der Schimmel sich von ihnen ab und kommt mir entgegen.
Ich weiche seinem Horn aus, als er seinen Kopf an mir reibt. Es ist gedreht wie das Haus einer Schnecke und so lang wie mein Unterarm. Die Stelle, an der es aus Tarkas Stirn wächst, ist von einem verwirbelten Haarkranz umgeben. Sanft blasen seine weichen Nüstern über meine Handfläche. Nicht einmal der unziemliche Gartenzwerg interessiert ihn mehr. Vorsichtig lege ich ihm die rote Schlinge um den Hals.
Eine Sekunde später steht Ciaran neben uns und nimmt mir das Ende des Stoffbands ab.
»Das ist bemerkenswert«, sagt er nachdenklich. »Du hast die Figur überhaupt nicht gebraucht, sondern ihn richtig betört. Nicht einmal ich schaffe das. Das können nur …«
Ein seltsamer Glanz tritt in seine Augen, wie das Schimmern einer tief vergrabenen Erinnerung.
Ende der Leseprobe

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Im.press
Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH
© der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014
Text © Jennifer Wolf, 2014
Betreuendes Lektorat: Pia Trzcinska
Redaktion: Julia Przeplaska
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Umschlaggestaltung: formlabor
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Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral
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ISBN 978-3-64660-016-2
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Jana Goldbach
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Hannah Johnson liebt die Sonne und das Meer. Doch als ihre Eltern das Haus ihrer Großmutter erben, ist die 17-jährige Schülerin schon bald dazu gezwungen, ihrem geliebten Sonnenschein-Staat Florida Lebewohl zu sagen und in ein Land auszuwandern, das ihr mehr als nur fremd vorkommt: Island. Die Insel der Vulkane, der malerischen Landschaften und des unbeständigen Wetters. Erst durch Kristján, ihren sympathischen Nachbarn, beginnt Hannah, auch die schönen Seiten der Insel kennen und lieben zu lernen. Doch auf Island ist nicht alles so, wie es scheint, und das erfährt sie nicht zuletzt durch Jarek. Der blauhaarige Punk aus ihrer Klasse versucht eindeutig, etwas zu verbergen, von dem Hannah bisher nur in Märchen und Legenden gehört hat …


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Mein Name ist Maya Jasmine Morgentau und ich bin eine Hüterin der Gaia. Unsere Aufgabe ist es, der Göttin zu dienen und in ihrem Namen hier auf Erden zu sprechen.
Über die Jahre hatten sich die falschen Menschen zu viel Macht verschafft. Das Endergebnis war das Absterben des Planeten. Die Luft soll so stark verschmutzt und die Erde so ausgehöhlt und vergiftet gewesen sein, dass es der Göttin die Tränen in die Augen trieb. Als sie sie weinte, begann die geschundene Welt zu heilen und Gaia nahm sich vor es nie wieder so weit kommen zu lassen. Sie trieb die überlebenden Menschen zusammen, machte die klügsten Frauen zu ihren Dienerinnen und damit zu den Anführern der menschlichen Rasse.
Der Orden der Hüterinnen besteht heute im Jahre 3013 aus fünfzig Frauen. Jede dort hineingeborene Tochter wird automatisch aufgenommen, doch meine Generation ist etwas ganz Besonderes.
Alle hundert Jahre kommt Gaia auf die Erde und erwählt eine der jungen Schwestern im Alter von sechzehn bis zwanzig Jahren. Diese nimmt sie dann mit zu sich, wo die Mutter aller Dinge ihr ihre vier Söhne vorstellt. Aviv, den Frühling; Sol, den Sommer; Jesien, den Herbst, und Nevis, den Winter. Die Auserwählte darf mit jedem eine Woche verbringen, bevor sie sich für einen entscheidet und für hundert Jahre seine Frau wird. Dies ist die höchste Ehre für eine Hüterin, denn sie besänftigt damit die Jahreszeiten und hält die Natur im Gleichgewicht.
An diesem Abend sollte es so weit sein. Meine jungen Schwestern und ich standen aufgeputzt in den Kutten des Ordens in der Mitte eines Steinkreises im Wald. Die älteren Hüterinnen hatten eine Menschenkette um uns herum gebildet und summten leise ein Lied zu Ehren Gaias. Die Sonne verschwand gerade hinter den Baumwipfeln und tauchte unsere Gesichter in ein schummriges Licht. Es roch nach frischem Gras und Bäumen, während die Hitze des Tages noch in der kleinen Lichtung gefangen zu sein schien.
Ich sah mich nervös um und zupfte an meiner Kutte. Mein Leben lang war ich auf diesen Moment vorbereitet worden und dennoch konnte ich meinen Herzschlag nicht beruhigen.