»Ich bin jetzt seit einunddreißig Jahren bei der Polizei, und in den Jahren habe ich so einiges gesehen. Aber wenn ich, bevor ich sterbe, nur eine einzige Sache ungesehen machen könnte …« Er deutete mit dem Kinn in Richtung Haus. »Dann wäre es das da drinnen.«
Ein Polizist vom LAPD warnt die Sonderermittler Robert Hunter und Carlos Garcia vor dem schockierenden Anblick. Die beiden Detectives sind auf Morde spezialisiert, bei denen der Täter mit extremer Brutalität vorgegangen ist. Im Morddezernat intern als ultra violent, kurz »UV« eingestuft. Hunter und Garcia, ausgebildete Kriminologen und Psychologen, sind die UV-Einheit, und der neue Fall sprengt selbst für sie alle Grenzen des Verbrechens.
Das Schlafzimmer der jungen Frau ist in Blut getränkt, die Tote wurde gehäutet. Bei ihrer Obduktion entdeckt das FBI eine Botschaft des Mörders, der von Schönheit besessen ist. Und der einen perfiden Plan verfolgt.
Thriller
Aus dem Englischen
von
Sybille Uplegger
Ullstein
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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2018
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin 2018
© Chris Carter 2018
Published by Arrangement with Luiz Montoro
Titel der englischen Originalausgabe:
Gallery of the Dead (Simon & Schuster Inc.)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München
Autorenfoto: © Privat
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Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-1775-5
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Linda Parker betrat ihr kleines Haus in Silver Lake im Nordosten von Los Angeles, schloss die Tür hinter sich und seufzte tief. Es war ein langer, harter Tag gewesen. Fünf Fotoshootings in ebenso vielen verschiedenen Studios, quer über die ganze Stadt verstreut. Die Arbeit selbst war nicht besonders anstrengend, Linda liebte das Modeln und hatte das große Glück, davon leben zu können, aber in einer Stadt wie L.A., wo der Verkehr selbst unter Idealbedingungen allenfalls als zähflüssig zu bezeichnen war, stundenlang im Auto zu sitzen, konnte auch den leidensfähigsten Menschen müde und reizbar machen.
Linda hatte am Morgen gegen sieben Uhr dreißig das Haus verlassen, und als ihr roter VW Beetle am Abend in die Einfahrt einbog, zeigte die Uhr am Armaturenbrett zweiundzwanzig Uhr vierzehn an. Sie war völlig zerschlagen, und sie hatte einen Bärenhunger. Aber das Wichtigste zuerst.
»Wein«, sagte sie, ehe sie das Licht im Wohnzimmer anknipste und sich die Schuhe von den Füßen streifte. »Jetzt brauche ich unbedingt erst mal ein schönes, großes Glas Wein.«
Linda teilte sich ihr eingeschossiges, weiß gestrichenes Haus mit Mr Boingo, einem schwarz-weißen Kater, den sie elf Jahre zuvor auf der Straße aufgelesen hatte. Infolge seines fortgeschrittenen Alters wagte sich Mr Boingo nur noch selten vor die Tür. Durch die Gegend zu streifen und Vögeln nachzustellen, die er sowieso nie erwischen würde, hatte bereits vor geraumer Zeit seinen Reiz verloren, und nun verbrachte er den Großteil seiner Tage entweder schlafend oder indem er auf der Fensterbank saß und reglos auf die menschenleere Straße hinausblickte.
Sobald das Licht anging, erhob sich Mr Boingo aus seinem Lieblingssessel, in dem er die letzten drei Stunden über geschlummert hatte, und streckte die Vorderbeine, ehe er lange und genüsslich gähnte.
Linda schmunzelte. »Na, Mr Boingo? Wie war dein Tag? Viel zu tun gehabt?«
Mr Boingo, der sich freute, sein Frauchen wiederzusehen, sprang auf den Boden und kam langsam näher.
»Und, hast du Hunger, mein Kleiner?«, fragte Linda, ehe sie sich bückte, um ihn hochzuheben.
Mr Boingo schmiegte sich in ihre Arme.
»Hast du schon alles aufgefressen?« Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Linda hatte gewusst, dass es ein langer Arbeitstag werden würde, und Mr Boingo ausreichend Futter dagelassen. Trotzdem machte sie einen Schritt nach rechts, um einen Blick auf Futternapf und Wasserschüssel werfen zu können, die nebeneinander in der Ecke standen. Beide waren noch gut gefüllt.
»Hunger hast du nicht, oder?«
Mr Boingo begann zu schnurren und blinzelte sie zweimal aus schläfrigen Augen an.
»Nein, hab ich nicht.« Linda verstellte ihre Stimme und tat so, als wäre sie Mr Boingo. »Ich will einfach nur knuddeln, weil ich mein Frauchen so vermisst hab.«
Sie begann den Kater sanft am Hals und unter dem Kinn zu kraulen. Sogleich verzog sich das Maul des Tiers zu einem zufriedenen Grinsen.
»Ja, das gefällt dir, was?« Erneut küsste sie ihn auf die Stirn.
Mit dem Kater auf dem Arm ging Linda in die Küche, nahm ein sauberes Glas aus der Geschirrspülmaschine und goss sich eine großzügige Menge aus der bereits geöffneten Flasche südafrikanischem Pinotage ein. Dann setzte sie Mr Boingo auf dem Boden ab und hob das Glas an die Lippen.
»Ahhh«, seufzte sie laut, als sie spürte, wie ihr Körper sich sogleich entspannte. »Flüssige Seligkeit.«
Dann holte sie ihr Abendessen aus dem Kühlschrank – eine kleine Schale mit Salat. Viel lieber hätte sie einen doppelten Cheeseburger mit Chili Fries oder eine große, extrascharfe Peperoni-Pizza gegessen, aber solche Kalorienbomben sah ihr strikter Diätplan nicht vor. Nur an ganz wenigen Abenden erlaubte sie sich eine Ausnahme, und heute war kein solcher Abend.
Nach einem weiteren Schluck Wein nahm Linda Glas und Salat in die Hand und verließ die Küche.
Mr Boingo folgte ihr.
Im Wohnzimmer stellte sie alles auf den Esstisch und schaltete ihren Laptop ein. Während sie darauf wartete, dass er hochfuhr, holte sie aus ihrer Handtasche eine Tube Feuchtigkeitscreme, von der sie sich eine großzügige Menge erst in die Hände, dann in die Füße einmassierte.
Mr Boingo beobachtete die Prozedur mit gleichmütiger Miene von seinem Platz am Fußboden aus.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Linda damit, Mails zu beantworten und neue Termine in ihren Kalender einzutragen. Als das erledigt war, beendete sie das E‑Mail-Programm und beschloss, noch kurz auf ihrer Facebook-Seite vorbeizuschauen. Sie hatte zweiunddreißig Freundschaftsanfragen, neununddreißig neue Nachrichten und sechsundneunzig Kommentare erhalten. Sie warf einen raschen Blick zur Uhr links an der Wand – es war bereits neun Minuten vor elf. Während sie noch hin und her überlegte, ob sie wirklich Lust auf Facebook hatte, sprang Mr Boingo mit einem langen Satz auf ihren Schoß.
»Na, du? Willst du noch ein bisschen gestreichelt werden?« Wieder antwortete sie mit verstellter Stimme. »Klar will ich das. Ich war ja den ganzen Tag alleine. Böses Frauchen.«
Linda kraulte ihren Kater noch ein wenig unter dem Kinn, dann kam ihr plötzlich eine Idee. Es gab da etwas, das sie schon seit Tagen unbedingt ausprobieren wollte.
»Ich weiß was«, verkündete sie und blickte Mr Boingo tief in seine kleinen Katzenaugen. »Lass uns eins dieser Face-Swap-Fotos machen. Was hältst du davon?«
Einige Tage zuvor hatte Lindas beste Freundin Maria auf Instagram ein Face-Swap-Bild von sich und ihrem zuckersüßen kleinen Bichon Frisé geteilt. Der Hund litt an einer angeborenen Fehlstellung des Unterkiefers, wegen der ihm permanent die Zunge aus dem Maul hing. Um sich anzupassen, hatte Maria für das Foto ebenfalls die Zunge herausgestreckt. Die Kombination aus wuscheligem, weißem Fell, platinblonden Haaren, zwei herausgestreckten Zungen und Marias wie immer übertriebenem Make‑up war zum Totlachen gewesen, und Linda hatte sich vorgenommen, bei nächster Gelegenheit die Face-Swap-App an sich und Mr Boingo zu testen.
»Ja, genau das machen wir«, sagte sie begeistert und nickte ihrer Katze zu. »Das wird lustig, versprochen.«
Sie nahm Mr Boingo auf den Arm, angelte sich ihr Smartphone und tippte auf das Icon der App, die bereits heruntergeladen und installiert war.
»Alles klar, es geht los.«
Sie setzte sich gerade hin und überprüfte den Bildausschnitt auf dem Handydisplay. An der Wand hinter ihr hingen einige gerahmte Bilder sowie eine silberne Lampe. Links von den Bildern befand sich die Tür, die in den kurzen Flur und von dort zu den anderen Zimmern des Hauses führte.
Linda war sehr kritisch, was Fotos anging, auch bei privaten Schnappschüssen.
»Hmm, nee, das gefällt mir so nicht«, murmelte sie und sah Mr Boingo kopfschüttelnd an.
Das Licht im Flur war ausgeschaltet, aber die Wandlampe brannte, weshalb das Display-Bild an der Stelle einen unschönen Lichtfleck hatte. Linda rutschte ein Stück nach links und warf sich erneut in Pose. Schon war der störende Lichtfleck verschwunden.
»Viel besser. Findest du nicht auch?«, fragte sie Mr Boingo.
Dessen Antwort war ein träges Blinzeln.
»Okay. Bringen wir’s hinter uns, ehe du mir wieder einpennst, du Schlafmütze.«
Die Face-Swap-App war kinderleicht zu bedienen. Man musste nur ein Foto schießen, und die App identifizierte automatisch die Gesichter im Bildausschnitt, markierte sie mit einem roten Kreis und vertauschte sie miteinander.
Linda hielt den Kater höher und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
»Hier«, sagte sie und zeigte auf ihr Handydisplay. »Da musst du hinschauen.«
Mr Boingo, der tatsächlich so aussah, als würde er jeden Moment eindösen, gähnte herzhaft.
»Nein, du dummer Kater, du sollst nicht mich anschauen, sondern das Telefon. Da.« Abermals deutete sie auf ihr Handy, und diesmal schnippte sie dabei mit den Fingern. Das Geräusch zeigte Wirkung. Endlich hob Mr Boingo den Kopf und wandte sich dem Telefon zu.
»Na bitte, geht doch.«
Linda verlor keine Zeit. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und tippte auf den Auslöser.
Gleich darauf erschien ein erster roter Kreis um ihr Gesicht. Der zweite folgte wenig später – und als sie ihn sah, war ihre Brust auf einmal wie zugeschnürt, als hätte jemand einen Druckverband um ihr Herz festgezogen.
Die App hatte nicht Mr Boingos Gesicht markiert, sondern etwas im dunklen Türrahmen hinter ihr.
»Guten Abend, alle zusammen.«
Obwohl ihr ein Mikrofon nebst leistungsstarken Verstärkern zur Verfügung stand, sprach Dozentin Tracy Adams an diesem Abend etwas lauter als sonst – verständlicherweise, denn sie stand in einem bis auf den letzten seiner einhundertfünfzig Plätze besetzten Hörsaal, in dem es durch das Gemurmel zahlreicher Unterhaltungen summte wie in einem Bienenstock. Ihr Publikum bestand nicht nur aus interessierten Studenten der Kriminologie und Kriminalpsychologie. Auch einige von Tracys Kollegen waren gekommen und fieberten dem Gastvortrag mit großer Spannung entgegen.
Tracy, wie immer mit ihrer altmodischen Katzenaugenbrille auf der Nase, ließ den Blick ihrer ungewöhnlich grünen Augen durch den Saal schweifen.
»Wir wollen gleich anfangen«, verkündete sie. »Deshalb wäre es hilfreich, wenn jeder, der jetzt noch steht, so schnell wie möglich einen Platz finden könnte.« Sie hielt inne und wartete geduldig.
Tracy Adams war ohne Zweifel eine faszinierende Frau – intelligent, attraktiv, gebildet, charismatisch, elegant und ein wenig geheimnisvoll. Kein Wunder also, dass viele ihrer Studenten – sowohl männliche als auch weibliche – ein klein wenig in sie verschossen waren. Für ihre Kollegen aus der Fakultät galt dasselbe. Und trotzdem war nicht sie der Grund, weshalb der im nordöstlichen Teil des UCLA-Campus gelegene große Vorlesungssaal an diesem Abend aus allen Nähten platzte.
Eine geschlagene Minute verging, ehe endlich alle saßen.
»Also«, sagte Tracy. »Zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen allen für Ihr Kommen bedanken. Wenn doch nur alle meine Veranstaltungen so gut besucht wären …«
Gedämpftes Gelächter schwappte durch den Raum.
»Nun denn«, fuhr sie fort. »Bevor es losgeht, möchte ich noch kurz ein paar einleitende Worte zu unserem heutigen Gast sagen.« Dabei ging ihr Blick zu dem großen, athletisch gebauten Mann, der links neben dem Podium stand.
Der Mann, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hatte, antwortete mit einem scheuen Lächeln.
Tracy konsultierte schnell die Notizen, die sie vor sich auf dem Pult liegen hatte, dann hob sie den Kopf und wandte sich wieder ans Publikum.
»Er hat seinen Abschluss in Psychologie an der Stanford University gemacht«, begann sie, »und zwar bereits im zarten Alter von neunzehn Jahren.« Die nächsten drei Wörter sagte sie absichtlich langsam und betont. »Summa cum laude.«
Im Saal erhob sich beeindrucktes Raunen.
»Ebenfalls an der Stanford University«, fuhr sie fort, »erlangte er wenig später seinen Doktortitel in Kriminal- und Biopsychologie – da war er gerade dreiundzwanzig. Seine Dissertation mit dem Titel Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltensmuster ist bis heute Pflichtlektüre im NCAVC des FBI.« Eine kurze Pause. »Für alle diejenigen unter Ihnen, die nicht oder nicht mehr wissen, was diese Abkürzung bedeutet: Die Rede ist vom Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen.«
Erneut warf sie einen kurzen Blick in ihre Aufzeichnungen, ehe sie sich wieder ihren Zuhörern widmete.
»Obwohl ihm wiederholt eine Stelle als Profiler in der Einheit für Verhaltensanalyse des NCAVC angeboten wurde, ist unser heutiger Gast eisern geblieben und hat es stattdessen vorgezogen, beim LAPD zu arbeiten.«
Diesmal war das Gemurmel noch ein bisschen lauter.
Tracy wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann sprach sie weiter.
»Bei der Polizei von Los Angeles hat er nahezu mit Lichtgeschwindigkeit die Karriereleiter erklommen. Beispielsweise war er der jüngste Polizist in der Geschichte des LAPD, dem jemals der Dienstgrad eines Detective verliehen wurde. Seine Aufklärungsquote ist unerreicht.«
Erneut hielt sie inne, diesmal allerdings um des Effekts willen.
»Unser Gast ist ein mehrfach ausgezeichneter Detective beim Morddezernat I des LAPD – einer Eliteeinheit innerhalb der Abteilung für Kapitalverbrechen, die ins Leben gerufen wurde, um sich mit aufsehenerregenden Gewalt- und Serienverbrechen zu befassen, die zeitaufwendige Ermittlungen und spezielles Fachwissen erfordern.«
Tracy hob den rechten Zeigefinger, um ihren nächsten Satz zu unterstreichen. »Und damit nicht genug. Aufgrund seines wissenschaftlichen Hintergrunds in Kriminalpsychologie und in Anbetracht der Tatsache, dass unsere so wundervolle Stadt eine ganz eigene Sorte von Psychopathen hervorzubringen scheint …«
Diese Bemerkung sorgte erneut für Gelächter im Saal.
»… wurde unser Gast einer noch erleseneren Einheit innerhalb des Morddezernats I zugeteilt. Alle Morde, bei denen ein besonders hohes Ausmaß an Sadismus oder Brutalität im Spiel ist, werden LAPD-intern als sogenannte UV‑Morde klassifiziert. UV für ultra violent. Unser Gast heute Abend hat einen Job, den die meisten Detectives in diesem Land nicht für eine Million Dollar machen würden. Er ist der Leiter der UV‑Einheit des LAPD.« Erneut drehte sie sich zu dem Mann neben dem Podium um.
Einhundertfünfzig Augenpaare folgten ihr.
»Ich habe sehr lange gebraucht, um ihn zu überreden, hier an die UCLA zu kommen und mit Ihnen über eines der faszinierendsten Themen innerhalb der Kriminologie und Kriminalpsychologie zu sprechen: den modernen Serienmörder.«
Von einem Moment auf den anderen herrschte eine geradezu gespenstische Stille im Saal.
»Ich habe die große Ehre, Ihnen heute Abend Detective Robert Hunter vom LAPD vorstellen zu dürfen.«
Applaus brandete auf.
Tracy forderte Hunter durch Gesten auf, zu ihr aufs Podium zu kommen.
Er nahm die Hände aus den Hosentaschen und ging langsam die drei Schritte bis zur Bühne. Als er Tracys Blick begegnete, schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln, gefolgt von einem verführerischen, aus größerer Entfernung jedoch kaum wahrnehmbaren Augenzwinkern. Hunter brach den Blickkontakt mit ihr ab, wandte sich dem Saal zu, in dem immer noch eifrig Beifall geklatscht wurde, und senkte bescheiden den Kopf. Er war so viel Aufmerksamkeit nicht gewohnt.
»Hals- und Beinbruch«, wisperte Tracy ihm noch zu, bevor sie Hunter das Mikrofon übergab und auf demselben Weg das Podium verließ, wie er heraufgekommen war.
Hunter wartete, bis der Applaus einigermaßen abgeebbt war.
»Gut. Zunächst mal ein ganz herzliches Dankeschön an Sie alle dafür, dass Sie heute Abend hergekommen sind. Ich muss gestehen, dass ich nicht mit so großem Zulauf gerechnet habe.«
Bei diesen Worten warf er Tracy einen vielsagenden Blick zu.
»Ich dachte, ich würde hier vor zwanzig, wenn es hochkommt, vielleicht fünfundzwanzig Studenten sprechen.«
Erneutes Gelächter aus der Menge.
Tracy schmunzelte und zuckte von ihrem Platz am Rand des Podiums aus mit den Schultern.
»Bevor ich anfange, möchte ich noch vorausschicken, dass ich kein geborener Redner bin und ganz sicher auch kein besonders talentierter Lehrer. Aber ich werde so gut wie möglich versuchen, Ihnen nahezubringen, was ich weiß, und danach alle Fragen beantworten, die Sie vielleicht zu dem Thema haben.«
Abermals applaudierte das Publikum.
Da Hunter den Wissensstand seiner Zuhörer nicht kannte, begann er seinen Vortrag mit einigen grundlegenden Definitionen wie etwa dem Unterschied zwischen Serienmörder, Amokläufer und Massenmörder. Er spickte seine Erklärungen mit verschiedenen Beispielen aus Fällen, die sich im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte in den USA ereignet hatten.
Danach erläuterte er die sieben Phasen im Tatzyklus eines Serienmörders, angefangen von der Aura-Phase, in der für den zukünftigen Täter Fantasie und Wirklichkeit Stück für Stück verschwimmen, bis hin zur Depressionsphase, dem vernichtenden emotionalen Tief, das in den meisten Fällen auf den Mord folgt.
»Ehe ich weitermache«, schloss Hunter, nachdem er die letzte Phase beschrieben hatte, in deutlich ernsterem Ton, »möchte ich noch eine Sache betonen: Wenn es um Mordserien geht, müssen Sie eines immer im Hinterkopf behalten, nämlich dass …«
In diesem Augenblick wurde er vom Vibrieren seines Handys in seiner Jackentasche unterbrochen.
Er verstummte und holte es hervor.
»Es tut mir sehr leid«, sagte er, während er gleichzeitig entschuldigend die Hand hob. »Wenn Sie sich alle einen ganz kurzen Moment gedulden würden.« Er schaltete das Mikrofon aus und legte es auf das Pult. »Detective Hunter«, meldete er sich. »UV‑Einheit.«
Während er der Person am anderen Ende lauschte, suchte sein Blick den von Tracy. Worte waren überflüssig, seine Miene sagte alles. Außerdem erlebte sie nicht zum ersten Mal, wie er einen solchen Anruf bekam.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, murmelte sie resigniert, ehe sie erneut das Podium betrat und sich neben Hunter stellte. »Wieso überrascht es mich nicht, dass so was ausgerechnet heute Abend passiert?«
Hunter beendete das Telefonat und drehte sich zu ihr um.
»Es tut mir wirklich furchtbar leid, Tracy«, sagte er leise und gepresst. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Aber ich muss weg.«
Sie nickte verständnisvoll. »Schon gut, Robert. Geh nur. Ich erkläre es dem Publikum.«
Während Hunter im Laufschritt das Podium verließ, nahm Tracy das Mikrofon in die Hand, stieß einen leidgeprüften Seufzer aus und stellte sich den verwirrten Zuhörern.
Als Hunter bei der Adresse ankam, die man ihm am Telefon genannt hatte, war es einundzwanzig Uhr einunddreißig. Selbst um diese Zeit an einem Dienstagabend hatte er für die knapp neunzehn Meilen zwischen Westwood und Silver Lake, einem Multikulti-Bezirk östlich von Hollywood, annähernd eine Dreiviertelstunde gebraucht. Als er in westliche Richtung in die Berkeley Avenue einbog, sah er sofort die zahlreichen Einsatzfahrzeuge, die an der Einmündung zum North Benton Way auf der Straße parkten.
Hunter wusste, dass in einer Stadt wie L.A. nichts so schnell die Gaffer anzog wie die Kombination aus Blaulicht und gelb-schwarzem Flatterband. Insofern wunderte er sich auch nicht über die stetig anwachsende Menge von Schaulustigen, die sich jenseits der Absperrung eingefunden hatten und nun, selbstverständlich mit dem Handy im Anschlag, darauf hofften, ein paar Sekunden Film oder wenigstens einige gute Schnappschüsse zu ergattern, die sie dann später stolz im Netz posten konnten, als handle es sich um Pokémon‑Go-Trophäen.
Auch die Presse war schneller am Ort des Geschehens gewesen als Hunter selbst. Zwei Ü‑Wagen mit auf dem Dach montierten Kameras hatten bereits auf dem Gehweg gegenüber der Absperrung Stellung bezogen, und zwei Live-Reporter mühten sich redlich, jedem, der mit ihnen zu sprechen bereit war, verwertbare Informationen zu entlocken.
Nachdem er seinen Wagen endlich durch die Menge manövriert hatte, ließ Hunter die Scheibe herunter und zeigte einem der uniformierten Polizisten, die die Einmündung zur Straße bewachten, seine Dienstmarke. Der Officer nickte und ließ Hunter passieren.
Der North Benton Way war eine ruhige, südlich des berühmten Silver-Lake-Stausees gelegene Wohnstraße. Hohe Platanen säumten auf beiden Seiten die Fahrbahn. Tagsüber schützten sie vor der sengenden Sonne, doch sobald die Dämmerung hereingebrochen war, warfen sie gespenstische Schatten auf Straßen und Häuser.
Hunters Ziel war das sechste Haus auf der rechten Seite. Auf den zwei Stellplätzen in der Einfahrt parkten ein roter VW Beetle und ein blauer Tesla S. An der Straße, ein Stück rechts, standen drei weitere Streifenwagen sowie ein Transporter der Gerichtsmedizin.
Hunter hielt vor dem Transporter und stieg aus. Sobald er sich zu seiner vollen Größe von einem Meter dreiundachtzig aufgerichtet hatte, überragte er das sonnengebleichte Dach seines uralten Buick LeSabre um ein gutes Stück. Er nahm sich einen Moment Zeit, die Straße in Augenschein zu nehmen. Sämtliche Nachbarhäuser waren hell erleuchtet. Die meisten Bewohner spähten entweder neugierig aus den Fenstern oder standen mit geschockten, fassungslosen Mienen vor ihren Haustüren. Gerade als Hunter damit beschäftigt war, seine Marke an den Gürtel zu klemmen, kam ein weiteres Auto durch die Polizeiabsperrung am Anfang der Straße gefahren. Hunter erkannte den metallicblauen Honda Civic auf den ersten Blick. Er gehörte seinem Partner Detective Carlos Garcia.
»Bist du gerade erst gekommen?«, fragte dieser, nachdem er neben einem der Streifenwagen geparkt hatte und ausgestiegen war.
»Vor nicht mal einer Minute«, gab Hunter Auskunft.
Garcias halblange braune Haare waren noch nass von einer abendlichen Dusche und zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden.
Beide Detectives wandten sich dem weißen Haus zu. Auf dem Gehweg davor standen mit düsteren Mienen drei Streifenpolizisten. Hinter ihnen leuchtete ein Kriminaltechniker im Tyvek-Overall mit einer ProTac-Taschenlampe akribisch jeden Quadratzentimeter des gepflegten Rasens ab. Auf der Veranda, halb hinter einem blauen Zelt verborgen, untersuchte ein anderer Kollege von der Spurensicherung Griff und Rahmen der Haustür auf Fingerabdrücke.
Als der älteste der drei Streifenpolizisten sie sah, löste er sich aus der Gruppe und nahm Kurs auf sie.
Hunter sprang sofort das Abzeichen an seinem Hemdkragen ins Auge, das ihn als First Lieutenant des LAPD auswies.
»Sie müssen die Kollegen von der UV‑Einheit sein.« Die Stimme des Polizisten war rau vor Müdigkeit.
»Ja, Sir«, antwortete Garcia. »Die sind wir.«
Der Lieutenant war schätzungsweise Anfang fünfzig, gut sieben Zentimeter kleiner als Hunter und mindestens zwanzig Kilo schwerer, wobei sich die überflüssigen Kilos ausschließlich um seine Taille herum angesammelt hatten.
»Ich bin Lieutenant Frederick Jarvis vom Central Bureau«, sagte er und streckte ihnen die Hand entgegen. »Northeast Area Division.«
Hunter und Garcia stellten sich ebenfalls vor.
»Waren Sie als Erster am Tatort?«, wollte Garcia von dem Mann wissen.
Lieutenant Jarvis verneinte, drehte sich um und deutete auf die beiden Polizisten, die er auf dem Gehweg hatte stehen lassen. »Das waren Officer Grabowski und Officer Perez. Ich bin bloß derjenige, der entschieden hat, die Sache an die große Glocke zu hängen und Ihnen von der UV‑Einheit den Fall zu übertragen.«
»Dann waren Sie also auch schon drinnen?«, wollte Hunter wissen.
Der Lieutenant atmete aus, und auf einmal wurde er sehr ernst. »War ich. Ja.« Er kratzte sich an der rechten Wange. »Ich bin jetzt seit einunddreißig Jahren bei der Polizei, und in den Jahren habe ich so einiges gesehen. Aber wenn ich, bevor ich sterbe, nur eine einzige Sache ungesehen machen könnte …« Er deutete mit dem Kinn in Richtung Haus. »Dann wäre es das da drinnen.«
Hunter und Garcia trugen sich ins Tatortprotokoll ein, nahmen je einen Einweg-Overall und begannen sich einzukleiden.
Lieutenant Jarvis hingegen verzichtete. Er hatte offenbar nicht die geringste Absicht, den Tatort ein zweites Mal zu betreten.
»Was für Infos liegen uns bislang über das Opfer vor?«, wollte Garcia wissen.
»Nur ein paar grundlegende Dinge«, antwortete der Lieutenant, der seinen Notizblock gezückt hatte. »Ihr Name war Linda Parker«, begann er. »Vierundzwanzig Jahre alt, stammt aus the Harbor, also in L.A. geboren und aufgewachsen. Hat als Model gearbeitet. Soweit bis jetzt bekannt, hatte sie keinerlei Vorstrafen – keine Verhaftungen, keine ausstehenden Bußgeldbescheide, keine gerichtlichen Verfügungen … nichts. Ihr VW Beetle wäre in wenigen Monaten abbezahlt gewesen. Hat immer pünktlich und vollständig ihre Steuern entrichtet.«
»Hat sie allein hier gewohnt?«, fragte Garcia.
»Soweit wir wissen, ja. Auf den Nebenkostenabrechnungen tauchen jedenfalls keine weiteren Namen auf.«
»Gibt es einen Partner? Exfreunde? Irgendwelche Beziehungen?«
Der Lieutenant zuckte mit den Achseln. »Wir hatten noch keine Zeit, uns darum zu kümmern. Tut mir leid, Kollegen. Das werden Sie wohl selbst in die Hand nehmen müssen.«
Abermals blickte Hunter in beide Richtungen die Straße hinunter.
»Irgendwas von den Nachbarn?«, fragte er. Er ging davon aus, dass der Lieutenant bereits eine Haustürbefragung veranlasst hatte.
»Nichts. Keiner scheint etwas gesehen oder gehört zu haben, aber meine Jungs sind noch nicht fertig. Mit ein bisschen Glück, wer weiß …«
»Leider scheint uns Fortuna nicht besonders hold zu sein«, sagte Garcia. Es lag keinerlei Humor in seiner Stimme. »Aber was soll’s. Jeder Tag ist neu.«
»Allem Anschein nach hat sich der Täter über das Schlafzimmerfenster auf der Rückseite Zutritt verschafft«, erklärte Lieutenant Jarvis. »Es wurde von außen eingeschlagen.«
»Wie ist er nach hinten in den Garten gekommen?«, fragte Garcia.
Jarvis machte eine Kopfbewegung in Richtung des hölzernen Tors links neben dem Haus. Dort suchte gerade ein dritter Kriminaltechniker nach Fingerabdrücken. »Keine Anzeichen gewaltsamen Eindringens, aber vielleicht ist er einfach drübergeklettert, dazu muss man ja kein Supersportler sein.«
»Ist das die Person, die die Leiche gefunden hat?«, fragte Hunter den Lieutenant als Nächstes und deutete zu den Einsatzfahrzeugen am Straßenrand. Schon beim Aussteigen war ihm die Polizistin aufgefallen, die neben der geöffneten Beifahrertür des am weitesten vom Haus entfernten Streifenwagens kniete. Sie war nicht allein. Vor ihr auf dem Beifahrersitz saß eine Frau von schätzungsweise Ende vierzig bis Anfang fünfzig, die tief verstört wirkte.
»Richtig«, sagte Lieutenant Jarvis. »Immerhin können Sie sich den Gang zu den Eltern sparen. Das da ist die Mutter des Opfers.«
Hunter und Garcia hielten beim Umziehen inne. Ihr Blick ging vom Lieutenant zu der Frau auf dem Beifahrersitz. Konnte es für eine Mutter eine grauenhaftere Erfahrung geben, als die Leiche der eigenen Tochter zu finden, die brutal ermordet worden war?
»Sie steht natürlich unter Schock«, setzte der Lieutenant hinzu. »Im Moment bekommt man noch nicht viel aus ihr heraus, aber wenn wir alles richtig verstanden haben, stand sie täglich mit ihrer Tochter in Kontakt, mindestens telefonisch.« Er warf einen Blick in seine Notizen. »Das letzte Mal haben sie vor zwei Tagen miteinander gesprochen – Montagnachmittag, am Telefon. Eigentlich wären sie gestern zum Mittagessen verabredet gewesen, aber dann ist der Mutter was dazwischengekommen. Sie meint, sie hätte ihre Tochter gegen neun Uhr morgens angerufen, um abzusagen, aber es wäre niemand rangegangen. Sie hat eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, aber ihre Tochter hat nicht zurückgerufen. Ungefähr eine Dreiviertelstunde vor dem vereinbarten Treffen hat die Mutter es noch einmal probiert, um sich zu vergewissern, dass ihre Tochter die Nachricht auch tatsächlich erhalten hatte und nicht umsonst zum Restaurant fuhr. Aber es war wieder nur die Mailbox dran. Dann hat sie es gestern Abend noch einmal versucht, und dann noch mal heute Morgen und heute Nachmittag.« Lieutenant Jarvis nickte, wie um die unausgesprochene Vermutung der Detectives zu bestätigen. »Jedes Mal die Mailbox. Langsam hat die Mutter angefangen, sich Sorgen zu machen. Sie meinte, selbst wenn Linda sauer gewesen wäre, weil sie das gemeinsame Mittagessen abgesagt hatte – obwohl sie das für sehr unwahrscheinlich hielt –, hätte sie irgendwann zurückgerufen. Sie hat noch ein allerletztes Mal ihr Glück per Telefon versucht und Linda eine Nachricht hinterlassen, dass sie am Abend vorbeikommen würde.«
»Und wann ist sie vorbeigekommen?«, wollte Hunter wissen.
»So gegen sieben.«
»Wie kam sie rein?« Diese Frage stellte Garcia. »War die Tür nicht abgeschlossen?«
»Doch, aber die Mutter hat einen Zweitschlüssel.«
Hunter wandte sich an den Kriminaltechniker, der die Haustür auf Spuren untersuchte.
»Einbruch?«, fragte er.
»Wenn jemand die Tür geöffnet hat, dann nicht mit Gewalt«, antwortete der Kriminaltechniker und sah zu Hunter auf. »Schloss, Türrahmen – alles unversehrt. Andererseits hat die Tür auch nur ein hundsgewöhnliches Riegelschloss. Um so was zu knacken, braucht es wirklich keinen Experten.«
Hunter und Garcia setzten sich die Kapuzen ihrer Overalls auf und zogen die Reißverschlüsse zu.
»Sie müssen durchs Wohnzimmer«, wies Lieutenant Jarvis ihnen den Weg. »Durch den Flur auf der anderen Seite und dahinter dann ins Schlafzimmer. Falls Sie sich verlaufen, folgen Sie einfach dem Blutgeruch.« Der letzte Satz war eindeutig nicht als Scherz gemeint. »Und wenn ich Sie wäre, würde ich auch die Atemschutzmaske aufsetzen.«
Von Linda Parkers Haustür gelangte man direkt in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit einer Mischung aus antiken und auf alt gemachten Möbeln im Shabby-Chic-Stil geschmackvoll gestaltet war. Vorhänge in Pastelltönen, farblich auf Teppiche und Kissen abgestimmt, komplettierten die Einrichtung. Nichts wirkte in irgendeiner Weise auffällig. Nichts deutete auf ein Kampfgeschehen hin.
Auch hier trafen sie eine Mitarbeiterin der Spurensicherung an, die auf der Suche nach Fingerabdrücken die zahlreichen Oberflächen im Raum der Reihe nach abarbeitete. Sie grüßte die Detectives mit einem knappen Nicken.
Der Flur, der zu den übrigen Zimmern führte, hatte einen Holzboden und war kurz und breit, mit einer Tür auf der rechten Seite, zwei Türen auf der linken und einer am hinteren Ende. Lediglich die zweite Tür links war verschlossen. Mehrere gerahmte Fotos schmückten die Wände. Sie sahen aus wie die Cover von Modemagazinen und zeigten alle dieselbe, ungewöhnlich schöne junge Frau – schlanker, straffer Körper, herzförmiges Gesicht, volle Lippen, eine zierliche Nase, leicht schräg stehende, fast aquamarinblaue Augen und Wangenknochen, für die viele Frauen ein Vermögen bezahlt hätten.
Hunter und Garcia nahmen Kurs auf das Zimmer am Ende des Flurs.
Ein rascher Blick durch die geöffnete Tür rechts offenbarte, dass es sich um eine Art Gästezimmer handelte.
Links war das Bad.
Um die verschlossene Tür würden sie sich später kümmern.
Schließlich gelangten sie zu dem Zimmer, in dem Linda Parker ermordet worden war. Sie blieben im Türrahmen stehen und waren im ersten Moment sprachlos.
Eines war sowohl Hunter als auch Garcia bereits im ersten Moment absolut klar: Lieutenant Jarvis’ Wunsch würde nicht in Erfüllung gehen. Niemals würde er diesen Anblick aus seinem Gedächtnis löschen können.
Das laute Knattern eines Motorrads draußen auf der Straße riss den Mann aus dem Schlaf. Er lag noch eine Weile regungslos auf dem Rücken und starrte an die Decke. Das Zimmer wurde nur von dem schwachen Mondlicht erhellt, das durch das große Fenster zu seiner Linken hereinfiel. Doch die Dunkelheit machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er mochte sie sogar. Er fand, dass sie am besten zur Farbe seiner Seele passte.
Der Mann versuchte ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ein durch die Nase, dachte er beim Einatmen. Aus durch den Mund. Er atmete aus. Ein durch die Nase. Atmete ein. Und aus durch den Mund. Atmete aus.
Langsam wurde seine Atmung ruhiger.
Der Mann war schweißgebadet, so wie immer, wenn er aus seinem Albtraum erwachte. Es waren jedes Mal die gleichen Bilder – abscheulich … brutal … ekelhaft. Doch daran wollte er jetzt nicht denken. Am liebsten wäre es ihm gewesen, nie wieder daran denken zu müssen. Während er auf seine eigenen Atemzüge lauschte, verbannte er die Bilder zurück in die dunkelsten Winkel seines Bewusstseins, auch wenn er wusste, dass sie ihn früher oder später erneut heimsuchen würden. Das war unvermeidlich.
Er brauchte zehn Minuten, bis er endlich so weit war, dass er sich aufsetzen konnte. Ein Großteil des Schweißes auf seiner Haut war getrocknet, und er fühlte sich klebrig und schmutzig. Er brauchte dringend eine Dusche. Nach dem Albtraum musste er immer duschen.
Im Bad drehte er das Wasser auf und wartete, bis sich Dampfschwaden im Raum ausbreiteten, ehe er unter den starken, warmen Strahl der Brause trat. Er schloss die Augen, während ihm das Wasser über Gesicht und Körper rann. Er spürte, wie die Poren seiner Haut sich öffneten, um das reinigende Wasser willkommen zu heißen.
Er liebte dieses Gefühl.
Der Mann wusch sich zweimal gründlich am ganzen Körper, ehe er eine Rasierklinge und eine Flasche Babyöl aus seinem Duschkörbchen nahm. Er gab etwas Öl in seine rechte Handfläche und verteilte es auf seinem linken Bein. Dann wiederholte er das Ganze mit der linken Hand und dem rechten Bein. Es war eine Reihenfolge, die sich nie änderte. Er hielt die Rasierklinge einige Sekunden lang unter den Wasserstrahl, dann beugte er sich hinab und setzte sie am rechten Schienbein an.
Vor Jahren hatte ihm einmal eine Prostituierte den Tipp gegeben, zum Rasieren Baby- oder Kokosöl zu verwenden, um Rasurpickelchen vorzubeugen, vor allem in den Achselhöhlen und im Schritt. »Musst du echt mal ausprobieren«, hatte sie ihm geraten. »Danach hast du nie wieder Ausschlag oder Brennen, glaub mir.«
Sie hatte recht gehabt. Es funktionierte wirklich. Nicht nur war er die Pickelchen los, seine Haut war seitdem auch viel weicher und zarter geworden.
Der Mann rasierte sich täglich den ganzen Körper, manchmal sogar zweimal am Tag, vom Kopf bis hinunter zu den kleinen Härchen auf seinen Zehen. Er tat es nicht, weil er unter einer Zwangsstörung litt oder ein Fetischist war oder weil irgendwelche Stimmen in seinem Kopf es ihm befahlen. Nein, er tat es, weil er es mochte, wie sich seine Haut ohne Haare anfühlte. Wie viel empfindsamer sie dann war. Der einzige Teil seines Körpers, den er nicht rasierte, waren die Augenbrauen. Das hatte er einmal ausprobiert, und das Ergebnis war nicht zufriedenstellend gewesen. Er hatte seltsam ausgesehen … ja, regelrecht unheimlich, und bislang hatte er noch keine falschen Augenbrauen gefunden, die so gut aussahen wie echte – ganz im Gegensatz zu den falschen Perücken und Bärten, von denen er eine recht umfangreiche Sammlung besaß.
Der Mann schloss die zeitaufwendige Prozedur ab, drehte das Wasser aus, stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Zurück im Schlafzimmer, stellte er sich nackt vor den mannshohen Spiegel und betrachtete seinen Körper.
Voller Stolz drehte er sich zur Seite und schaltete den großen Ventilator ein, der in der Nähe stand. Sobald der Luftzug seine nackte, glatte Haut streifte, erschauerte der Mann, und eine Woge der Ekstase ging durch seinen Körper, stärker und atemberaubender als jede Droge. Es war, als hätte das Rasurritual die Empfindsamkeit seiner Haut um ein Zehnfaches gesteigert.
Der Mann genoss das pure Glücksgefühl mehrere Minuten lang, ehe er den Ventilator wieder ausschaltete.
»Ich glaube, es wird Zeit, sich fertig zu machen«, sagte er zu sich selbst und erschauerte erneut, diesmal in freudiger Erregung.
Er konnte es gar nicht abwarten, es wieder zu tun.